Auris. Puls der Angst - Vincent Kliesch - E-Book

Auris. Puls der Angst E-Book

Vincent Kliesch

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Beschreibung

Ein Fest für alle AURIS-Fans: der Abschluss der genialen Thriller-Reihe Im 6. Band der Thriller-Reihe des Bestseller-Duos Sebastian Fitzek & Vincent Kliesch wird das Leben von Podcasterin Jula komplett auf den Kopf gestellt. True-Crime-Podcasterin Jula Ansorge kann es nicht fassen: Am Bett ihres schwerstverletzten Vaters taucht plötzlich ihre dement geglaubte Mutter auf - scharfsinnig und wild entschlossen, Rache zu nehmen. Und auch Matthias Hegel, der geniale Phonetiker, spielt eine ganz andere Rolle in Julas Leben, als sie bislang dachte. Doch bevor sie Antworten erhält, greift ein tödliches Gift aus der Vergangenheit buchstäblich und brutal in ihr Leben ein. Jula mobilisiert noch einmal ihre ganze kämpferische Kraft - für sich und alle, die sie liebt. Muss sie am Ende zur Mörderin werden, um ihre eigene Geschichte zu retten? Atemlose Pageturner, die süchtig machen Die Thriller um das ungleiche Ermittler-Duo Jula und Hegel – den Mann, der das Verbrechen hört – erobern regelmäßig die SPIEGEL-Bestsellerliste. Wenn dir vor lauter Spannung die Nerven flattern und du bis zum Morgengrauen weiterlesen musst, dann hast du einen AURIS-Thriller in der Hand! Die Thriller-Bestseller von Vincent Kliesch und Sebastian Fitzek sind in folgender Reihenfolge erschienen: - Auris - Die Frequenz des Todes - Todesrauschen - Der Klang des Bösen - Tödlicher Schall - Puls der Angst

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Seitenzahl: 264

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Vincent Kliesch

Auris

Puls der Angst

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Nach einer Idee von Sebastian Fitzek

Über dieses Buch

True-Crime-Podcasterin Jula Ansorge kann es nicht fassen: Am Bett ihres schwerstverletzten Vaters taucht plötzlich ihre dement geglaubte Mutter auf - scharfsinnig und wild entschlossen, Rache zu nehmen. Und auch Matthias Hegel, der geniale Phonetiker, spielt eine ganz andere Rolle in Julas Leben, als sie bislang dachte.

Doch bevor sie Antworten erhält, greift ein tödliches Gift aus der Vergangenheit buchstäblich und brutal in ihr Leben ein. Jula mobilisiert noch einmal ihre ganze kämpferische Kraft - für sich und alle, die sie liebt. Muss sie am Ende zur Mörderin werden, um ihre eigene Geschichte zu retten?

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

Epilog

Prolog

Jula

Ich muss euch leider mitteilen, dass dies hier mein letzter Podcast sein wird.« Jula schloss kurz die Augen, atmete tief durch und sprach dann weiter in ihr Handy, dessen Diktierfunktion sie dazu nutzte, während des Flugs ein letztes Mal zu den mittlerweile über vier Millionen Abonnenten ihres True-Crime-Podcasts zu sprechen. Natürlich nicht live, sie hatte den Flugmodus aktiviert. Doch die acht Stunden, die sie bis an ihr Ziel benötigte, ließen ihr ausreichend Zeit, den Irrsinn zusammenzufassen, mit dem sie sich in der – wie sie es bezeichnete – letzten Runde des vollkommenen Wahnsinns zu befassen hatte.

»So sieht nun also das Ende aus!« Jula musste auflachen, und das, obwohl sie sich kaum Umstände hätte vorstellen können, die weniger erheiternd gewesen wären als diese. »Es ist definitiv nicht so gelaufen, wie ich es mir vorgestellt hatte.Und ich verdrücke eine Träne, wenn ich an meine Mutter denken muss. Andererseits war alles, was sie getan hat, ihre freie Entscheidung.Und es ist auch nicht so, dass ich sie nicht verstehen kann.« Jula musste an die Worte denken, die ihre Mutter zuletzt zu ihr gesprochen hatte.

»Aber warum hat sie mir das nicht alles schon viel früher erzählt? Ich wäre damit klargekommen, und es hätte viele Katastrophen verhindern können. Doch nun habe ich entschieden, diese Überlegungen ruhen zu lassen.« Jula lachte bitter auf. »Und, was soll ich sagen? Ich meine, so ein richtig großer, dramatischer Showdown ist doch im Grunde das Beste, das mir zum Finale noch passieren konnte. Immerhin, andere ertrinken besoffen in der Badewanne und werden erst nach Wochen gefunden. Und das auch nur, weil es aus ihrer Wohnung stinkt. Zudem muss ich jetzt, wo das alles vorbei ist, wenigstens nicht mehr meine verbleibende Zeit darauf verwenden, weinerlich über mein Leben zu sinnieren und mich dabei in verherrlichenden Beschönigungen von Nichtigkeiten zu ergehen. Schließlich habe ich in den vergangenen Tagen gelernt, dass so gut wie nichts in meinem Leben so war, wie ich es in meiner Naivität angenommen hatte. Aber hey, immerhin heiße ich wirklich Jula! Zumindest in diesem Punkt hat mich niemand belogen.«

Sie unterbrach die Aufzeichnung, klappte den Tisch vor ihrem Flugzeugsessel hoch und lehnte sich entspannt zurück. Jula blickte aus dem Fenster und genoss für einen Moment den Anblick der traumhaft schönen Insel unter ihr. Nach etwa einer Minute des Entspannens setzte sie die Aufzeichnung fort. »Also, ich halte mal so viel fest: In Berlin darf ich mich nicht mehr blicken lassen, stattdessen verstecke ich mich irgendwo auf der Welt, wo mich niemand finden kann. Aber ich bin der Meinung, das ist ein würdiges Ende für die Zeit, in der ich den Fehler gemacht habe, Matthias Hegel helfen zu wollen.«

Über die Sprechanlage wurden die Passagiere dazu aufgefordert, ihre Sitzlehnen hochzuklappen und die Gurte anzulegen. Der Landeanflug hatte begonnen. Da dieser Teil ihrer Aufzeichnung möglicherweise Rückschlüsse darauf zuließ, wohin sie reiste, deaktivierte sie die Aufnahme erneut.

Jula trug ein leises Lächeln auf den Lippen, während sie die Augen schloss. Erst als keine verräterischen Geräusche mehr im Hintergrund zu hören waren, setzte sie die Aufzeichnung ihres letzten Podcasts fort.

»Aber wisst ihr, ich will mich nicht beschweren. Im Gegenteil, ich kann ja froh sein, dass ich wenigstens irgendwo am anderen Ende der Welt noch frei sein kann. Denn, nun ja, immerhin habe ich meine Mutter, meinen Bruder, meinen Ex-Freund und Matthias Hegel erschossen …«

1

Einen Tag zuvor

Jula, du darfst keine Fragen stellen, dein Handy muss ausgeschaltet sein, und nichts, was in den kommenden Stunden passiert, darf jemals an die Öffentlichkeit gelangen.«

Jula stand in ihrer Wohnungstür wie ein Erdmännchen, das beim neugierigen Blick in die unbekannte Ferne den futuristischen Prototyp einer Marssonde erspäht hatte. Nichts, aber auch wirklich gar nichts von dem, was sich ihren Augen und Ohren da gerade bot, wollte irgendeinen Sinn ergeben.

Es war etwa ein Jahr her, dass sie zum letzten Mal eine Nachricht von ihrer Mutter bekommen hatte. Julas Ex-Freund Paul, der sich schon immer besser mit Jutta Ansorge verstanden hatte als Jula selbst, hatte ihr damals mit eindringlichen Worten einen Brief übergeben. Ihre Mutter hatte ihn geschrieben, als sie angeblich geistig gerade noch dazu in der Lage gewesen war. Mit klugen, versöhnlichen und sogar selbstkritischen Worten hatte sie ihrer Tochter darin erklärt, dass sie an Demenz erkrankt sei. Eine Krankheit, für die es keine Heilung gab und die das Erinnerungsvermögen nach und nach auslöschte, bis aus Julas Mutter schließlich eine lebendige Hülle geworden sein würde. In ihrem verblichenen Geist wäre nichts mehr greifbar, das ihr irgendeine Verbindung zu ihrer Tochter ermöglichen könnte. Ein Abdriften ins Grau des Vergessens, das Jula sehenden Auges würde miterleben müssen und dem nichts und niemand Einhalt gebieten konnte.

Es war erst ein paar Tage her, dass sie ihre Mutter zuletzt im Pflegeheim für Demenzkranke besucht hatte. Jula war durch ihre Zusammenarbeit mit dem Phonetiker Matthias Hegel ins Visier eines psychisch kranken Wahnsinnigen geraten, der ganz Berlin mit irrwitzigen Anschlägen in Atem gehalten hatte. In einer ihrer schwersten Stunden hatte Jula das Bedürfnis verspürt, mit ihrer Mutter zu reden. Oder, treffender – mit ihrer Mama. Es war nämlich nicht die mit allen Wassern gewaschene True-Crime-Podcasterin gewesen, die in ihrer Not die Nähe zu der Frau gesucht hatte, mit der sie sich viele Jahre zuvor überworfen hatte. Es war das kleine Julchen, das niedliche Mädchen mit der Stupsnase, das Jula vor langer Zeit einmal gewesen war und das nun eine solche Sehnsucht nach der Mama verspürte. Nach der Frau, die Gespenster aus der Wohnung jagen und danach Tee kochen konnte und so die in die Flucht geschlagenen Spukgestalten für lange, lange Zeit verlässlich fernhielt. Die Frau, die Schmerzen mit einem Pusten und einem bunten Pflaster verschwinden lassen konnte und die sich zwar oft streng gab, letztlich aber doch jeden Fehler ihrer kleinen Tochter mit Nachsicht behandelte. Und – was unter den gegebenen Umständen durchaus hervorzuheben war – die jetzt kerngesund mit leuchtenden Augen und offensichtlich klarem Geist vor ihr im Hausflur stand!

»Wie kannst du …«, stammelte Jula verwirrt, doch sofort legte ihre Mutter ihr den rechten Zeigefinger auf die Lippen. So, als wäre Jula wieder fünf Jahre alt.

»Dafür haben wir keine Zeit. Du musst jetzt eine Entscheidung treffen!«

Ihr Blick war so eindringlich gewesen, dass es Jula auch ohne den Finger auf ihrem Mund die Sprache verschlagen hätte. Hinzu kam, dass ihre Mutter in Begleitung von Julas älterem Bruder Moritz und ihrem Ex-Freund Paul erschienen war, die offenkundig davon gewusst haben mussten, dass Jutta Ansorge keineswegs dement geworden war.

»Wenn du mitkommst, muss dir allerdings klar sein, dass für dich morgen vielleicht schon nichts mehr so ist, wie es bisher schien.«

Ohne auch nur einen Blick von ihrer Tochter abzuwarten, drehte sie sich um und ging mit schnellen Schritten auf die Treppe zu, die nach unten zur Straße führte.

»Moritz, Paul …?« Jula sah wie benebelt zwischen ihrem Bruder und ihrem Ex-Freund hin und her.

»Sie hat dich all die Jahre beschützt. Dich und unsere ganze Familie. Bis heute.« Moritz sah seiner Schwester mit derselben Intensität in die Augen, mit der er ihr bereits als Kind hatte signalisieren können, dass etwas wirklich, wirklich wichtig war. »Doch jetzt ist es passiert. Die Tore zur Vergangenheit sind aufgestoßen worden. Bitte, komm mit. Du wirst es sonst vermutlich für immer bereuen.«

Jula wurde schwindelig. Nein, ein Traum war das nicht, auch wenn dies noch die wahrscheinlichste Erklärung für das alles hier gewesen wäre. Ihre demente Mutter war kerngesund und so klar im Kopf, wie sie es früher gewesen war. Ihr Bruder, der jahrelang als tot gegolten hatte, schien besser informiert zu sein als sie selbst. Außerdem, was zur Hölle hatte ihr Ex-Freund Paul mit dieser grotesken Situation zu tun?

Und vor allen Dingen: Um was für eine Situation ging es hier eigentlich?

»Also gut.« Jula streckte sich und atmete dreimal tief durch. »Wenn ein von den Toten Auferstandener und eine durch Wunderheilung Genesene vor meiner Tür stehen, sollte ich vielleicht die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass etwas Bedeutsames geschehen ist.«

»Das ist es, Julchen.« Ihr Ex-Freund Paul sah sie auf die vertraute Art und Weise an, mit der er ihr schon zu ihrer gemeinsamen Zeit selten etwas Gutes angekündigt hatte. »Stell dich bitte darauf ein, dass es sehr verwirrend für dich sein wird, was du heute erfährst. Und leider auch sehr traurig …«

»Verwirrend? Traurig?« Jula atmete kaum noch.

Anstatt ihr zu antworten, streckte Moritz ihr die Hand entgegen, und intuitiv, so, als wären sie beide wieder Kinder, griff sie danach.

»Es geht um unseren Vater.«

»Aber …« Jula stotterte fast. »Der ist doch in Thailand?«

»Das war eine Lüge.« Moritz zog Jula aus der Wohnung in den Hausflur. »Und um es vorwegzunehmen: Das war bei Weitem nicht die einzige Lüge …«

2

Nachdem sie das Krankenzimmer auf der Intensivstation betreten hatten, fiel Julas erster Blick auf den Mann, der mit zahlreichen Schläuchen und Drähten an kaum minder zahlreiche blinkende und piepende Geräte angeschlossen war. Auf den Mann mit dem geschwollenen, blutigen Gesicht, von dem sie ihr erklärt hatten, es sei ihr Vater Benno Ansorge. Der verantwortungslose, naive, wenig gebildete und doch in seiner letztlich furchtbaren Art auf eine ganz spezielle Weise liebenswerte Trottel. Ja, er war ein kaum verlässlicher, nicht eben mit Verantwortungsgefühl gesegneter Verlierer, das schon. Ein Taugenichts, Tunichtgut oder was für unfreiwillig komische Bezeichnungen man für Menschen wie ihn auch immer erfunden hatte. Von seinen zahlreichen abstrusen Aktionen ganz zu schweigen. Aber er war eben auch ihr Papa. Der Mann, der ihr ein Eis gekauft hatte, auch wenn ihre Mutter es ihm aus erzieherischen Gründen verboten hatte. Der Mann, der sie beim Hoppe, hoppe, Reiter immer wieder in Sorge versetzt hatte, dass er sie dieses Mal vielleicht doch auf den Boden fallen lassen würde, es aber niemals getan hatte. Allerdings eben auch der Mann, der ihr und ihrer Familie über Jahre hinweg verschwiegen hatte, dass er aus einer heimlichen Affäre mit einer tunesischen Arbeitskollegin einen Sohn hatte. Daher war Elyas erst im Alter von dreizehn Jahren in ihr Leben getreten.

Jula sah sich nach ihrem Halbbruder um. »Wo ist denn Elyas? Sollte er nicht auch …?« Sie warf ihrem älteren Bruder Moritz einen fragenden Blick zu.

»Er war schon hier.« Moritz klang ruhig, abgeklärt. »Wir wollten ihn aus dieser Sache hier so gut es geht heraushalten.«

»Welche … Sache?« Julas Knie wurden zittrig. »Was ist denn mit Benno passiert?«

Sie musterte das Gesicht ihres Vaters. Der Teil, der frei von Verbänden geblieben war, war blau, rot und geschwollen. Jula spürte, wie ihr von hinten Hände auf die Schultern gelegt wurden. Erst auf die rechte, dann auf die linke. Vermutlich von Moritz und Paul, aber das war jetzt nebensächlich.

»Äggg …« Benno Ansorge stammelte mit wenig Kraft so etwas wie Laute in den Raum. »Ümffff …«

Als Jula ihren Vater beruhigen und versuchen wollte, ihm verständliche Laute zu entlocken, wurde die Tür kräftig von außen aufgerissen, und Matthias Hegel, der phonetische Forensiker mit dem an eine Fledermaus erinnernden Gehör, stand im Krankenzimmer. Beinahe als hätte er so lange im Flur gewartet, bis der perfekte Zeitpunkt für seinen Auftritt gekommen war. Zuvor hatte er vor Julas Wohnung die Gruppe aufgenommen und dann wortlos ins Krankenhaus gefahren.

»Und, wie sieht es aus?« Er sah zunächst in die Runde der Besucher, bevor er ans Krankenbett trat und sich zu Benno Ansorge hinunterbeugte. Als dieser erneut versuchte, sich verständlich zu machen, begutachtete Hegel die Verletzungen. »Ihr Kehlkopf ist geprellt, Sie können zurzeit keine verständlichen Worte bilden.« Er sah an Bennos Körper hinab und fügte hinzu: »Außerdem sind beide Hände gebrochen, Sie werden also auch nichts aufschreiben können.«

Julas Gedanken versuchten holperig zu erfassen, was sich hier gerade abspielte. Wie ein mysteriöser Geheimbund aus einem Verschwörungsthriller standen die wichtigsten Menschen in Julas Leben um sie herum. Nur Elyas fehlte. Wie ein Bund, der Dinge wusste, von denen sie keine Ahnung hatte – und die auch keinen Sinn ergeben wollten.

Jula durchfuhr ein Ruck, der ihr gebot, sich zu fokussieren. Die Fesseln der Machtlosigkeit abzulegen und in die Offensive zu gehen. Was sollte geschehen? Im Grunde konnten jetzt eigentlich nur noch Außerirdische auftauchen, die ihr erklärten, dass es den Planeten Erde und die Menschheit nie gegeben hatte und sie lediglich das Experiment einer künstlichen Intelligenz war.

»Möchte mir vielleicht mal jemand erklären, was hier los ist?« Sie näherte sich nun ebenfalls dem Krankenbett, gebot Hegel mit einer entschlossenen Geste, den Platz neben ihrem Vater frei zu machen, und nahm diesen selbst ein.

»Hmmmff …« Benno Ansorge schien Jula erkannt zu haben, jedenfalls soweit es sich in seinem geschwollenen Gesicht ausmachen ließ. Sein vergeblicher Versuch, ihr etwas mitzuteilen, strengte ihn erkennbar an, und auch das Piepen der Geräte neben seinem Bett beschleunigte sich.

»Ganz ruhig, Papa.« Jula liefen Tränen aus den Augen. Doch es waren keine Tränen des Zorns oder der Mutlosigkeit. Es waren die Tränen einer Tochter, die erkennen musste, dass der Mann, der sie vor fiesen Klassenkameraden und untreuen Liebhabern beschützt hatte, sich selbst nicht hatte beschützen können. »Du wirst wieder gesund, und dann fahren wir nach Paris. Okay?«

Wie oft hatte sie ihn als Kind gefragt, ob er mit ihr und Moritz ins Disneyland reisen würde! Und jedes Mal hatte er es ihr versprochen, wenn er auch nie einen konkreten Termin genannt hatte. Danach hatte Jula sich tagelang vor dem Einschlafen vorgestellt, wie es dort sein würde. Und natürlich hatte sie in ihrer Fantasie niemals in einer Schlange angestanden, und keine der Figuren im Park war offenkundig nur ein kostümierter Student gewesen. Immerhin lebten sie ja dort, alle ihre Lieblingsfiguren, es hieß ja schließlich nicht umsonst Disneyland.

»Jula.« Ihre Mutter sprach ganz sanft zu ihr, sie war ebenfalls auf die Knie gegangen und hockte nun neben ihr vor Bennos Bett. »Das alles muss dich vollkommen überfordern. Aber es ist jetzt sehr wichtig, dass du aufmerksam bleibst.« Sie wandte sich ihrem Mann zu. »Benno, bitte, streng dich nicht an. Und versuche nicht, zu sprechen, dafür bist du viel zu schwer verletzt.«

Schlagartig erloschen das Piepen und das Pumpen der Maschinen. Natürlich nicht wirklich, die medizinischen Geräte leisteten weiterhin verlässlich ihre Arbeit. Aber für Jula waren die Störgeräusche nicht mehr da. So wie mit einem Mal auch nichts Absonderliches mehr daran war, dass ihre demente Mutter bei vollem Verstand neben ihr kniete.

»Moritz …« Jula sah nicht zu ihrem Bruder hinüber, aber sie streckte die Hand in seine Richtung aus.

»Ich komme zu euch.« Auch Moritz kauerte sich neben seinem Vater vor das Krankenbett.

»Wir sind alle hier.« Julas Mutter strich Benno über die Schulter. »Die ganze Familie Ansorge.«

Vermutlich veränderte sich etwas am Piepen der Geräte, ihre Mutter und Moritz sahen gleichzeitig zu den Displays auf. Doch für Jula waren die Krankenhausgeräusche noch immer wie stummgeschaltet.

»Mmmmfff …« Erneut versuchte Benno, etwas zu sagen.

»Die Ärzte glauben, dass du durchkommen wirst. Das ist das Wichtigste.« Jutta Ansorge blieb ganz ruhig, als wollte sie ihn mit ihren Worten streicheln. »Aber streng dich nicht an, du hast sehr schwere Verletzungen erlitten.«

Der Blick von Bennos Auge, das nicht vom Verband bedeckt war, wechselte zwischen Jula und Moritz hin und her. Noch ein unverständliches Murmeln, dann gab er den Versuch auf.

Und wenn Jula auch tausend Fragen durch den Kopf schossen, spürte sie doch, dass es jetzt nicht ihre Aufgabe war, auch nur eine einzige davon zu stellen. Ihre Aufgabe war eine andere. »Papa, du verfluchter Mistkerl.« Sie lächelte ihn an. »Du bist immer ein guter Vater gewesen. Total verrückt und ein bisschen trottelig, aber gerade das war das Liebenswerte an dir. Und klar, du hast viel falsch gemacht, ziemlich viel sogar. Aber darum geht es nicht. Wir sind eine Familie, und wir stehen jetzt alle hinter dir.«

Ihre Blicke trafen einander, und Jula meinte, ein Lächeln in Bennos verunstaltetem Gesicht erkannt zu haben. Danach schloss er die Augen.

Hegel, der nicht nur Phonetiker, sondern auch Arzt war, ergriff das Wort: »Benno braucht Erholung und Zeit. Ich schlage vor, wir dringen jetzt nicht weiter in ihn.«

»Was ist denn nun eigentlich passiert?« Jula sah zwischen den Anwesenden hin und her, nachdem sie vom Bett weggetreten waren.

Hegel sah sie aufmerksam an und sagte mit klarer, ruhiger Stimme: »Ihr Vater ist fast totgeschlagen worden. Anhand der Verletzungen gehe ich davon aus, dass es sich um einen vorsätzlichen Angriff gehandelt hat, nicht um eine zufällige Kneipenschlägerei.«

»Das bedeutet …« Jula wagte nicht, den Satz zu beenden.

»So sieht es aus.« Hegel sah in die Runde. »Ich vermute stark, dass Benno von einem professionellen Schläger so zugerichtet wurde. Und dass er jetzt weder sprechen noch schreiben kann, ist ganz sicher kein Zufall.«

»Sie meinen, jemand will nicht, dass er uns etwas Bestimmtes mitteilen kann?« Jula fühlte sich wie versteinert.

»Es sieht ganz danach aus.« Hegels Blick kannte Jula bereits. Darin lag diese spezielle Note von Hintersinn, die er immer dann zeigte, wenn er eine Idee hatte. »Aber so leicht geben wir nicht auf.«

3

Jula hätte so viele Fragen stellen können, dass es vermutlich mehr als eine Stunde gedauert hätte, sie auch nur zu formulieren. Doch das war jetzt nicht wichtig. Was im Augenblick zählte, waren allein das Bett mit ihrem schwer verletzten Vater und die wichtigen Menschen aus Julas Umfeld, die allesamt fragend zu Hegel hinübersahen.

»Ich denke, dass es mir vielleicht gelingen könnte, anhand der Bewegung seines Kehlkopfs zu entschlüsseln, was er sagen will.«

»Das ist möglich?« Moritz klang ebenso überrascht, wie es auch Jula war.

»Einfach ist es nicht. Aber unser Sprechtrakt besteht ja nicht nur aus den Lippen und der Zunge. Die Luftschwingung, die Sprache hörbar macht, entsteht bereits im Atmungssystem, und das, was beim Kehlkopf ankommt, lässt sich unter Umständen bereits analysieren.«

»Das ist alles schön und gut, aber kann mir vorab jetzt mal endlich jemand erklären, was hier eigentlich los ist?« Jula sah mit wachsender Verärgerung in die Runde.

»Julchen, es gibt Gründe dafür, warum du so bist, wie du bist.« Jutta Ansorge hatte ihre Stimme kaum gehoben.

»Ach ja? Wie bin ich denn?«

»Du bist eine Kämpferin.« Jutta sprach liebevoll, wenn auch erkennbar Respekt in ihren Worten mitklang. »Du hast Ideale, die du nicht zu verkaufen bereit bist. Du stehst für das ein, woran du glaubst, und wenn es hart auf hart kommt, kneifst du nicht, sondern stellst dich der Situation.«

»Und du wirst mir jetzt erzählen, dass ich diese Eigenschaften dir zu verdanken habe. Von meinem Vater habe ich sie ja leider eher nicht geerbt.« Eine Träne der Verzweiflung lief Jula die Wange hinab. Mit einer Härte im Blick sah sie zu ihrer Mutter, erwachsen aus ihrer Machtlosigkeit.

»Das würde ich nicht unbedingt sagen.« Jutta blieb ernst, und man hörte ihr an, wie ernst ihr das war. Sie griff nach Julas Hand und ging mit ihr noch weiter vom Krankenbett weg. So leise, dass Benno es nicht würde hören können, fragte sie ihre Tochter: »Hast du dich nie gewundert, dass ich einen so unkonventionellen, naiven und manchmal etwas trotteligen Mann geheiratet habe?« Jutta winkte nun auch Moritz heran und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Dein Bruder hat mich das gefragt, bevor er damals begonnen hat, undercover als Informant zu arbeiten.«

»Es muss dich doch auch gewundert haben.« Moritz lief eine Träne über die linke Wange. »Ich habe mit Mama darüber geredet, und nachdem sie mir die Wahrheit anvertraut hatte, haben wir entschieden, dass wir es dir nicht sagen werden, bevor wir den richtigen Zeitpunkt dafür für gekommen halten.«

Jula holte bereits Luft, doch ihre Mutter kam ihr zuvor: »Ja, das war anmaßend von uns. Aber so ist das Leben manchmal, bestimmte Fehler muss man wohl einfach begehen. Es war auf eine Weise richtig, es dir damals nicht zu erzählen. Und es wäre auf andere Weise auch richtig gewesen, es zu tun. Bei einer Tragödie geht es nicht um die Entscheidung zwischen richtig und falsch. Eine Tragödie ist es, die Entscheidung zwischen richtig und richtig treffen zu müssen.«

»Hast du das in einem deiner Schmöker gelesen?« Jula sprach noch immer auffallend leise. »Heute ist mein Vater auf übelste Weise fast totgeprügelt worden. Aus Gründen, die er uns noch nicht mitteilen kann.« Jula trat näher an ihre Mutter heran. »Und jetzt machst du Andeutungen über ihn, die anscheinend für alle hier Sinn ergeben außer für mich. Also, Schluss mit den Spielchen: Was ist hier los?«

Zunächst sah Jutta zu Moritz hinüber, dann zu Hegel und Paul. Da offenkundig keiner von ihnen das Wort ergreifen wollte, richtete sie den Blick wieder auf Jula. »Also gut, es ist wohl an der Zeit.«

Die Luft im Raum war dank der Klimatisierung frisch. Jula kam es nun allerdings so vor, als könnte sie diese in Scheiben schneiden. »Raus damit!«

»Alles, was in den vergangenen Monaten passiert ist, geht auf ein Geheimnis zurück, das wir bis heute vor dir bewahrt haben.« Noch einmal holte Jutta Ansorge Luft und sah in die Runde. Schließlich legte sie beide Hände auf die Schultern ihrer Tochter. »Benno ist nicht dein leiblicher Vater.«

4

Das ist jetzt nicht dein Ernst?« Jula sah ihre Mutter an, als habe diese einen wenig originellen Scherz zu machen versucht. »Ist das hier irgendeine Show mit versteckter Kamera?«

»Ich gebe zu, dass es sich danach anhört.« Julas Mutter sprach sanft und verständnisvoll. »Aber wenn du ehrlich bist, hast du dich doch selbst schon gefragt, warum er dir so gar nicht ähnelt. Weder optisch noch charakterlich, oder?«

»Ich sage das jetzt nur ein Mal.« Jula flüsterte fast, ihr Atem ging schwer. »Wenn das ein dämlicher Scherz gewesen sein sollte, löse ihn besser sofort wieder auf!«

»Mit so etwas würde ich niemals scherzen.« Sie wurde nicht lauter. »Es hat sehr gute Gründe gegeben, dir das bisher nicht zu erzählen. Und dass ich mich in diese vorgetäuschte Demenz zurückgezogen habe, hängt auch damit zusammen.«

Nun trat Hegel an Jula heran. »So eine Erkenntnis, noch dazu in einer solchen Situation, sollte erst einmal sacken.« Er holte tief Luft. »Und dieser Tag wird vermutlich noch einige weitere Überraschungen für Sie bereithalten.«

Jula wirkte wie entrückt. »Aber wenn Benno nicht mein Vater ist, wer ist es denn dann?«

Jutta senkte den Blick. »Es hat mir fast das Herz zerrissen, dir all diese Lügen erzählen zu müssen. Und ja, du sagst jetzt sicher, dass ich dich nicht hätte belügen müssen, weil du die Wahrheit ausgehalten hättest.« Sie sah ihre Tochter mit einem Blick an, der Jula eine Gänsehaut verursachte.

»Mama, jetzt sag es mir schon.« Sie legte keinen Zorn in ihre Stimme, hatte sie doch selbst Angst vor der Antwort.

»Ich hatte lange Zeit große persönliche Probleme. Und die habe ich, na ja, unter anderem damit zu vertreiben versucht, mich eben von ihnen … abzulenken.« Jutta senkte den Blick zu Boden.

»Das ist nicht dein Ernst?« Jula flüsterte fast.

»Leider schon. Ich habe in dieser Zeit Kontakt zu sehr vielen Männern gehabt, und um ehrlich zu sein: Ich weiß selbst nicht, welcher davon dein Vater ist.« Ihre Augen wurden feucht.

Jetzt stand Stille im Raum. Jula und ihre Mutter sahen einander nur an, doch was ihre Blicke dabei sagen wollten, schien wie mit Händen greifbar zu sein.

»Es ist okay.« Jula strich ihrer Mutter über die Schulter und rang sich ein Lächeln ab, wenn es auch nicht allzu herzlich ausfiel. »Ich bin glücklich, zu leben. Und ich bin glücklich, euch alle als meine Familie zu haben. Lass uns später darüber reden, wenn wir endlich alle Feinde aus der Vergangenheit besiegt haben. Das geht jetzt vor!«

Hegel war es, der die Stille durchbrach, die nach Julas Worten entstanden war: »Diese Sache mit der vorgetäuschten Demenz Ihrer Mutter hat natürlich auch sehr viel tiefer gehende Gründe, als Sie vielleicht annehmen. Ihnen muss klar sein, dass es nicht möglich ist, Ärzten, der Krankenkasse und dem Team eines spezialisierten Pflegeheims ein Jahr lang erfolgreich vorzuspielen, dass man dement ist.« Hegels sonore Stimme schwang klar und gleichermaßen beruhigend durch den Raum. »Wenn Ihre Mutter also ganz offiziell in dieser Klinik gelebt hat, dann …«

Jula fiel ihm ins Wort. »Dann hat irgendeine wichtige Behörde das Ganze organisiert, bezahlt und gedeckt. Was die Sache nicht gerade weniger beunruhigend macht.«

Jetzt war das einzige Geräusch im Raum das Piepen der Geräte, an die Benno Ansorge angeschlossen war.

»Diese Demenz war eine perfekte Tarnung. Ich hätte mich absetzen können, aber ich wollte unbedingt in Berlin bleiben. Sonst hätte ich keine Kontrolle mehr gehabt.« Julas Mutter flüsterte fast. »Doch ich musste dafür ohne jeden Zweifel vollkommen ungefährlich sein. So, wie es eine demente Frau ist. Was immer ich getan habe, was immer ich gewusst habe – mit der Demenz war das alles gelöscht. Mich in diesem Zustand noch zu foltern oder auch einfach nur zu töten wäre sinnlos gewesen. Es hätte Ermittlungen ausgelöst, schlafende Hunde geweckt und viel Staub aufgewirbelt, der sich jahrzehntelang so wunderbar gelegt hatte. Und diese Demenz war nicht allein zu meinem Schutz da. Indem offiziell niemals mehr irgendwas aus mir herauszubekommen war, hat sie auch als Schutz für alle gedient, die mir wichtig sind.«

Jula sah von einem Gesicht zum anderen. In keinem standen Fragezeichen, vielmehr waren es Noten von Schuldgefühl und schlechtem Gewissen, die sie bei Paul, Hegel und Moritz auszumachen meinte.

»Also gut.« Jula trat noch einmal an Bennos Krankenbett heran. Er schlief noch.

So bekommst du das unwürdige Spiel hier wenigstens nicht mit. Welche Rolle auch immer du darin gespielt haben magst.

Sie strich ihm mit sanftem Lächeln über die Wange. Erst danach baute sie sich wieder mit breitem Kreuz vor den anderen auf. »Okay, was zur Hölle ist hier los?«

Doch noch bevor einer der Angesprochenen Gelegenheit gehabt hatte, darauf zu antworten, wurde die Tür von außen aufgestoßen, und eine Ärztin kam in Begleitung von zwei Pflegern in den Raum.

»So, das ist für heute genug.« Die Ärztin sah streng in die Runde. »Herr Ansorge braucht sehr viel Ruhe, bitte lassen Sie ihn jetzt eine Weile allein.« Sie wandte sich Julas Mutter zu und sagte etwas zu laut und etwas zu theatralisch: »Frau Ansorge, wie schön, dass Sie auch hier sind! Wissen Sie denn, warum man Sie hergefahren hat?«

Jula sah zu ihrer Mutter, die nun die Augenlider hängen ließ und mit fahrigem Blick durch den Raum sah.

»Haben die Männer die Suppe schon probiert? Meine Oma hat sie gekocht.« Jutta Ansorge wiegte sich leicht hin und her.

»Wir wollten, dass ihr Mann sie in dieser schwierigen Lage sehen kann. Deswegen habe ich sie aus dem Pflegeheim abgeholt.« Paul, der vom Gericht als Jutta Ansorges gesetzlicher Betreuer eingesetzt war, nickte der Ärztin zu. »Sie bekommt nichts von dem Drama mit, das sich hier offenbar abgespielt hat.«

»Ich verstehe, das war sehr aufmerksam von Ihnen.« Die Ärztin nickte. »Aber setzen Sie Frau Ansorge dem Anblick ihres Mannes nicht zu lange aus. Demente Menschen bekommen oft mehr mit, als wir denken.«

Paul nickte. »Ja, da haben Sie wohl recht.«

5

Hegel

Sie haben sich bestimmt nicht nur einmal gefragt, warum in der letzten Zeit so viele außergewöhnliche Dinge passiert sind.« Hegel hatte sich mit Jula in den Innenhof der Klinik zurückgezogen.

»Um ehrlich zu sein, habe ich mich gerade eher gefragt, warum bis zu dieser Sache damals in Argentinien überhaupt nichts Außergewöhnliches passiert ist. So, wie es aussieht, scheint ja jeder Mensch, der mir auch nur ansatzweise nahesteht, irgendein absurd unwahrscheinliches Geheimnis mit sich herumzutragen.«

Hegel hätte gern geschmunzelt, denn tatsächlich war Julas Beobachtung absolut zutreffend. Allein das vergangene Jahr hatte für sie so viele Enthüllungen und Überraschungen bereitgehalten, dass sie vermutlich eine ganze Buchreihe darüber hätte schreiben können. »Wir können sehr froh sein, dass vorher nichts passiert ist. Die Behörden haben zuverlässige Arbeit geleistet. Aber wie es eben nun mal so ist – der Krug geht so lange zum Wasser, bis er bricht. Und das, was Ihre Mutter so lange vor Ihnen verheimlicht hat, war ein wirklich, wirklich großer Krug …«

»Aus dem jetzt, nachdem er gebrochen ist, jede Menge Wasser ausläuft.« Sie stemmte die Hände in die Hüfte. »Ich habe genug von Andeutungen und Halbwahrheiten. Also, raus damit!«

»Jula, Ihre Mutter war auch mal in Ihrem Alter. Und, nun ja, ich darf sagen: Sie kommen sehr stark nach ihr.« Hegel verzog keine Miene, er war sich der Ernsthaftigkeit der Situation höchst bewusst.

Wie Hegel Jula einschätzte, hätte sie ihn jetzt am liebsten heftig durchgeschüttelt und angeschrien, ihr gefälligst endlich zu sagen, was es zu sagen gab. Vollständig, ohne kryptische Andeutungen, Halbwahrheiten oder tiefgreifend klingende Parabeln. Aber sie tat nichts von alledem. Vermutlich um sich nicht als emotional, unvernünftig und somit letztlich als unwürdig zu erweisen, ihr endlich zu offenbaren, was ihr so lange verheimlicht worden war.

»Also gut.« Jula holte tief Luft. »Es geht um etwas, das meine Mutter in der Vergangenheit getan hat. Und die Behörden haben es ihr später ermöglicht, ihrer Umwelt vorzuspielen, dass sie dement wäre.« Sie atmete tief durch. »Was müsste man getan haben, damit es sinnvoll wäre, eine Demenz vorzutäuschen? Welchen Vorteil bringt einem das?« Jula wirkte sehr fokussiert. Vermutlich ohne es selbst zu bemerken, hatte sie die Augen halb geschlossen. »Man erkennt niemanden mehr, wenn man dement ist. Man erinnert sich nicht mehr an Erlebnisse, und man könnte selbst unter Drogen oder Folter nichts mehr preisgeben, was andere vielleicht wissen wollen. Vor Gericht hat die Aussage eines Dementen keinerlei Rechtskraft. Kurz gesagt, wer dement ist, stellt keine Bedrohung mehr dar für jemanden, der einen möglicherweise aus dem Weg räumen möchte, weil man zu viel weiß.«

»Und selbst wenn man herausfindet, wo der Demente sich aufhält, wäre es unsinnig, ihm etwas anzutun.« Hegel wahrte sein Pokerface. »Man würde damit grundlos Staub aufwirbeln und unnötigerweise eine Reihe sehr großer Risiken auf sich nehmen.«

»Und diejenigen, die sich meinen Vater geschnappt haben, müssen herausgefunden haben, dass meine Mutter im Heim für Demenzkranke lebt. Aber wer kann das gewesen sein? Und warum hat man überhaupt nach ihr gesucht?« Jula schloss die Augen. »Mein Vater …« Sie stockte, verzog das Gesicht und sprach weiter. »Also, Benno wollte uns etwas sagen. Aber das ging nicht, weil sein Kehlkopf verletzt ist. Sie haben gesagt, dass es möglich ist, seine Worte trotzdem zu entschlüsseln. Wenn das geht, worauf warten wir dann noch?«

»Überlegen Sie doch selbst. Merken Sie nicht, dass hier etwas merkwürdig ist?« Hegel sah Jula tief in die Augen.