Auferstanden aus Ruinen - Florian Lettre - E-Book

Auferstanden aus Ruinen E-Book

Florian Lettre

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Beschreibung

Er kommt in die Hauptstadt an die Universität und beginnt sein Studium. Die Literatur wird sein Leben. Und dieses Mädchen. Wird sie bei ihm bleiben? Er ist sich sicher. Aber kann er sich sicher sein? Und dann steht er das erste Mal vor seinen Schülern. Er will ihnen das geben, was er lernen musste. Sich mühsam erarbeiten musste. Sie sollen es mitnehmen in ihr Leben. Und dann wird alles zerschlagen. Nichts bleibt ihm.

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Florian Lettre

Auferstanden aus Ruinen

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Florian Lettre

1.

2.

3.

5.

6.

7.

8.

10.

11.

12.

13.

15.

16.

17.

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20.

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85.

86.

87.

Impressum neobooks

Florian Lettre

Auferstanden aus Ruinen

1.

Wunderbar war diese Nacht gewesen. In dieser riesigen Halle. Er war noch nie dort gewesen. Er war mit der S-Bahn hingefahren. Die Straße war dunkel und schmal. Und dann in einiger Entfernung dieses große Gebäude. Hell erleuchtet. Mehrere große Türen. Eine geöffnet. Eine Schlange von Menschen. Junge Menschen. Junge Männer und Mädchen. Er stellte sich in die Reihe. Er war unruhig. Er fühlte sch nicht wohl Er hatte keine Karte. Langsam kam er voran. Dann links ein junger Mann mit dunkelblauem Hemd und gelbem Strahlenkranz am Oberarm. Alle hatten eine Karte. Florian stand vor ihm. Er drehte sich zur Seite und rief etwas zu einem anderen jungen Mann mit dunkelblauem Hemd. Florian war vorbei. Er war drinnen. Er verschwand hinter den jungen Menschen. Nur nicht auffallen. Zur Garderobe. Wo war die? Drüben an der Seite. Er gab seinen Mantel ab. Ein dünner Mantel. Es war Frühling. War es April, war es Mai gewesen? Er wusste es nicht mehr. Er ging im Strom der jungen Leute. Die jungen Männer im Anzug oder mit Jeans und Pullover, die Mädchen in bunten Kleidern oder mit Rock und Bluse. Die Augen leuchteten. Nicht bei allen, aber bei den meisten. Eine große Tür. Musik klang heraus. Ein riesiger Saal. In der Mitte Parkett. Leeres Parkett. Am Rand Tische. Viele junge Leute. Am anderen Ende ein Podium. Das Orchester. Trompeten, Saxophone, Klarinetten, ein Schlagzeug. Ein Dirigent.

Florian ging nach rechts. Die Stühle besetzt. Alle. Die Musik flutete durch den Raum. Es gefiel ihm, wenn Musik begann und von einem Raum Besitz ergriff. Junge Männer standen auf und liefen zu den Mädchen. Pärchen standen auf. Alle gingen zur Mitte zum Parkett. Die Ersten begannen zu tanzen. Immer mehr tanzten. Die Mitte war jetzt voller Menschen. Von dem Parkett war nichts mehr zu sehen. Die Tische am Rande waren jetzt leer. Die Stühle auch. Florian setzte sich. Er sah sich um. Er war fast allein. Ein Mädchen? Eine Frau? Würde es gelingen? Das Ende der Einsamkeit. Ein anderes Leben. Freude im Leben. Ein Schein von Glück. Er sah sich um. Viele leere Stühle. Dort drüben zwei Mädchen. Freundinnen. Gerade erst gekommen. Normale Mädchen. Nicht hübsch, nicht hässlich, normal. Wie Mädchen so aussehen in dem Alter. Siebzehn oder achtzehn. Oder jünger oder älter. Er stand auf und ging näher. Er forderte das eine Mädchen auf. Ohne ihn anzusehen stand das Mädchen auf und ging mit ihm zur Tanzfläche. Es legte seine linke Hand auf seine Schulter und seine rechte Hand fasste seine linke Hand. Florians rechter Arm fasste um die Taille des Mädchens. Sie machten ein paar vorsichtige Schritte.

„Foxtrott?“ fragte Florian unsicher. Das Mädchen sah ihn an. Zum ersten Mal. Es hatte einen klaren offenen Blick. Es lachte.

„Foxtrott ist nie ganz falsch.“ Es hatte einen bestimmenden Ton. Sie kamen jetzt ganz gut zurecht. Florian drückte das Mädchen enger an sich. Sie probierten einige Drehungen. Das Mädchen tanzte leicht und locker.

„Eine riesige Halle. Ich war noch nie hier.“

„Ich auch nicht.“

„Gehen sie oft tanzen?“

„Bei uns zu Hause ist am Wochenende Tanz. Im Kulturhaus.“

„Wo ist das?“

„In Grünau.“

„Das ist weit draußen.“

„Mit der S-Bahn ist das nicht so weit.“

Es war jetzt eng auf der Tanzfläche. Es war kaum Platz für eine Drehung. Sie machten nur kurze Schritte. Florian entschuldigte sich, als sie andere Tanzende anstießen. Oder angestoßen wurden.

„Das war nicht unsere Schuld“, sagte das Mädchen.

„Es ist eben eng.“

2.

Der Tanz war zu Ende. Sie gingen zusammen zu dem Stuhl, auf dem das Mädchen gesessen hatte. Florian bedankte sich. Das Mädchen lächelte. Nicht sehr, aber etwas. Auf dem anderen Stuhl saß das andere Mädchen. Es hatte nicht getanzt. Florian ging mehrere Schritte weg. Das Orchester machte eine Pause. Er sah zu den beiden Mädchen. Das Mädchen mit dem er getanzt hatte gefiel ihm jetzt besser. Es hatte ein regelmäßigeres Gesicht. Sein Haar war dunkelblonder. Dadurch waren auch die Augenbrauen dunkler. Es war etwas in den Augen, das Florian gefiel. Die Musik begann wieder. Florian ging auf die beiden Mädchen zu. Er forderte das andere Mädchen auf. Die beiden waren Freundinnen. Es war besser mit beiden gut zu stehen.

„Hat meine Freundin sie gebeten mit mir zu tanzen?“

„Nein. Wie kommen sie darauf? Sie sehen sehr gut aus. So wie ihre Freundin. Jeder tanzt gern mit ihnen.“ Sie schwiegen eine Weile. Dann sagte Florian:

„Was machen sie beide? Arbeiten sie zusammen?“

„Wir sind Krankenschwestern. Wir arbeiten in Grünau im Krankenhaus. Auf verschiedenen

Stationen.“

„Kennen sie sich schon lange?“

„Wir sind zusammen zur Schule gegangen.“

„Zanken sie sich nie?“

„Manchmal fliegen die Fetzen. Aber nicht oft. Was machen sie?“

„Ich studiere.“

„Was studieren sie?“

„Germanistik.“

„Dann wollen sie Deutschlehrer werden.“

„Vielleicht. Ich würde auch gern in einem Verlag arbeiten. Aber das dauert noch.“

„Sie lesen viele Bücher.“

„Ja. Sie auch?“

„Wir haben jeden Tag Dienst. Da hat man nicht viel Lust zum Lesen.“ Das Mädchen hatte nicht den bestimmenden Ton ihrer Freundin. Es hatte aschblondes Haar. Das Gesicht war nicht so regelmäßig. Die Musik war zu Ende. Sie gingen zu den beiden Stühlen. Beide waren leer. Florian sah das andere Mädchen, das ihm besser gefiel, mit einem jungen Mann zusammen stehen. Sie unterhielten sich. Das Mädchen strahlte den jungen Mann an. Er sah gut aus. Florian sah für sich keine Chance. Er war nicht gutaussehend. Er war blass und rotblond. Er konnte sich nicht leiden. Mädchen mochten gutaussehende junge Männer. Das war sein Schicksal. Seine Mutter war auch rotblond und blass.

Florian wartete darauf, dass die Musik wieder begann. Er tanzte wieder mit dem Mädchen, das ihm nicht so gefiel. Er drückte das Mädchen enger an sich. Das Mädchen legte seinen Kopf auf seine Schulter. Sie tanzten gut zusammen. Sie gingen zu einer Bar am Rande der Halle. Florian kaufte etwas zu trinken.

„Hallo“, sagte das Mädchen und winkte zu ihrer Freundin, die mit dem gutaussehenden jungen Mann in der Nähe stand.

„Hallo, geht es dir gut?“ rief die Freundin.

„Gut“, sagte das Mädchen. Die beiden Mädchen gingen aufeinander zu und sprachen zusammen. Florian konnte nicht verstehen, was sie sprachen. Dann war das Mädchen wieder bei ihm.

„Wir wollen zusammen mit einem Taxi nach Hause fahren.“

„Jetzt gleich?“

„Nein. In der Nacht.“

„Ich wollte sie nach Hause bringen.“ Das Mädchen sah ihn an.

„Das müssen sie nicht.“

„Ich würde sie gern nach Hause bringen.“

„Grünau ist weit.“

„Für sie ist nichts zu weit.“ Das Mädchen näherte sich Florians Mund und berührte ihn mit ihrem Mund. Es war ein kurzer flüchtiger Kuss. Florian war gerührt. Er drückte das Mädchen an sich und küsste es. Seine Lippen waren geöffnet und bald öffneten sich auch die Lippen des Mädchens.

„Jetzt müssen wir du sagen.“

„Ich heiße Angelika.“

„Florian.“

„Florian, der Hühnerdieb.“

„Genau der.“

Sie tanzten die ganze Nacht. Sie ließen kaum einen Tanz aus. Sie tanzten immer enger zusammen. Das Mädchen wohnte mit ihrer Freundin im Schwesternwohnheim. Sie hatten in dem Krankenhaus ihre Ausbildung gemacht. Sie kamen beide aus einem kleinen Ort im Harz.

Nach Mitternacht endete die Musik. Die Musiker packten ihre Instrumente ein. Die Tanzfläche war jetzt nicht mehr so voll gewesen. Das Tanzen war leichter gewesen. Sie gingen zur Garderobe und das Mädchen gab Florian ihre Marke. Er sah zum ersten Mal ihren Mantel, den er noch oft sehen sollte. Und das bunte Tuch, das er auch noch oft sehen sollte. Sie waren jetzt vier junge Leute. Die beiden Mädchen und der gutaussehende junge Mann und Florian. Sie fanden vor der Halle ein Taxi. Sie saßen zu dritt hinten und der gutaussehende junge Mann saß neben dem Taxifahrer. Sie fuhren durch die schlafende Stadt. Es dauerte einige Zeit bis sie in Grünau vor dem Schwesternwohnheim angekommen waren. Das Taxi fuhr davon. Die beiden Paare küssten sich und gingen auseinander. Florian ging mit dem jungen Mann zur nächsten S-Bahn. Es dämmerte schon etwas als er vor dem Haus stand, in dem er ein Zimmer hatte. Nur ab und zu ging jemand an ihm vorbei. Florian ging die Treppen hinauf. Er ging leise. Er wollte niemand stören um diese Zeit. Vorsichtig öffnete er die Wohnungstür und ging in sein Zimmer. Heute hatte er keine Vorlesungen. Er zog sich aus und legte sich auf sein Bett. Das Betttuch war angenehm. Er wurde müde. Bevor er einschlief dachte er an den vergangenen Abend. Es war ein schöner Abend gewesen. Er hatte dieses Mädchen kennen gelernt. Es hieß Angelika. Sie hatten sich geküsst. Sie konnten sich leiden. Er war sich sicher. Sie hatten sich verabredet für das nächste Wochenende. Sie würden zusammen bleiben. Er würde nicht mehr allein sein. Die Einsamkeit hatte ein Ende.

3.

Florian erwachte erst gegen Mittag. Er war noch müde, aber er fühlte sich gut. Immer wieder waren die Bilder des vergangenen Abends da. Die riesige Halle, die Trompeten und Saxophone mit ihrer Musik, das Mädchen, das Taxi, die S-Bahn. Es klopfte. Die Wirtin brachte ihm einen kleinen Teller mit einem Brötchen mit Käse und etwas Kaffee. Die Wirtin war immer freundlich. Er wusste nicht, warum sie ihn mochte. Er sprach gern mit der Frau, die allein in der Wohnung war.

Er zog sich an und sah aus dem Fenster. Unten auf der Straße gingen Leute. Es war Sonntagnachmittag. Auf der Straße fuhren nur wenige Autos. Es war keine wichtige Straße. Er dachte an den nächsten Tag. Er hatte ein Referat zu halten. Es war noch nicht ganz fertig. Er musste es fertig machen. Er hatte noch Zeit bis zum Abend. Er legte sich wieder auf sein Bett und schlief ein. Als er erwachte fing es schon an zu dämmern. Er suchte sich das Referat und die Bücher und kam gut voran. Als er das Referat beendet hatte, ging er es nochmals durch ohne den Text vor sich zu haben. Er wollte sein Referat frei halten. Das machte er immer so. Er fand das besser als einen Text abzulesen. Er konnte das. Nicht alle Studenten konnten das. Er hatte das schon in der Schule so gemacht.

Am Abend verließ er die Wohnung, in der er jetzt allein gewesen war. Er ging die Straße entlang und bog dann um die Ecke in eine andere Straße. In beiden Straßen standen Kastanien am Rand der Fahrbahn. Er öffnete die Tür der Gaststätte und ging hinein. Die meisten Tische waren besetzt. Viele Stimmen. Männliche und weibliche. Er ging durch den ersten Raum in den zweiten Raum, der sich dahinter befand. Hier waren einige Tische frei. An einem Tisch saß ein junger Mann. Florian begrüßte ihn und setzte sich.

„Hast du schon bestellt?“

„Ich habe auf dich gewartet.“

„Ein großes Bier wie immer?“

„Wie immer.“ Nach einiger Zeit kam der Kellner und sie bestellten ihr Bier. Sie saßen sich gegenüber. Ein Lächeln war in ihren Gesichtern. Es dauerte nur kurz.

„Wie war die Woche?“

„Nichts Besonderes. Es geht um den Plan. Wir müssen ihn erfüllen.“

„Werdet ihr ihn erfüllen?“

„Wir brauchen die Prämie.“

„Machen alle mit?“

„Alle brauchen die Prämie. Dieter und Fritz haben Probleme. Ihre Maschine ist oft kaputt.“

„Dafür können sie nichts.“

„Ich weiß nicht. Sie könnten vorsichtiger sein.“

„Was sagen die anderen dazu?“

„Sie lassen sie schon merken, was sie erwarten.“

„Und der Leiter?“

„Der auch.“

„Wie ist das Klima in eurer Brigade?“

„Wir verstehen uns gut. Freitags gehen wir zusammen ein Bier trinken.“

„Hast du das Ersatzteil bekommen von dem du mir erzählt hast?“

„Es dauerte etwas. Aber dann ist es gekommen. Es war auch das Richtige.“

„Vor einer Woche hast du dir Sorgen gemacht.“

„Das habe ich. Wie läuft es bei dir?“

„Ich habe morgen ein Referat.“

„Bist du aufgeregt?“

„Ich rege mich nicht mehr auf.“

„Worüber sprichst du?“

„Über die Minnesänger und ihr Verhältnis zu den Bauern.“

„Sehr interessant.“ Florian wusste, dass sein Freund das nicht interessant fand.

Sie sprachen noch über andere Sachen. Nach dem dritten Bier verabschiedeten sie sich und gingen auseinander. Der Freund ging zur U-Bahn und Florian in die Wohnung. Die Wirtin war jetzt da. Er erzählte ihr von dem Mädchen, das er kennen gelernt hatte. Die Wirtin meinte, er solle sein Studium nicht vernachlässigen.

5.

Florian dachte immer wieder an den kommenden Sonnabend. Schließlich war es soweit. Er machte sich fertig und ging zur S-Bahn-Station. Es war ein sonniger Nachmittag, der zu Ende ging. Er fuhr gern mit der S-Bahn. Er beobachtete die anderen Menschen und dachte über sie nach. Die Fahrt nach Grünau dauerte einige Zeit. Er musste zweimal umsteigen. Dann stand er wieder auf der Straße, auf der er eine Woche zuvor gestanden hatte. Damals war es dunkel und nur von den Straßenlaternen etwas erhellt. Jetzt war alles in helles Licht getaucht. Er war sich etwas unsicher, in welche Richtung er gehen musste. Sie hatten sich vor dem Schwesternheim verabredet. Ein Schild zeigte in Richtung Krankenhaus. Das musste richtig sein. Er ging los. Es war eine Straße mit alten Linden. Er konnte sich nicht genau an die Bäume erinnern. Das Krankenhaus war dann auf der rechten Seite. Es war ein roter Klinkerbau. Florian stand vor einer eisernen Tür und wusste nicht, was er tun sollte. Dann ging er durch die Tür und folgte einem Pfeil zum Pförtner. Der gab ihm einen Wink. Er stand jetzt hinter dem Haus inmitten von alten Bäumen auf einem Weg, der sich verzweigte. Das Schwesternheim sollte ein Neubau sein. Er sah am Ende des einen Weges einen Neubau und ging in diese Richtung. Es war das Schwesternheim. Wieder stand er da und wusste nicht, was er tun sollte. Er kannte den Namen des Mädchens nicht. Er fand ein Schild mit Namen und Klingelknöpfen. Angelika kam zweimal vor. Er stand da und war unschlüssig. Er drückte einen Knopf. Er hörte eine Stimme. „Ich komme“. Die Tür öffnete sich. Das Mädchen stand vor ihm. Es sah jetzt anders aus. Es hatte kein Kleid an wie in der Nacht in der großen Halle, als sie zusammen getanzt hatten. Es hatte Rock und Bluse an. Die aschblonden Haare bildeten einen Pferdeschwanz.

„Hallo“, sagte das Mädchen.

„Hallo“, sagte Florian. „Es war nicht einfach, dich zu finden. In der Nacht sah alles anders aus.“ Das Mädchen lachte.

„Komm herein. Ich zeige dir mein Zimmer.“ Sie gingen mehrere Treppen hinauf und durch einen Gang. An den Türen Schilder mit Namen. Das Mädchen blieb vor einer Tür stehen. Auf dem Schild stand Angelika N.

„Du heißt N.“

„Ja. so heiße ich. Und du?“

„L.“

„Florian L.“

„Ja.“

„So lernt man sich kennen.“

Florian sah jetzt einen Tisch und ein Bett und einen Schrank. An der Wand mehrere Bilder. Vor dem Fenster ein Topf mit Blumen. Auf dem Tisch eine bunte Decke. Hier wohnte ein Mädchen. In seinem Zimmer sah es anders aus. Keine Blumen, keine Bilder. Florian sah jetzt auch ein Regal an der Wand mit Büchern. Fachbücher für Schwestern.

„Schön hast du es hier.“

„Mir gefällt es. Wir müssen nicht viel bezahlen.“

„Wohnt deine Freundin nebenan?“

„Sie wohnt drei Zimmer weiter. Gefällt sie dir besser als ich?“ Das Mädchen sah ihn spöttisch an.

„Du bist die Schönste.“ Florian wusste, dass das nicht stimmte. Er sagte gern Sachen, die übertrieben waren. Es machte ihm nichts aus. Das Mädchen kam auf ihn zu und küsste ihn auf den Mund wie in der Nacht als er gesagt hatte, er würde sie gern nach Hause bringen. Florian zog das Mädchen an sich und strich über die Bluse. Das Mädchen drehte sich zur Seite.

„Komm mit.“ Sie gingen auf den Gang und zu einer anderen Tür. Das Mädchen klopfte. Ihre Freundin stand in der Tür.

„Kommt herein.“

Das Zimmer war dem anderen, in dem sie gerade gewesen waren, sehr ähnlich. Die Bilder waren anders. Auf dem Fensterbrett stand eine Vase mit Blumen. Auf dem Tisch war gedeckt. Vier Gedecke und in der Mitte ein Gefäß mit rotem Wein und eine Schale mit Salat und ein Korb mit Brot.

„Setzt euch“, sagte das Mädchen, das Angelikas Freundin war. Sie setzten sich. Das Mädchen brachte eine Schale mit Wurst und Käse.

„Lasst es euch schmecken.“ Florian wunderte sich, dass ein viertes Gedeck da war. Es dauerte einige Zeit bis es klingelte. Die Freundin ging zur Tür.

„Der Freund kommt noch“, sagte Angelika.

„Der vom letzten Sonnabend?“

„Ja, der.“

„Der Gutaussehende.“ Das Mädchen sah Florian an und lächelte.

„Findest du?“

„Ja, sehr gutaussehend.“

Die Tür ging auf und der junge Mann, den Florian schon kannte, stand im Zimmer. Sie begrüßten sich und setzten sich an den Tisch und setzten das Abendbrot zu viert fort. Florian hatte Angst, weniger Eindruck zu machen als der junge Mann. Es zeigte sich, dass der junge Mann ein ruhiger junger Mann war, der von seinem guten Aussehen kein großes Aufheben machte. Er arbeitete in einem technischen Beruf. Florian verstand nicht genau, was er machte.

Der Wein lockerte die Stimmung, und bald schienen sich alle wohl zu fühlen. Wie immer versuchte Florian, das Gespräch auf ernsthafte Themen zu lenken. Er versuchte das, weil er sich nicht so leichthin unterhalten konnte, wie das manche konnten. Er war als Kind meist allein gewesen und hatte es nicht gelernt, in einer Gruppe seinen Platz zu finden. Er wollte auch mehr erfahren über die beiden Mädchen. Diese waren jedoch nicht bereit über sich zu erzählen.

Es war schon dunkel als Angelika ihren Arm um Florians Schulter legte.

„Wir werden die beiden allein lassen.“ Sie nickte ihrer Freundin zu. „Vielen Dank für das Abendbrot. Du hast das großartig gemacht. Ich könnte das nicht so.“

Sie verabschiedeten sich und standen auf dem Gang. Florian wusste nicht, ob er jetzt gehen sollte. Das Mädchen öffnete die Tür seines Zimmers und stand vor Florian. Es sah ihn ernst an und machte eine Bewegung. Er sollte hereinkommen. Das Mädchen setzte sich auf das Bett, das wohl ein Sofa war. Florian setzte sich daneben. Er legte seinen Arm um das Mädchen und drückte es an sich. Er suchte den Mund des Mädchens und sie begannen sich zu küssen. Ihre Zungen begegneten sich immer mehr. Florian strich über die Bluse des Mädchens. Er suchte die Brüste. Er war sich unsicher, wie weit er gehen konnte. Er versuchte einen Knopf der Bluse zu öffnen. Es war nicht so einfach. Er kannte das.

Das Mädchen öffnete die Bluse. Der weiße Büstenhalter war zu sehen. Das Mädchen griff nach hinten. Florian liebte diese Geste, wenn ein Mädchen nach hinten griff, um den Büstenhalter zu öffnen. Die Brüste glitten heraus. Florian zog Jacke und Hemd aus. Es gefiel ihm nicht, dass er so dünn war. Er fühlte den Körper des Mädchens an seinem Körper. In diesem Moment war das Glück in ihm. Es war nicht oft in ihm. Jetzt war es da. Er näherte seine Hand dem Rock des Mädchens.

„Du musst jetzt gehen. Männer dürfen hier nicht über Nacht bleiben.“ Florian war erleichtert, dass das Mädchen ein Ende gemacht hatte. Er wollte das nicht, aber er war trotzdem erleichtert. Sie zogen sich beide an und gingen nach unten. Sie gingen zusammen unter den Bäumen entlang bis zu dem eisernen Tor.

„Wann sehen wir uns wieder?“ sagte Florian.

„Diese Woche habe ich Nachtdienst. Bis Sonntagabend.“

„In zwei Wochen?“

„Ja. Wieder am Sonnabend.“ Sie winkten beide, bevor Florian an einer Biegung der Straße verschwand. Langsam ging er unter den alten Linden zurück zum S-Bahnhof. Die Bilder des Abends ließen ihn nicht los. So froh war er lange nicht gewesen.

6.

Florian traf sich wieder mit seinem Freund. Dieses Mal stand schon ein Bier für ihn bereit.

„Wie war die Woche?“

„Alles in Ordnung. Der Sozialismus geht seinen Gang.“

„Arbeitest du gern in diesem Betrieb?“

„Ich bin jetzt drei Jahre in diesem Betrieb. Ich bin zufrieden.“

„Und deine Kollegen?“

„Die meisten sind auch zufrieden. Einige sind unzufrieden.“

„Redet ihr darüber?“

„Nicht mit den Genossen. Wir anderen reden über alles.“

„Wollen welche in den Westen?“

„Einige sind weggegangen in den letzten Jahren. Ausreiseantrag.“

„Sehen alle Westfernsehen?“

„Natürlich.“

„Du auch?“

„Nicht oft. Die haben selten eine interessante Sendung.“

„Gefällt dir unser Fernsehen besser?“

„Manches.“

„Meinst du, dass der Sozialismus siegt?“

„Was heißt siegen? Wir müssen froh sein, wenn wir nicht untergehen.“ Florian sah seinen Freund ungläubig an.

„Wir können nicht untergehen“, sagte er. „Da müsste schon die Sowjetunion untergehen. Und das ist unmöglich.“

„Wir haben Schwierigkeiten in der Produktion. Wir kommen nicht voran. Viele alte Maschinen. Wir brauchen neue Technologie. Die im Westen haben Maschinen. Davon können wir nur träumen.“

„Die haben jetzt schon über eine Million Arbeitslose.“

„Die Arbeitslosen will keiner. Aber reisen wollen wir. Und volle Geschäfte. Drüben gibt es alles zu kaufen. Ein neues Auto bekommst du sofort.“

„Das Geld musst du haben.“

„Die haben alle ein Auto. Und keinen Trabant.“

„Auf Pump gekauft.“

„Das ist doch egal. Auto ist Auto.“

„Was sagen die Genossen dazu?“

„Mit denen wird nicht geredet. Das ist zu gefährlich. Das hat auch keinen Zweck. Die kommen mit ihren Redereien an. Unsere Wirtschaft sei dem Westen überlegen. Die reden Schablone.“

„Du hältst nicht viel von unseren Genossen.“

„Die sind selbst schuld.“

„Alle?“

„Es gibt Ausnahmen. Aber selten.“

„Euer Parteisekretär?“

„Das ist eine Flasche. Der redet nur in Losungen. Und sieh dir unsere Zeitungen an. Alles nur Schablone. Langweilig.“

„Willst du die „Bild“-Zeitung?“

„Ich bin nicht für den Westen. Unsere Zeitungen müssten so berichten wie es wirklich ist.“

„Wie ist es wirklich?“

„Schwierig ist es. Sehr schwierig.“

„Warum?“

„Zuviel Bürokratie. Zuviel Leute, die etwas zu sagen haben und nichts von der Sache verstehen.“

Das Bier war ausgetrunken.

„Was macht deine Frau?“

„Sie arbeitet im Konsum. Wie immer.“

„Und die Kinder?“

„Gehen zur Schule. Grundschule.“

„Ich hätte auch gern eine Familie.“

„Du musst studieren. Dann kannst du eine Familie haben.“

„Ich habe eine Freundin.“

„Du?“

„Ist das so ungewöhnlich?“

„Du hattest lange keine Frau. Fickt ihr?“

„Ich habe sie erst einmal besucht Sie ist Schwester und wohnt in einem Schwesternheim.“

„Warum fickt ihr nicht?“

„Wir müssen uns erst kennen lernen.“

„Und? Was ist es für eine Frau? Ist sie hübsch?“

„Mir gefällt sie.“

„Willst du sie heiraten?“

„Ich weiß nicht, ob sie mich heiraten will.“

„Natürlich will sie heiraten.“

„Ich sehe nicht so gut aus wie du.“ Der Freund lachte.

„Du studierst. Das macht Eindruck bei den Weibern.“

„Ich habe nur mein Stipendium.“

„Später wirst du viel verdienen. Ihr werdet beide verdienen. Redet ihr zusammen?“

„Nicht viel.“

„Was macht ihr dann?“

„Wir küssen uns.“

„Ach Gott. Ihr seid am Anfang. Ficken müsst ihr. Das macht Spaß.“

„Kannst du immer?“

„Kein Problem. Hast du Probleme?“

„Ich bin mir nicht sicher, ob es klappt.“

„Beim ersten Mal ist sich keiner sicher.“

„Warst du auch unsicher?“

„Ich fand das Loch nicht. Dann hat sie mir geholfen.“

„War das Maria?“

„Nein. Das war irgendeine Frau. Ich kann mich nicht an sie erinnern. Ich war zur Ausbildung. Die Kollegen hatten mich mitgenommen. Wir waren alle betrunken.“

„Sprichst du mit deinen Kollegen darüber?“

„Worüber? Über Ficken?“

„Ja.“

„Nein.“

„Aber mit mir.“

„Du bist mein Freund.“

„Wie lange kennen wir uns jetzt?“

„Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Falls du das vergessen hast.“

„Wir haben nicht zusammen gesessen.“

„Du hast immer in der ersten Reihe gesessen. Du hattest immer gute Zensuren. Ich hatte oft keine Schularbeiten gemacht.

„Einen Moment. Wir müssen jetzt Schluss machen. Ich muss noch einen Artikel lesen.“

„Über Minnesang?“ Beide mussten lachen. Sie gingen davon. Jeder in seine Richtung.

7.

Florian langweilte sich in den Vorlesungen. Oft wusste er nicht was er sich aufschreiben sollte. Am Ende der Vorlesung standen nur wenige Worte auf seinem Block. Ganz anders war die Vorlesung von W.H. Jeder Stuhl war besetzt. Auf den beiden Treppen saßen Studenten. Wenn W.H. sprach, herrschte Stille im Hörsaal. Er sprach nicht sehr laut. Trotzdem war er gut zu hören. Er skizzierte ein Problem und dann betrachtete er es von verschiedenen Seiten. Von Dialektik war die Rede. Florian wusste nicht, was das eigentlich war. Allmählich lernte er mehr über Dialektik. Er ging in die Bibliothek der Universität und suchte nach dem Namen W.H. Er fand Bücher und andere Veröffentlichungen unter diesem Namen. Er lieh sich die Bücher aus und lernte diesen W.H. näher kennen. Marx kam oft vor und diese Idee, dass die Literatur etwas mit der Wirtschaft zu tun hatte. Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Das war so ein berühmter Spruch. Florian fand diese Idee zunächst nicht sehr einleuchtend. Er hatte in einem Dichter einen Menschen gesehen, der in seinem Zimmer saß und sich etwas ausdachte. Er schuf sich seine eigene Welt und ließ seine Leser an ihr teilhaben. Eines Tages wurde Florian klar: Der Dichter und sein Buch waren tatsächlich die entscheidende Stelle. Nur wurde dieser Dichter von vielem beeinflusst. Und die Verhältnisse um ihn herum spielten eine große Rolle. In der Nazi-Zeit wurde nur das gedruckt, was den Nazis gefiel. In der DDR wurde nur das gedruckt, was den Lektoren in den Verlagen gefiel. Und denen gefiel nur das, was den Genossen in der Partei Recht war. In der Bundesrepublik wurde nur das gedruckt, was den Lektoren in den Verlagen gefiel. Und denen gefiel nur was man ihnen beigebracht hatte zu akzeptieren. Wer hatte ihnen das beigebracht? Ihre Lehrer in der Schule und die Professoren an den Universitäten. Und die waren überzeugt, dass in der Bundesrepublik alles in Ordnung war, so wie es war. Jedenfalls im Prinzip.

Nach einer Vorlesung ging Florian nach vorn. Er stand neben W.H. und hörte sich fragen, ob er am Institut mitarbeiten könne. Der Professor sah den jungen Mann überrascht an. Er musterte ihn. Was war das für einer? Konnte man den gebrauchen. Es dauerte lange, bis er etwas sagte. Florian solle ihn begleiten, sagte er. Sie gingen zusammen durch die hinter Tür des Hörsaals, durch die die Studenten nicht hereinkamen. W.H. blieb vor einer Tür stehen, schloss sie auf und ging in das Zimmer.

„Kommen sie herein“, sagte er. „Setzen sie sich“. In dem Zimmer gab es Regale an allen Wänden. Alle voller Bücher. In der Mitte ein großer Tisch mit Büchern. Dahinter ein Ledersessel. An vielen Stellen abgenutzt. Florian saß jetzt auf einem Holzstuhl, dem Professor in seinem Ledersessel gegenüber.

„Ich kenne sie von meiner Vorlesung. Sie scheinen mir interessiert.“

„Ihre Vorlesung ist sehr interessant. Keine andere ist so gut.“ Der Professor lächelte zufrieden. Es schien ihm zu gefallen, wenn seine Vorlesung gelobt wurde. Dabei war Florian nur ein Student.

„In welchem Semester sind sie?“

„Ich bin im sechsten Semester.“

„Haben sie schon eine Examensarbeit?“

„Nein.“

„Wo sind sie zur Schule gegangen?“

„Ich bin in C. zur Grundschule gegangen und in M. zur Oberschule.“

„Das Gymnasium in M. kenne ich. Ich habe vor fünf Jahren einen Vortrag in der Aula gehalten. Das Lehrerkollegium hatte mich eingeladen. Wie war ihre Abiturnote?“

„Sehr gut.“ Der Professor sah ihn anerkennend an.

„Und die Eltern?“

„Mein Vater ist Werkleiter in einem Betrieb in C.“

„Sind sie mit dem Studium hier zufrieden?“

„Ich habe schon viel gelernt.“

„Ich gebe ihnen ein Thema. Dann können sie hier im Institut arbeiten. Ich brauche Studenten, die mir helfen. Die Literatur suchen und aufbereiten. Das wird ihnen bei ihrer Examensarbeit helfen. Sie können hier viel lernen.“

„Vielen Dank“, sagte Florian. Der Professor rief seine Sekretärin aus dem Nebenzimmer. Sie schrieb seinen Namen auf, und wo er wohnte. Florian gehörte jetzt dazu.

Florian ging zur S-Bahn. In seinem Kopf gingen viele Gedanken durcheinander. Er war stolz, diesen Schritt gewagt zu haben. Der Professor schien für Lob sehr zugänglich zu sein. Auch wenn es nur von einem Studenten kam. Florian hatte das nicht erwartet. Wollte der Professor ihn für seine Zwecke anstellen? Wollte er ihn ausnutzen? Was war das für ein Mensch? Hatte er eine Frau? Und Kinder? War er Genosse? Was hielten seine Mitarbeiter von ihm? Was hielten die anderen Professoren von ihm?

Am nächsten Tag war Florian wieder in der Vorlesung. Sie war interessant wie immer. Am Ende der Vorlesung winkte der Professor Florian zu sich. Er gab ihm einen ganzen Stapel von Literatur. Florian sollte das durcharbeiten und Zusammenfassungen über den Inhalt schreiben. Die anderen Studenten sahen ihn erstaunt an. Was hatte das zu bedeuten? Was ging da vor? Hatten sie etwas versäumt? Florian fing am Abend an, die Literatur durchzuarbeiten. Es waren sehr spezielle Artikel aus verschiedenen Zeitschriften. Manche interessierten ihn, manche nicht. Als er fertig war, gab er alles der Sekretärin des Professors. Die war überrascht, dass es so schnell gegangen war. Der Professor hatte schon einen neuen Stapel von Literatur bereitgelegt. Florian nahm sich dieses Mal mehr Zeit. Er war nicht nur für den Professor da. Wenn er die Sachen abgab, die er durchgearbeitet hatte, lag ein neuer Stapel für ihn bereit. Er nahm sich mehr Zeit für einen Stapel. Er musste an sein Studium denken.

Nach mehreren Wochen winkte der Professor ihn wieder zu sich. Sie gingen zusammen in sein Zimmer. Es sah aus wie beim ersten Mal. Der Professor hatte einen Artikel vor sich, den Florian geschrieben hatte. Er unterstrich einen Satz und hielt ihn Florian hin.

„So kann man das nicht schreiben. Verstehen sie?“ Florian wusste nicht, was an dem Satz falsch war.

„Ja“, sagte er. „Ich muss aufmerksamer sein. Es soll nicht wieder vorkommen.“ Der Professor sah ihn anerkennend an. Dann lächelte er.

„Im Übrigen bin ich mit ihrer Arbeit zufrieden. Ich hoffe, sie lernen dabei wissenschaftlich zu arbeiten. Die meisten Studenten wissen nicht, was das ist.“ Er stand auf und gab Florian die Hand.

„Sie wollten mir ein Thema geben für meine Examensarbeit.“ Der Professor war etwas irritiert.

„Wollte ich das? Ja, ich erinnere mich. Meine Sekretärin wird ihnen einen Vorschlag geben. Sie müssen sich dann entscheiden, ob er ihren Vorstellungen entspricht.“

Florian verabschiedete sich. Der Professor hatte vergessen, dass er ihn um ein Thema für seine Examensarbeit gebeten hatte. Er war vergesslicher, als Florian gedacht hatte. Die Stapel mit Artikeln, die Florian durcharbeiten musste, wurden größer.

Es vergingen mehrere Wochen. Schließlich ging Florian zur Sekretärin des Professors. Es lag nichts für ihn bereit. Die Sekretärin wollte den Professor erinnern. Wieder vergingen mehrere Wochen. Florian holte sich einen Zettel mit dem Thema ab. Es passte zu den Forschungen des Professors. Florian ging in die Bibliothek der Universität und suchte sich Literatur dazu heraus. Er begann, sie zu studieren. Er hatte jetzt einen Stapel von Literatur, der immer größer wurde. Er arbeitete sich immer mehr in das Thema hinein. Es nahm ihn immer mehr gefangen. Er hatte immer weniger Zeit für die Stapel des Professors. Dann kam die nächste Prüfung. Er musste sich vorbereiten. Er musste seine Examensarbeit beiseite legen.

8.

Florian traf sich fast jedes Wochenende mit der Krankenschwester in ihrem Zimmer im Schwesternwohnheim. Bis gegen Morgen lagen sie im Bett. Wenn es dämmerte, zog sich Florian an und ging die Straße unter den alten Linden zurück zur S-Bahn. Er war noch müde, aber er fühlte sich wohl. Dieser andere Körper, dieser Mädchenkörper. Oder Frauenkörper. Diese Brüste. Dieses Eindringen und Verschwinden in dem anderen Körper. Er lag über ihr und sah ihre Augen und ihre Stirn und die aschblonden Haare, die sich gelöst hatten. Die Augen waren geschlossen. Manchmal waren Falten auf der Stirn. Manchmal saß sie auf ihm und bot ihm ihre Brüste dar, und er sah sein Glied in ihr verschwinden und wieder erscheinen und so weiter.

Sie sprachen nicht viel. Trotzdem hatte Florian das Gefühl, dass sie zusammen gehören. Auch wenn sie nur nebeneinander saßen. Er wusste nicht, wie es weitergehen würde. Er wusste nicht, ob sie mit ihm zufrieden war. Ob sie mit ihm zusammenleben wollte. Was sie von ihrem Leben erwartete. Sie gab keine richtigen Antworten, wenn er sie fragte. Er wusste nicht, ob sie sich keine Gedanken machte oder ob sie nicht mit ihm darüber sprechen wollte. Ihre Arbeit war ihr wichtig. Sie erzählte von ihrer Arbeit. Wenn sie etwas erzählte.

Einmal fanden sie zueinander. Er hatte ein Foto betrachtet, das auf dem Regal stand. Es zeigte eine Frau und einen Mann. Die Frau mit hellem Kleid, der Mann mit dunklem Anzug und Krawatte.

„Sind das deine Eltern?“

„Ja. Meine Mutter und mein Vater.“

„Wo ist das?“

„Bei uns zu Hause.“

„Wo ist dein zu Hause?“

„In Karl-Marx-Stadt. Kennst du Karl-Marx-Stadt?“

„Nein. Nie da gewesen. Ist es eine schöne Stadt?“

„Es geht. Immerhin bin ich da groß geworden. Zur Schule gegangen.“

„Dein erster Freund?“

„Das auch.“

„Viele Freunde?“

„Ich glaube nicht. Es ist so lange her.“

„Bist du glücklich gewesen?“ Sie sah vor sich hin.

„Bist du glücklich gewesen?“ wiederholte er.

„Ich weiß es nicht. Manchmal war ich glücklich und manchmal unglücklich und manchmal keines von beiden.“

„Leben deine Eltern noch?“

„Mein Vater ist vor drei Jahren gestorben. Meine Mutter lebt. In dem Haus, in dem ich als Kind war.“

„Hast du keine Geschwister?“

„Nein.“

„Einzelkind.“

„Ja. Einzelkind.“

„Liebst du deine Mutter?“

„Manchmal liebe ich sie und manchmal nicht.“

„Dann hasst du sie?“

„Dann hasse ich sie.“

„War sie streng?“

„Mein Vater war streng. Sie hat mir nicht geholfen.“

„Warum erzählst du wenig über früher?“

„Ich denke nicht oft an früher. So schön war das nicht.“

„Hattest du keine Freundin? Mit der du alles besprochen hast.“

„Nein. Bei Mädchen ist das anders.“

„Wie ist es denn?“

„Es gibt einige sehr gut aussehende Mädchen in der Gruppe. Mit denen wollen alle befreundet sein. Mit mir wollte keine von denen befreundet sein. Diese Gutaussehenden haben dann auch als erste einen Freund.“

„So warst du meist allein?“

„Ja. Allein.“

„Das ist grausam.“

„Mädchen können in dem Alter grausam sein.“

„Und die FDJ?“

„Was soll mit der FDJ sein?“

„Haben die sich nicht um euch gekümmert?“

„Die hatten anderes zu tun. Politik und so. Hattest du einen guten Freund?“

„Ich habe vier Jahre neben Roland gesessen. Wir haben gegenseitig abgeschrieben.“

„Warst du gut in der Schule?“

„Es ging so. Ich habe gleich einen Studienplatz bekommen. Ich musste nicht in die Produktion.“

„Dann musst du sehr gut gewesen sein.“

„Ich glaube, ich war ein Streber. Wie warst du in der Schule?“

„Meine Eltern haben beide gearbeitet. So war ich meist allein zu Hause. Schularbeiten habe ich nicht gern gemacht.“

„Du bist gern Krankenschwester.“

„Ja. Zum ersten Mal werde ich gebraucht. Und die Patienten sind dankbar, wenn man sich um sie kümmert.“

„Hattest du schon viele Freunde?“

„Eigentlich nur einen.“

„Wer war das?“

„Das werde ich dir nicht verraten.“

„Warum?“

„Du musst nicht alles wissen.“

„Seid ihr lange zusammen gewesen?“

„Ein halbes Jahr.“

„War es eine schöne Zeit?“

„Ich weiß es nicht.“

„Du weißt es nicht?“

„Nein.“ Das Mädchen sah jetzt sehr ernst aus. Florian ging zu ihm und nahm es in den Arm.

„Es tut mir leid. Jetzt bist du bei mir. Wir haben doch eine schöne Zeit. Ich freue mich immer auf unser Wochenende.“

„Irgendwann wird es zu Ende gehen.“

„Wie kommst du darauf?“

„Du wirst eine andere Frau kennen lernen. Eine schönere als ich es bin.“

„Du bist die Schönste.“

„Das hast du schon einmal gesagt. Das fand ich sehr nett.“

„Jetzt erzählst du mir von deinem ersten richtigen Freund.“ Erst nach einer Weile sagte das Mädchen:

„Er war Arzt bei uns.“

„Und jetzt? Siehst du ihn dauernd?“

„Er ist weggegangen. Er war verheiratet.“

„Ihr habt euch nur heimlich getroffen.“

„Ja. Heimlich. Wir haben uns bei einer Weihnachtsfeier kennen gelernt.“

„Hast du ihn geliebt?“

Das Mädchen saß da und sagte nichts. Und dann sah Florian, wie sich die Züge in seinem Gesicht verkrampften, und es anfing zu weinen. Er hatte lange keinen Menschen weinen sehen. Er drückte das Mädchen wieder an sich und trocknete die Tränen. Ich werde dich nicht verlassen, dachte er. Niemals werde ich dich verlassen. Niemals.

10.

Florian bekam einen Brief. Absender war das Dekanat der Universität. Er sollte sich am kommenden Mittwoch um fünfzehn Uhr im Dekanat Raum 114 einfinden. Er dachte nach. Er hatte nichts Schlechtes gemacht. Man konnte ihm nichts vorwerfen. Seit er Student war, hatte er sich nicht an politischen Diskussionen beteiligt. Sein Studium war verlaufen, wie es vorgesehen war. Er hatte alle Prüfungen so gemacht, wie es vorgesehen war. Er konnte beruhigt ins Dekanat gehen. Er hatte am Mittwoch nachmittags eine Vorlesung. Er würde sie ausfallen lassen und ins Dekanat gehen.

Der Mittwoch kam und Florian machte sich auf den Weg. Das Dekanat war im Hauptgebäude der Universität untergebracht. Er fragte beim Pförtner nach dem angegebenen Raum. Der Gang war lang mit vielen Türen. Er fand eine Tür mit der Nummer 114. Es stand nur die Nummer an der Tür. Sonst nichts. Florian war jetzt etwas unruhig. Was hatte das zu bedeuten?

Er klopfte. Nichts. Er klopfte wieder. Nichts. Er wartete. Er öffnete die Tür vorsichtig und sah in den Raum. Ein Tisch, zwei Stühle. Gegenüber. Ein Mann lesend. In Akten auf dem Tisch.

„Entschuldigung“, sagte Florian. Der Mann sah auf. Vielleicht vierzig. Graues Hemd und graue Hose. Stämmig.

„Sind sie Herr L.?“

„Ja“, sagte Florian. Der Mann wies auf den Stuhl gegenüber.

„Nehmen sie Platz.“

„Ich habe einen Brief vom Dekanat bekommen. Ich soll mich hier melden. Raum hundertvierzehn.“ Der Mann las weiter in seinen Akten, die auf dem Tisch lagen. Erst nach einer Weile sah er auf. Seine Stimme war nicht unfreundlich als er sagte:

„Sie werden sich gefragt haben, warum wir ihnen geschrieben haben.“

„Ja. das habe ich. Ich habe überlegt ob ich etwas verbrochen habe.“

„Und? Haben sie etwas verbrochen?“

„Mir ist nichts eingefallen.“

„Dann können sie beruhigt sein.“ Florian hatte jetzt einen gewissen Verdacht. Mehr nicht. Der Mann schwieg wieder. Dann sagte er:

„Wir wollten einmal mit ihnen sprechen. Sie kennen lernen.“ Er öffnete eine Akte. Florian sah seinen Namen auf dem Aktendeckel.

„Sie kommen aus C. im Bezirk Dresden. Sie sind dort zur Schule gegangen. Grundschule und Oberschule. Sie haben einen sehr guten Abschluss gemacht. Ihre Lehrer haben sie sehr gut beurteilt. Auch ihre gesellschaftliche Tätigkeit war gut. Sie waren bei den jungen Pionieren und sind dann Mitglied der FDJ geworden. Sie waren bei der jungen Gemeinde. Allerdings nur kurz.“

„Damals war ich fünfzehn. In dem Alter denkt man über den lieben Gott nach. Ich wollte mich informieren.“

„In der jungen Gemeinde waren junge Leute, die mit unserem Staat nicht einverstanden waren. Der Westen stand dahinter. Wussten sie das nicht?“

„In C. gab es einen netten Pfarrer. Der betreute die junge Gemeinde. Die Mädchen haben von ihm geschwärmt. Ich weiß nicht, wie ich da hinein geraten bin. Ich bin dann nicht mehr hingegangen. Ich glaubte nicht mehr an Gott.“

„Aber sie haben geglaubt?“

„Nur kurze Zeit.“

„Warum waren sie nicht mehr gläubig?“

„Wollen sie das wirklich wissen?“

„Sie müssen nicht antworten.“

„Eines Tages habe ich mir das überlegt. Die Sachen, die in der Bibel stehen. Dass Gott als sein Sohn auf die Erde gekommen ist. Ich habe plötzlich gesehen, dass das ganz und gar unwahrscheinlich ist. Eine Theorie, die so schlecht durch Tatsachen belegt ist, ist unhaltbar. Im ersten Moment, nachdem ich das gedacht hatte, befürchtete ich vom Blitz erschlagen zu werden. Oder etwas Ähnliches. Es passierte nichts. So war das.“

Der Mann lachte. Ein intensives Lachen.

„Haben sie nie an Gott geglaubt?“ Florian wollte eine persönlichere Beziehung zu dem Mann

herstellen, über den er sich unsicher war. Der Mann lachte wieder dieses harte Lachen.

„Ich hatte keine Zeit zu glauben. Meine Mutter war allein. Mein Vater hatte sie verlassen. Er hatte eine andere Frau kennen gelernt.“

„Wo sind sie großgeworden?“

„In Thüringen. In Apolda. Kennen sie die Stadt?“

„Nein. Ich kenne nur den Rennsteig. Sind sie schon lange hier im Dekanat?“

„Seid drei Jahren.“

„Macht ihnen die Arbeit Spaß?“

„Man lernt viele Leute kennen. Ich habe mich immer für Menschen interessiert.“

„Sind sie Psychologe?“

„Nein.“ Sie schwiegen eine Weile. „Jetzt wissen sie mehr über mich als ich über sie. Ich wollte sie kennen lernen.“

„Warum? Ich bin nicht interessant. Was haben sie für einen Eindruck von mir?“

„Ich glaube, dass sich unser Staat auf sie verlassen kann. Sie haben nichts zu verbergen.“ Florian war erleichtert. Sein Verdacht schien sich zu bestätigen.