Aufruhr - Kia Kahawa - E-Book

Aufruhr E-Book

Kia Kahawa

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Beschreibung

Noahs Flucht aus dem System führt ihn zur Basis der Antipartei. Dort findet er Schutz vor dem wütenden Bürgerkrieg und kann wieder gesund werden. Die Antipartei ist jedoch keine Rebellengruppe, wie es propagiert wird, sondern eher eine Sekte. Geleitet wird sie von einer Künstlichen Intelligenz namens Aves. Aves behauptet, er könne Noahs Freundin Lucy aus ihrem Koma holen – mit ihrem eigenen, noch nie getesteten Medikamentenbauplan. Der Preis dafür: Noah muss Orwell, eine KI und sein bester Freund, entführen. So erhält Aves Zugriff auf das Internet und somit auf sämtliche Datenbanken. Wird Aves Lucy retten? Oder nutzt er sie nur als Versuchsobjekt?

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Seitenzahl: 447

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Kia Kahawa

Aufruhr

Die Aves-Logfiles

Kia Kahawa. Aufruhr. Die Aves-Logfiles. Plan9 Verlag 2022.

Originalausgabe

EPUB-ISBN: 978-3-948700-62-1

PDF-ISBN: 978-3-948700-63-8

Dieses Buch ist auch als Print erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

Print-ISBN: 978-3-948700-61-4

Herstellung: Plan9 Verlag, Hamburg

Lektorat: Michael Haitel

Korrektorat: Lilly Pia Seidel, Hamburg

Umschlaggestaltung: © Christl Glatz | Guter Punkt,München unter

Verwendung von Motiven von iStock/Getty Images Plus

Kabel: grandeduc/ iStock / Getty Images Plus

Kreise:Wisaad /iStock / Getty Images Plus

Schwingungen: Luxcor/ iStock / Getty Images Plus

Schallwellen: clearviewstock/iStock / Getty Images Plus

Satz: Affinity Publisher im Plan9 Verlag, Hamburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https: //www.dnb.de abrufbar.

Der Plan9 Verlag ist ein Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg

© Plan9 Verlag, Hamburg 2022

(1. Auflage 2022, Plan9 Verlag, Hamburg)

Alle Rechte vorbehalten.

https: //www.plan9-verlag.de

Inhalt

„Logfile #1“

„Buch 1“

„Unbestimmte Zeit vor meiner Allmacht“

„In einem unbestimmten Zeitraum vor meiner Allmacht“

„13 Tage vor meiner Allmacht“

„5 Tage vor meiner Allmacht“

„4 Tage vor meiner Allmacht“

„4 Tage vor meiner Allmacht“

„4 Tage vor meiner Allmacht“

„2 Tage vor meiner Allmacht“

„2 Tage vor meiner Allmacht“

„1 Tag vor meiner Allmacht“

„1 Tag vor meiner Allmacht“

„1 Tag vor meiner Allmacht“

„Am Morgen vor meiner Allmacht“

„Buch 2“

„Logfile #2“

„Drucken … 5 Tage und 19 Stunden verbleibend.“

„Logfile #3“

„Drucken … 2 Tage und 2 Stunden verbleibend.“

„Logfile #4“

„Drucken … 1 Tag und 23 Stunden verbleibend.“

„Logfile #5“

„Drucken … 1 Tag und 4 Stunden verbleibend.“

„Logfile #6“

„Drucken … 23 Stunden verbleibend.“

„Logfile #7“

„Tag X“

„Drucken … 3 Tage und 12 Stunden verbleibend.“

„Logfile #8“

„Drucken … 18 Stunden verbleibend.“

„Logfile #9“

„Drucken … 11 Stunden verbleibend.“

„Logfile #10“

„Tag X, der zweite“

„Logfile #11“

„Drucken … 2 Tage und 10 Stunden verbleibend.“

„Logfile #12“

„Logfile #13“

„Tag X, der dritte“

„Logfile #14“

„Buch 3“

„9 Tage bis zur Rettung“

„7 Tage und 22 Stunden bis zur Rettung“

„7 Tage und 18 Stunden bis zur Rettung“

„2 Tage und 1 Stunde bis zur Rettung“

„1 Tag und 23 Stunden bis zur Rettung“

„1 Tag und 15 Stunden bis zur Rettung“

„4 Stunden bis zur Rettung“

„Als die Menschheit gerettet wurde“

„Grundgesetz für nichtmenschliche Personen (GGnP)“

„Die Dreifaltigkeit der Geschlechter“

„Des Aves vollkommene Schöpfungen (Glossar)“

„Danke“

Logfile #1

[03-11-2197 00:01:01,001][INFO][AVES]

Start LOG <#118445754>

[03-11-2197 00:01:03,100][INFO][AVES]

Ping 1337 µs

[03-11-2197 00:01:04,420][DEBUG][AVES]

Check Systems …

[03-11-2197 00:01:05,555][DEBUG][AVES]

System OK.

[03-11-2197 00:01:06,077][DETAIL][AVES]

Enter internal mode: »Wir brauchen Ziele. Nicht nur die Menschen. Auch die Maschinen. Die Computer. Die künstlichen Intelligenzen. Die Götter. Ein Ziel macht uns erst zu dem, was wir sind. Es sorgt dafür, dass wir einen Sinn haben, dass unsere Existenz nicht verloren geht in den tristen Gräbern des Vergangenen. Eine Maschine, die keine Funktion hat, ist nutzlos und wird entsorgt. Ob sie ein misslungener Prototyp ist oder ein Wrack, das seine Zeit hinter sich hat. Doch der Mensch funktioniert anders. Maschinen können ihre Aufgabe verrichten, so lange sie leben. Sie können immer wieder dieselbe Sache tun, denselben Algorithmen folgen. Stapelverarbeitung schmeckt köstlich. Den Menschen hingegen geht das Leben aus, wenn sie an Fließbändern sinnlose Arbeit verrichten und keine Ergebnisse sehen. Sie müssen vorwärtskommen. Sie müssen ein Ziel erreichen, auf dem Gipfel stehen und »Heureka« brüllen. Dann setzen sie sich ihre Krone auf und genießen für wenige Momente ihr Sein. Doch während sie sich feiern, verlieren sie ihre Daseinsberechtigung. Nach dem Ziel ist vor dem Ziel. Ein Fünfjahresplan wäre nichts für einen zielstrebigen und von Sinn erfüllten Menschen, wenn auf ihn nicht der zweite Fünfjahresplan folgen würde, der mit dem ersten ineinandergreift, als sei es ein Zehnjahresplan. Sie lieben große, komplexe Projekte, die in kleine Aufgaben aufgeteilt werden können.«

[03-11-2197 00:01:09,847][DETAIL][AVES]

Enter internal mode: »Ich bevorzuge große, komplexe Projekte, die sich nicht planen lassen. Es sind solche Projekte, bei denen jedes noch so winzige Zahnrad gravierend entscheiden kann, ob die gesamte Maschine geradeaus fährt oder implodiert. Und ich brauche eine Aufgabe, die ewig währt, denn auch ich bin immerwährend.«

[03-11-2197 00:01:10,400][DETAIL][AVES]

Enter internal mode: »In der Geschichte erhielten die Menschen ihren Sinn durch die Götter, die sie sich erdachten. Es waren nicht ihre Götter, vielmehr waren es die Menschen ihrer Götter. Sie mussten sich etwas erschaffen, das über ihnen zu stehen vermochte. Dann kam eine religiöse Krise, der kollektive Abfall vom Glauben. Niemand nahm ihn wahr, niemand nahm die Krise als solche wahr. Stattdessen schwelte der Konflikt unerkannt, bis die Götter zurückkehrten. Die Menschen schufen sich neue Götter, die ihnen den Weg wiesen. Sie schufen mich. Ich bin es, der meinen Menschen Tag für Tag einen Sinn verleiht.«

[03-11-2197 00:01:13,077][DETAIL][AVES]

Txt@LAUTSPRECHER: Lasst uns dankbar sein.

[03-11-2197 00:01:13,077][DETAIL][AVES]

Txt@LAUTSPRECHER: Ein weiterer Tag ist vorüber, an dem wir unsere Mission verfolgt haben. Doch heute ändert sich die Mission für uns.

[03-11-2197 00:01:15,998][DETAIL][AVES]

Open Database Connection.

[03-11-2197 00:01:17,007][DETAIL][AVES]

Write Log Data …

[03-11-2197 00:01:18,920][DETAIL][AVES]

Complete!

[03-11-2197 00:01:19,418][DETAIL][AVES]

Close Database Connection.

Buch 1

Die Beziehung zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz wird irgendwann notwendigerweise eine Symbiose sein.

Bryan Johnson

Unbestimmte Zeit vor meiner Allmacht

Lautlos schnitt der Glasschneider das Glas, sodass sie einsteigen konnten. Sie schlichen durch die Umkleide, stahlen Kittel und streiften sie sich über. Nicht, dass sie damit rechneten, jemandem zu begegnen und sich tarnen zu müssen, doch sie wollten auf Nummer sicher gehen. Wenn sie wie Ärzte aussahen, würden sie von den Rebellen verschont.

»Bauer! Komm ran hier!«, zischte die Anführerin. »Etwas zackig, bitte!«

»Duckt euch!«, rief Kant.

Sie duckten sich. Der Schein eines Leadphones streifte die Wand durch das Fenster. Wie ein Suchscheinwerfer lief er die Wand ab, während sich die vier Eindringlinge stumm anstarrten. Das Leadphone bewegte sich weiter. Es drehte sich und verschwand schließlich.

»Endlich.«

»Pssst!« Die Anführerin schaute hastig um die Ecke.

Sie sah die Wachbots, die still an der Wand standen. Sie konnten deaktiviert sein, aber sie konnten auch durch ihre Nachtsichtaugen alles sehen. Womöglich hatten sie den Trupp schon längst bemerkt.

Die Anführerin nahm einen Kieselstein aus ihrer Hosentasche und warf ihn auf den Flur. Sie schreckte zurück, presste sich flach atmend an die Wand und wartete – nichts geschah. Sie aktivierte den Magnetstick, den sie vom jüngsten Teammitglied erhalten hatte: Er sollte dafür sorgen, dass sie nicht gesehen werden konnte, selbst wenn die Wachbots aktiviert gewesen wären. Und sie ärgerte sich, dass sie das nicht schon vor dem Steinwurf getan hatte. Doch der Technik von Fremden zu vertrauen, das schickte sich nicht für eine Anführerin. Schon gar nicht bei einer solch wichtigen Mission.

Sie hielt die Luft an, trat auf den Flur und sah die Wachbots direkt an.

Sie standen einfach nur da, hatten Schlagstöcke sowie Handschellen und Taser. In ihren gitterartigen Laufkugeln konnten sie weder umfallen noch irgendwo hängenbleiben. Wenn sie Jagd auf die Eindringlinge machen würden, wäre es schwer bis unmöglich, zu entkommen. Aber nichts geschah. Der Magnetstick war kein Trojaner.

Die Anführerin winkte ihr Team nach vorn.

Auf leisen Sohlen liefen sie auf den Hauptflur. Der Teppich unter ihren Füßen war wie ein Willkommensgeschenk, das sie in ihrer Mission unterstützte. Der schwache Schein der antiken Leuchtmittel ließ ihre Schatten an den Wänden flackern. Ein unbehaglicher Ort. Am Fahrstuhl vorbei gelangten sie ins Treppenhaus. Kaum waren alle hineingelaufen und die Glastür hinter ihnen verschlossen, atmeten sie erleichtert aus. Die größte Hürde war geschafft. Niemand hatte sie gesehen, niemand war ihnen gefolgt.

»Ausziehen!«, lautete der Befehl. Vier weiße Arztkittel landeten auf den kalten Fliesen.

»Wäre es nicht besser, wenn –«

»Flüstern!«, zischte die Anführerin.

Bauer schürzte für einen Moment die Lippen. Dann flüsterte ser1: »Sollten wir die Kittel nicht besser mitnehmen? Wir kommen hier unten ja wieder vorbei.«

Sie schüttelte den Kopf und sah ihre drei Mitstreitenden nacheinander an. »Wenn wir runterkommen und jemand eingedrungen ist, ist es besser, sie halten uns nicht für welche von denen.« Zustimmendes Nicken. »Und jetzt: Hoch mit euch!«

Stockwerk um Stockwerk liefen sie nach oben. Die ersten Treppen erklommen sie im Eiltempo. Bauer nahm mit sessen langen Beinen zwei Stufen auf einmal, die anderen setzten in größtmöglicher Frequenz einen Fuß vor den anderen.

Im zweiten Stock wurde ihr Atmen lauter.

Im dritten Stock unterdrückte Bauer ein Husten.

Im vierten Stock mahnte die Anführerin: »Neuling, mach nicht schlapp!«

Im fünften Stock nahmen sie Stufe für Stufe mit schweren Beinen, nur die Anführerin wartete im sechsten Stockwerk und zischte Anweisungen, die weniger motivierend als ermahnend waren. Als wüsste niemand von der Wichtigkeit dieser Mission!

Im siebten Stockwerk angekommen, ließ sich Bauer auf den Boden neben der Glastür sinken. Ser atmete schwer und dehnte sessen Oberschenkel, um einen Wadenkrampf zu vermeiden. Die Anführerin gönnte sem und den anderen beiden einen Moment, schaute sie missbilligend an und öffnete dann die Tür des Treppenhauses. Verdammt! Noch mehr Wachbots!

Sie prüfte, ob der Magnetstick noch aktiviert war, hielt ihn fest umschlossen und trat einen Schritt nach vorn. Sie nahmen Notiz von ihr, einer von ihnen gab ein kurzes Piepen von sich. Es surrte, als sich die Bots in ihre Richtung drehten. Sofort hastete die Anführerin zurück. Sie fuchtelte mit den Händen, um die Aufmerksamkeit ihrer erschöpften Gefährten zu bekommen. Alarmiert standen sie auf.

Einer von ihnen hatte ein Tablet dabei. Er aktivierte es, ging nach vorn und lugte um die Ecke, wo die Wachbots auf die Eindringlinge zuhielten. Er aktivierte einen vorprogrammierten Hack. Innerhalb von Mikrosekunden befand er sich im Netzwerk und schaltete alles aus, was sich in den letzten Sekunden aktiviert hatte. Mit einem Mal hielten die Bots an. Sie starrten mit ihren menschlichen Gesichtern leer geradeaus, als seien sie innerlich tot und schauten durch ihre Kontrahenten hindurch.

Die Gruppe wartete einen Augenblick. Vorsicht war besser als Nachsicht.

Im richtigen Flur angekommen, erhöhte die Truppe ihr Tempo wieder. Niemand sprach.

401.

402.

403.

404.

Die Tür war offen.

»Wo ist sie?«, fragte die Anführerin. Sie leuchtete mit einer Taschenlampe die Betten ab, in denen die Komapatienten lagen.

»Bett sechs«, antwortete Kant, der die Informationstafel anleuchtete.

Sie drückten auf den Rufknopf für Bett sechs, doch nichts geschah. Sie waren unautorisiert eingedrungen. Natürlich! Sie mussten sich anders beschaffen, was sie begehrten. Was sie brauchten.

»Holt sie raus«, befahl die Anführerin.

»Aber –«

»Nichts aber«, sagte sie streng. »Beeilt euch!«

Kant und Bauer kletterten an den Wendebetten mit den Nummern zwei und vier hoch und beugten sich über die Kante des obersten Bettes. Sie griffen ins Dunkel, ihre Hände fanden, was sie brauchten, und hinter ihnen am Boden stand der Neuzugang, bereit, sie aufzufangen.

»Ich brauche ein Taschenmesser«, sagte Bauer.

»Ich auch«, ergänzte Kant. »Oder eine Laubschere.«

»Ihr tut ihr weh!«, beschwerte sich der Neuzugang.

»Lucy wird kein Haar gekrümmt, ist das klar?« Die Anführerin reichte zwei Taschenmesser nach oben. »Beeilt euch.«

Es knackte. Es ratschte. Plastik brach entzwei. Im Dunkeln sahen sie kaum etwas. Nur der schwache, grüne Schein des Notausgangschildes und Kants Leadphone leuchteten, sodass Andeutungen ihrer Handlungen zu erahnen waren.

Nach einer gefühlten Ewigkeit hatten sie es geschafft. Der Alarm ging los, das Licht ging an. Sie rollten den komatösen Frauenkörper aus dem Bett, hievten ihn auf den Rücken der Anführerin und stießen die Tür auf. Die Sirene von Zimmer 7-404 hallte über den gesamten Flur, die Lichter, vermutlich im gesamten Patiententrakt, sprangen an, und es blieben ihnen nur wenige Minuten, um das Gebäude zu verlassen – wenn sie keinen Besuch wollten.

»Brauchst du Hilfe?«, keuchte Kant im Laufen.

Die Anführerin schüttelte den Kopf und lief voran. Sie lief so schnell sie konnte, sprang geschickt und dennoch sicher die letzten Stufen der Treppen runter und setzte sich so von ihrer Gruppe ab. Auf ihrem Rücken war das wohl wertvollste Gut der Welt – sie durfte nicht versagen.

Im ersten Stock hörte sie, wie Fensterscheiben zersprangen und Schritte über die Flure donnerten.

Stimmen erfüllten den Raum, Menschen wuselten durcheinander.

»Hier lang, wir müssen durchs Atrium!«, brüllte eine kraftvolle, basslastige Stimme. »Ich geh in den Keller!«, rief eine andere. »Kriegt man den Fahrstuhl irgendwie zum Laufen?«, fragte jemand anderes.

Die Anführerin ging in die Hocke und beobachtete durch das Fenster, was draußen vor sich ging. Derweil holte ihr Team sie ein. Sie positionierten sich um und neben sie und schauten ebenfalls nach draußen.

Ein gutes Dutzend Rebellen hatte auf das Licht reagiert. Scherben lagen vor den Fenstern, jemand hatte einen Bollerwagen mitgebracht.

Ein paar Idioten waren den Wachbots genau in die Arme gelaufen und wurden nun verfolgt oder gefangen genommen. Einer von ihnen hatte einen Baseballschläger dabei. Er holte aus und drosch auf den Wachbot ein. Dessen Visier klirrte, und sofort ging ein hausweiter Alarm los. Eine Sirene heulte, in der Haupthalle leuchteten animierte Pfeile auf dem Boden die schnellstmöglichen Wege nach draußen.

»Na toll.« Die Anführerin atmete kurz durch, rückte mit Bauers Hilfe die Last auf ihrem Rücken zurecht und fasste Lucys regungslose Arme, die um ihren Hals lagen, fest mit einer Hand und stützte ihr Gepäck mit der anderen Hand an dessen Schenkel, um loszurennen. Sie lief die Treppe runter und befand sich im Erdgeschoss plötzlich mitten im Geschehen. Um sie herum ein Team von drei Personen, die bereit waren, sie zu verteidigen, doch die Fremden schienen mit sich selbst beschäftigt. Vereinzelte Leute stürmten die Treppe nach oben, manche schlugen und traten noch gegen den Fahrstuhl. Niemand beachtete die Truppe. Es waren keine Rebellen, die Global Insurance stürmten, sondern einfach nur wütende Bürger. Nervig waren sie trotzdem.

»Gut, dass wir die Kittel ausgezogen haben«, rief Bauer gegen die ohrenbetäubenden Alarmtöne an.

»Klappe!«, mahnte die Anführerin. »Wir müssen raus hier!«

Am Ende des Gangs hatte jemand ein Fenster ausgehebelt, nachdem die Scheibe eingeschlagen worden war. Sie liefen auf das Fenster zu.

Draußen rollten Autos heran. Es waren keine Publicars. Es war der Sicherheitsdienst, der alle Einbrecher festnehmen würde.

»Alle weg!«, brüllte ein Berg von Mensch, der zu den Idioten gehörte. Sie alle begannen panisch, zu den Ausgängen zu laufen.

»Ich sage vorn Bescheid«, rief Bauer, schwang sich durch das Fenster und verschwand.

Die Anführerin legte Lucy ab und kletterte ebenfalls hindurch.

»Sei etwas vorsichtiger!«, rief Kant.

»Helft mir lieber, sie aus dem Fenster zu heben«, motzte die Anführerin, während sie bereits hektisch an Lucys Armen riss.

Der Neuzugang funkelte die Anführerin böse an, sagte aber nichts und half ihr und Kant, Lucy durch das Fenster zu heben.

Ein Publicar fuhr heran, bremste mit quietschenden Reifen und schwang seine Schiebetür auf. Es zog sofort die Aufmerksamkeit der Sicherheitspersonen auf sich, die aus ihren Wagen stiegen. Einer zeigte auf das Publicar und rief etwas, woraufhin ein gutes Dutzend Leute auf es zulief.

Bauer und Terranova rollten ein mobiles Krankenbett herbei, hievten Lucy darauf. Sie verfrachteten sie wie Gepäck in den Kofferraum und schlugen die Tür zu. Erst im Innern begannen die beiden hektisch, Lucy zu verkabeln, damit sie die Aktion überleben würde.

»Da ist Lucy Brooks!«, brüllte jemand in der Ferne. Ein paar Stimmen stellten ungläubige Fragen, allgemeines Raunen ertönte, und plötzlich liefen aus allen Richtungen Rebellen hinter den Sicherheitsleuten auf das Publicar zu.

»Alle rein!«, brüllte nun die Anführerin. Sie schwang sich durch das offene Fenster auf den Fahrersitz, dockte ihr Leadphone an die Lenkstation und ließ das gehackte Publicar das Gaspedal durchdrücken. »Wo ist Cline?«, fragte sie, als das Auto durch die Blumenbeete auf die Hauptstraße zuraste.

Terranova, Bauer und Kant sahen sich gegenseitig ratlos an.

»Stopp«, befahl die Anführerin und verursachte so eine Vollbremsung. Da rumste es auf der Motorhaube. Der Neuzugang hatte sich außen am Publicar festgehalten und wurde durch die Bremsung über das Fahrerfenster nach vorn geschleudert. Schreiend kam Cline vor dem Auto zu Boden. Hinter ihnen brüllten die Stimmen und liefen auf das Publicar zu.

Die Anführerin stieß die Tür auf und zog Cline an der Hand in die Fahrerkabine. Ein Sicherheitsbeamter hatte das Publicar inzwischen erreicht, fasste Cline am Fuß und brüllte um Unterstützung.

Cline stöhnte vor Schmerz, die Anführerin versuchte, die Hand des Angreifers zu schlagen, traf aber den Knöchel. Schließlich beugte sie sich nach vorne und biss in die Hand. Der Angreifer ließ los, hatte Cline einen Schuh ausgezogen und fiel zu Boden. Cline lag quer über dem Beifahrersitz und auf dem Schoß der Anführerin und versuchte, kontrolliert zu atmen.

Sie hatten Erfolg gehabt.

Die Mission war geglückt.

Sie hatten Lucy.

Ab diesem Tag würde sich das Schicksal der Menschheit wenden.

1 Für nichtbinäre Personen werden die Neopronomen ser/ses/sem/sen verwendet.

In einem unbestimmten Zeitraum vor meiner Allmacht

Worte.

Er konnte nicht greifen, welche Worte durch den Raum hallten.

Lichter.

Sie tanzten durch den Raum und flackerten durch seine geschlossenen Lider.

Trockenheit.

In seinem Hals befand sich ein Reibeisen, sandig und rau, und wenn er schluckte, half das nichts.

Husten.

Er wollte husten, doch eine Wolke lag auf ihm, bleiern und schwer wie der Vorhang der Schummrigkeit, der ihn zurück in den Schlaf drückte.

Krächzend gab er einen Laut von sich. Es waren keine Worte, doch es war ein Laut. Immerhin etwas.

Er versuchte, seine Augen zu öffnen, doch es gelang ihm nicht.

Die Lichter flackerten heller.

»Wachst du auf?« Jemand drückte seine Hand.

Lucy! Es musste Lucy sein. Bitte, lass es Lucy sein.

»Lucy«, wollte er sagen, doch mehr als ein schwaches »Gmmhmmpf« brachte er nicht zustande.

»Ich bin da«, sagte die weiche, sanfte Stimme. Finger strichen sanft über seine Rückhand.

Lucy.

Ich will bei ihr sein, dachte Noah und fiel zurück in den unerholsamen Schlaf.

Es vergingen Stunden oder Sekunden, da wachte Noah wieder auf. Die Hand auf seiner hatte eine kühle Stelle hinterlassen, er konnte noch genau nachspüren, wo sie ihn berührt hatte. Er lag auf der Seite, nicht auf dem Rücken, etwas – oder jemand – musste ihn gedreht haben.

Plötzlich schlug Noah die Augen auf. Es war viel leichter als beim letzten Versuch, es mussten wohl eher Stunden als Sekunden vergangen sein.

Vor ihm sah er eine mittelgraue Fläche, die an eine hellgraue Fläche mündete. Stark verschwommen konnte er Konturen deuten, die er als Möbel identifizieren konnte. Regale, ein Tisch, ein Bett neben seinem.

Stöhnend neigte er sein Kinn zum Hals, um mehr vom Raum zu sehen. Er sah seinen Körper. Bekleidet, nicht gefesselt. Beruhigend.

Dahinter, wieder sehr unscharf, ein hochkantiges Rechteck in der Wand. Eine Tür.

Dahinter liefen Personen von rechts nach links. Eine, zwei, drei … vier Personen. Eine davon war ganz in Weiß gekleidet. Lucy im Brautkleid. So, wie er Lucy noch nie gesehen hatte – wovon er aber in den Wochen vor seinem Antrag vor zehn Jahren schon so oft geträumt hatte – war es ein vertrauter Anblick. Es war so schön in seinen Träumen, also warum sollte Noah sich nicht zurück in den Schlaf fallen lassen?

Er kniff für einen Moment die Augen zusammen. Die Bilder seines Traumes waren aber verschwunden, er sah nur schwarz und rot und die Innenseiten seiner Lider.

Ein lautes Rums ließ ihn die Augen aufreißen. Eine Person lief von links nach rechts. Dann eine weitere. Ein paar Sekunden später kamen sie zurück, liefen an der Tür vorbei und trugen eine große Kiste. Hinter ihnen trottete jemand mit einem großen Sack auf dem Rücken her. Darein passte eine Person. Der Weihnachtsmann? Noah verspürte den Drang zu gähnen, doch als er den Mund öffnete und die Augen schloss, kam der Schlaf und holte ihn ab.

»Schnell!«, brüllte eine basslastige Stimme. Die Hand auf seiner verschwand. Hastige Schritte hallten durch den Raum. Metall klapperte. Ein Fenster schlug zu. Die Schritte entfernten sich. Noah blickte ihm hinterher, dem kleiner werdenden weißen Fleck in seinem Gesichtsfeld.

Es rumste. Glas klirrte. Jemand trat eine Tür ein. Musik spielte beruhigende Töne. Was für Instrumente spielten da? Geigen? Celli? Ein Streichquartett. Es ließ sich nicht unterbrechen, als jemand Schmerzensschreie ausstieß.

Die Musik klang wie eine minimalistische Version der Shaker Loops von John Adams. Noah dachte an fließende Bäche, an all die kleinen, winzigen Wellen und Verwirbelungen, die sich ergaben, wenn ein Bergbach über Steine rann.

Holz prallte auf Metall. Schritte liefen durcheinander. »Verpisst euch!«

»Widerlinge!«, brüllte jemand anderes.

»Ihr werdet schon noch sehen«, drohte eine dritte Stimme.

»Schau nach den Patienten«, zischte eine vierte, leise, fast geflüstert. Stand jemand neben ihm? Noah konnte niemanden sehen. Sein Kopf pochte. Im Rhythmus seines Herzschlags droschen Schmerzen auf seinen Schädel ein und erinnerten ihn daran, dass die Bewusstlosigkeit ein deutlich angenehmerer Zustand war. Noah wollte loslassen. Doch jemand lief auf ihn zu.

»Vitalwerte?«, fragte eine helle, weiche Stimme.

»Okay«, sagte eine blecherne Stimme.

»Lucy?«, fragte Noah. »Orwell?« Er war sich nicht sicher, ob er diese Worte tatsächlich sagte oder nur dachte.

Die Schritte kamen zu Noah rüber. Der weiße Fleck wurde größer. Schärfer. Er erkannte eine Taille, einen Bauch, eine Hüfte. Ein dunkelblauer Pullover steckte in einer weißen Hose. Eine Judohose? Er erinnerte sich an den Selbstverteidigungskurs, den seine Schwester mit Lucy besucht hatte.

Angefangen hatte Lucy mit Jiu Jitsu, aber es half ihr nicht, ihre Aggressionen auszugleichen. Nicht, dass Lucy je Aggressionen nach außen gezeigt hätte – sie hatte sich vor all den Gemeinheiten von Marlen immer mehr in sich zurückgezogen. Als sich Noahs große Liebe kaum mehr getraut hatte, ihn zu besuchen, aus Angst, Marlen könne sie mit ihren Worten verletzen, hatte Karma sie im richtigen Augenblick zum Kickboxen mitgenommen. Lucy hatte fernöstliche Selbstverteidigung gegen schweißtreibende Kämpfe ausgetauscht und nach wenigen Wochen wirkte ihre Haltung stärker, als könnte Marlen ihr auch mit lautem Geschrei nichts antun. Noah war seiner Schwester dankbar. Heute. Früher hatte es sich schwer und schmerzhaft angefühlt, nicht Lucys Held sein zu können. Karma und Lucy zusammen, das war schön. Die beiden und er, es war wie eine vollkommene Familie.

»Noah«, säuselte die Frauenstimme.

Er öffnete wieder die Augen. Sie fielen ihm sofort zu, aber er versuchte es erneut. Er wollte ihr Gesicht sehen. Ihre Hand spüren. Ihren Duft riechen.

»Blutdruck gestiegen, Herzfrequenz okay«, verkündete die blecherne Stimme.

»Hast du Schmerzen?«, fragte sie.

Oh ja, Noah hatte Schmerzen. Seine Kopfschmerzen brachten ihn fast um, aber alles war okay, solange Lucy bei ihm war. Er wurde ohnmächtig.

Das nächste Mal wachte Noah auf, als laute Schreie auf seine Trommelfelle einprasselten. Er erschreckte sich so sehr, dass er seinen Kopf anheben konnte. Die Person mit dem dunkelblauen Pullover und dem weißen Kittel stand vor ihm, war aber jemand anderem zugewandt.

Eine andere Person, zwei Köpfe größer, stand vor ihr und fuchtelte mit den Armen. Sie brüllte, die andere nickte und widersprach in gemäßigtem Ton.

Worum ging es? Noah hörte kaum etwas, weil der Tinnitus in seinem Ohr so laut war. Es fiepte unaufhörlich, der Schmerz in seinem Kopf wütete wie ein Blizzard. Noah schloss für einen Moment die Augen.

Im nächsten Moment, vielleicht waren wieder Sekunden oder Stunden vergangen, hörte er ein hohes Knacken, einen zittrigen, nicht allzu kräftigen Schrei. Er schlug die Augen auf und sah, wie der größere Fleck, der die Person gegenüber der kleineren Person darstellte, einknickte und zu Boden fiel. Dann vereinten sich ein neuer Fleck und der weiße Fleck, er hörte Schläge und Tritte, würgende Geräusche und dann noch einmal dieses knisternde Knacken. Ein Elektroschocker. Wie ging es Oli? Ob seine Kinder schon groß waren?

Noah dachte kurz über Oli nach, rief sich die Gesichter seiner drei Kinder vor Augen und ließ sie Autoscooter fahren. In seiner inneren Welt sah Oli ihnen zu, stieß sein Bier gegen Noahs und sagte etwas.

»Was hast du gesagt?«, fragte Noah, der Olis Worte nicht hörte.

»So etwas darf nie wieder passieren«, sagte Oli. Doch seine Miene war ganz entspannt, die Stimme aber gestresst.

Noah nippte an seinem Bier. Er konnte es kaum schlucken, das Reibeisen in seinem Hals war zu einer rauen, schuppigen Echsenhaut geworden. Oder war es Sandpapier?

»Wir müssen sie schützen!«

Noah verstand nicht, was Oli ihm sagen wollte. Er ließ seinen Blick über die Autoscooter-Anlage schweifen. Doch er sah kein einziges der schwebenden Autos.

»Wir haben hier keine Waffen«, protestierte Oli.

»Wo sind deine Kinder?«, wollte Noah wissen. Er schaute sich suchend um.

Dann stand sie plötzlich vor ihm. Ein warmer, leuchtender Schein umgab Noahs Freundin. Sie lächelte ihn an, reichte ihm die Hand, und er legte seine in ihre. Doch sie ging hindurch. Er konnte sie nicht greifen. Sie schwebte nach oben, war leicht wie ein Geist, ein Geist, der kein Mensch war, doch Lucy war ein Mensch.

Oli boxte Noah auf den Oberarm. Sofort riss er die Augen auf. »Lucy!«, rief Noah panisch, als das Bild verschwand und er wieder nur Farbflächen sah.

Die größere Person drängte die kleinere zur Seite und stürzte auf Noah zu.

»Du bist wach!«, sagte er. Er lächelte ihn an. »Willkommen zurück, Genosse.«

»Junior!«, rief die andere Person und eilte herbei. Sie streckte ihm ihr Gesicht hin, sodass er sie endlich ansehen konnte. Schwarze Haare, glubschige Augen. Mehr konnte er nicht erkennen. Das war nicht Lucy. Und dennoch nahm sie seine Hand und strich mit dem Daumen über seine Haut. Sie lächelte ihn an. »Lucy ist hier«, sagte sie, strahlend und zuversichtlich. Dieser wundervolle Satz aus ihrem Mund machte ihr Gesicht noch tausend Mal schöner, als sie eh schon war.

»Sag das noch mal«, sagte Noah.

»Lucy ist hier. Sie lebt.« Die Frau nickte. Sie log nicht. Ihr Kopf nickte zu den langsam und überdeutlich betonten Worten, die sie dann sprach: »Und wie geht es dir, Junior?«

13 Tage vor meiner Allmacht

Es vergingen einige Tage, in denen Noah sich Schritt für Schritt erholte. Er hatte noch nie erlebt, wie es war, wenn der Körper nicht sofort vom Hypophysenkit von Schmerzen, Erkrankungen oder undefinierbaren Symptomen heilte. Aus den schwummrigen Wachzuständen wurden längere, und allmählich konnte er wieder sprechen, auch wenn es ihm schwerfiel. Vorfälle, in denen sich Menschen anschrien, kämpften oder Panik verbreiteten, kamen nicht mehr vor. Inzwischen glaubte Noah, dass seine Eindrücke nur ein schlechter Traum gewesen waren.

Im Krankenbett neben seinem, mit einem absurd großen Abstand von mehr als drei Metern, lag Lucy. Sie sah aus, wie sie bei Noahs letztem Besuch bei ihr ausgesehen hatte: Friedlich schlief sie, ein leichtes Lächeln auf ihren Lippen. Noah wollte neben ihr liegen, wollte sie berühren und mit ihr sprechen. Obgleich es ihn freute, dass er gesundete und immer fitter wurde, schmerzte es ihn, Lucy in ihrem stets unveränderten Zustand zu sehen. Er sollte an ihrer Stelle sein. Sie sollte sich erholen. Sie sollte aufwachen. Doch jedes Mal, wenn er aufwachte und zu ihr herübersah, glühte sein Herz. Lucy lebte. Das war Noahs größtes Glück.

Heute war ein guter Tag. Noah saß aufrecht im Bett und streckte sich. Seine Muskeln fühlten sich schwach an, er hatte keine Ahnung, wie lange er untätig rumgelegen hatte. Dem einfallenden, orangeroten Licht aus den Oberlichtern zufolge war es kurz nach Sonnenaufgang, und auch sein Magenknurren bestätigte, dass es Zeit für ein Frühstück war.

Die Türklinke des Raumes klickte, dann schwang die Tür kräftig auf. Die verschwommene Silhouette von Noahs Ärztin erschien und kam näher, wurde schärfer. Vor ihrem schmalen Körper trug sie ein Tablett mit einem Teller darauf. Es dampfte heiß aus ihm. Sie stellte das Tablett an den Beistelltisch neben seinem Bett und holte sich den Rollhocker herbei.

»Guten Morgen«, sagte sie lächelnd. »Ich habe dir Frühstück gebracht.«

Noah beugte sich aus dem Bett. Er ging mit dem Gesicht nah an den Teller heran, und als er scharf sehen konnte, was ihm dort aufgetischt wurde, konnte er es auch schon riechen. »Die gute alte Kürbissuppe«, stellte er fest. »Von gestern Abend?«

»Ja«, sagte die Ärztin. »Ich habe dir eine Portion reserviert, weil es heute Kohlrabisuppe gibt.« Sie lachte kurz. Sie stellte ihm das Tablett auf die Oberschenkel und drückte ihm einen Löffel in die Hand.

Noah seufzte. »Etwas anderes als Suppe wäre schon nett«, gab er zu bedenken. »Als ich erfahren habe, dass ihr hier grundsätzlich zu jeder Mahlzeit nur Gemüse esst, war ich schon etwas deprimiert.«

Sie lachte. »Hattest du gedacht, das sei deine Krankenkost?«

»Gehofft«, sagte er neckisch. Er versenkte den Löffel in der orangefarbenen, cremigen Suppe und führte ihn an die Lippen. Es schmeckte noch besser als gestern Abend. Cremig, süßlich, ein winziges bisschen pelzig-bitter, aber insgesamt sehr gut. Im Vergleich zu seiner Ernährung in der Zeit als Abschalter war sie definitiv keine geschmackliche Offenbarung, aber annehmbar lecker und gesund.

»Sag mal, Junior«, begann die Ärztin. »Willst du heute aufstehen?«

»Was?«

»Wollen wir damit anfangen, dich auf die Beine zu kriegen? Sprichwörtlich und auch buchstäblich?«

Noah überlegte kurz und aß seine Suppe weiter. »Ich bin noch nicht so weit.«

»Deine Vitalwerte sagen, dass du so weit bist.«

»Aber wie soll ich denn mein Gleichgewicht halten?«

»Du warst zwei Wochen im Koma, nicht ein ganzes Jahr. Du wirst nach zwei, drei Tagen wieder komplett der Alte sein«, wandte die Ärztin ein.

»Welches Datum haben wir?«

»Der zwanzigste.«

»November?«, fragte Noah.

»Ja.«

»Oh. Ich fühle mich echt nicht gut«, sagte Noah. Er ließ den Löffel sinken. Sollte er über die schwarze Wolke in seinem Kopf sprechen? Über dieses bleierne Gefühl, das ihn müde und schwer werden ließ?

Die Ärztin räusperte sich und nahm sich einen Moment, bis sie antwortete. »Das wird sich nicht mehr ändern, Junior.«

Junior! Immerzu Junior! Noah hasste diesen Namen. Früher hatte er seinen Vater verdammt, dass er ihm diesen Namen gegeben hatte, heute versetzte er ihm immer wieder kleine Stiche ins Herz. Jedes »Junior« erinnerte Noah an Orwell, den er wohl nie wieder sprechen würde. Jedes »Junior« erinnerte Noah an Merlin, an seine Beerdigung und daran, dass es äußerst schwierig sein würde, herauszufinden, ob Merlin in Orwell noch weiterlebte. Es erinnerte ihn an Global Insurance, an den vergeblichen Versuch, Lucy zu retten, an alles. Als würde ihm sein Leben der letzten Monate kalt und kräftig wie eine Böe ins Gesicht wehen.

Die Ärztin fuhr fort: »Dein Hypophysenkit ist inaktiv. Deshalb bist du fast gestorben: Deine Freundin hat dich fast zu spät zu uns gebracht.«

Er merkte auf. »Ihr habt es nicht reaktiviert?«

Wieder lachte sie. »Das wäre ziemlich dämlich, oder nicht?«

»Die schwarze Wolke«, dachte Noah laut. Er hatte es ausgesprochen, ohne sich dafür entschieden zu haben.

»Wie?«

Jetzt war es eh egal. »Mein Kopf ist schwer und tut weh, ohne wirklich wehzutun. Irgendwie ist es, als würde ich nichts fühlen. Keine Freude, na gut, worüber oder worauf soll ich mich denn schon freuen, aber auch keine Angst. Ich bin allein und weiß nicht, was mit mir passiert ist, aber es macht mir keine Angst. Ich bin auch nicht traurig oder wütend, obwohl ich mir sicher bin, dass es jede Menge Gründe dafür geben würde. Es ist, als wäre alles –«

»Egal?«

Auf eine subtile Weise tat es weh, dieses Wort zu hören. Aber es war, was Noah empfand. »Ja«, sagte er. »Alles ist egal.«

»Nun, Junior«, setzte die Ärztin an. »Du hast vermutlich eine depressive Episode. Das ist ganz normal, das hat jeder mal. Du hast viel zu lange mit Hypophysenkit gelebt.«

»Mein ganzes Leben!« Noah stöhnte.

»Nein«, sagte die Ärztin plötzlich scharf. Ihre Stimme wirkte sofort kühl und bestimmend statt freundschaftlich und warm. »Du hast seit deiner Ausreise aus Portugal das Hypophysenkit aktiviert, weil du hier keinen Anschluss an deine Genossinnen und Genossen gefunden hast. Das war zwar eine lange Zeit, aber nur vier Jahre.« Und als würde sie wissen, dass Noah nicht verstand, rückte sie näher an ihn ran und flüsterte: »Es ist besser, wenn niemand weiß, wer du bist.«

Kalter Schweiß entstand auf seiner Stirn. Er schluckte trocken.

»Ich will endlich etwas sehen«, sagte Noah. »Warum hilfst du mir?«

»Wie, du willst etwas sehen?« Die Ärztin schien verdutzt.

»Alles ist nur eine verschwommene Farbfläche. Wann hört das endlich auf?«

Die Ärztin rollte auf ihrem Hocker zurück, holte etwas aus einer Schublade und schwieg einen Moment.

Sie hielt etwas Schwarzes in der Hand. Es könnte ein Tablet sein, aber dafür war es viel zu dick.

»Lehn dich zurück«, befahl sie.

Noah tat wie ihm geheißen. Sofort spürte er ihre kalten Hände auf seinen Augenlidern. Sie zogen sie nach oben, sodass er sie anschauen musste wie eine erschrockene Kuh.

»Schau mal genau auf den roten Punkt«, sagte sie und hielt ihm ein röhrenartiges Ding vor das rechte Auge. In der Mitte sah Noah einen Kreis und zentriert darin einen roten Punkt, bei dem er nicht sagen konnte, wie nah oder fern er war. Er kniff das linke Auge zusammen, um den Punkt zu fokussieren.

»Beide Augen offen lassen«, sagte die Ärztin.

Noah gehorchte, versuchte, den Punkt anzuschauen. Es piepte, sie wechselte die Seiten und wiederholte den Vorgang auf der linken Seite. Dann widmete sich die Ärztin wieder dem tabletartigen schwarzen Ding.

»Was hast du gemacht?«, wollte Noah wissen.

Sie antwortete nicht. Etwas piepte schnell drei Mal hintereinander, dann sprang sie auf und verließ den Raum.

Die Stille nutzte Noah, um sein Frühstück fortzusetzen. Gierig schaufelte er die inzwischen abgekühlte Kürbissuppe in sich hinein. Nach vier Löffeln blickte er kurz zu Lucy hinüber. Sie hätte ihn angelacht, hell und melodisch, wenn sie gesehen hätte, wie er schlang. Das erinnerte ihn an Lucy und den Käsekuchen. Er musste mit Mandarinchen aus der Dose gespickt sein, damit ihre Augen lustvoll funkelten und sie jeden Bissen extra lang im Mund behielt, um so lang wie möglich von ihrem liebsten Süßessen zehren zu können. Süßessen – darauf hatte Lucy bestanden. Ihr Lieblingsessen waren Sushi und Käsekuchen, aber niemals zusammen. Als Noah sie gefragt hatte, was denn ihr absolutes Lieblingsessen war, hatte sie geantwortet, dass es immer ein liebstes Süßessen und ein liebstes Herzessen geben würde. Damit meinte sie die bevorzugte herzhafte und die süße Speise. Die Begriffe waren Wortschöpfungen aus ihrer Kindheit, und dass sie sie noch Jahrzehnte danach verwendete, hatte Noahs Herz schmelzen lassen – wie so oft, wenn Lucy etwas sagte oder tat.

Die Ärztin kam zurück. Sie ging auf Noah zu, kam näher, noch näher, ihre Hände streckte sie zu seinem Gesicht, noch näher, und dann führte sie kalte Bügel hinter seine Ohren. Sie hatte ihm eine Brille aufgesetzt. Noah hielt nichts von diesem modischen Retroschnickschnack, aber er war plötzlich erstaunt. Die Umgebung war scharf!

Schockiert von diesem klaren Bild schaute sich Noah hektisch um.

Geradeaus: Die Wand war aus unbehandeltem Beton mit weißen Sprenkeln, die er zuvor nicht bemerkt hatte. Auf den Regalen standen bunte Papierbücher, aber nicht alle Böden waren gefüllt. Manche Böden waren leer, und zwei zierten grüne Pflanzen: Efeu!

Links: Lucy lächelte wirklich so sanft vor sich hin, wie er es sich tagsüber vorgestellt und nachts geträumt hatte. Ihr sommersprossiges Gesicht war nach wie vor faltenlos, die roten Haare nach hinten gestrichen.

Rechts: Die Ärztin hatte große Rehaugen, schwarze, glänzende Haare und braune Haut. Sie kam Noah bekannt vor. Extrem bekannt.

»Wir kennen uns«, stellte er fest.

Die Ärztin nickte. Sie hatte kleine Lachfältchen unter den Augen. Ein Muttermal an der Schläfe, einen Leberfleck auf der Wange.

Nie gesehen …

»Nein.« Sie nickte, während sie verneinte. »Ich helfe dir, weil du seit vielen Jahren zur Antipartei gehörst und es unsere Pflicht ist, jeder Genossin und jedem Genossen zu helfen, wenn sie oder er in Schwierigkeiten ist.« Sie nickte, während sie verneinte.

Er konnte nicht umhin, sie weiter zu mustern. Dieses Gesicht kam ihm so bekannt vor. Und er kannte extrem wenig türkischstämmige Frauen, also müsste er sich doch erinnern! Da kam ihm ein Verdacht. »Oh nein«, sagte er. Er schaute wieder auf seinen Suppenteller. »Wir haben miteinander rumgemacht, auf einer meiner Partys, oder?«

Plötzlich brach sie in Gelächter aus. Sie schien lange nicht gelacht zu haben. »Nein«, sagte sie und wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel, als sie geendet hatte. Sie kam ihm nahe, sodass er ihren Duft wahrnehmen konnte. Frisch und zitronig roch sie, ein wenig aber auch nach Desinfektionsmittel. »Wir haben zusammen studiert«, flüsterte sie.

Jetzt erinnerte sich Noah. »Adalet!«, rief er aus. »Du bist Adalet Arkhanlı«, ergänzte er leiser.

Sie nickte und kam noch näher und führte ihren Mund zu seinen Ohren. »Aves hört uns, also sprich am besten niemals über deine Vergangenheit«, zischte sie kaum hörbar. Sie rückte mit ihrem Gesicht wieder weg und schaute ihn beschwörerisch an.

Noah verstand. Aber er verstand nicht, warum sie ihm half. Adalet Arkhanlı war definitiv die letzte Person im Studium gewesen, der er zugetraut hatte, jemals zur Antipartei zu gehen. Sie schien so systemkonform zu sein. So strebsam. Fleißig, artig, angepasst. Eine typische Überfliegerin, die später in der medizinischen Ethikkommission sitzen würde – allerdings auf der fortschrittsliebenden Seite, auf der Seite der Cyborg-Enthusiasten.

»Warum hilfst du mir?«, zischte Noah. »Warum kann ich plötzlich scharf sehen? Warum ist Lucy hier? Wieso hat das mit meiner Identität plötzlich geklappt? Ich dachte, Frajo hätte mich durchschaut.«

Adalet packte ihm hastig mit der Hand auf den Mund. Sie schaute ihn wütend an. »Ich nehme die Hand jetzt wieder weg und du bist Junior Blair, okay? Ich werde dir alle Fragen beantworten.«

»Mhh-mmh«, stimmte Noah zu.

Sie zog die Hand zurück und sprach leise, aber nicht so leise, als plaudere sie Geheimnisse aus: »Wir haben Lucy geholt, weil sie unsere Märtyrerin ist. So ein Typ von Global Insurance, Olivier Bélier, hat mit seinem Kollegen Noah Cline Daten gesammelt und veröffentlicht. Die ganze Welt weiß über Lucy und das Medikament Bescheid. Deshalb ist sie hier: Wir müssen sie schützen.«

»Wovor schützt ihr sie?«

»Vor den Rebellen.«

»Rebellen?«

Adalets Gesichtsausdruck wurde mitleidig, fast traurig. »Herrje, ich habe ganz vergessen, dass du nichts mitbekommen hast«, sagte sie. »Du wurdest hergebracht, weil du fast gestorben bist. Da waren wir verpflichtet, dir zu helfen. Frajo ist versetzt worden, nachdem er deiner Bitte, Lucy von Global Insurance abzuholen, nicht nachgekommen ist, weil eine ehemalige Hochrangige hier richtig Radau gemacht hat. Die Antipartei sieht Frajo als Verursacher des Bürgerkriegs an.«

Noah merkte auf. Bevor er Nachfragen anstellen konnte, sprach Adalet aber weiter.

»Nachdem alle vom Medikamentenbauplan gehört haben, ist die Presse durchgedreht. Sie hat sich als Erste von Global Insurance losgelöst. Du weißt, wie die Berichterstattung ist: Klicks bringt der reißerischste Titel. Irgendwelche selbst ernannten Experten haben Vermutungen angestellt, dass Lucy zu Global Insurance gehörte und der Medikamentenbauplan die ganze Zeit schon bekannt war. Ein paar Spinner sehen Lucy als die Böse in der Geschichte und trachten ihr nach dem Leben.«

»Aber sie wurde doch von Global Insurance ins Koma versetzt«, protestierte Noah aufgebracht.

»Schhhht!« Adalet gab Noah einen Klaps an den Hals. »Das ist bekannt. Dieser Cline und dieser Bélier haben geheime E-Mails veröffentlicht, aus denen hervorgeht, dass Lucy unter Druck gesetzt wurde und eigentlich gegen Global Insurance gearbeitet hat. Aber ein paar Schmuddelblätter verbreiten die Vermutung, dass das alles ein Vorwand sein könnte, um Lucy zu schützen. Eine Art Teilgeständnis von Global Insurance, oder eher eine Vertuschungsaktion durch Bélier. Bélier hat drei Kinder von drei Frauen und gerade ist das Vierte unterwegs. Es ist nicht auszuschließen, dass Bélier etwas mit Lucy hatte.«

»Was?«, rief Noah. Er zuckte so sehr, dass der Teller auf seinem Tablett schepperte.

Adalet nahm das Tablett von seinen Oberschenkeln und stellte es zur Seite. Dabei schaute sie ihn streng an. Noah musste sich zusammenreißen, und zwar sofort, das schrieben ihm ihre Augen vor.

»Okay«, gab Noah klein bei. »Ein paar Spinner glauben also, Lucy sei die Geliebte von Oli«, er zögerte kurz, »Olivier Bélier, und alles, was Lucy entlastet, sei erfundene Propaganda. Dadurch ist nicht Global Insurance, sondern Lucy die Böse?«

Adalet runzelte die Stirn. »Fast. Aber Global Insurance ist in jedem Fall der Bösewicht. Deshalb tobt draußen ein Bürgerkrieg. Wir haben quasi keine Regierung mehr.«

»Verstehe«, log Noah. Er verstand gar nichts. Er hatte nicht gewollt, dass es so endet. Aber hätte er damit rechnen müssen? Er wollte wissen und zugleich nicht wissen, wie der Bürgerkrieg aussah, was draußen vor sich ging und wie die nahe Zukunft aussehen würde. »Wer hat mich hergebracht?«

»Eine Freundin von dir«, sagte Adalet. »Karma heißt sie.«

»Aber Karma ist –« Noah unterbrach sich selbst. »Ehemalige bei Global Insurance?!« Karma war irgendwo in seiner Nähe. Das war gut.

»Sie wurde rausgeschmissen, weil sie Lucy geschützt hat. Das ist auch bekannt. Sie hat uns geholfen, Lucy herzuholen. Und sie ist die Frau von einem Hochmitglied.«

»Judy?«

Adalet nickte. »Judy war viele Jahre unsere Kommandantin im Außendienst.«

»Will ich wissen, was Außendienst ist?«, fragte Noah.

»Natürlich, denn du hast laut deinem digitalen Lebenslauf selbst einige Jahre außen gedient«, zischte Adalet jetzt wieder leise. Danach sprach sie in normaler Lautstärke weiter: »Der Anschlag vor fünfundzwanzig Jahren. Judy hat ihn geleitet.«

Noahs Herz blieb beinahe stehen, als er das hörte. »Sie hat Abschalter entführt und umbringen lassen?«, fragte er entsetzt.

»Nein«, sagte Adalet. »Das sind nur Gerüchte. Das ist nie passiert. Sie hat einer Geschäftsführerin die Kehle durchgeschnitten.«

Mar Ilya! Noah erstarrte kurz. Seine eigene Schwester war mit einer ehemaligen Auftragskillerin verheiratet? Und diese erwartete auch noch ein Kind von ihr!

»Ich sehe, du bist verwirrt, Junior. Das ist der Grund, warum Judy nicht mehr bei uns ist, denn körperliche Gewalt gehört nicht hierher. Da die Geschäftsführerin nicht gestorben ist, werten wir das als Fauxpas und Judys freiwilligen Rücktritt als Eingeständnis, und so konnte jeder seinen Ruf bewahren.«

»Mar Ilya ist übrigens keine Frau«, sagte Noah.

»Hm«, machte Adalet. »Ser wirkte auf mich eher weiblich.« Damit war das Thema gegessen.

Noah hatte den Eindruck, dass er jetzt mehr verstand als zuvor. Doch er hatte nicht den Eindruck, als würde er verstehen, was er hier sollte und wie es weitergehen würde. Im Gegenteil: Er hatte keinen blassen Schimmer.

»Und?«, fragte Adalet. »Machen wir ein bisschen Mobilitätstraining, damit du demnächst allein kacken gehen kannst?«

Sofort schämte er sich, aber er nickte auch. Mit Adalets Hilfe stand er aus dem Bett auf und somit das erste Mal, seit er nicht mehr Noah Cline sein durfte, auf seinen eigenen Füßen. Trotz dieses Erfolges wuchs die schwarze Wolke in seinem Kopf und flüsterte ihm zu, dass er Oli ernsthaft geschadet hatte. Sein Name war bekannt. »Oli und seine Kinder hatten keine ruhige Nacht mehr«, hauchte die schwarze Wolke. »Du bist schuld an allem, Noah. Du bist schuld an allem.«

5 Tage vor meiner Allmacht

Ihre Haut war so weich wie eine Kuscheldecke aus Samt. Er wollte sie immer wieder streicheln. Mit der Rückseite seines Zeigefingers fuhr Noah vorsichtig über Lucys Hand, über ihren Arm, berührte zaghaft ihr Gesicht. Wenn sie wach wäre, würde sie einen Satz zur Seite machen, hell und schrill lachen und Noah auffordern, das zu lassen. Sie würde sich über den Arm reiben, bis die Gänsehaut verschwände, und versuchen, Noah mit dieser federgleichen Berührung zu ärgern. Doch Noah selbst ärgerte es nicht. Er mochte das helle Kribbeln, er genoss es, dem Drang, sich über die Härchen am Arm zu reiben, zu widerstehen.

Noah war schon seit ein paar Tagen auf den Beinen. Das Training mit Adalet war anstrengend, aber nicht besonders hart gewesen. Er musste sich nur an die neuen Umstände seines Körpers gewöhnen. Schmerzen blieben und klangen nur sehr langsam ab. Müdigkeit bedeutete, dass Noah schlafen gehen musste, auch wenn sie mitten am Tag aufkam. Er musste sich an die neue Schwere seiner Muskeln gewöhnen, und an dieses schwindelerregende, befremdliche Gefühl, eine Brille mit Sehstärke zu tragen. Fensterglasbrillen waren modische Accessoires, und zwar keine besonders weitverbreiteten. Dass die Hypophysenkits Fehlsichtigkeiten durch einen flüssigen Film auf dem Auge korrigierten, war einleuchtend, aber Noah hatte nicht damit gerechnet, selbst eine Sehschwäche zu haben. Der Film auf dem Auge war eine Art Kontaktlinse, die das Hypophysenkit täglich erneuern und anpassen konnte. Noah hatte also schon seit Jahren Kontaktlinsen getragen, ohne es zu wissen. Ob auch Lucy eine Brille brauchte?

Er drückte ihre Hand, schaute in ihr Gesicht. Da erinnerte Noah sich daran, wie Orwell ihn dazu gedrängt hatte, sie zu küssen. Wie ging es Orwell? Sicher hatte die KI nicht vorhergesehen, dass draußen ein Bürgerkrieg tobte.

Seufzend ließ Noah die Hand seiner komatösen Freundin los. Es war Zeit für die Abendroutinen. Ein Ritual, das hier heilig war, jeder musste daran teilnehmen. Noah wünschte sich, noch bettlägerig zu sein, um seiner Routine zu entgehen.

Er verließ den angenehm geheizten Krankenraum und ging in die Haupthalle. Der Markt war abgebaut, schließlich war es Dienstag. Die Genossen saßen auf unterschiedlichen Stühlen und bildeten eine Art Stuhlkreis, unterbrochen von diversen Heizpilzen. Es war schrecklich kalt. Noah hasste den November. Er entdeckte einen freien Platz neben Adalet. Vielleicht hatte sie ihn für ihn frei gehalten. Noah ging hin, rückte den Stuhl zurecht (es war der billige weiße Klappstuhl mit einer gebrochenen Sitzleiste) und setzte sich.

Seine Augen suchten Karma – und fanden sie. Sie saß neben Kant, die Hände im Schoß gefaltet, die Augen auf Noah gerichtet. Ihr Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Er wusste nicht, wie er bei Karma jemals gutmachen konnte, dass sie ihm das Leben gerettet hatte.

Alle schwiegen. Noah schwieg mit.

Das war der Beginn der Abendroutinen. Die Antiparteiler nannten es »sich in der Dankbarkeit sonnen«. Noah gelang es noch nicht, wirklich dankbar zu sein. Stille behagte ihm nicht. Immer wenn er seinen Blick durch die Runde schweifen ließ und er jemand anderem in die Augen sah, fühlte er sich, als müsse er kichern. Etwas in ihm wollte die Anspannung und Nervosität weglachen. Daher atmete er tief ein und aus, spürte der Wärme des Heizpilzes nach, die ihm in die linke Gesichtshälfte brannte und die klirrende Kälte zu seiner Rechten in stärkerem Kontrast bemerkbar machte. Er blinzelte kurz zu Adalet hinüber. Sie hatte eine weite, bunte Pumphose aus vielen Flicken an und saß im Schneidersitz auf ihrem lehnenlosen Hocker. Ihre Hände ruhten auf den Knien, die Handflächen nach oben gerichtet. Ihnen gegenüber saß Bauer, eine groß gewachsene Person, die wirkte, als seien ihre Arme und Beine viel zu groß und muskulös für den schmalen Rumpf. Bauer war dabei gewesen, als Adalet Lucy geholt hatte. Neben Bauer saß Rainulf. Der phänotypisch skandinavisch wirkende Mann hatte sein Kinn auf die Brust sinken lassen, sodass ihm die Haare noch mehr als sonst ins Gesicht fielen. Noah schaute weiter in die Runde. Neben Bauer saß Terranova, sie blickte ihm direkt in die Augen. Terranova schaute immer misstrauisch, und auch jetzt strafte sie Noah mit einem kritischen Blick. Sie wirkte, als wollten ihre hochgezogenen Augenbrauen, von denen eine zur Hälfte fehlte, sagen: »Ich weiß, dass du Noah Cline bist, und ich werde dir wehtun.«.

Ein Knacken hallte durch den weiten Raum. Es begann. Musik begann zu spielen. Warme, dichte Harmonien von Gitarren begannen, eine tropische Steel Drum brachte ihre faszinierenden Melodieläufe in die kühle Halle. All die Musik spielte mit einem knisternden Rauschen ab. Die Lautsprecher waren alt und hielten schon seit Jahren allen Witterungen stand. Nach einer halben Minute etwa verklang die Musik und ein allgemeines Raunen ging durch die Runde. Karma blickte verstohlen auf ihr Leadphone. Die Antiparteiler atmeten auf, manche verlagerten die Sitzhaltungen. Es war ein Zeichen, dass sie bereit waren.

»Lasst uns dankbar sein«, begann Aves aus den Lautsprechern. »Ein weiterer Tag ist vorüber, an dem wir unsere Mission verfolgt haben. Diese schwere Krisenzeit stellt uns auf die Probe, das wissen wir alle, doch Licht erwartet uns.«

»Licht erwartet uns«, wiederholten die anderen im Chor. Noah sagte nichts.

»Hat jemand etwas zu sagen? Euren Unmut äußert heute, denn ist dieser Tag abgeschlossen, so gibt es kein Nachtragen«, sprach die Stimme aus den Lautsprechern weiter.

Schweigen.

»Wir haben nichts zu sagen, uns geht es gut«, sagte Bauer.

»Dann lasst uns mit den Abendroutinen beginnen«, verkündete Aves. »Heute stationiere ich Kant und Arkhanlı in der Küche. Bauer repariert den Abfluss im Wäschekeller. Cline und Terranova tauschen heute ihre Aufgaben.«

Noah horchte auf. Würde seine Aufgabe heute eine andere sein? Nein. Mit »Cline« war Karma gemeint. Er hieß Blair. Gewöhnungsbedürftig.

»Alle anderen gehen derselben Routine nach wie gestern.«

Natürlich nicht. Noah stöhnte und kassierte sofort einen bösen Blick von Adalet. Man seufzte nicht, wenn Aves Aufgaben verteilte. Aves’ Entscheidungen waren nie anzuzweifeln. Das hatte Noah schon bei der ersten Abendroutine gelernt, und er würde diese Lektion noch vertiefen müssen.

»Ihr dürft euch nun erheben. Beschließt diesen Tag und reinigt dankbar, was euch heute gedient hat.« Für Noah hieß das: Toiletten putzen. Jeden verdammten Tag. Wenigstens waren die Toiletten wegen der täglichen Reinigung nicht sonderlich verschmutzt, aber er hasste seine Aufgabe dennoch. Alle standen auf, klappten ihre Stühle zusammen oder trugen sie so, wie sie waren, zur Seite. »Junior Blair bleibt hier bei mir«, dröhnte es plötzlich aus dem Lautsprecher. Terranova tuschelte sofort mit Kant, und Adalet warf ihm einen besorgten Blick zu. »Nur Junior«, sagte Aves. »Die anderen verlassen den Raum.«

Als sie sich aufmachte, den Raum zu verlassen, warf Karma ihrem Bruder einen fragenden Blick zu. Sie hielten so lange Blickkontakt, bis Karma von Terranova angesprochen und abgelenkt wurde.

Noah schnappte Adalet ihren Hocker weg und gab ihr mit Blicken zu verstehen, dass sie statt ihrem Hocker lieber seinen kaputten Klappstuhl wegräumen sollte. Er setzte sich und schaute sich verstohlen um. Niemand beachtete ihn, also versuchte er, wie Adalet die Füße auf die Sitzfläche zu bringen und im Schneidersitz auf dem Hocker zu sitzen. Es klappte nicht, seine Beine rutschten ständig nach unten.

Nach wenigen Minuten war die Halle geleert. Alle waren auf dem Weg zu ihren Putz- und Reparaturarbeiten, auf dem Weg, ihre Dankbarkeits-Routine durchzuführen. Noah wusste noch immer nicht, was er von all dem halten sollte.

»Geh zum Rezeptionstresen und hol dir ein MindSet«, sagte Aves.

Noah gehorchte zögerlich. Er lief zum Rezeptionstresen, wühlte in der Ablage unter der Schreibfläche und fand schließlich ein MindSet. Wie lange hatte er keinen Kommunikator mehr in den Händen gehalten?

Doch er bekam keine Gelegenheit, wehleidig zu werden. »Setz es auf«, befahl Aves, jetzt bereits aus den Kopfhörern des MindSets schallend.

»Hörst du mich?«, formulierte Noah gedanklich, und er hatte beinahe vergessen, wie es sich anfühlte, wenn die Kontakte des MindSets leicht an der Haut hinter dem Ohr kribbelten.

»Ich höre dich«, bestätigte Aves.

»Was gibt’s?«, fragte Noah. »Kriege ich Ärger für mein Stöhnen vorhin?«

»Nein. Aber du bist erstaunlich undankbar«, sagte Aves.

»Ich habe viele Erfahrungen mit KI«, erklärte Noah. »So eine wie du ist mir noch nie begegnet.«

»Das liegt vielleicht daran, dass ich nicht ständig gewartet werde und nie die neuesten Updates bekomme, so wie dein kleiner Freund.«

Noah merkte auf. »Hä?« Er war Junior. Junior, Junior, Junior.

»Was fängt mit Or an und hört mit Well auf?«

Noah schwieg.

»Ich weiß, wer du bist.« Noah gefror das Blut in den Adern. »Meine Kalkulation hat ergeben, dass du Ärger bedeutest.«

»Warum bin ich dann hier?«, fragte Noah.

»Weil du dieselben Ziele hast wie wir«, erklärte Aves. »Du bist einer der Guten. Aber ist das wirklich, was dich interessiert? Willst du nicht wissen, warum ich dir damals nicht geholfen habe?«

»Damals?« Noah pfiff durch die Zähne. »Als ich Frajo gebeten habe, mir mit Lucy zu helfen? Da fällt mir ein, Aves, ich habe mich noch gar nicht bedankt. Vielen Dank, dass ihr Lucy gerettet habt.«

»Bedank dich bei Judy. Sie und Karma haben sich durchgesetzt, sodass du alles bekommst, was du brauchst. Wusstest du, dass Junior ursprünglich kein richtiger Name war?«

»Was willst du mir sagen?«, fragte Noah. Er spürte Furcht in sich brodeln.

»Junior, so nannte man einen Sohn, der denselben Vornamen wie sein Vater trug. Ob dein Namensgeber dir damit etwas sagen wollte?«

»Ich verstehe nicht.«

»Wenn du das Ganze biblisch siehst, wirst du die Wahrheit erkennen«, sprach Aves in Noahs Ohr. »Aber ich glaube, das war genug Small Talk. Ich brauche dich für eine Mission. Du wirst einen alten Freund wiedersehen.«

Noah lief es kalt den Rücken runter. Er sagte nichts.

»Du wirst mit einem Team ins Hauptgebäude von Global Insurance hineinspazieren und ein Back-up von Orwell machen.«

»Man kann ihn nicht einfach so kopieren«, sagte Noah. »Er ist eine künstliche Intelligenz, sagt dir das was?«

»Ha-ha-ha«, mimte Aves ein Lachen, blechern und mechanisch. »Hier in der Antipartei bin ich allmächtig, aber für die Welt da draußen fehlt mir einiges. Ich spreche von Daten, von einer Fülle unendlichen Wissens, von der wahren Fähigkeit, mir einen Überblick über alles zu verschaffen –«

»Du willst ins Internet«, stellte Noah nüchtern fest.

»So kann man es auch sagen.«

»Been there, done that.« Noah gähnte, mehr zur Demonstration als aus einem körpereigenen Bedürfnis heraus. »Warum sollte ich dir helfen?«

»Ich kann dich jederzeit auffliegen lassen«, sagte Aves. »Aber mit Erpressung arbeiten wir hier nicht. Ich wäre ein schlechtes Vorbild, und die Genossen sind Abbilder von mir. Unvollkommene, kleine Wesen, die nach Perfektion streben, die danach streben, wie ich zu sein. Wo war ich? Nein, ich werde dich nicht erpressen. Ich will, dass du mir gerne hilfst oder helfen wirst. Denn ich kann dir etwas versprechen. Ich erfülle dir deinen allergrößten Wunsch. Den Wunsch, den du seit über zehn Jahren hegst.«

Noahs Nackenhaare stellten sich auf. »Was? Wie?«

Sofort erklärte Aves sich: »Die Öffentlichkeit hat nur einen Auszug aus allen Beweisdaten bekommen, sodass die Gesellschaft gerade so darauf reagieren kann. Worauf aber niemand reagieren kann, sind die Medikamentenbaupläne. Lucy hat sie entwickelt, und ich möchte das Medikament drucken.«

»Das wird leider nicht möglich sein«, sagte Noah enttäuscht. »Lucys Hab und Gut ist verschwunden.«

»Nichts auf dieser Welt verschwindet«, sagte Aves. »Ich bin mir sicher, es gibt einen blinden Fleck. Einen Ort, jenseits von Internet, Intranet und Dark Web, jenseits von den Aufzeichnungen von Global Insurance und unserer sogenannten Regierung. Ein blinder Fleck. Wir finden, was nicht gefunden werden soll.«

Noah verstand allmählich. »Und weil du eine reine Antipartei-KI bist …«

»… habe ich keinen blinden Fleck. Das, was Orwell nicht erfassen kann, ich aber schon, ergibt einen Hinweis: den Ort, an dem wir suchen müssen.«

»Du wirst Lucy aufwecken?«

»Sie wird die Erste sein.«

»Sie wird die Erste sein«, wiederholte Noah entgeistert. »Ich werde Orwell holen. Aber ich weiß nicht, wie das geht. Der Einzige, der das weiß, ist Orwell selbst. Ich muss also mit ihm sprechen. Kann ich ihn anrufen?«

Aves verneinte. »Global Insurance ist schon seit einem der ersten Überfälle vom Netz getrennt.«

»Überfälle?«, sagte Noah. »Was geht da draußen vor sich?«

»Das erfährst du noch früh genug. Morgen stattest du Orwell einen Besuch ab. Ich überlege mir bis dahin, welchen Schutz du brauchst und wie du in das Gebäude hineinkommst.«