Pfad der Träume - Michelle Raven - E-Book

Pfad der Träume E-Book

Michelle Raven

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Beschreibung

Die Leopardenwandlerin Kainda hat einen Traum: Sie will zurück in ihr Heimatland Namibia. Doch der Weg dahin ist gefährlich. Auf der Flucht vor unbekannten Verfolgern wird sie von einem Lastwagen angefahren und schwer verletzt. In der Tierklinik des San Diego Wild Animal Parks kümmert sich der Tierarzt Ryan Thorne aufopferungsvoll um sie und weckt Gefühle in ihr, die sie längst vergessen glaubte. Doch kann sie ihm vertrauen? Nur im Schutz der Nacht wagt sie es, sich ihm in Menschengestalt zu nähern, und lässt Ryan in dem Glauben, die leidenschaftliche Begegnung fände nur in seinen Träumen statt. Als Kaindas Verfolger ihre Spur wieder aufnehmen, muss sie eine Entscheidung treffen ...

Achtung, neue Ausgabe der beliebten Ghostwalker-Reihe!

Ghostwalker-Reihe:
1. Die Spur der Katze
2. Pfad der Träume
3. Auf lautlosen Schwingen
4. Fluch der Wahrheit
5. Ruf der Erinnerung
6. Tag der Rache

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Das Buch

Die Leopardenwandlerin Kainda hat einen Traum: Sie will zurück in ihr Heimatland Afrika. Doch der Weg dahin ist gefährlich. Auf der Flucht vor unbekannten Verfolgern wird sie von einem Lastwagen angefahren und schwer verletzt. In der Tierklinik des San Diego Wild Animal Parks kümmert sich der Tierarzt Ryan Thorne aufopferungsvoll um sie und weckt Gefühle in ihr, die sie längst vergessen glaubte. Doch kann sie ihm vertrauen? Nur im Schutz der Nacht wagt sie es, sich ihm in Menschengestalt zu nähern, und lässt Ryan in dem Glauben, die leidenschaftliche Begegnung fände nur in seinen Träumen statt. Als Kaindas Verfolger ihre Spur wieder aufnehmen, muss sie eine Entscheidung treffen ...

Die Autorin

Schon als Kind war Michelle Raven ein Bücherwurm, deshalb schien der Beruf als Bibliotheksleiterin genau das Richtige für sie zu sein. Als sie alle Bücher gelesen hatte, begann sie, selbst für Nachschub zu sorgen. Und wurde zu einer der erfolgreichsten deutschen Autorinnen im Bereich Romantic Fantasy und Romantic Thrill. Bislang hat sie 49 Romane veröffentlicht, von denen einer auf der SPIEGEL-Bestsellerliste landete. 2008 erhielt sie die "DeLiA" für den besten deutschsprachigen Liebesroman. Wenn sie nicht vor dem Laptop sitzt, erkundet sie gern den Westen der USA und holt sich dort Inspiration für ihre Romane.

Weitere Informationen

https://www.michelleraven.de

Michelle Raven

Ghostwalker

Pfad der Träume

 

Roman

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne Zustimmung der Autorin kopiert, nachgedruckt oder anderweitig verwendet werden.

Dieses Buch ist ein fiktives Werk. Namen, Figuren, Unternehmen, Organisationen, Orte, Begebenheiten und Ereignisse werden fiktiv verwendet. Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, realen Handlungen und Schauplätzen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Copyright © 2020 Michaela Rabe

Originalausgabe Copyright ©2010 EGMONT Verlagsgesellschaften mbH

Covergestaltung: Wolkenart – Marie-Katharina Wölk, https://www.wolkenart.com

Bildmaterial: ©Shutterstock.com

Textredaktion der Originalausgabe: Katharina Kramp

ISBN 9783754673157

Michelle Raven c/o autorenglück.de Franz-Mehring-Str. 15 01237 Dresden

Email: [email protected]

Weitere Informationen: https://www.michelleraven.de

Stand: August 2022

Inhaltsverzeichnis

1

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Epilog

So geht es mit den Ghostwalkern weiter …

Band 1 der Ghostwalker verpasst?

Die Romane von Michelle Raven

1

Regungslos verharrte Kainda in der Bewegung, alle Sinne auf die Umgebung ausgerichtet. Der Mann, der sie verfolgte, war immer noch da. Sie konnte ihn zwar nicht sehen oder hören, aber sie roch ihn. Die Mischung aus billigem Aftershave und kaltem Zigarettenrauch ließ Übelkeit in ihr aufsteigen. Wie war es möglich, dass sie ihn nicht abschütteln konnte? Der Sender in ihrem Nacken war vernichtet worden, und sie war inzwischen Hunderte von Kilometern von ihrem zuletzt bekannten Standort entfernt. Trotzdem war er ständig hinter ihr, seit sie hinter Temecula ein Stück der Senke entlang des Escondido Freeways gefolgt war, da sie nicht genug Kraft hatte, die Berge zu überqueren und ihr auch die Zeit fehlte. Oder hatte er ihre Spur schon früher aufgenommen, als sie das Haus durchsuchte, in dem der Jäger lebte, der sie vor sechs Monaten in Afrika gefangen genommen und nach Amerika gebracht hatte? Es war ein Risiko gewesen, dort einzudringen, aber sie musste es eingehen, denn Gowan hatte ihre Kooperation mit der Drohung erzwungen, die Beweise über ihre Existenz, die Existenz von Wandlern wie sie es war, weiterzugeben, wenn sie nicht taten, was er ihnen befahl.

Nun war Gowan seit fast drei Monaten tot, einer der Berglöwenwandler hatte ihm die Kehle herausgerissen. Was Kainda hätte freuen sollen, wenn es nicht ohne den Jäger noch viel schwieriger wäre, wieder nach Hause zu kommen. Deshalb hatte sie in seinem Haus nach diesen Beweisen gesucht, doch bis auf einige schäbige Möbel und ausgestopfte Tiere war es leer gewesen. Vermutlich hatte bereits jemand alle persönlichen Gegenstände und Unterlagen an sich genommen und wusste nun über die Wandler Bescheid. Oder es gab jemanden, der schon die ganze Zeit darüber informiert war. Gowan hatte sein Wort vielleicht nicht gehalten und nicht über das geschwiegen, was sie waren. Konnte es sein, dass der Verfolger schon seit Wochen hinter ihr her war?

Doch sie konnte nicht aufgeben, sie musste einen anderen Weg finden, wie sie und ihre Schwester Jamila nach Afrika zurückkehren konnten. Bislang war sie leider wenig erfolgreich gewesen, denn ohne Papiere und Geld würden sie nie Flugtickets bekommen. Ganz abgesehen davon, dass sie nicht wusste, wie sich ein Flug auf ihren Organismus auswirken würde. Es wäre vermutlich ungünstig, sich in der Kabine vor allen Leuten in einen Leoparden zu verwandeln. Auf dem Hinweg war sie betäubt und zusammen mit ihrer Schwester in einen Käfig im Laderaum des Flugzeugs gesperrt gewesen, als wären sie normale Tiere, deshalb war ihre Besonderheit niemandem aufgefallen. Was würde jedoch passieren, wenn sie als normale Passagiere an Bord gingen? Und welche Alternativen gab es? Die Suche dauerte jetzt schon wesentlich länger, als Kainda geplant hatte, und sie war nur froh, dass sie Jamila im Lager der Berglöwenwandler zurückgelassen hatte, wo sie in Sicherheit war und sich ausruhen konnte.

Der Gestank wurde stärker, ein leises Knacken war zu hören. Kainda schüttelte alle Gedanken ab und konzentrierte sich darauf, noch stärker mit der Umgebung zu verschmelzen. Jetzt wünschte sie sich die tiefen Wälder rund um den Yosemite National Park zurück, auch wenn sie ihr erst so fremd erschienen waren. Hier in Südkalifornien war es wesentlich trockener, die Vegetation spärlicher. Ähnlich wie in Afrika. Unwillig fletschte Kainda die Zähne. Nichts konnte es mit ihrem Zuhause aufnehmen, weder die Natur, noch die Menschen, und erst recht keine Berglöwen. Tatsache war, dass ihr Verfolger sie in Richtung der Städte trieb und sie sich schnell etwas ausdenken musste, wie sie ihm entkommen oder ihn überwältigen konnte. Vor einigen Monaten war sie gezwungen gewesen, einen Mann zu töten, weil ihre Schwester und sie sonst von Gowan, der sie gefangen hielt, umgebracht worden wären. Das wollte sie nie wieder tun müssen, und sie hasste es, schon wieder so in die Enge gedrängt zu werden.

Kainda schlich um eine Baumgruppe herum, um sich dem Mann von der anderen Seite zu nähern, wo er sie nicht erwarten würde. Trockene Blätter streiften raschelnd ihr Fell. Sofort erstarrte Kainda und lauschte. Von ihrem Verfolger war kein Laut zu hören. Sein Geruch war weniger intensiv, als hätte er sich von ihr entfernt. Gut so, vielleicht hatte er erkannt wie aussichtslos es war, sie einfangen zu wollen. Sie würde noch einige Minuten abwarten und dann ihren Weg fortsetzen. Wenn sie Glück hatte, würde sie bei der Gelegenheit auch etwas zu essen auftreiben. Ihr Magen knurrte bei dem Gedanken an Nahrung. Es war zu lange her, dass sie etwas Anständiges gegessen hatte. Genau genommen hatte sie ihre letzte warme Mahlzeit bei den Berglöwen eingenommen, bevor sie aufgebrochen war. Seitdem hatte sie sich nur noch von dem ernährt, was ihr über den Weg gelaufen war.

Ihr Kopf ruckte hoch, als sie eine Bewegung ganz in der Nähe wahrnahm. Aber das konnte nicht sein, sie hätte den Verfolger längst gerochen, wenn er so nah wäre. Wahrscheinlich war es nur ein Zweig gewesen, der sich im Wind bewegt hatte. Kainda sog tief die Luft ein, konnte jedoch keine Spur des Verfolgers mehr aufnehmen. Froh darüber, sich nicht länger damit beschäftigen zu müssen, setzte sie sich wieder in Bewegung. Instinktiv duckte sie sich hinter einige Büsche und nutzte die spärliche Deckung, während sie sich so schnell wie möglich von der Stelle entfernte, an der sie den Mann zuletzt gerochen hatte. Als sie sicher war, ihn abgehängt zu haben, atmete sie tief durch. Sie würde in Zukunft eindeutig vorsichtiger sein müssen, nie wieder würde sie sich von jemandem einfangen lassen, eher würde sie sterben. Ein Zittern lief durch ihren Körper, als sie sich daran erinnerte, wozu sie von Gowan gezwungen worden waren. Die Schreie hallten noch immer in ihren Ohren und der Geschmack von menschlichem Blut lag auf ihrer Zunge.

Kaindas Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Ihr blieb keine andere Wahl, sie würde in die Stadt gehen müssen und durfte dabei nicht auffallen. Als erstes brauchte sie dafür Kleidung, denn nackt würde sie zu viel Aufsehen erregen. Allerdings vermutlich auch nicht mehr als in Leopardenform. Jetzt hätte sie gut das Geld gebrauchen können, das ihr Fay, die Heilerin der Berglöwen, angeboten und das sie aus blödem Stolz abgelehnt hatte. Oder weniger aus Stolz, als vielmehr aus Scham darüber, etwas von denjenigen anzunehmen, denen sie mit ihren Taten geschadet hatte und die trotzdem so großzügig gewesen waren, ihre Schwester bei sich aufzunehmen.

Etwas flog an ihrem Ohr vorbei und landete vor ihr auf dem Boden. Irritiert betrachtete Kainda den Gegenstand, bevor verspätet die Reaktion einsetzte. Ihr Herz begann zu hämmern, als sie erkannte, dass es sich um einen Betäubungspfeil handelte, wie Gowan und seine Männer sie verwendet hatten. Noch bevor der Gedanke in ihrem Kopf zu Ende geformt war, rannte sie los. Der Verfolger musste noch hinter ihr sein, aber wieso hatte sie ihn dann weder gehört noch gerochen? Kein normaler Mensch konnte sich so leise bewegen, dass sie ihn nicht bemerkte. Doch der Pfeil musste von irgendwo hergekommen sein, und Betäubungsgewehre hatten eine viel kürzere Reichweite als normale Schusswaffen. Es raschelte in unmittelbarer Nähe und Kainda warf sich herum, als der Gestank von kaltem Rauch in ihre Nase stieg. Diesmal hörte sie sogar das ploppende Geräusch des Kolbens. Etwas streifte ihre Hüfte, bevor es gegen einen Baum prallte. Panik breitete sich in ihr aus. Wenn es dem Verfolger gelang, sie zu fangen, dann konnte das auch ihre Schwester in Gefahr bringen.

Kainda stieß ein wütendes Fauchen aus. Sie würde nicht zulassen, dass dieser Verbrecher gewann! Entschlossen sprang sie in einem langen Satz über einen umgestürzten Baumstamm und lief so schnell sie konnte in Richtung Sicherheit. Wenn ihr Angreifer nicht gerade fliegen konnte, würde er ihr nicht folgen können. Über dem Rauschen in ihren Ohren konnte sie nichts mehr hören, deshalb blieb sie erst stehen, als sie sich sicher war, ihn abgehängt zu haben. Lauschend legte sie den Kopf zur Seite und versuchte, ihren Herzschlag zu beruhigen. Es war totenstill. Zu still für ihren Geschmack. Es fehlten die normalen Geräusche, die in jedem Wald zu hören waren. Stattdessen herrschte unheilvolles Schweigen.

Ihr Nackenfell richtete sich auf, und ihr Instinkt sagte ihr, dass sie nicht alleine war. Wie konnte das sein? Die einzige Erklärung war, dass es mehrere Männer gab, die sie nun genau dorthin trieben, wo sie sie haben wollten. Solange sie nicht wusste, wo die Verfolger waren, konnte sie nur versuchen, ihre Linie zu durchbrechen, um sich irgendwo in Sicherheit zu bringen. Doch wenn sie schnell genug war, dann gelang ihr vielleicht die Flucht.

Um ihnen keine Gelegenheit zu geben nachzurücken, warf sie sich herum und jagte los. Erde und Pflanzenreste stoben unter ihren Pfoten auf. Wie aus weiter Ferne hörte sie ein weiteres Ploppen, etwas bohrte sich in ihr Bein. Kainda kam ins Stolpern, konnte sich aber gerade noch abfangen. Eine Spritze ragte aus ihrem Oberschenkel. Mit einem Knurren zog sie sie mit dem Maul heraus und schleuderte sie zur Seite. Nur ein Gedanke beherrschte sie: weg von hier! Sie lief weiter, doch es dauerte nicht lange, bis sie merkte, dass ihre Beine unter ihr einzuknicken drohten. Wenn sie jetzt hinfiel, würde sie nicht wieder hochkommen. Nur nicht anhalten, weiter laufen, weiter … Adrenalin pumpte durch ihren Körper und half ihr, die Betäubung zu bekämpfen. Ein Stück noch, bis sie sich irgendwo verstecken konnte. Doch sie merkte, wie ihre Kraft schwand.

Ein lautes Brummen drang an ihre Ohren. Für einen Moment dachte sie, dass sie es sich nur einbildete, doch dann erkannte sie, dass sie sich direkt auf eine Straße zu bewegte. Das war ihre Rettung! Wenn es ihr gelang, jemanden auf sich aufmerksam zu machen und so zu tun, als wäre sie überfallen worden, konnten ihre Verfolger nichts mehr tun. Kainda rutschte die hohe Böschung herunter und verwandelte sich dann hinter einem Busch. Es fiel ihr unglaublich schwer, sich wieder aufzurichten und auf zwei Beinen fortzubewegen, doch sie schaffte es. Mit letzter Kraft taumelte sie auf die Straße. Schneller als sie reagieren konnte, tauchten zwei Scheinwerfer vor ihr auf, die immer größer wurden. Kainda versuchte, sich zur Seite zu werfen, doch es war zu spät. Mit ungeheurer Wucht wurde sie erfasst und durch die Luft geschleudert. Ein grelles Quietschen ertönte, bevor sie auf dem Asphalt auftraf. Halb betäubt vor Schmerz und von dem Mittel bekam sie alles nur wie durch eine Watteschicht mit. Sie spürte, wie sie sich erneut zu verwandeln begann, der Leopard übernahm ihren Körper. Kainda schloss die Augen, als sie das Schlagen einer Wagentür hörte und eine aufgeregte Stimme, die näher kam. Dann verblassten die Geräusche, und sie versank in der Bewusstlosigkeit.

2

„Oh Gott!“ Cal Rivers trat instinktiv auf die Bremse, als eine Gestalt vor ihm auf der Straße auftauchte. Er konnte nur einen schemenhaften Umriss im Lichtkegel seiner Scheinwerfer sehen, dann hörte er auch schon den grässlichen Aufprall. Für einen Moment glaubte er die weit aufgerissenen Augen einer Frau zu sehen, bevor sie zur Seite geschleudert wurde. Mit qualmenden Bremsen kam der Truck zum Stehen, Cals Hände zitterten, als er die Warnblinkanlage einschaltete und die Tür der Fahrerkabine öffnete. Er hatte in seiner Zeit als Trucker schon einige Tiere angefahren, aber noch nie einen Menschen. Was tat eine Frau mitten in der Nacht auf einem einsamen Highway? Hastig schwang er sich aus der Fahrerkabine und trat vor den Truck. Die Kühlerabdeckung war verbeult, Blut klebte daran. „Shit.“

Cal kniete sich hin und versuchte, unter dem Lastwagen etwas zu erkennen, doch es war zu dunkel. Fluchend holte er eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach und leuchtete zwischen den Rädern hindurch. Der Lichtschein tanzte durch die Dunkelheit. Nichts. Mühsam richtete Cal sich wieder auf.

„Hallo, können Sie mich hören?“ Es war unwahrscheinlich, dass jemand diesen Zusammenprall unbeschadet überstanden hatte, aber die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt. Cal zuckte zusammen. Schlechte Wortwahl. Mit der Taschenlampe leuchtete er die Straße ab und entdeckte schließlich einige Meter entfernt eine kleine Erhebung auf dem Asphalt. So schnell er konnte, lief er darauf zu und atmete tief durch, bevor er den Lichtstrahl auf das Opfer richtete. Cal stutzte und beugte sich weiter vor, als nicht wie erwartet eine Frau vor ihm lag, sondern irgendetwas mit heller Fellfarbe und dunklen Flecken. Seltsam, was war das für ein Tier? Egal was es war, er musste es von der Straße schaffen, bevor ein anderes Auto hineinfuhr. Mit einer Grimasse schob er seine Hände unter den noch warmen Tierkörper und hob ihn an. Etwas Warmes, Feuchtes lief über seine Finger. Blut.

Erst jetzt merkte Cal, wie groß und schwer das Tier war, es wog sicher vierzig Kilo, der lange Schwanz hing fast bis zum Boden. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn, während er die paar Meter bis zum Straßenrand zurücklegte. Vorsichtig bettete er das Tier auf das karge Gras, das neben dem Standstreifen wuchs. Mit der Taschenlampe leuchtete er es an, um herauszufinden, was es nun genau war. Schlanker Körperbau, lange Beine, langer Schwanz. Cal beugte sich vor, um sich den Kopf genauer anzusehen und zuckte zurück. Verdammt, das war eine große Raubkatze! Die Reißzähne blitzten tödlich im Licht der Taschenlampe, die Augen waren geschlossen. Bedauern durchzuckte Cal. Es tat ihm leid, wenn ihm ein Tier vor den Truck lief, aber noch mehr, wenn es so ein außergewöhnliches Tier war. Wenn ihn nicht alles täuschte, war es ein Leopard, Gepard oder Jaguar, jedenfalls etwas, das eigentlich hier nicht herumlaufen sollte. War es aus einem Zoo entkommen?

Vielleicht sollte er den Unfall der Polizei melden, damit jemand den Kadaver einsammelte, bevor ein anderer Autofahrer auf die Idee kam, ihn mitzunehmen und sich das Fell über den Kamin zu hängen. Allein die Vorstellung machte ihn wütend. Cal kniete sich neben die Katze und strich sanft über das zerzauste Fell. Zu Lebzeiten hatte sie vermutlich grandios ausgesehen, kraftvoll und trotzdem elegant. Mit einem tiefen Seufzer erhob Cal sich und schaltete die Taschenlampe aus. Er musste weiterfahren, wenn er heute noch zu Hause ankommen wollte. Zögernd wandte er sich ab und wollte zu dem Truck zurückgehen, als er ein seltsames Geräusch hörte. Fast wie ein Stöhnen. Nervös sah er sich um, konnte aber außer der toten Raubkatze nichts entdecken. Oder hatte er doch eine Frau überfahren, die jetzt noch irgendwo in den Büschen lag? Nein, das konnte nicht sein, es musste das Tier gewesen sein, schließlich war es noch warm gewesen und das Blut frisch. Cal hob die Schultern und drehte sich wieder um. Wahrscheinlich steckte der Schreck noch in seinen Knochen, und er hörte schon Dinge, die gar nicht da waren.

Müde wollte er über seine Augen reiben, als ihm bewusst wurde, dass seine Hände blutig waren. Genauso wie seine Arme, sein T-Shirt und seine Schuhe. Vermutlich war das Blut auch auf seine Hose gelangt. Wenn ihn irgendjemand so sah, würden sie ihn vermutlich für einen Mörder halten. Cal schnitt eine Grimasse. Besser, er wusch sich den Dreck erst ab, bevor er weiterfuhr. Wenn er Blut in den Truck schleppte, würde seine Frau ihn skalpieren, schließlich kämpfte sie schon seit Jahren darum, dass er den saubersten Lastwagen der gesamten Weststaaten fuhr. Rasch holte er einen Wasserkanister aus der Fahrerkabine und stellte sich an den Straßenrand. Während er das Wasser über seine Hand fließen ließ, sah er noch einmal zu der Raubkatze hinüber. Sie lag noch genauso dort, wie er sie hingelegt hatte, nur dass jetzt die Spitze des Schwanzes hoch stand. Cal vergaß das Blut an seinen Händen und starrte die Katze an. Kein Zweifel, der Schwanz bewegte sich. Konnten das Muskelzuckungen nach dem Tod sein? Aber dafür war sie doch schon zu lange tot, oder?

Langsam stellte Cal den Kanister auf den Boden und wischte seine Hände an der Hose ab. Er hockte sich vor die Raubkatze und beobachtete die Bewegung. Die Schwanzspitze zuckte hin und her, fast wie bei der Katze, die er als Kind gehabt hatte, wenn sie aufgeregt gewesen war. Zögernd legte er eine Hand auf den Brustkorb der Raubkatze. Zuerst verharrte er reglos, doch dann bewegte er sich unter einem flachen Atemzug. Cal zuckte zurück. Sie lebte noch! Was sollte er jetzt machen? Er konnte sie unmöglich hier liegen und unter Schmerzen sterben lassen. Sollte er ihr ein gnädiges Ende bereiten? Cal verwarf den Gedanken sofort. So etwas brachte er nicht einmal bei kleinen Tieren fertig, und er konnte sich einfach nicht vorstellen, einer Raubkatze den Schädel einzuschlagen. Ganz davon abgesehen, dass das Tier jemandem gehören musste, der darüber sicher nicht erfreut gewesen wäre. Vermutlich stand es sogar unter Artenschutz. Kopfschüttelnd ging Cal zum Truck zurück. Die Polizei würde ihm sagen können, was er machen sollte.

Cal holte das Telefon heraus und wählte den Notruf.

Ein Muskel zuckte in Fred Edwards Wange, als er auf den Blutfleck heruntersah. Er bückte sich und strich mit dem Finger hindurch, er war noch feucht. Langsam ließ er seinen Blick über die Umgebung gleiten. War die Leopardin irgendwo zum Sterben ins Gebüsch gekrochen? Nein, das Blut endete an einer Stelle am Straßenrand, eigentlich hätte sie dort liegen müssen. Doch das tat sie nicht. Er blickte zur Straße zurück. Beginnend mit dem Blutfleck zog sich eine breite Bremsspur über den Asphalt, die erst einige Meter weiter endete. Die Doppelreifen deuteten auf einen Truck hin. Anscheinend hatte der Fahrer den Unfall bemerkt und angehalten. Ungewöhnlich, dass jemand das für ein Tier tat, aber anscheinend war es so. Er hob den Kopf und verengte die Augen. Hatte der Fahrer sie etwa mitgenommen?

Wut stieg in Edwards auf, während er auf die anderen Jäger wartete. Wenn ihn nicht irgendetwas zu Fall gebracht hätte, gerade als er zum Betäubungsschuss ansetzte, wäre die Leopardin jetzt in seiner Gewalt. Stattdessen war sie losgerannt, als wären alle Höllenhunde hinter ihr her, und es war ihm nicht gelungen, sie wieder einzuholen. Er hatte zwar noch einige Male geschossen, aber anscheinend nicht getroffen. Verärgert steckte er sich eine Zigarette an und sog den Rauch tief in seine Lunge. Warum hatte sein Auftraggeber auch ausgerechnet ihm diese Aufgabe zugeteilt? Er war schließlich kein Jäger, auch wenn er keine Probleme damit hatte, jemanden zu beseitigen, wenn nötig. Aber nachdem Gowan, der die Tiere eigentlich einfangen sollte, verschwunden und vermutlich tot war, blieb diese Aufgabe an ihm hängen. Auch die Männer, die er zur Unterstützung mitgenommen hatte, waren unfähig gewesen, die Leopardin zu stoppen.

Er hätte gute Lust gehabt, sie einfach zu erschießen, als sie kurz darauf aus dem Wald hervorbrachen. Aber es konnte sein, dass er sie noch brauchte. Besonders wenn sein Auftraggeber so wütend über ihr Versagen war, wie er vermutete. Während er in die Richtung weiterging, in die der Lastwagen gefahren war, zog er sein Handy heraus und wählte eine Nummer.

„Ja.“ Mehr sagte sein Auftraggeber selten zur Begrüßung.

„Hier ist Edwards.“

„Habt ihr sie?“

Edwards schluckte trocken und bemühte sich, zuversichtlich zu klingen. „Nein, noch nicht. Sie ist auf die Straße gelaufen und anscheinend von einem Lastwagen erfasst worden. Jedenfalls sind hier Brems- und Blutspuren. Wir werden noch alles absuchen, aber ich schätze, dass der Fahrer sie mitgenommen hat.“

Stille dröhnte durch den Hörer. „Du hast also wieder versagt.“

„Nein, ich …“

Sein Auftraggeber redete weiter, als hätte er ihn nicht gehört. „Du weißt, dass ich dir noch eine Chance gegeben habe, obwohl du die Sache bei Stammheimer verbockt hast. Lass mich nicht bereuen, dir vertraut zu haben.“

Ein kalter Schauder lief über Edwards Rücken. „Dafür bin ich auch sehr dankbar. Ich werde Sie nicht enttäuschen.“

Das solltest du auch besser nicht tun. Du weißt, wie wenig ich Unfähigkeit ertrage.“ Ein tiefer Atemzug drang durch den Hörer. „Besorg dir die Polizeiprotokolle der Umgebung und prüf nach, ob ein Notruf bezüglich einer verletzten Raubkatze eingegangen ist. Wenn du nichts findest, versuch’ etwas über den Truckerfunk herauszubekommen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, legte sein Auftraggeber auf.

Ryan Thorne vergrub seinen Kopf unter dem Kissen, als das Klingeln in seinem Schädel einfach nicht aufhörte. Nachdem er sich die letzten Nächte im Park um eine kranke Giraffe gekümmert hatte, wollte er endlich den verlorenen Schlaf nachholen. Doch das sollte ihm wohl nicht vergönnt sein. Denn jetzt schien es auch noch so, als wollte jemand seine Tür niederreißen. Mit einem tiefen Seufzer rollte Ryan sich aus dem Bett und blieb für einen Moment auf der Kante sitzen, bis er die Augen aufbekam. Zumindest so weit, dass er auf dem Weg zur Haustür nirgends gegen lief.

„Ja, ja, ich komme, lass meine Tür heile!“ Selbst seine Stimme schien sich noch im Tiefschlaf zu befinden und kam nur als heiseres Krächzen heraus. Das Poltern ließ nicht nach, deshalb legte Ryan die letzten Meter so schnell zurück, wie er konnte, damit nicht auch noch die Nachbarn davon aufwachten.

Ryan schob den Riegel zurück und zog die Tür mit einem Ruck auf. Erstaunt blickte er Lynn an. „Hast du diesen ganzen Lärm veranstaltet? Hattest du einen Rammbock dabei?“

Lynn stemmte ihre Fäuste in die Hüften und richtete sich zu ihrer vollen Größe von einem Meter achtzig auf. „Sehr witzig, Mister Schnarchnase. Ich hätte nicht so viel Krach machen müssen, wenn du mir gleich die Tür geöffnet hättest. Oder noch besser, wenn du an dein Telefon gegangen wärst.“ Ihr Mundwinkel hob sich. „Dann hätte ich allerdings verpasst, dich in Boxershorts zu sehen, also streich das.“

Innerlich stöhnte Ryan auf, während er an sich herunter sah. Tatsächlich, er hatte abends einfach nur die Jeans ausgezogen und war so ins Bett gekrochen. Woher hatte er auch wissen sollen, dass die junge Tierpflegerin ihm einen Besuch abstatten würde. Immerhin waren alle strategischen Punkte verdeckt, sodass er sich nicht die nächsten Wochen alle möglichen Witze bei der Arbeit anhören musste. „Warum bist du hier?“

„Außer, um dich fast nackt zu sehen, meinst du?“ Ihr Grinsen reichte von einem Ohr zum anderen.

„Lynn.“

Sie zog eine Schnute. „Oh, schon gut. Du bist so eine Spaßbremse.“

„Das kann vorkommen, wenn ich mitten in der Nacht aus dem Bett geholt werde, nachdem ich die letzten Nächte schon in der Klinik verbracht habe.“

Die Tierpflegerin wurde ernst. „Ich soll dich holen, es wird angeblich gleich eine große Raubkatze von einem Trucker gebracht, der sie angefahren hat.“

Ryan hob eine Augenbraue. „Sprechen wir von einem Luchs oder Puma?“

„Nein, soweit ich das verstanden habe, soll es wohl ein Leopard oder etwas ähnliches sein.“ Sie hob die Schultern. „Guck mich nicht so an, ich bin nur der Überbringer der Nachricht. Also schmeiß dich in deine Klamotten und komm mit, dann kannst du es mit eigenen Augen sehen. Ich fahre schon mal zurück.“

„Wehe, das ist nur ein Scherz.“ Damit drehte Ryan sich um und ging ins Schlafzimmer zurück.

Er schlüpfte in seine Jeans und zog einen Pullover über. Nach einem kurzen Besuch im Bad war er abfahrbereit. Er freute sich schon darauf, wieder etwas mehr Freizeit zu haben, wenn bald ein weiterer Tierarzt in der Klinik anfing, aber es war auch ein seltsames Gefühl, die Verantwortung teilen zu müssen. Hoffentlich verstanden sie sich wenigstens gut, sonst würde die Arbeit sehr unangenehm werden. Bisher hatte er den neuen Kandidaten nur einmal kurz gesehen und sich noch keine Meinung über ihn gebildet. Rasch zog Ryan seine Schuhe an, überprüfte, ob er sein Handy eingesteckt hatte, und nahm den Schlüssel vom Haken.

Lynn war schon nicht mehr zu sehen. Immer wenn er mit ihr zusammen war, fühlte er sich gleich doppelt so alt. Hatte er überhaupt jemals solche Energie besessen? Irgendwie konnte er sich nicht mehr daran erinnern. Er liebte seine Arbeit im San Diego Wild Animal Park, der entgegen seines Namens am Rande der kleinen Stadt Escondido lag, aber sie fraß auch sein Leben auf. Wenn er abends nach Hause kam, war er meistens so kaputt, dass er sich nur noch Essen in der Mikrowelle erhitzte, etwas fern schaute oder ein Buch las und dann todmüde ins Bett fiel. Er hatte nicht mal Zeit, sich ein Haustier anzuschaffen, obwohl er sich über etwas Gesellschaft im Haus freuen würde.

Der Jeep rollte vom Grundstück auf die Straße und Ryan trat das Gaspedal durch. Um diese Uhrzeit war nur selten jemand unterwegs, deshalb hatte er freie Fahrt zum Park. Außerdem wurde er dank eines Abkommens mit dem hiesigen Sheriff nicht angehalten, wenn er in tierärztlicher Mission unterwegs war. Einer der Vorteile, wenn man in einer Kleinstadt wohnte. Auch Lynn schien die leeren Straßen ausgenutzt zu haben, als er wenige Minuten später auf der Zufahrtsstraße zum Park in die Einfahrt des Klinikgeländes einbog und neben ihrem Auto parkte, war sie schon im Gebäude verschwunden.

Ryan schwang sich aus dem Jeep und betrat die Tierklinik. Das Backsteingebäude war hell erleuchtet, und er hörte aufgeregtes Stimmengewirr. Das bedeutete wohl, dass tatsächlich jemand eine verletzte Raubkatze angeliefert hatte. Neugier und Aufregung breiteten sich in Ryan aus. Er mochte viele Tierarten, aber Katzen waren seine Lieblinge. Sie waren irgendwie … geheimnisvoll, nie zu durchschauen. Obwohl er so viel über sie wusste, konnten sie ihn dennoch immer wieder überraschen. Und da lag diese Wildheit in ihren Augen, ganz egal, wie lange sie schon im Zoo lebten oder ob sie nie wirkliche Freiheit gekannt hatten.

Ryan eilte den langen Korridor entlang. Eine Mischung aus Spannung und dunkler Vorahnung jagte durch sein Blut, ließ sein Herz schneller klopfen. Wie oft hatte er dieses Gefühl schon verspürt, wenn er zu einem Patienten gerufen worden war? Unzählige Male, und trotzdem war es immer wieder eine Überraschung. Nach zehn Jahren als Tierarzt sollte er sich allmählich daran gewöhnt haben und völlig abgebrüht sein. Doch das war er nicht. Auch wenn er es nach außen nicht zeigte, hatte er jedes Mal Angst, dass etwas schief ging und er ein Tier nicht retten konnte.

Als er den Behandlungsraum betrat, waren neben Lynn noch mehrere andere Pfleger und sogar der Nachtwächter des Parks anwesend. Neben ihm stand ein Mann, den er nicht kannte, dessen Hände und Kleidung Blutspuren aufwiesen. Er schien sich unbehaglich zu fühlen, während er auf etwas herunterblickte.

„Wo ist der Notfall?“ Die anderen zogen sich vom Tisch zurück, auf dem ein undefinierbares Bündel lag. Vor allem bewegte es sich nicht, was nie ein gutes Zeichen war.

Der Unbekannte trat vor. „Ich war auf dem Highway unterwegs, als plötzlich etwas aus dem Gebüsch auf die Straße lief. Zuerst dachte ich, es wäre eine Frau.“ Sein Gesicht rötete sich. „Entschuldigung, mein Name ist Cal Rivers, ich bin Truckfahrer. Ich habe den Notruf angerufen und gefragt, wer so ein Tier behandeln kann.“

Ryan schüttelte seine Hand. „Ryan Thorne, ich bin der Tierarzt hier.“ Er beugte sich vor und begann, den Stoff zurückzuschlagen.

Rivers trat von einem Bein aufs andere. „Als ich merkte, dass das Tier noch lebt, habe ich es in meine Ersatzhemden eingewickelt, damit es nicht zu viel Blut verliert.“

Ryan nickte stumm. Der helle Stoff war blutdurchtränkt, deshalb war fraglich, ob das Tier überhaupt noch lebte. Sein Herz zog sich zusammen, als er das dreckige, blutverkrustete Fell sah. „Ein Leopard.“

Einer der Pfleger reichte ihm einen Kittel und Latex-Handschuhe, die er überzog, bevor er den zerschundenen Körper berührte. Vorsichtig tastete er nach dem Herzschlag, konnte aber nichts spüren. Verdammt. Er zog den Handschuh zurück und hielt seine Handfläche vor die Schnauze des Leoparden. Ein feiner Luftstrom traf seine Haut. „Er lebt.“ Hastig wandte er sich an die Pfleger, die um ihn herumstanden. „Sonya, mach bitte eine Bluttransfusion fertig, erst einmal einen Liter.“ Ein Energiestoß schoss durch seinen Körper, das war es, wofür er diesen Beruf erlernt hatte. „Peter, mach den Operationsraum fertig. Ich weiß nicht, wie viel er noch mitbekommt, deshalb nehmen wir erst einmal eine leichte Betäubung.“ Er drehte sich zu dem Truckfahrer um. „Hat er sich noch bewegt, nachdem sie ihn erwischt hatten?“

Unbehaglich hob Rivers die Schultern. „Ich dachte zuerst, er wäre schon tot, weil er so still dalag. Nur der Schwanz hat ein wenig gezuckt.“

„Okay. Zuerst müssen wir den Blutverlust stoppen und danach machen wir eine Röntgenaufnahme.“ Ryan blickte auf den Leoparden herunter. „Auf jeden Fall ist der linke Humerus gebrochen.“

Rivers starrte ihn an. „Der was?“

„Der Oberschenkelknochen.“ Mit den Fingerspitzen fuhr er über die Umgebung der Wunde. Ein Knochen schimmerte durch das Fell.

Der Truckfahrer wurde blass. „Ich glaube, ich gehe lieber.“ Er trat ein paar Schritte zurück. „Meine Frau wartet auf mich. Wäre es möglich, dass Sie mir später sagen wie die Sache ausgegangen ist? Irgendwie fühle ich mich dafür verantwortlich.“

„Natürlich, hinterlassen Sie vorne Ihre Telefonnummer. Lynn, nimmst du das bitte in die Hand? Wir bräuchten auch den genauen Ort, an dem der Leopard angefahren wurde.“

Die Tierpflegerin nickte und führte Rivers nach draußen. Nachdem wieder Ruhe im Raum eingekehrt war, begann Ryan damit, den Leoparden zu untersuchen. Er bog das Maul auf und sah hinein. Die Zähne waren noch intakt und in gutem Zustand, die Reißzähne blitzten tödlich. Auch die Mundschleimhaut wirkte normal, wenn auch etwas blass, was aber durch den Blutverlust bedingt war. Mit den Daumen hob Ryan die Lider an. Blass grüne-gelbe Augen schienen ihn anzustarren, die Pupille ein winziger Punkt. Aber das war bei Raubkatzen normal, deshalb machte er sich erst einmal keine größeren Gedanken darüber. Langsam ließ er seine Finger über den Brustkorb wandern und schnitt eine Grimasse, als er eine Fraktur an den Rippen entdeckte. Hoffentlich war bei dem Aufprall kein Knochen in die wichtigen Organe eingedrungen. Die Wirbelsäule schien wenigstens noch intakt zu sein. Wäre sie gebrochen gewesen, hätte er den Leoparden sofort eingeschläfert. Er wollte dem Tier keine schmerzhafte Operation und Rekonvaleszenz zumuten, wenn es Schäden zurückbehielt, die ihm kein artgerechtes Leben mehr gestatten würden.

Der Schwanz schien unverletzt zu sein, ebenso wie die anderen Beine. Vorsichtig drehte Ryan die Raubkatze herum, sodass er sich auch die andere Seite ansehen konnte. Blut verklettete das Fell, wo es über einigen Schnitten eingetrocknet war. Wenigstens waren das nur oberflächliche Wunden, die bald verheilt sein würden. Um die verletzten Rippen nicht weiter zu belasten, begnügte er sich damit, über den Bauch zu streichen und nach weiteren Verletzungen zu tasten. Er hielt inne, als er einen Knubbel fühlte. In kurzem Abstand folgte ein weiterer und dann noch einer. Zitzen. Sanft zog Ryan seine Hände zurück und drehte sich zu Lynn um, die inzwischen zurückgekehrt war. „Es ist ein Weibchen.“ Er zog die Handschuhe aus und warf sie in den Mülleimer. „Gibst du mir den Scanner?“

Lynn reichte ihm das Gerät, mit dem er die Informationen auf dem implantierten Mikrochip abrufen konnte. Ryan fuhr damit über die linke Seite des Nackens, doch es wurden keine Informationen angezeigt. Stirnrunzelnd stellte er sicher, dass das Gerät auch funktionierte, bevor er noch einmal die gesamte Nackenregion scannte. Nichts. Entweder war der Chip beim Unfall kaputt gegangen, oder es war nie einer implantiert worden.

Allerdings war das mehr als unwahrscheinlich, alle Parks und Zoos waren verpflichtet, jedes ihrer Tiere durch einen Chip kenntlich zu machen. Vielleicht würden sie ihn auf dem Röntgenbild entdecken. Jetzt durfte er jedoch keine Zeit mehr verlieren. Zuerst würde er die Blutungen stoppen und sich den Bruch des Humerus vornehmen, dann die kleineren Wunden säubern und nähen oder verbinden, bevor er anhand des Röntgenbilds bestimmen würde, ob eine aufwendigere Operation nötig war. Wenn irgend möglich würde er gerne darauf verzichten, um dem ohnehin schon geschwächten Organismus nicht noch mehr zuzumuten.

„Okay, bringen wir sie rüber.“ Ryan löste die Feststellbremsen des Tisches und schob die Leopardin mit Lynns Hilfe in den Operationsraum.

3

Schmerzen. Ihr Körper fühlte sich an, als wäre sie von einer Herde Nashörner niedergetrampelt worden. Doch wie konnte das sein, sie machte keine Jagd auf Nashörner. Kainda versuchte, ihre Augen zu öffnen, doch es gelang ihr nicht. Furcht durchrieselte sie. Wo war sie? Was war geschehen? Sie konnte sich nicht mehr erinnern, was … Bilder flackerten hinter ihren geschlossenen Lidern. Ein Wald, Zweige, die sich bedrohlich bewegten, sie war auf der Flucht. Mit einem Schrei richtete sie sich auf, nur um gleich darauf wieder zurückzusacken, als unerträgliche Schmerzen durch ihren Brustkorb schossen. Ein dumpfes Stöhnen entkam ihr.

„Ganz ruhig, es ist alles in Ordnung. Du bist hier in Sicherheit.“ Eine kratzige männliche Stimme ertönte dicht neben ihr.

Kainda erstarrte und drückte sich dichter auf den Boden. Hatten ihre Verfolger sie erwischt? Doch wie konnte das sein, sie hatte keinerlei Erinnerung daran, dass sie gefangen genommen worden war. Aber woher sollten sonst die Schmerzen kommen? Zitternd versuchte sie, die Augen zu öffnen, aber noch immer gelang es ihr nicht.

Etwas strich über ihren Kopf. „Keine Angst, ich kümmere mich um dich.“

Wer war das? Sie roch Desinfektionsmittel, Seife und Mann. Doch darunter war noch etwas anderes, der Geruch nach anderen Tieren, nach Angst und Schmerzen. Oh Gott. Sie hatten sie gefangen und nun war sie den Verbrechern ausgeliefert. Sie musste hier weg, bevor es ihr so ging wie dem Berglöwen-Jugendlichen, der vor einigen Monaten gefangen genommen und gefoltert worden war! Wenn sie wirklich in die Hände der skrupellosen Verbrecher gefallen war, die versuchten, mit allen Mitteln zu beweisen, dass es Menschen gab, die sich in ein Tier verwandeln konnten, dann war ihr Leben verwirkt. Sie würden sie testen und foltern, bis sie ihr Geheimnis preisgab. Das durfte auf keinen Fall geschehen, nicht nur ihretwegen, sondern auch wegen ihrer Schwester Jamila und auch allen anderen Wandlern. Noch einmal versuchte sie, sich aufzurichten, wurde aber sanft zurückgedrückt.

„Du musst liegen bleiben, wenn du dich zu sehr bewegst, wirst du die Nähte wieder aufreißen.“ Sie spürte einen Stich in der Hüfte. „Schlaf noch etwas, du musst dich ausruhen, wenn du wieder gesund werden willst.“ Die einschmeichelnde Stimme wurde leiser, bis sie ganz verklang. Kainda spürte, wie ihr Körper schwerer wurde, das Angstgefühl verschwand. Weiche Wärme umhüllte sie. Und dann war da noch eine Hand, die in seltsam hypnotischen Bewegungen über ihr Fell strich. Eigentlich sollte sie sich fürchten und versuchen zu fliehen, aber sie fühlte sich plötzlich so zufrieden und wünschte sich nichts mehr, als hier zu bleiben und die Zuwendungen zu genießen.

Ryan strich durch das zerzauste Fell der Leopardin und beobachtete, wie sie tiefer in die Bewusstlosigkeit sank. Ihre Bewegungen hatten ihn aus dem Schlaf gerissen und nachdem sie immer panischer geworden war, hatte er ihr noch einmal eine Betäubungsspritze gegeben. Behutsam prüfte er, ob sie sich die Nähte aufgerissen hatte, doch es schien alles in Ordnung zu sein. Erleichtert lehnte er sich gegen die Wand zurück und betrachtete seine Patientin. Blut und Dreck verklebten das Fell, wo er es nicht rasiert hatte, um die Wunden zu desinfizieren und zu nähen. Sie sah schlimm aus, kaum etwas erinnerte an die majestätische Raubkatze, die irgendwo unter dem Schmutz verborgen sein musste. Seine Hand glitt über ihre Seite, wo die Rippen deutlich hervorstanden. Die Leopardin war eindeutig zu dünn, fast ausgezehrt, als hätte sie lange nicht mehr richtig gegessen. Wenn sie aus einem Zoo oder Tierpark geflohen war, musste das bereits einige Wochen zurückliegen, anders konnte er sich ihren Zustand nicht erklären. Ryans Augenbrauen schoben sich zusammen. Außer sie war in einem Privatgehege gehalten worden, und der Besitzer hatte sich nicht richtig um sie gekümmert. Dazu würden auch der fehlende Mikrochip und die älteren Narben passen, die er unter ihrem Fell entdeckt hatte.

Nach dem, was die Leopardin höchstwahrscheinlich erlebt hatte, wunderte ihn ihre Unruhe nicht. Wahrscheinlich würden sie alle Hände voll zu tun haben, wenn sie erst wieder vollständig aus der Narkose erwacht war und bemerkte, wo sie sich befand. Irgendwie musste es ihm dann gelingen, sie zu beruhigen, denn sie durfte sich noch nicht zu sehr bewegen, und er konnte sie nicht die ganze Zeit sedieren. Sie musste fressen und wieder zu Kräften kommen, um überhaupt eine Chance zu haben.

Vielleicht sollte er die Gelegenheit nutzen und die Leopardin waschen, bevor sie wieder aufwachte. Mit einem unterdrückten Stöhnen stand Ryan auf und duckte sich unter der Käfigtür hindurch. Die leere Spritze warf er in den Sondermüll, während er herzhaft gähnte. Obwohl er einige Stunden auf der Liege vor dem Käfig geschlafen hatte, fühlte er sich wie gerädert. Aber das war nicht zu ändern, bald würden die anderen eintreffen und der Arbeitstag beginnen, egal ob er dafür bereit war oder nicht. Wahrscheinlich würde Lynn ihm sagen, dass er selbst Schuld war, schließlich hatte er darauf bestanden, bei seiner Patientin zu bleiben, obwohl die Operation erfolgreich verlaufen war.

Rasch ließ er Wasser in eine Schüssel laufen, während er sich einen Kittel überzog. Mit einer Fellbürste und einem Lappen bewaffnet kletterte er wieder in den Käfig. Er würde beim Kopf beginnen und dann sehen, wie weit er kam, bis ihn die anderen störten oder die Leopardin aufwachte. Ryan tunkte den Lappen ins lauwarme Wasser und strich damit sanft über die Stirn. Punkte verschiedener Größe tauchten auf, je mehr Blut und Schmutz er entfernte. Vorher waren sie nur zu erahnen gewesen. Als nächstes nahm er sich die Ohren vor, deren längere Haare völlig verklebt waren. Bei seiner Berührung zuckte der Schwanz, das Maul öffnete sich. Er sollte sich eindeutig beeilen, es sah so aus, als wäre die Leopardin wieder dicht unter der Oberfläche. Noch vorsichtiger säuberte er die Nase und die langen Schnurrhaare, bevor er sich dem Maul widmete.

„Na, du bist aber ein schönes Mädchen unter all dem Schmutz.“ Automatisch begann er zu reden, wie er es mit allen Patienten tat, die sich länger in der Klinik aufhalten mussten. Andere Tierärzte belächelten so etwas, aber er hatte das Gefühl, dass sie dadurch ruhiger wurden und die Heilung schneller voranschritt. Wahrscheinlich nur Einbildung, aber es schadete sicher auch nicht, wenn er sich mit den Tieren unterhielt. Nicht dass sie jemals antworteten, zumindest nicht mit Worten. „Dann wollen wir mal dafür sorgen, dass auch jeder deine schönen Rosetten sehen kann.“

Während er sich langsam zum beinahe weißen Bauchfell vorarbeitete, summte er eine Melodie vor sich hin, die sich in seinem Kopf festgesetzt hatte, seit er die Leopardin zum ersten Mal gesehen hatte. Seltsamerweise war er in diesem Moment völlig zufrieden, entspannt und ruhig wie schon lange nicht mehr. Sanft fuhr er mit dem Lappen über die Zitzen und stutzte. Ein Lächeln glitt über seine Lippen. „Du hast also schon Nachwuchs gehabt. Herzlichen Glückwunsch.“

Vorsichtig wusch er um den Rippenverband herum und widmete sich zuletzt dem Schwanz, der erneut zuckte. Allzu lange sollte er sich nicht mehr im Käfig aufhalten. Auch wenn die Leopardin noch schwach war, musste sie ihn mit ihrer Tatze nur einmal richtig treffen, um ihn schwer zu verletzen. Mit der Bürste versuchte er, das Fell so zu glätten, wie es das Tier normalerweise mit der Zunge selbst machen würde und ließ schließlich zufrieden die Hand sinken. „So, das war’s. Jetzt siehst du wieder wie ein Mensch aus.“ Ryan lachte leise. „Entschuldige, wie eine Leopardin.“

Die Ohren bewegten sich in Richtung seiner Stimme, ein sicheres Zeichen für Ryan, dass seine Patientin ihn hören konnte. Ein letztes Mal strich er über ihren Hals. „Ruh dich aus, ich sehe später wieder nach dir.“ Er kletterte rückwärts aus dem Käfig und schloss die Tür leise hinter sich.

„Redest du schon wieder mit den Tieren?“

Ryans Rücken knackte protestierend, als er herumwirbelte. „Verdammt, Lynn, musst du mich so erschrecken?“

Die Pflegerin lachte nur. „Ich frage mich, was du machst, wenn mal irgendwann ein Tier anfängt, mit dir zu reden.“

„Wahrscheinlich falle ich vor Schreck tot um.“

Lynn nahm ihm Schüssel und Bürste ab. „Dann ist es ja gut, dass das nie passieren wird.“ Sie neigte den Kopf zum Dreckwasser. „Dir ist aber schon klar, dass das unsere Aufgabe ist?“

„Natürlich, aber da ich sowieso wach war und ihr auch so schon genug zu tun habt, habe ich es euch ausnahmsweise abgenommen.“ Er sah zur Leopardin zurück. „Sie hat anscheinend schon einiges hinter sich, ich wollte, dass sie sich etwas wohler fühlt.“ Und warum er meinte, sich rechtfertigen zu müssen, war ihm ein Rätsel. Wahrscheinlich, weil er das Gefühl hatte, nur selber richtig für die Raubkatze sorgen zu können. Was totaler Quatsch war, sein eingespieltes Team lieferte sehr gute Arbeit ab, und er konnte sich jederzeit auf sie verlassen. Ryan zwang sich zu einem Lächeln. „Beim nächsten Mal bist du dann wieder dran.“

Lynn hob die Schultern. „Ich werde dich daran erinnern. Wie geht es ihr?“

„Sie hat die Nacht überlebt, mehr kann ich noch nicht sagen. Morgens ist sie unruhig geworden, deshalb habe ich sie noch einmal leicht sediert. Wir müssen verhindern, dass sie sich die Nähte gleich wieder aufreißt oder dass sich die gebrochenen Knochen verschieben.“ Das Bein hatte er geschient, aber die angebrochenen Rippen konnte er schlecht eingipsen, um sie zu immobilisieren. Ryan zog den Kittel aus, ging zu seinem Spind und holte seine Waschtasche heraus. „Ich mache mich ein wenig frisch und dann kümmere ich mich um die heutigen Patienten.“ In der Tür blieb er stehen. „Du achtest auf die Leopardin?“

„Natürlich.“ Lynn nahm ihm den Kittel ab. „Dafür bin ich ja da.“

Jamila roch Finn, bevor sie ihn den Hügel heraufkommen hörte. Es schien, als hätte sich sein unvergleichlicher Duft nach Mann und Holz in ihr Gehirn gebrannt und wäre nicht mehr daraus zu vertreiben, egal was sie auch versuchte. Und das schon seit drei Monaten, seit sie mit Kainda in das Lager der Berglöwenwandler gekommen war und ihn zum ersten Mal so blond, groß und stark – und vor allem nackt – vor sich gesehen hatte. Es hatte nicht einmal die Tatsache geholfen, dass sie zu der Zeit zusammen mit ihrer Schwester in eine Art Gefängnishöhle gesperrt gewesen war und die Berglöwenwandler ihre Feinde waren. Irgendwie hatte die Leopardin in ihr nur einen Blick auf ihn geworfen und ganz laut und deutlich ‚meins‘ gesagt.

Blind starrte sie weiterhin von ihrem Platz auf dem Felsüberhang auf die Landschaft unter ihr. In den letzten Monaten hatte sie sich daran gewöhnt, in dichtem Wald zu leben. Trotzdem gab es noch Momente, in denen sie sich in die afrikanische Savanne zurück wünschte. Dort fühlte sie sich nicht so … umzingelt. Über sich selbst verärgert, presste sie die Lippen zusammen. Sie sollte froh sein, bei den Berglöwenmenschen untergekommen zu sein, während sie auf Kaindas Rückkehr wartete. Unerwartet schoss ein scharfer Schmerz durch ihr Herz. Mit einem unterdrückten Aufschrei presste Jamila die Hände auf ihren Brustkorb. Sie krümmte sich nach vorne und rang um Atem.

„Jamila, was hast du?“ Finns raue Stimme erklang jetzt neben ihr, und seine große Hand legte sich zögernd auf ihren Rücken.

„K… Kainda.“

„Was ist mit deiner Schwester?“

„I… Ich weiß es nicht. Irgendetwas ist nicht in Ordnung.“ Sie atmete zitternd ein.

Finns Wärme schloss sich um sie, als er sie an sich zog. Ihre Wange legte sich wie von selbst an seine nackte Brust und sie schloss für einen Moment die Lider. Das beruhigende Pochen seines Herzens trieb ihr Tränen in die Augen.

Abrupt löste sie sich wieder von ihm und drehte ihm den Rücken zu. Er durfte ihre Schwäche nicht sehen, auch wenn sie vermutete, dass er wusste, wie sie auf ihn reagierte. Sein Anblick, vermischt mit seinem Geruch und ihrem eigenen Zustand hatte schon damals bei ihrer ersten Begegnung eine Reaktion verursacht, die sie sich nicht leisten konnte. Seitdem hatte sie sich bemüht, ihm soweit möglich aus dem Weg zu gehen. Es half auch nicht, dass er jetzt dem Rat vorstand, denn damit war er für alle Wandler im Lager verantwortlich, also auch für Jamila.

„Hast du etwas von Kainda gehört?“

„Nein, nichts. Und das beunruhigt mich, eigentlich hätte sie sich längst wieder melden müssen. Ihre letzte Mail ist jetzt schon Wochen her.“

Finn setzte sich neben sie und ließ die Beine über den Vorsprung hängen. Jamila hatte Mühe, die muskulösen Oberschenkel nicht anzustarren oder gar den Blick daran hinauf wandern zu lassen. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie sich noch bis ins kleinste Detail daran erinnern, wie er an jenem Tag ausgesehen hatte. So kraftvoll und … groß.

„Vielleicht hat sie Probleme damit, in eine Stadt zu kommen, ohne aufzufallen. Ich nehme an, es ist hier ein wenig anders als bei euch“, sagte Finn.

Nun sah sie ihn doch an, hielt ihren Blick aber strikt auf seinem Gesicht. „Wir haben so wie ihr zurückgezogen in der Wildnis gelebt, wenn du das meinst. Das Konzept Stadt ist uns aber durchaus bekannt.“

Seine Zähne blitzten in seinem gebräunten Gesicht auf. „Autsch. Du kannst die Krallen wieder einziehen, ich wollte euch keineswegs beleidigen, nur darauf hinweisen, dass amerikanische Städte sicher etwas anders sind als afrikanische. Besonders wenn sie in die Nähe von San Francisco oder Los Angeles kommt.“ Sein Gesichtsausdruck wurde ernster. „Was ich nicht hoffe, denn dort ist die Gefahr einer Entdeckung viel zu hoch. Und deine Schwester könnte die Verbrecher, die unsere Existenz für ihre Zwecke ausschlachten wollen, direkt zu uns führen.“

Ärger stieg in Jamila auf. „Kainda würde uns nie verraten! Warum habt ihr sie überhaupt gehen lassen, wenn ihr uns nicht vertraut?“

Finns Augenbrauen schoben sich zusammen. „Was hätten wir denn tun sollen, sie hier einsperren oder sogar töten? Außerdem meinte ich nicht, dass sie freiwillig Informationen preisgibt, zumindest nicht, solange du bei uns lebst. Aber du weißt, was mit Bowen passiert ist.“

Jamila schloss die Augen. Wie könnte sie das vergessen, nachdem sie dazu beigetragen hatte, die Entführung des Jugendlichen zu ermöglichen. Nur knapp waren die Wandler damals einer Entdeckung entgangen, und noch heute hatte sie Alpträume wegen ihrer Beteiligung an all dem Unglück. Sie war sehr dankbar, dass die Berglöwenmenschen ihr erlaubten, hier zu bleiben, obwohl sie ihren ehemaligen Anführer Coyle und seine Geliebte Marisa beinahe getötet hatte. Sie selber wäre wahrscheinlich nicht so großzügig gewesen, wenn einer der ihren verletzt worden wäre. „Kainda würde sich nie gefangen nehmen lassen.“

Schweigend hob Finn eine Augenbraue, bis Jamila errötete und wegblickte.

„Manchmal hat man keine Chance, das solltest gerade du wissen.“ Seine tiefe Stimme war noch rauer als sonst. „Aber wir sollten nicht das Schlimmste annehmen, sondern davon ausgehen, dass deine Schwester sich melden wird, wenn sie die Möglichkeit dazu hat. Wenn du möchtest, können wir eine Internetsuche nach ihr starten.“

Jamila grub die Zähne in ihre Lippe und nickte. „Ich könnte es nicht ertragen, nicht zu wissen, was mit ihr passiert ist. Sie ist alles, was ich noch habe.“

Finn sah aus, als wollte er etwas sagen, kam dann aber nur in einer eleganten Bewegung auf die Füße. „Ich sage dir dann Bescheid, wenn ich etwas herausgefunden habe.“

Jamila legte ihre Hand auf seinen Arm. Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihn noch einmal zu berühren, seinem warmen Körper so nah zu sein. Unwillkürlich glitten ihre Augen über ihn, und sie spürte, wie sich Hitze in ihr ausbreitete. Ihre Finger zitterten vor Verlangen, ihn zu streicheln. Nur gut, dass ihre dunkle Hautfarbe die Röte nicht zeigte, die in ihre Wangen gestiegen war. Rasch ließ sie ihn los. „Danke.“

Finn nickte knapp und verwandelte sich ohne ein weiteres Wort in einen Berglöwen. Für einen Moment sah Jamila ihm nach, wie er zum Lager zurücklief, bevor sie ihm langsamer folgte. Was sollte sie tun, wenn Kainda sich nicht mehr meldete? Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie ihrer Schwester folgen musste, aber wie sollte sie sie jemals finden? Sie konnte überall sein, und Amerika war zu groß, um es abzusuchen. Allein der Westen war so gigantisch, dass solch eine Aktion von vornherein zum Scheitern verurteilt wäre. Doch was konnte sie sonst tun? Einfach nur hier sitzen und Däumchen drehen, während Kainda vielleicht in Lebensgefahr schwebte? Unmöglich. Obwohl es wahrscheinlich nichts bringen würde, schloss sie die Augen und damit alle äußeren Elemente aus. Kainda, melde dich!

Das Handy klingelte, als Edwards gerade ein kleines Diner betreten wollte, aus dem ihm der Duft nach frischem Kaffee entgegen strömte. Nachdem er die ganze Nacht nach Spuren gesucht hatte, war seine Energie erschöpft und er brauchte dringend einen Schuss Koffein. Es war alles nur die Schuld dieser verfluchten Leopardin, wie konnte sie so blöd sein, sich anfahren zu lassen? Und wie war es ihr gelungen, dass jemand sie mitgenommen hatte?

Er klappte das Handy auf. „Hast du was?“

„Ich habe mir alle Polizeiprotokolle in einem Umkreis von fünfzig Meilen besorgt und arbeite sie gerade durch. Mein Truckerkumpel war gestern unterwegs und meinte, er hätte über Funk nichts von einem Unfall gehört. Aber ich werde weiterforschen.“

„Gut. Ich brauche in zwei Stunden ein Ergebnis.“

„Aber …“

Ohne eine Antwort zu geben, klappte Edwards das Handy zu und schob es in seine Hosentasche. Nach seiner Erfahrung erzielte er so schneller das, was er erreichen wollte, als wenn er Drohungen ausstieß. Es schadete natürlich auch nicht, dass ihm sein Ruf vorauseilte, auch wenn dieser größtenteils auf Gerüchten, Mutmaßungen und falschen Aussagen beruhte. Diejenigen, die dachten, sie hätten ihn und seine Motive durchschaut, lagen oft so weit daneben, dass es lachhaft war. Aber er machte sie nicht auf ihren Fehler aufmerksam, sondern ignorierte sie einfach.

Ein freudloses Lächeln hob seine Mundwinkel, als er das Diner betrat. Er suchte sich eine dunkle Ecke und wartete darauf, dass die Kellnerin an seinen Tisch kam.

„Was darf es sein?“ Sie kniff ihre Augen zusammen, während sie versuchte, ihn in der Dunkelheit richtig zu erkennen.

„Den stärksten Kaffee, den Sie haben, bitte.“

Ein wissendes Lächeln huschte über ihre Lippen. „Ah, lange Nacht, was?“

„Sehr lang.“ Damit lehnte er sich zurück und sah der Kellnerin nach, als sie zur Theke zurück eilte, um seine Bestellung zu erfüllen.

Wie war er überhaupt in diese Situation gekommen? Jahrelang hatte er kleinere Sachen für seinen Auftraggeber erledigt, meist beschränkte es sich darauf, irgendwelchen Leuten eine Botschaft zu überbringen und sie ein wenig aufzumischen. Nur hin und wieder musste er jemanden endgültig verschwinden lassen. So wie diesen Henry Stammheimer vor drei Monaten. Sein Auftraggeber hatte ihm nicht gesagt, warum er den Wissenschaftler beseitigen sollte, aber er vermutete, dass es darum ging, sich eines Mitwissers zu entledigen und gleichzeitig dessen Forschungsergebnisse, unter anderem irgendeinen Film, an sich zu bringen. Und einen Berglöwen, der irgendwo im Haus versteckt sein sollte. Nur hatte er keinen gefunden. Also hatte er nur Stammheimer erledigt und seinen Computer mitgenommen, in der Annahme, dass sein Auftraggeber damit zufrieden sein würde.

Doch das war er nicht, ganz im Gegenteil. Besonders weil der von ihm gewünschte Film nicht auf dem Computer zu sein schien und auch auf keinem der Datenträger, die er mitgenommen hatte. Deshalb war Edwards gleich noch einmal zurück gefahren, aber nicht mehr zum Haus durchgekommen, weil die Polizei alles abgeriegelt hatte. Sie schienen jedoch auch nicht das gefunden zu haben, was sein Auftraggeber suchte, nachdem Stammheimers Tochter sie gerufen hatte – was ein Glück für ihn gewesen war, denn sonst hätte sein Auftraggeber ihn wohl nicht am Leben gelassen. Nachdenklich rieb er über die Narbe an seinem Hals. Wo war die Kleine überhaupt gewesen? Edwards war ihre Kleidung in einem der Zimmer aufgefallen, aber er hatte sie im Haus genauso wenig finden können wie den Berglöwen, der dort angeblich versteckt war. Deshalb war er lieber verschwunden, solange er es noch konnte, und hatte nicht auf ihre Rückkehr gewartet. Vielleicht war das ein Fehler gewesen, aber sein Auftraggeber plante sicher schon, wie er erfahren konnte, ob diese Isabel etwas wusste. Armes Mädchen.

Jamila! Der Name zuckte durch ihren Verstand und brachte sie an die Oberfläche zurück. Es kam Kainda vor, als wäre sie in Treibsand gefangen, sie konnte sich kaum bewegen und ihre Gedanken waren zäh. Aber ihre Ohren funktionierten noch, ein seltsames Quietschen, das sie nicht zuordnen konnte, ließ sie zusammenzucken. Unerwartet schoss ein scharfer Schmerz durch ihre Rippen, der sie schwach fauchen ließ, was bedeutete, dass sie gerade Leopard war. Bevor sie sich zurückverwandeln konnte, musste sie feststellen, wo sie sich befand, doch das war schwieriger als erwartet. Ihre Lider waren so schwer, dass sie die Augen nur einen winzigen Spalt öffnen konnte. Ihre Umwelt lag hinter einem unscharfen Schleier, der sich nur langsam klärte. Schließlich erkannte sie, dass sie in einem Käfig lag, enge Gitterstäbe versperrten ihr den Weg in die Freiheit. Hatten ihre Verfolger sie mitgenommen, nachdem die Betäubung gewirkt hatte? Ein Zittern lief durch Kaindas Körper, das weitere Schmerzen auslöste. Mit angehaltenem Atem starrte sie angestrengt durch die Stäbe. Ihr Käfig befand sich in einem kleinen Raum, dessen Tür halb offen stand.

Dahinter schienen sich mehrere Personen aufzuhalten und … ihre Nasenflügel blähten sich. Nahrung. Jetzt konnte sie auch die Geräusche zuordnen, im Nebenraum befand sich ein lebendiges Dik-Dik. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen, ihr Magen verkrampfte sich. Es war so lange her … Kainda untersuchte den Schließmechanismus des Käfigs. Ein einfacher Riegel, sie bräuchte sich nur verwandeln, ihn aufschieben und wäre frei. Allerdings hatte der Raum scheinbar keinen anderen Ausgang, und sie konnte schlecht nackt aus der Tür spazieren, als wäre nichts gewesen. Aber später, wenn alle gegangen waren, konnte sie es versuchen. Ihr Kopf begann zu schmerzen, und sie schloss für einen Moment die Augen. Als sie merkte, wie sie langsam davon zu driften begann, riss sie sie wieder auf. Sie musste wach bleiben, wenn sie eine Chance haben wollte zu fliehen. Oder war alles nur ein Trick? Wollten diese Leute, dass sie sich verwandelte? Bei Bowen, dem entführten Berglöwen-Jugendlichen, war es so gewesen, und sein Peiniger, ein Wissenschaftler namens Stammheimer, hatte ihn ausgehungert und gefoltert, um ihn dazu zu bringen. Sie hatte den jungen Mann nach seiner Befreiung nur kurz im Lager der Berglöwen gesehen, aber es war deutlich gewesen, wie sehr er unter dieser Tortur gelitten hatte.

Würde es ihr auch so gehen? Anscheinend hatte sie Verletzungen erlitten, die sie schwächten und den anderen einen Vorteil gaben. Wahrscheinlich war es besser, ein wenig abzuwarten und Kräfte zu sammeln, bevor sie irgendetwas unternahm. Aber würde sie noch einmal so eine Gelegenheit bekommen? Mühsam stemmte Kainda sich hoch und hielt den Atem an, als ein heftiger Stich durch ihre Rippen fuhr. Okay, das tat weh, aber sie würde es überleben. Zuversichtlicher hob sie ihr Hinterteil an, als unerwartet ein furchtbarer Schmerz durch ihr linkes Bein fuhr und es unter ihr einknickte. Mit einem heiseren Fauchen sank sie zu Boden, der Aufprall presste die Luft aus ihrer Lunge und erschütterte die empfindlichen Rippen. Schwärze sank über ihr herab und hüllte sie ein. Verzweifelt klammerte sich Kainda an den letzten Rest Bewusstsein.

„Ich glaube, ich habe etwas gehört, ich sehe lieber mal nach.“ Die Stimme kam mit jedem Wort näher.

Kainda wollte ihrem Körper befehlen, sich zu bewegen, doch es war, als hätte er sich abgeschaltet. Allerdings funktionierte ihr Geruchssinn noch, und sie nahm etwas wahr, das ihr seltsam bekannt vorkam. Ein Duft, den sie schon einmal gerochen hatte, eine Mischung aus Mann, Desinfektionsmittel, Dik-Dik und einem Hauch erdigen Aftershaves. Sie spürte einen Luftzug und hörte das Rascheln von Kleidung, als würde sich der Träger des Geruchs vor sie hocken. Mit einem metallischen Geräusch wurde der Riegel zurückgeschoben und die Käfigtür geöffnet. Etwas berührte ihre Hüfte und löste bei ihr ein unwillkürliches Zittern aus.

„Du bist wach, oder? Keine Angst, ich tue dir nichts, ich will nur kontrollieren, ob die Verbände noch sitzen.“

Verbände? Sie hätte nicht gedacht, dass sich die Verbrecher die Mühe machen würden, ihre Wunden zu versorgen. Außer sie fürchteten, dass sie sterben könnte, wenn sie es nicht taten. Ja, vermutlich war sie einfach zu wertvoll, um ihren Tod zu riskieren. Allerdings passte die sanfte Berührung des Mannes nicht ganz dazu, er schien sich zu bemühen, ihr keine zusätzlichen Schmerzen zuzufügen. Anscheinend wusste er aber, dass sie eine Wandlerin war, denn sonst würde er nicht mit ihr reden, als könnte sie ihn verstehen. Ein leises Gefühl von Enttäuschung durchrieselte sie.

„Alles in Ordnung, anscheinend hat die Naht gehalten.“ Die Hand fuhr jetzt über ihren Hals, eine seltsam liebevolle Berührung. „Ich glaube, ich muss auch die nächste Nacht noch auf dich aufpassen, damit du dir nicht selber wehtust.“

Seine Finger kraulten sie hinter ihrem Ohr, und sie verhinderte gerade noch, dass ihr ein automatisches Schnurren entschlüpfte. Nein, sie durfte ihn nicht an sich heranlassen, er war ihr Feind! Mit einem letzten Rest Kraft ruckte sie herum und schnappte nach seiner Hand. Anscheinend waren ihre Bewegungen noch zu langsam, denn er schaffte es, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, ihre Zähne fuhren durch Luft.

„Das war knapp!“ Die Stimme entfernte sich von ihr, die Käfigtür wurde zugeschoben und mit dem Riegel gesichert. Ein leises Lachen ertönte. „Ich sollte langsam wissen, dass man Wildtieren besser nicht zu nahe kommt.“ Die Stimme wurde sanfter. „Schlaf noch ein wenig, damit du zu Kräften kommst. Wenn du die Nacht überstehst, können wir es morgen mit fester Nahrung versuchen.“

„Ryan, kommst du auch irgendwann wieder? Das Kleine benimmt sich wie ein Derwisch, weil es die Nähe der Leopardin spürt.“ Die Frau schien sich im Nebenraum zu befinden.

„Ich komme.“ Leise Schritte entfernten sich in Richtung der Tür, die gleich darauf zugezogen wurde.

„Wie geht es ihr?“ Gedämpft drang die Stimme der Frau durch die Tür.

„Sie wird schon kräftiger, sie hat eben versucht, nach mir zu schnappen.“ Ein Lachen schwang in der Antwort des Mannes mit.

„Irgendwann hast du mal ein paar Finger weniger und wie willst du dann noch deine Arbeit machen? Wir können es uns nicht leisten, noch einen Tierarzt zu verlieren.“

„Henry ist in Rente gegangen, nicht gestorben.“

„Ist doch fast das Gleiche.“

Gelächter folgte der Bemerkung, das Kainda noch mehr verwirrte. Wer waren diese Leute? Der Mann – Ryan – war anscheinend Tierarzt und behandelte gerade ein Dik-Dik. Wie passte das zu ihren Verfolgern? Gab es auch Pflanzen fressende Tiere als Wandler? Sie hatte noch nie davon gehört, und es war mehr als unwahrscheinlich, dass sie die kleine Antilope aus Afrika hierher holten, um sie zu untersuchen. Außerdem … klangen die Leute im Nebenzimmer nicht wie Folterer, die versuchen würden, Wandlern mit Gewalt ihr Geheimnis zu entlocken. Aber es wäre nicht das erste Mal, dass sie sich irrte.

Kainda legte ihren Kopf auf die weiche Unterlage zurück. Auch wenn es ihr widerstrebte, das zu tun, was der Mann gesagt hatte, musste sie sich ausruhen und ihre Kräfte sammeln, wenn sie hier herauskommen wollte. Bewusst blendete sie die Geräusche und Gerüche aus dem Nebenraum aus und versank innerhalb weniger Minuten in einen tiefen Schlaf.

 

4

Gut, sie war eingeschlafen. Ryan zog den Kopf zurück und schloss die Tür leise hinter sich. Den ganzen Tag lang hatte er immer wieder kontrolliert, wie es der Leopardin ging, doch sie schien die Verletzungen und die Operation vergleichsweise gut überstanden zu haben. Heute Morgen noch hätte er keine Wetten darauf abgeschlossen, doch wie es aussah, war sie stark. Etana. Ryan richtete sich auf. Das war genau der richtige Name für die Leopardin: die Starke. Es hatte ihn schon ganz nervös gemacht, sie nicht mit einem Namen anreden zu können. Vielleicht war es eine Macke von ihm, aber jedes Tier im Park war ein Individuum und verdiente einen eigenen Namen. Auch wenn Etana nur für kurze Zeit bleiben würde.

„Wie geht es der Leopardin?“ Lynn reichte ihm den Patientenbogen der Elefantenkuh, die er am Vormittag behandelt hatte, den er kurz überflog und anschließend unterschrieb.

„Gut, denke ich. Allerdings braucht sie dringend Nahrung, ich möchte nicht, dass sie noch mehr abmagert. Kannst du ihr irgendetwas mixen, das sie leicht hinunter bekommt?“

„Klar. Eine normale Raubkatzenportion?“

„Ja, ich werde sie ihr dann nach und nach einflößen.“ Ryan zog seinen Kittel aus und warf ihn in den Wäschekorb.

„Sag nicht, du willst heute Nacht schon wieder hier bleiben.“ Die Augenbrauen zusammengezogen betrachtete Lynn ihn. „Du siehst jetzt schon fürchterlich aus, denkst du nicht, du solltest mal etwas kürzer treten?“

„Was würde ich nur ohne deine netten Komplimente tun?“ Er winkte ab, als sie zu einer Antwort ansetzte. „Ich mag die Leopardin noch nicht alleine lassen, es könnten noch Komplikationen auftreten.“

„Das kann doch einer von uns …“

„Nein.“ Ryan ließ seine Stimme sanfter klingen. „Danke, aber wenn wirklich etwas passiert, ist es besser, wenn ich nicht erst noch zehn Meilen fahren muss, sondern gleich zur Stelle bin.“ Er wusste selber, dass er sich irrational benahm, aber er konnte sich nicht dazu durchringen, seine Patientin alleine zu lassen. Vermutlich würde es reichen, wenn einer der Pfleger bei ihr blieb und ihn benachrichtigte, wenn etwas passierte, schließlich handhabten sie das schon seit Jahren so. Aber sein Gefühl sagte ihm, dass die Leopardin ihn brauchte, nicht nur medizinisch. Müde strich Ryan durch seine Haare. „Keine Sorge, ich werde es mir wieder auf der Liege gemütlich machen und vermutlich wie ein Stein schlafen.“

Bevor seine Kollegin ihm noch weitere Ratschläge oder Verhaltensmaßnahmen mit auf den Weg geben konnte, zog Ryan sich hastig zurück. Eine lange heiße Dusche wäre jetzt genau das Richtige, um seine schmerzenden Muskeln zu lockern. Besonders im Hinblick auf eine weitere lange Nacht auf der eher unbequemen Liege und der Tatsache, dass er nach dem Arbeitstag vermutlich nicht sonderlich gut roch. Nicht dass es irgendjemandem auffallen würde, schließlich hatte er kein Date vor sich. Ein Lächeln hob seine Mundwinkel. Zumindest kein gewöhnliches. Der Leopardin war es vermutlich völlig egal, wie er roch, besonders in ihrem Zustand.

Der Gedanke an ihre Verletzungen verdüsterte seine Stimmung. Er hatte ein wenig recherchiert, aber nirgends eine Meldung gefunden, dass ein Park eine Leopardin vermisste. Also konnte sie eigentlich nur aus einem Privatgehege stammen, und wenn er ihre alten Narben und ihren Allgemeinzustand betrachtete, schien sie schlecht behandelt worden zu sein. Egal wem sie gehörte, er würde sie nicht zurückgeben, wenn nicht sichergestellt war, dass sie artgerecht gehalten wurde. Was er mit ihr machen würde, wenn sich kein Besitzer fand, war ein weiteres Problem. Zu gern hätte er sie im Wild Animal Park behalten, aber Platz gab es nur im Gepardengehege, und es war fraglich, ob sich die verschiedenen Arten verstehen würden. Bliebe noch der Zoo von Los Angeles, in dem einige Schneeleoparden und Jaguare lebten. Aber auch dort war nicht gesagt, dass sich die Tiere vertragen würden. Wenn es soweit war, konnte er natürlich auch sämtliche Zoos anrufen, die große Gehege mit Leoparden besaßen, doch am liebsten hätte er die Leopardin auch weiterhin in der Nähe behalten.

Kopfschüttelnd schlüpfte Ryan aus seiner Kleidung und stieg in die Dusche. Während das heiße Wasser auf seinen Kopf prasselte, ließ er seine Gedanken zur Ruhe kommen. Lynn hatte schon recht damit, dass er zu sehr für seinen Job lebte, aber bisher war ihm noch nichts begegnet, das damit konkurrieren konnte. Er liebte seine Tiere, ihre Eigenheiten und Besonderheiten, sie machten seine Arbeit zur reinen Freude. Bevor er in den Park gekommen war, hatte er eine Zeitlang in einer Kleintierpraxis gearbeitet, was auch interessant gewesen war, aber auf Dauer zu eintönig. Während eines Auswilderungsprojekts für Kondore am Grand Canyon, an dem er mitgearbeitet hatte, war ihm der Posten im Park angeboten worden, und er hatte die Entscheidung, ihn anzunehmen, bisher keine Sekunde bereut, auch wenn seine Freizeit oft darunter litt. Die neue Tierklinik des Parks war grandios und genau auf die Bedürfnisse der Tiere zugeschnitten, nur hatten sie derzeit einen fatalen Ärztemangel. Glücklicherweise waren das Gebäude und auch die Tiere des Parks mit viel Einsatz des Personals und der Feuerwehr im letzten Jahr vor den großen Buschbränden gerettet worden.