Auf vertrauten Umwegen - Julian Schutting - E-Book

Auf vertrauten Umwegen E-Book

Julian Schutting

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Beschreibung

Seit Dezember 2011 führt Julian Schutting ein künstlerisches Diarium, in dem er seinen Alltag reflektiert. Es hält nicht das jeweilige Tagesgeschehen fest, wie es die Eigenart von Tagebüchern ist – vielmehr wird das Erlebte, Wahrgenommene, Erdachte in eine poetische Wirklichkeit gefasst. Und das hat viel mit dem Gehen zu tun: Drei, vier Stunden ist der in Wien lebende Dichter täglich unterwegs, als Stadtflaneur und Wanderer, der mit einem geradezu phänomenalen Blick seine Umgebung beobachtet und im Gehen Texte entstehen lässt, die nachher am Schreibtisch ihre Form erhalten. Genauso sind ihm Zeitungsmeldungen ein Anlass des Niederschreibens, Wortfetzen eines Gesprächs in der U-Bahn, eine Opernarie, Reiseeindrücke und Kindheitserinnerungen. Das Erlebte und das Unterbewusste, manchmal in Form lyrischer Gebilde, bahnt sich seinen Weg. Hier ist ein unermüdlicher Tag- und Nachtarbeiter am Werk mit einem wachsamen Sensorium, im Unscheinbaren das Große und Bedeutsame zu erkennen. So entsteht also Kunst aus den kleinen Dingen des Alltags.

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Seitenzahl: 571

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Die Drucklegung dieses Buches wurde gefördert von den Kulturabteilungen der Stadt Wien (Literatur), des Landes Niederösterreich sowie von Stadt und Land Salzburg.

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1309-9

eISBN 978-3-7013-6309-4

© 2023 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Christine Rechberger

Gestaltung: wir sind artisten

Druck und Bindung: FINIDR s.r.o. (Český Těšín)

Julian Schutting

AUF VERTRAUTEN UMWEGEN

Datierte BlätterAufzeichnungen 2011–2016

OTTO MÜLLER VERLAG

Inhalt

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2011

21. Dezember 2011. Zu Mittag mit Etta nächst dem Kutschkermarkt zu beobachten, wie ein mit ihr befreundetes Paar, unbeeindruckt von den Kommentaren der Umstehenden, es ja doch fertigbringt, einen Christbaum von zirka drei Meter Länge, eine Tanne, in seinem winzigen Auto unterzubringen. „Das photographierst du? möchtest du denn Inge Morath plagiieren?“ ihr daraufhin den beiden geschicktes Email hat sich am Telephon etwa so angehört: Ist es so? nein, so ist es nicht. ich bin nicht Inge Morath, da ja eine Tanne keineswegs ein Lama ist. und was hätte im Unterschied zu steirischen Tannen ein Lama auch auf dem Wiener Kutschkermarkt verloren? allerdings gleichwenig wie in New York. so wenig wie mich mit Inge Morath, hab ich das von ihr wohl nur einen halben Augenblick als eine Sinnestäuschung angesehene Lama mit eurer Tanne verwechselt: jenes schaut neugierig aus einem ihm geöffneten Autofenster, eure Tanne hingegen hat auf der Fahrt döblingwärts den zu Zeiten jenes Lamas noch nicht konstruierten Cinquecento rosso genutzt, um den totalen Überblick zu haben – hat sich ja den Reißverschluß des Daches öffnen lassen und ist, zwar gefesselt, alles überragend stolz dagestanden: Ausschau haltend wie von einem Wachturm nach einer Nachfahrin Inge Moraths. wäre also doch ich derselben nachzueifern ausersehen gewesen, eben weil eine Tanne nicht ein Lama ist?

22. Dezember. Mich auf den ersten, mit mir allein zu verbringenden Heiligen Abend einzustimmen (deshalb nicht notwendigerweise mein letzter), von dem dem um eine Bewohnerin reicheren Familiengrab zugedachten Tannenzweig etliche Zweigerl zu schnipseln und sie wie Blätter breitgefächert hintereinander in eine Karaffe zu stecken und dieses Stilleben gut zu wässern – und in ihm scheint sich sogleich die Bauart von Gedichten zu manifestieren. ähnlich, wie die letzte Zeile eines gelungenen Gedichtes die vorangegangenen enthält, steckt nun in jedem dieser Zweigerl jedes andere. und dieser kleine Tannenwald, der bei aller Verdichtung den Blick auf die Lichtung dahinter freihält, scheint die ideale Lesart lyrischer Gedichte zu enthalten: ob du ihn nun Schicht nach Schicht abwanderst, um ans Ende oder an den Anfang des ‚Gedicht‘ genannten Waldes zu gelangen, oder lieber in den ‚Zeilen‘ genannten Zweigen hin und her springst – wie immer du dieses Gedicht liest, wird es dein, wie von dir in einem Wald gedichtet!

ja, die Heiligen Abende der letzten zehn Jahre mit Jugendfreundin Elisabeth und ihrer Schwester verbracht und auch noch die von ihr schon bezweifelten heurigen Ostern. möchte mir auf dem Friedhof glauben können, sie habe mit dem Sterben gewartet, bis ich für ganz kurz aus dem Krankenzimmer trete!

Christtagmorgen. spät wach geworden, zum Fenster, in dessen Sonnenlicht zu blinzeln und mir einzubilden, zum im Morgenlicht jedes Jahr gleich silbrig glänzenden Christbaum der Kindheit hinüberzuschauen. eine Stunde später vorm Sieveringer Park: „Ja ist denn schon Dreikönigstag?“ nein, das nicht, aber da, wo ab Dreikönig abgeerntete Christbäume an vorgesehener Sammelstelle deponiert werden, türmt sich ein edler Christbaumwald, als hätt ihn ein Weihnachtssturm so umgelegt, daß seine Wipfel, aufeinander zu liegen gekommen, in ihrem Wald verschwinden; alles übrige Gezweig hängt hinunter wie erschlaffte Arme und Beine. nur ja keine Vergleiche mit den Leichenbergen von Bergen-Belsen, das alles lebt ja und darf auch nicht an die übereinander geschichtet mit Reisig bedeckten Lawinentoten aus dem Rauriser Tal ca. der Dreißigerjahre gemahnen, eher noch an gestrandete Delphine oder Wale. aber im Nähertreten werden sie alle angesichts der mit Fräsen oder mit Holzhacken geschält weißen Stammesenden (sollten ja ins jeweilige Christbaumkreuz eingepaßt werden) zu idyllischen Nachbildern der schwertstreichs Geköpften, ob nun Märtyrer, da Christen, ob Unmenschen, da Heiden oder Muselmanen, letztere von gotischen Malern genüßlich zur Schau gestellt: nur daß hier aus den weißen Hälsen dieser Baumrümpfe nichts an Halswirbeln, Schlagadern, Luftröhren, zerschmetterten Kehlköpfen heraussteht und kein Bogen Blut hochauf spritzt der für die Hinrichtung in grüne Kittel Gesteckten! (kurz an Enthauptete zu denken, und schon liegt auf einer Parkbank eine Zeitung so aufgeblättert da, daß dein Blick auf ein „mit zwei Köpfen geborenes Baby“ fällt. aber sind das nicht eher siamesische Zwillinge, die alle wichtigen Organe in einem Körper teilen, dafür aber zwei voll entwickelte Köpfe haben? wäre für die Lebensfähigkeit eines die Amputation eines Kopfes vonnöten? mögen sie doch in alle Zukunft wie zwei synchron geschaltete Uhren immer nur gleiches, ganz genau dasselbe denken, niemals wie zwei ungleiche Brüder über jedes und alles miteinander im Streit liegen! werden, lebensfähig eins geblieben, notwendigerweise eine Frau brüderlich zu teilen haben)