Aufruhr - S. Pomej - E-Book

Aufruhr E-Book

S. Pomej

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Beschreibung

Abenteuerliches aus Amerika: In einem texanischen Provinznest kommt es zu absonderlichen Ereignissen. Steht die UFO-Sichtung einer Bürgerin damit im Zusammenhang? - Ein Professor in Ohio verspricht verlorene Erinnerungen und verschweigt die Nebenwirkungen. - Ein Mediator soll Traumatisierten in San Diego helfen, verfolgt jedoch eigene Ziele. - Eine Frau sucht sich in New York einen Mann, der nicht weiß wie ihm geschieht. - Im Irrenhaus von Virginia ist der Teufel los. - Der Test eines smarten Hauses in Pennsylvania geht übel aus. - Ein Krimineller überfällt sein Opfer in Maine und erlebt ein blaues Wunder.

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Aufruhr

TitelseiteAUFRUHRMEMORY-BACKERFAHRUNGSAUSTAUSCHREISEGEFÄHRTENIRREKÜNSTLICHE INTELLIGENZAMATEURImpressum

S. Pomej

AUFRUHR

Vorwort

Zu allen Zeiten erzählten Menschen einander Geschichten an allen möglichen Orten: am Lagerfeuer, in der gemütlichen Stube, in trauter Runde, an der Haltestelle, im Bus, am Bahnhof, im Zug, im Hotel, am Airport, im Flugzeug, im Parlament,... Sie erzählten ihre Geschichten, um zu überliefern, zu unterhalten, zu warnen, zu informieren, zu erziehen, zu besänftigen, abzulenken,... Manch einer deutete sie falsch und erzählte sie in anderer Art weiter. Manch einer versuchte, sie zu vergessen und erinnerte sich doch noch Jahre später daran.

Trotz der Flut an Bildern, die uns heute in spannungsgeladener Zeit täglich überschwemmt, verlieren die erzählten Geschichten nie an Reiz und versetzen uns in verschiedene Stimmungen, lenken von der teils unangenehmen Realität ab, spiegeln sie auf erträglichere Weise wider oder überhöhen sie auf kunstvolle Art und lassen in uns verschiedene Hoffnungen aufkeimen.

In diesem Buch sind sieben Geschichten aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten - oder auch der begrenzten Unmöglichkeiten - über Menschen in seltenen Situationen zu lesen, um zu unterhalten und ein wenig zum Nachdenken anzuregen...

Inhaltsverzeichnis:

1, Aufruhr

2, Memory-Back

3, Erfahrungsaustausch

4, Reisegefährten

5, Irre

6, Künstliche Intelligenz

7, Amateur

 Literaturtipps

AUFRUHR

AUFRUHR

Es fing eigentlich ganz harmlos an, wobei man das Verschwinden eines Kindes kaum harmlos nennen konnte, doch verglichen mit dem, was alles danach kam, war es harmlos.

In Tränen aufgelöst kam also die 63-jährige Josephine 'Jo' Richmond nachmittags ins Büro des Sheriffs und klagte ihm ihr Leid mit stockender Stimme in einer wahren Wortkaskade ohne sichtlichen Zusammenhang: "Oh mein Gott! Es ist schrecklich! Wenn das mein verstorbener Mann wüsste! Sheriff, du musst mir helfen, ich weiß nicht mehr weiter, was soll ich nur tun, er ist weg, mein Einundalles, verschwunden, ich habe ihn schon überall gesucht und nirgendwo gefunden. Er würde sich im Grabe umdrehen! Das ist noch nie zuvor geschehen. Es ist eine Katastrophe, oh mein Gott, oh mein Gott!!!"

"JO!", rief sie der Sheriff - ein dicker Mann in ihrem Alter -entnervt, als stünde sie meterweit von ihm entfernt. "Erzähl mir langsam und deutlich, was zur Hölle denn passiert ist!"

Nachdem sie tief durchgeatmet hatte, versuchte sie, sich selbst zur Ruhe zwingend, ihm den Grund ihres Besuches zu erklären: "Mein Enkel ist frühmorgens aus seinem Bettchen verschwunden, worauf ich ihn bis jetzt gesucht habe. Der arme Kleine, wo mag er nur stecken? Sheriff, hilf mir bitte!"

"Und warum bist du erst so spät zu mir gekommen, Jo?", wollte er wissen. Der derbe Stoff seiner Uniform spannte über seinen Bauch und machte den Eindruck, gleich alle Silberknöpfe zu sprengen.

"Aber Jeb hat doch seit seinem fünften Geburtstag vorige Woche immer wieder kleine Ausflüge unternommen, von denen er immer wohlbehalten zwei Stunden später zurückkam."

Trotzdem ermahnte sie Sheriff Hicks, dessen Miene viel üble Berufserfahrung und die Qual einer schlechten Verdauung verriet, mit harschen Worten zu mehr Vorsicht: "Jo, wie konntest du nur einen Fünfjährigen allein auf Reisen gehen lassen?"

"Mein Gott", sagte sie weinend und strich sich eine weiße Haarsträhne aus dem Gesicht, "wir sind doch hier nicht in New York mit seiner unheimlich hohen Kriminalität, sondern in einem friedlichen Dorf weit davon entfernt, da kann man Kinder wohl noch allein auf kleine Entdeckungsreisen in die Natur entlassen."

"Offenbar nicht", bellte er und stand von seinem breiten Lederstuhl auf, welcher quietschend Erleichterung signalisierte.

Hicks pflegte sich immer in Zeitlupe zu bewegen und wäre in Europa wohl schon längst in Frühpension geschickt worden. Doch hier in Amerika unter einem polternden Präsidenten, der -unberechenbarer als das Wetter - wider Erwarten schon seine zweite Amtszeit erlebte, kannte man den sozialen Gedanken so gar nicht.

"Ich trommle die ganzen Freiwilligen zusammen, dann machen wir uns alle auf die systematische Suche", brummte er.

Das beruhigte die arme Jo leider nicht; sie begann haltlos zu schluchzen, trippelte wie ein Schoßhund hinter dem wuchtigen Mann her und beobachtete hilflos hinter ihrem Tränenschleier, wie er die halbe Dorfgemeinschaft zu selten gewohnter Geschäftigkeit aktivierte. Letztes Mal passierte das, als im Vorjahr Spenden für die zahlreichen Erdbebenopfer von L.A. zu sammeln waren. Ganze 12.864 Dollar hatten sie für die Landsleute an der Westküste zusammengekratzt. Obzwar nur ein Tropfen auf dem heißen Stein einer Milliardensumme für die durch höhere Gewalt erfolgte Zerstörung, aber immerhin ein stolzer Beitrag aus der Provinz. Die gute Jo hatte sich damals die alten Füße abgelaufen und sah heute in ihrem adretten Jerseykleid mit dem bunten Paisleymuster aus, als wäre sie auf dem Weg zu einem späten Rendezvous.

Alle Helfer waren mit Feuereifer bei der Sache - vor allem als sie hörten, dass es um die Suche nach einem Kind geht - und rannten wie aufgescheuchte Hühner durch die Gegend, nachdem sie der Sheriff in Gruppen eingeteilt hatte. Einige davon ließ er mit ihren Pickups in entlegenere Gebiete ausschwärmen und trug ihnen auf, sofort Bericht zu erstatten, wenn sie auch nur den Hauch einer brauchbaren Spur gefunden hatten. Sogar Matt Kronberg, der nach einem schweren Autounfall nun schon seit einem viertel Jahrhundert im Rollstuhl saß, beteiligte sich aufopfernd an der Suche. Schon um allen zu zeigen, dass er auch noch zu etwas nütze sei.

Die arme Jo saß im Fond des Polizeiwagens, mit dem der Sheriff persönlich suchend in ganz Rattleshill - einer 5000-Seelen-Gemeinde, die sich über ein Gebiet von ungefähr 40 km2ausdehnte, präziser gesagt: dem Präriestaat als Wohnviertel abgetrotzt wurde - herumkurvte. An seiner Seite saß sein Deputy Morgan, der sich etwas später zu ihnen gesellt hatte und es als seine vornehmliche Aufgabe sah, den Sheriff zu beschützen, da er ihn für zu alt und schon leicht senil hielt, um sich selbst verteidigen zu können.

"Oh Gott, wenn unsre Leute Jeb finden, dann werde ich etwas Bedeutendes für die Allgemeinheit tun!", legte Jo feierlich ein Gelübde ab.

"Was willst du schon Bedeutendes für die Allgemeinheit tun in deinem Alter?", höhnte Hilfssheriff Morgan, der einen ausgesprochenen Zyniker darstellte. "Apfelkuchen backen?"

"Morgan!", ermahnte ihn Hicks und ließ einen strafenden Blick aus seinen zusammengekniffenen grauen Augen folgen. Meistens genügte auch der strafende Blick allein, denn die beiden Männer verstanden sich oft ohne Worte.

"Spotte nicht über das Alter, denn es steht dir selbst bevor!", warnte ihn Jo. "Oder willst du dich von einem Lynchmob davon befreien lassen?"

"Reg dich wieder ab!", zischte Morgan, ein Twen mit noch großen Ambitionen, durch sein Pferdegebiss. "Willst du nicht lieber daheim gemütlich warten?" Lässig legte er seine rechte Hand an seinen Revolver der Marke Smith & Wesson Modell 686, Kaliber 38 Special, den ihm die Kommune zusammen mit der ansehnlichen Uniform spendiert hatte.

"NEIN! Ich kann jedenfalls noch Leistung erbringen, wie unser Sheriff!", antwortete sie erhobenen Hauptes. Wenn sie auch schon einige Schicksalsschläge eingesteckt hatte, ihr Haupt würde sie niemals beugen.

Sobald der Nachthimmel über die zahlreichen Suchenden einzog, erleuchteten tausende Sterne das Himmelszelt, wie sie es bereits seit Äonen taten, als noch kein Mensch auf der Erde weilte und sie mit den zahllosen Errungenschaften seiner Zivilisation knechtete. Viele dieser Sterne wurden von erdähnlichen Begleitern umkreist, auch solchen mit intelligenten Bewohnern darauf - ungeachtet der Tatsache, dass es viele Amerikaner gab, die vermessen genug waren, zu glauben sie wären die einzige Intelligenz im All. In einer Entfernung von 50 Lichtjahren gab es sogar einen solchen Doppelstern, umkreist von einem paradiesischen Planeten namens Kuruk und ein noch unfertiger schlangenähnlicher Organismus fragte neugierig seinen Erzeuger: "Wer wird nun unser neuer Befehlsgeber?"

"Das entscheidet sich weit weg von hier auf der Erde, von wo unser stolzes Volk vor 64 Milliarden Jahren hierher aufgebrochen ist. Wer immer es auch wird, er ist weise genug, uns alle zu leiten und unsere weitere Ausbreitung in der Milchstraße zu ermöglichen."

Knapp vor Mitternacht kamen die meisten bei der Suchaktion aktiv gewesenen Dorfbewohner von ihrem langen Marsch ermüdet wieder zurück in das kleine beschauliche Dorf und die ganze Gemeinschaft bildete auf dem Hauptplatz einen Halbkreis um Sheriff Hicks, Morgan und Jo, die kein Wasser mehr in ihren Tränensäcken hatte. Einige trugen Fackeln wie zur Zeit der Pioniere, als es noch keine Taschenlampen gab, und erleuchteten die Versammlung unter sternenklarem Himmel beinah dämonisch. Fast wie bei einer Prozession des Bösen. Die Temperatur im Sommer stieg in Texas immer auf weit über 30 Grad und trieb den Leuten den Schweiß aus den Poren und die Müdigkeit in die Glieder.

Wie immer in solchen Fällen, wenn eine Menge Menschen herumstanden, bildeten einige daraus das Sprachrohr für die anderen. Als erste löste sich Amy Carlisle, eine hübsche Mittdreißigerin, aus dem Mob und kam auf Hicks zu.

"Ich habe gestern schon ein UFO gesehen!", verkündete sie und blickte suchend hinauf zum Sternenhimmel, so als könne sie es unter den hunderten blinkenden Punkten ausmachen.

Hicks verdrehte die Augen. "Sowas gibt es nicht! Vor allem nicht in unserem verträumten Rattleshill."

"Gibt es schon", meldete sich Scott Warner, ein bulliger alteingesessener Rancher, zu Wort, der sich ebenfalls aus der murmelnden Masse an Mitbürgern löste. "Nur hat es die Regierung bisher immer verschwiegen und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie es offiziell zugibt"

Pah", machte Amy verächtlich, "die werden das doch niemals aufdecken oder gar zugeben, dass sie jahrzehntelang gelogen haben! Das wäre denen viel zu peinlich und damit hätten sie sogar das letzte noch vorhandene Vertrauen der Bürger verloren."

Nun kam Dig Newsom, ein Army-Veteran, näher und fragte: "Von welchen UFOs reden wir? Von denen, die Aliens fliegen, oder solchen, die von unsrer Regierung in einem geheimen Raumfahrtprogramm schon betrieben werden?"

Morgan fühlte sich bemüßigt, seinen Senf dazuzugeben: "Leute, lasst euch doch nicht von Verschwörungstheoretikern aufhetzen! Die wollen alle nur viel Geld mit ihren zum Teil gefälschten, wackligen Handy-Videos verdienen!"

"Außerdem geht es um meinen Jungen!", erinnerte Jo. "Was hat sein Verschwinden mit UFOs zu tun?"

Bevor sie noch jemand auf die Idee bringen konnte, dass ihr Enkel eventuell von Aliens entführt worden war, rief Amy aus: "OH! Seht nur, da steht er ja!" Mit einem ihrer Arme deutete sie auf eine Stelle abseits der Menschenmenge, wo ein kleiner, scheinbar verängstigter Junge in blauen Shorts und braunen Sandalen stand.

""JEB!", schrie Jo glücklich aus, lief zu ihm und schloss ihn in die Arme. "Ich hab dich lieb!" Langsam hob sie ihn hoch und wandte sich mit ihm der Menge zu: "Vielen Dank für eure Hilfe, meine Freunde!"

"Damit ist es aber nicht abgetan!", sagte Morgan und schlurfte zu ihr. "Wir müssen klären, wo er so lang war und warum er kein T-Shirt trägt, oder ist er oben ohne auf Wanderschaft gegangen?"

Jo bewegte sich instinktiv von ihm weg und keifte: "Das ist völlig unwichtig, Hauptsache, er ist gesund zurück!"

"Das sehe ich anders", meinte Hicks. "So wie er aussieht, hat er einen Schock erlitten."

Amy lief auf Jo zu und strich dem Jungen sanft über die Wange. "Ich glaube, seine Lippen sind dicker geworden."

"Das sind womöglich nur die negroiden Gene seiner Vorväter", entschlüpfte es Scott, worauf er einen wütenden Blick von Jo erntete.

"Ich bin vor einem halben Jahrhundert aus Deutschland eingewandert und habe hier einen Weißen geheiratet. Und meine Tochter Hope hat ebenfalls einen Weißen geheiratet. Was soll diese rassistische Unterstellung?"

"Aber um so politischen Kleinkram geht es doch jetzt gar nicht, Jo", rief ihr Carol Nugent zu, die es in den 90er-Jahren bis zur Miss Texas geschafft hatte und nach einem Todesfall in der Familie pechschwarz angezogen war. "Wir müssen herausfinden, was mit dem armen Kind passiert ist!"

"Ja genau!", stimmte ihr Amy zu und sah Jeb scharf an. "Sag uns sofort, was los war! Wer hat dich mitgenommen?"

Stumm und starr stierte sie der Junge an, seine roten Wangen schienen förmlich zu glühen.

"Wenn du so mit ihm redest, sagt er dir freilich gar nichts!", erklärte ihr Carol oberlehrerhaft und machte einige hüpfende Schritte auf Jo und Jeb zu. "Darling! Sag uns alles, was du weißt, damit du dich erleichtert fühlst. Das ist, wie wenn dir eine schwere Last von deiner kleinen Seele genommen wird!"

"Yeah, plapper drauflos, Zwerglein", ermunterte ihn nun auch Morgan, "damit du auch nichts von dem vergisst, was passiert ist."

"Das werde ich nie vergessen", flüsterte der Junge und verbarg sein erhitztes Gesichtchen schnell in den weißen Haaren seiner Oma.

Am nächsten Tag so gegen drei Uhr nachmittags versammelten sich besorgte Gemeindemitglieder im örtlichen Theater von Rattleshill, einem etwas heruntergekommenen, nutzlos gewordenen Gebäude, das man eigentlich schon abreißen wollte. Doch eine Initiative von nostalgischen Bürgern, die einst hier ihren ersten Kuss bekommen hatten, wusste das zu verhindern. Man hoffte auch immer noch, dass wieder einmal Aufführungen mit namhaften Schauspielern, die in der Provinz neues Publikum suchten, hier stattfinden würden.

"Also hört mal her, Leute!", begann der Sheriff und gestikulierte wie immer sehr sparsam. "Amy hat heute früh wieder beobachtet, dass ein UFO über unsrem schönen Dorf gekreist ist, daher habe ich spontan via Flashmob eine Bürgerversammlung einberufen und will von euch wissen, ob ihr auch etwas Derartiges gesehen habt...."

Geschäftig ging Jo mit einem Tablett voll selbst gebackener Brownies herum, um ihr Gelübde zu erfüllen. Einige Bürger griffen begeistert zu. Vor allem Scott stopfte sich gleich zwei der handlichen Kuchen in seinen großen Mund und verschlang sie gierig, als nähme er an einem in dieser Region beliebten Junkfood-Wettessen teil. Ja, sogar im kleinen Rattleshill konkurrierten Burgerking und McDonalds um die Vorherrschaft.

"Ich glaube ja nicht an solche Dinge wie UFOs und dergleichen", relativierte Hicks und massierte sich mit Daumen und Zeigefinger seine Nasenwurzel. Dabei überlegte er sich, ob er dazusagen sollte, vor allem aus Regimetreue nicht an solche Dinge zu glauben.

Scott stand langsam auf und hob die rechte Hand. "Ich hab nichts erspäht, aber es wäre hilfreich, wenn wir wüssten, welches UFO Amy sah. Eine fliegende Untertasse, eine Lichtkugel, ein Generationen-Raumschiff, oder was?"

Amy erhob sich - sie saß in der ersten Reihe direkt vor ihm - und antwortete ausführlich: "Es war ein scheibenförmiges Flugobjekt von mindestens 30 Meter Durchmesser mit einer Kuppel obendrauf, hell erleuchtet und völlig lautlos. Kaum hatte ich mein iPhone gezückt, war es auch schon weg. So wie einer der Bäume, die am Rand unsres Dorfes stehen."

Morgan ergriff das Wort: "Das hat nichts mit UFOs zu tun, morsche Bäume werden immer wieder gerodet und außerdem wird demnächst wahrscheinlich so ein 5G-Mast hier aufgestellt."

"Das glaube ich kaum!", rief Dig aus. "Denn mit diesen Massen an vermaledeiten Masten grillt man doch vornehmlich die oberflächliche, zusammengepferchte Stadtbevölkerung. Deshalb bin ich doch vor ewig langer Zeit hierher gezogen."

"Richtig, als Veteran der Army hast du ja einiges an Insiderwissen zu bieten!", meinte Amy ein wenig schnippisch und setzte sich wieder.

"Hab ich nicht!", widersprach er ihr schnell. "Aber ich kann mir einiges zusammenreimen." Dabei tippte er sich mehrmals heftig gegen die Schläfe.

"Und welches Gedicht kommt dabei raus?", erkundigte sich Carol. "Was meinst du? Haben Aliens Jeb entführt?"

"Kaum, sonst hätten sie ihn wohl nicht zurückgebracht. Es heißt, dass Reptiliens gern Kinder verspeisen, was auch die hohe Vermisstenrate bei Kleinkindern in den USA erklärt. Und die Elite benötigt Kinder für ihre perversen Sexspiele."

"Dig!", warnte Hicks ihn ausatmend. "Rede dich nicht in Rage! Du kannst doch nichts davon beweisen. Das sind alles nur abgelutschte Veschwörungstheorien, mit denen clevere YouTuber ordentlich abcashen."

"Aber die Rinderverstümmelungen gibt es wirklich, Sheriff!", bestand Carol trotzig.

"Das stimmt!", bestätigte Scott und zeigte kurz auf. "Eins von meinen besten Rindern hat es auch erwischt. Sah zum Erbarmen aus und zum Fürchten. Der Veterinär konnte sich die üble Sache auch nicht erklären. Meinem Rind fehlte das Herz, ohne dass der Brustkorb eröffnet war."

"Unabhängig von den Verdienstmöglichkeiten, Sheriff, wer sagt dir, dass die UFO-Theorie nicht stimmt? Wer weiß denn schon genau, warum und wieso uns die Führung so wenig mitteilt? Oder seid ihr so naiv und glaubt denen ihre Version von Roswell?" Dig sah von einem zum andern, hoffte auf Zuspruch.

Amy sprang auf und warnte: "Die Diskussion darüber bringt uns nichts. Wir kommen vom Thema ab. Die Frage ist doch, wer den kleinen Jeb entführt hat und was mit ihm angestellt worden ist. Hat man etwa einen Sender in ihn eingebaut? Soll er uns ausspionieren?"

"Was gibt es in unsrem verschlafenen Dorf schon groß auszuspionieren?", fragte der Sheriff müde und griff sich ans Herz, welches ihm immer wieder mal Probleme bereitete. Die hohen Temperaturen trugen auch nicht gerade zu seiner Gesundheit bei. Ganz zu schweigen von der hitzigen Diskussion um UFOs, Aliens und Verschwörungen.

"Etwas Geheimes natürlich, von dem sogar du nichts weißt", meinte Morgan und lächelte kryptisch.

"Wir sollten das ganze nicht ins Lächerliche ziehen", meinte Carol, die in ihrem schwarzen Kleid in der teils farbenfroh gekleideten Menge der Anwesenden leicht deplatziert wirkte. "Es ist ein Verbrechen passiert, wenn auch das Opfer, unser kleiner Jeb, augenscheinlich körperlich unversehrt geblieben ist, und wir alle müssen nun herausfinden, was genau das für uns bedeutet!"

Da platzte Mark Green - der Cousin zweiten Grades von Morgan - herein und rief aufgebracht: "Am Dorfrand steht plötzlich so ein technischer Mast."

Morgan grinste überlegen: "Hab ich es euch nicht gesagt? Ein 5G-Mast! Damit wir den Sermon, der uns über das Internet eingeimpft werden soll, fünf Sekunden schneller downloaden können."

"NEIIIN!", rief Mark protestierend aus, als litte er an Schmerzen und lehnte einen Eingriff dagegen ab. "Das, was dort steht, sieht nicht wie ein üblicher 5G-Mast aus! Kommt mit und seht es euch selber an!"

Nun wurden alle so neugierig, dass sie ad hoc ihre gemütlichen Plätze auf den roten Plüschsitzen - außer Matt Kronberg, der wie sonst immer in seinem Rollstuhl saß - verließen und hinter Mark nach draußen herliefen - respektive im Rolli fuhr. Hicks wälzte sich wenig aufgeregt als letzter aus dem Theater. Einer Prozession gleich bewegte sich die Menge durch die brütende Hitze an die betreffende Stelle.

Da stand er also: ein Metallmast von über 100 Metern Höhe mit diversen Verstrebungen, die an ein Kunstobjekt erinnerten, das ein Aktionist aufgestellt haben könnte, um endlich auf sich aufmerksam zu machen. Er hatte einen leichten Neigungswinkel gen Osten, sein Glanz oszillierte zwischen Silber und Gold, als wäre er aus Edelmetall gefertigt worden. Sobald ein leichter Wind durch die Verstrebungen blies, ertönte ein leichtes Summen wie von einem aufgebrachten Bienenschwarm auf Hochzeitsflug.

"Der ist aber ziemlich hoch, aber bei uns in Texas ist ja alles größer als anderswo!", meinte Morgan beeindruckt.

"Das Ding ist schief!", fiel Matt Kronberg als erstem der Anwesenden auf.

"Wie lustig!", amüsierte sich Amy. "Der schiefe Mast von Rattleshill."

"Ich weiß nicht, auf wessen Befehl das krumme Metalldings hier bei uns aufgestellt worden ist", meinte Hicks und wischte sich mit einer Hand den Schweiß von der Stirn, "aber es hat sicher seine Berechtigung."

"Normalerweise tarnt die Regierung doch diese Masten möglichst als Bäume und hier hat sie einen Baum entfernt und dieses hässliche Ding in den Boden gerammt, noch dazu schief!", ärgerte sich Dig und tippte sich mehrmals gegen die Stirn.

"Stimmt! Da fällt man echt vom Glauben an die Obrigkeit ab", entkam es Hicks. "Ich hab so ein Gefühl, dass es nicht zu unserem Vorteil gereichen wird..."

"Also ich finde das Ding nicht hässlich, eher utopisch", gab Jill Flairleg, die blonde Dorfschönheit, die einen Friseurladen betrieb, in welchem sie auch Fußpflege und Rückenmassagen anbot, ihre Meinung ab. "Erinnert mich total an das Eiffeldings in Paris."

Und Carol meinte: "Ich hab von diesen Masten gehört, dass die Regierung damit die Gehirne ihrer Bürger waschen will. MK Ultra Mindcontrol! Zu mehr Gehorsam und-"

Scott fiel ihr ins Wort: "Ach was, so schlimm sind unsre Bonzen auch wieder nicht. Das ist alles nur dummes Gerede. Das Ding soll einfach nur ungestörten Nachrichtenfluss ermöglichen."

"Du meinst wohl bessere Überwachung", zischte Amy.

"Gibt es überhaupt noch einen Fleck in unsrem schönen Land, wo so ein Drecksding noch nicht eingepflanzt worden ist?", ärgerte sich Dig und spuckte aus.

"Wir waren sicher der letzte!", kicherte Jill. "Ich hab gehört, dass man im Krieg mit 5G dem Feind die Augäpfel gegrillt haben soll, hihiihiii!"

"Jedenfalls sollten wir das Ding im Auge behalten!", riet Dig skeptisch und Hicks nickte beifällig.

Am nächsten Tag stürmte - oh Wunder - der Rollstuhlfahrer Matt Kronberg auf seinen eigenen zwei Beinen ins Sheriff-Büro und jubelte ekstatisch: "Seht alle her! Seht mich an!!! Ich kann wieder gehen! Und das nur, weil ich den Mast angefasst hab!"

"Du hast ihn angefasst?", fragte Morgan perplex. "Warum? Wolltest du ihn geradebiegen, oder was?"

"Mich überkam irgendwie das Gefühl, als gingen Heilkräfte von ihm aus!", rechtfertigte sich Matt und trat von einem Bein aufs andere, um zu testen, ob sie auch beide gleichermaßen gut funktionieren. "Und da fühlte ich plötzlich die Kraft in meine Beine schießen. Wow, ich bin überglücklich!"

"Du sagtest doch mal, du sitzt lieber im Rollstuhl als zu arbeiten", erinnerte sich Morgan plötzlich und grinste dreckig.

"Hör zu, Morgan, wenn du damit andeuten willst, dass ich 25 verdammte Jahre lang, also ein volles viertel Jahrhundert, nur aus Faulheit simuliert hätte, dann irrst du dich gewaltig!"

"Auch das noch! Ein Wunder, das uns sofort alle Kranken und Siechen der näheren Umgebung und auch von weither ins Dorf schwemmt!", ächzte Hicks verdrossen. "Eine Welle von Elenden auf der Suche nach ihrem Heil! Das war es dann mit unserem Frieden!"

"Wir müssen es ja niemandem erzählen, ich für meinen Teil hülle mich in Schweigen!", versprach Matt, der aufgekratzt wie ein Teenager auf Speed herumhopste.

"Und wie lange, denkst du, können wir das geheimhalten? Wie viele von uns werden es unter dem Siegel der Verschwiegenheit weiterflüstern? Bis weit über unsere Landesgrenze hinaus. Nach Kanada, Mexiko und was weiß ich noch wohin", spekulierte Hicks, der die negativen Seiten der menschlichen Natur in den vielen Jahren seines Amtes mehr als genug kennenlernen durfte und ganz genau wusste, dass diese dunklen Seiten oft die Übermacht gewannen.

"Wenn ich dir einen Rat geben darf, Sheriff", wisperte ihm Matt verschwörerisch zu, "dann nutz ihn für dich, denn du siehst hundeelend aus!"

In Gainesville, der nächstgelegenen Kleinstadt mit immerhin 16.000 Einwohnern, wurden anderntags menschliche Leichenteile gefunden, wie den Nachrichten zu entnehmen war, worauf sich einige der Bürger von Rattleshill aufgeregt ins Sheriff-Büro verfügten. Die Bewohner von Gainesville berichteten den Medien, am Vortag seltsame Motorengeräusche gehört zu haben, worauf Amy meinte, es könne sich daher nicht um das von ihr beobachtete UFO gehandelt haben, da dieses lautlos flog und auch um keine der überlieferten Rinderverstümmelungen, da Rindern immer nur gewisse Teile entnommen wurden und die Kadaver ansonsten intakt geblieben waren. Außerdem waren die Leichenteile laut den offiziellen Angaben offenbar nicht mit einer Motorsäge oder einem Laserskalpell abgeschnitten worden, sondern vermittelten den Eindruck, als wären sie mit purer Gewalt ausgerissen worden. Es konnten auch nicht alle Leichenteile nur einer Person zugerechnet werden, es sah vielmehr so aus, als seien es einige Teile von zwei verschiedenen Toten, allerdings ergaben sie keinen vollständigen Leichnam.

"Wenn ihr mich fragt", sagte Carol, "ich finde die ganze Meldung mysteriös und eigens für das sogenannte Sommerloch konstruiert. Es ist schon so viel Absurdes berichtet worden, nur um den Journalisten ihren Job zu erhalten."

Dig stieß sie mit einem Ellenbogen in die Seite und meinte: "Absurder als ein Mast, der einen Gelähmten heilt?"

"Was sollen wir tun, Sheriff?", fragte Amy nun ratlos. "Den Leuten von Gainesville von unsrem kurzfristigen Vermisstenfall, dem heilenden Mast und meinen UFO-Sichtungen berichten?"

"Nein", befand Hicks bei der kleinen Bürgerversammlung in seinem Büro, "diese Taten eines Serienmörders stehen sicher nicht im Zusammenhang mit unserem Vermisstenfall, dem Mast oder gar dem Auftauchen deines UFOs, liebe Amy."

"Dein Wort in Gottes Gehörgang!", murmelte Morgan.

"Wir melden also den Mast und was er kann, nicht an Gainesville weiter?", vergewisserte sie sich und erhielt nur ein Kopfschütteln des Sheriffs.

"Von uns fehlt ja keiner!", grinste Morgan frech.

"Man muss erst den Bericht des Pathologen abwarten", beschwichtigte Sheriff Hicks, nur Dig drängte ihn dazu, doch das FBI einzuschalten.

"Nein", winkte Carol fast entrüstet ab, "sobald diese Wichtigtuer vom FBI hier sind, kriegen wir sie nie wieder weg."

"Ja, aber wir werden dann vielleicht zu einem Touristenmagnet wie Roswell." Dig war schon die Vorfreude darauf anzusehen. "Oder zu einem Wallfahrtsort wie Lourdes!"

"Ach? Und willst du das, Dig?", erkundigte sich Hicks mit wieder einmal zusammengekniffenen Augen. "Dass hier eine Horde Fremder, Glücksritter und Greenhorns auftaucht, Aufruhr verursacht und wie wildgewordene Elefanten durch unsere so beschauliche Idylle trampelt?" Es lag in seinem Interesse, sein Dorf überschaubar zu halten, denn große Menschenmengen erhöhten oft nur die Kriminalstatistik und deren Bekämpfung würde ihm - schon angesichts seines Alters - eher schwer fallen.

"Was ist, wenn einer aus unsrem Dorf der Täter ist?", warf Amy in den Raum. "Der verkommene Atkins, der seine Hütte immer mehr verfallen lässt und sich auch nicht an unserer Suche beteiligt hat, der kommt mir ziemlich verdächtig vor."

"Amy!", meldete sich Carol besorgten Gesichtsausdruckes. "Mach keine Hexenjagd draus. Warum sollte der alte Säufer zu unseren Nachbarn fahren und dort Leute zerteilen, während er hier das lahme Unschuldslamm spielt?"

"Dazu ist der viel zu faul und hat zu viele seiner Gehirnzellen mit Feuerwasser ruiniert!", meinte auch Dig. "Außerdem kann es doch sein, dass uns nur irgendwer gegeneinander aufhetzen will. Wenn der Mast zwar Heilkräfte besitzt, sein Hauptzweck jedoch ist, dass er aus uns sowas wie angriffslustige Hyänen macht?"

Fast alle diskutierten noch weiter, nur Carol besann sich auf die Heilkräfte des Mastes und machte sich unauffällig auf den Weg zum Leichenschauhaus, wo ihr Bruder lag, während Morgan zur Toilette eilte, um heimlich seine kürzlich verunfallte Ma anzurufen.

"Boy! Was ist los, machst du dir Sorgen um mich?", hörte er ihre heisere Stimme fragen.

"Kannst du dich schon fortbewegen, Ma? Wenn ja, dann setz dich in den nächsten Greyhound-Bus nach Gainesville, ich hole dich von dort ab!"

Unterwegs hatte Carol ihren Mann Rob erreicht, der einmal aushilfsweise in der Prosektur als Reinigungskraft gearbeitet hatte und von ihrer Idee wenig begeistert schien.

"Carol, Bryce ist seit drei Tagen tot, glaubst du, er kann wie Lazarus wieder aufwachen, nachdem wir ihn zu dem verdammten Mast geschleift haben?"

"Wir sollten es wenigstens versuchen, Rob! Er gehört doch zu unserer Familie!" Ohne auf seine Antwort zu warten, lief sie voraus und er folgte ihr pflichtbewusst, allerdings nur widerwillig.

Am Himmel zogen dunkle Wolken auf und es sah nach baldigem Regen aus. Von den wenigen Pathologie-Angestellten unbehelligt schafften Carol und Rob den toten Bryce in seinem weißen Laken ohne Schuhe, noch mit dem Zettel am großen Zeh in den Kofferraum von Robs Chevrolet und fuhren zu dem ominösen, angeblich wundertätigen Mast. Erste Blitze zuckten bedrohlich zwischen Gewitterwolken auf und eine Sekunde später setzte grollender Donner ein. Die ganze Szenerie erschien gespenstisch wie aus einem Horrorfilm. Hastig packten sie Bryce, zogen ihn mühsam aus dem Kofferraum und schleppten ihn zu dem Mast, wo sie ihn mit beiden Armen in die unterste Verstrebung hängten. Es sah fast so aus, als wäre er noch am Leben und würde sich hängenden Kopfes ausruhen wollen. Als der Wind die ersten Regentropfen heranwehte, baumelten die Arme von Bryce so, als würde er jemandem Zeichen geben. Ein unheimliches Sturmgeheul ertönte und das Ehepaar floh schnell in den Wagen. Sie warteten noch einen Augenblick, doch schließlich gab Rob Gas und Carol sah im Rückspiegel, wie die Leiche ihres Bruders in einem intensiven Regenschauer verschwand.

Jo ließ den kleinen Jeb nach dem erlebten Schrecken seines Veschwindens nun in ihrem Haus nicht mehr aus den Augen. Momentan spielte er in seinem Zimmer und sie schielte durch den Türspalt und sah zu ihrer Verblüffung, wie er seine kleinen Dinosaurierfiguren in einer merkwüdigen, ja geradezu militärisch exakten Formation aufstellte. So, als plante er einen Feldzug mit ihnen und richtete sie auf einen noch unsichtbaren Feind aus. Er legte sein Köpfchen schief, um die Abstände zwischen den Figuren zu prüfen, um dann mit einer schnellen Handbewegung wieder alle umzuwerfen und von vorne mit ihrer akkuraten Platzierung zu beginnen. Das ließ ihr keine Ruhe und sie trat ein, worauf er feindselig zu ihr hochblickte.

"Jeb, was tust du denn da?"

Keine Antwort.

"Jeb, willst du mir etwas anvertrauen?"

Nach einer langen Nachdenkpause antwortete er: "Ich hasse diese bösen Tiere!"

Am nächsten Tag frühmorgens bei Sonnenaufgang hatte Morgan seine Ma vom Greyhound Bus in Gainesville abgeholt. Mit ihren Krücken und einer kleinen Reisetasche war ihr die Fahrt nicht leicht gefallen und ihr Beinstumpf - unterhalb des rechten Knies mit dem dicken Verband - bereitete ihr offensichtlich Schmerzen, als sie in sein Auto stieg. Auf der Fahrt wechselten sie nur wenige Worte.

"Warum hast du mich herbemüht, Boy? Du weißt doch, wie sehr mich das Reisen anstrengt in meinem Zustand."

Ruckartig bremste er vor dem Mast und erklärte: "Das ist sowas wie ein Jesus-Mast, der dich heilen kann, Ma! Einen Gelähmten hat er schon aus dem Rollstuhl treiben können."

"Boy, ich habe nur mehr ein Bein, soll er mir dabei helfen, besser darauf rumzuhüpfen wie ein Känguruh?", fragte sie genervt, als er ihr beim Aussteigen half.

"Du sagtest, du leidest an Phantomschmerzen!", erinnerte er sie, worauf sie mit ihren Krücken mühsam näher an den Mast humpelte.

"Das ist wahr!", ächzte sie heiser. "Und davon soll mich das komische Ding hier befreien?"

"Na los, Ma!", feuerte er sie an. "Nimm Körperkontakt zu ihm auf! Denk dir, er ist ein schöner Mann!"

"Du und deine Witze", grinste sie und sah nun etwas weniger leidend aus.

"Fass ihn an!", drängte er sie.

Schon wollte sie es tun, als sie einen Chevy herannahen sah. Morgan wandte sich um und nickte Carol zu, die mit ihrem Mann ausstieg und ganz langsam näherkam.

"Das ist meine Mutter!", stellte Morgan seine Ma vor. "Nur zu, Ma! Vor Carol und Rob brauchst du dich nicht zu schämen."

Unauffällig spähte das Ehepaar herum, während Morgans Mutter eine ihrer Krücken losließ, um den Mast zu berühren.

"Merkwürdig!", sagte sie erstaunt. "Ich spüre tatsächlich eine positive Energie. Fast wie ein leichter Stromstoß."

"Mach dir keine Hoffnungen, dass Bryce wieder unter uns ist", flüsterte Rob seiner Frau zu.

"Jetzt ist er jedenfalls fort, zum Leben erwacht!", wisperte sie zurück.

"Als Zombie?"

"Wohl kaum, denn sonst wäre er doch ins Dorf gekommen und nicht von hier geflüchtet. Sieh doch! Hier sind noch seine Fußspuren zur Straße hin! Wahrscheinlich ist er per Anhalter los."

"Was ist los?", erkundigte sich Morgan, der seiner Ma zur Seite stand und den Mast ebenfalls mit einer Hand anfasste.

"Ach nichts", winkte Carol ab. "Wir unterhalten uns nur, ob wir mit dem Wunderding eventuell auch Tote erwecken könnten."

"Das lasst lieber bleiben!", warnte Morgan mit ernster Miene, die man sonst nur selten bei ihm sah. "In Filmen geht das immer sehr schlecht aus."

In einer Fernsehsendung trat zwei Tage später zur Primetime alsbald ein Mann mit Bryce Aussehen auf, in einem schönen schwarzen Designeranzug, seine fahlen Lippen gaben beim breiten Grinsen deutlich gebleichte Zähne frei und CNN berichtete davon, dass er sich Byron nannte, von Aliens vom Tode erweckt worden wäre und nun eine göttliche Friedensmission ausführen müsste. Alle Kriege haben sofort aufzuhören und vor allem die Atomwaffen müssten verboten werden - das war die Kernbotschaft.

Auch Morgan sah sich mit seiner Ma neben sich auf der Couch sitzend die Sendung in seinem gemütlichen Haus an und lachte laut auf: "Da hätte er auch gleich im Leichenschauhaus bleiben können. Das ist Bryce, Carols Bruder, der vorige Woche bei einem Motorradunfall sein Leben aushauchte. Die haben ihn also zum Mast gebracht und aufwecken können. Jetzt spielt er offenbar Friedensengel und ist somit der erste auf der Abschussliste der Waffenindustrie. - Wie geht es deinen Warzen, Ma?"

"Das sind doch keine Warzen an meinem Beinstumpf, sondern Zehen! Mir wächst gerade ein neuer Fuß nach, Boy!", jubelte sie und fiel ihm aufgekratzt um den Hals.

Bei Carol kam ebenfalls Freude auf, als sie Bryce Botschaft im TV vernahm und sie kündigte ihrem Mann an: "Du wirst sehen, Rob, jetzt erkämpft er für uns endlich Frieden auf der ganzen Welt."

"Mhm!", machte er nur müde und stellte die Schale mit dem warmen Popcorn beiseite. "Ich hab so ein komisches Gefühl im Magen, wie damals, als Trump die Wahl gewann!"

Doch sie überhörte seinen aufkeimenden Pessimismus und versuchte sofort, die Telefonnummer des Senders herauszufinden.

Der eitle CNN-Moderator wirkte ziemlich amüsiert und fragte Bryce im Rahmen des weiteren Interviews: "Wie wollen Sie denn beweisen, dass Sie von Aliens vom Tode erweckt wurden, Byron? Ich meine, Sie müssen zugeben, dass das eine Behauptung ist, die wir alle nicht einfach so glauben können."

"Was wollen Sie für einen Beweis? Übernatürliche Fähigkeiten?", erkundigte sich Bryce ziemlich entspannt und erhob sich, ohne auf Antwort zu warten, circa zweieinhalb Meter in die Luft, starrte auf einen der Scheinwerfer im TV-Studio, der sogleich krachend in tausend Teile zersprang, und schwebte dann wieder auf den Boden. "Soll ich weitermachen?"

"Nein, hören Sie auf!", forderte der Moderator mit sichtlichem Unbehagen und wachsender Nervosität.

Mit großem Interesse saß auch Hicks vor dem TV-Gerät, streichelte seine Siamkatze Harlot, die schnurrend auf seinem Schoß saß, und schüttelte den Kopf: "Das kann nicht gutgehen! Lass es sein, Bryce!"

Carol hatte Glück und wurde vom Sender gleich in die Live-Schaltung vermittelt, wo sie sich bei Bryce als seine Schwester zu erkennen gab und ihn aufgeregt fragte, warum er denn nicht zuallererst zu ihr gekommen sei, nachdem er aus dem Tod erwacht war.

Spontan antwortete er ihr: "Ich danke dir sehr für deine Hilfe, Carol, aber ich kann nicht einfach weiter mit euch heile Familie spielen, während hier viel Wichtigeres zu tun ist!"

Diese eher ernüchternde Message wurde via Satellit in die ganze Welt übertragen.

Eine Träne lief über ihre Wange, als sie auflegte. Ihr Mann nahm wieder die Schale mit dem Popcorn an sich und beachtete sie nicht weiter.