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Band 2 der mitreißenden Thriller-Trilogie: Julius Kern – Spezialist für bizarre Fälle – ermittelt im Fall des »Schläfenmörders«! Drei Jahre, nachdem Hauptkommissar Julius Kern den »Putzteufel-Mörder« gefasst hat und wieder ins LKA zurückgekehrt ist, wird eine verstümmelte Frauenleiche ans Havelufer geschwemmt, und Kern steht vor einer neuen Herausforderung. Siebzehn Frauen hat der sogenannte »Schläfenmörder« in verschiedenen Bundesländern bereits getötet, jede auf eine andere Weise. Nur eines haben die Opfer alle gemeinsam – eine Schlagwunde an der rechten Schläfe. Inmitten der schwierigen Ermittlungen erhält Kern einen Brief von einem alten Bekannten: Tassilo Michaelis, freigesprochener Massenmörder und Kerns Erzfeind, scheint Informationen zu besitzen, die Kern auf die Fährte des Schläfenmörders führen könnten. Doch er verlangt dafür einen hohen Preis... Die Julius Kern-Thriller-Trilogie von Vincent Kliesch ist in folgender Reihenfolge erschienen: - Die Reinheit des Todes - Der Todeszauberer - Der Prophet des Todes
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Seitenzahl: 379
Veröffentlichungsjahr: 2025
Vincent Kliesch
Thriller
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Drei Jahre nachdem Julius Kern den Putzteufel-Mörder gefasst hat und wieder ins LKA zurückgekehrt ist, wird eine verstümmelte Frauenleiche ans Havelufer geschwemmt, und Hauptkommissar Julius Kern steht vor einer neuen Herausforderung. Siebzehn Frauen hat der sogenannte »Schläfenmörder« in verschiedenen Bundesländern bereits getötet, jede auf eine andere Weise. Nur eines haben die Opfer alle gemeinsam - eine Schlagwunde an der rechten Schläfe. Inmitten der schwierigen Ermittlungen erhält Kern einen Brief von einem alten Bekannten: Tassilo Michaelis, freigesprochener Massenmörder und Kerns Erzfeind, scheint Informationen zu besitzen, die Kern auf die Fährte des Schläfenmörders führen könnten. Doch er verlangt dafür einen hohen Preis...
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Widmung
PROLOG
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
58. Kapitel
59. Kapitel
60. Kapitel
61. Kapitel
62. Kapitel
63. Kapitel
64. Kapitel
65. Kapitel
66. Kapitel
67. Kapitel
68. Kapitel
69. Kapitel
70. Kapitel
71. Kapitel
DANKSAGUNG
Für alle, denen die Bühnenbretter die Welt bedeuten.
Stell dir vor, draußen in der Dunkelheit lauert jemand. Er wartet nur auf dich, darauf, dass du das Haus verlässt. Was ist das für ein Gefühl? Diese Ungewissheit, diese unsägliche Ungewissheit darüber, was er von dir will! Warte noch ein wenig, bald wirst du es wissen.«
Die junge Frau saß in einem alten Polstersessel, der seine beste Zeit schon hinter sich hatte. Das warme Licht flackernder Kerzen erhellte ihr Gesicht, die Schatten der Flammen tanzten über ihre Wangen und ihre Stirn. Sie hatte ihre Augen geschlossen und lauschte seinen Worten mit wachsender Anspannung. Seine Stimme drang direkt aus dem sie umgebenden Dunkel an ihr Ohr und ließ ihr dabei feine Schauer über den Rücken laufen.
Er hatte ihr an diesem Abend unglaubliche Dinge gezeigt. Doch das Faszinierendste, so hatte er ihr versprochen, würde nur sie selbst vollbringen können. Allein mit der Kraft ihrer Fantasie.
»Jetzt bist du noch in Sicherheit, beschützt von den großen, starken Mauern eines alten Hauses. Obwohl es nicht dein Haus ist, fühlst du dich sicher und beschützt. Aber bald wirst du es verlassen müssen, ganz allein, ohne irgendjemanden an deiner Seite, der dich beschützen könnte. Doch zuvor wirst du noch einige Gegenstände einpacken. Du wirst sie gut gebrauchen können, draußen, in deiner beängstigenden Ungewissheit. Jeden Schritt, den du von jetzt an gehst – gehe ihn mit Bedacht; jede Entscheidung, die du zu treffen hast – triff sie weise, denn ändern wirst du sie nicht mehr können.«
Sie nickte leicht, ohne es zu bemerken. Er betrachtete einen Augenblick lang ihr kräftiges, dunkles Haar und versuchte sich vorzustellen, wie es roch. Dann fuhr er fort.
»Drei Gegenstände wirst du aus dem Haus mitnehmen. Du wirst sie in eine Tasche legen, die du niemals aus den Augen lassen darfst. Denn ohne diese Gegenstände bist du verloren dort draußen. Du wirst sie alle drei benötigen, also wähle sie mit Sorgfalt.«
An der steigenden Geschwindigkeit ihrer Atmung merkte er, dass sie mit jedem seiner Sätze unruhiger wurde.
»Den ersten der drei Gegenstände holst du aus dem Keller. Nur widerwillig steigst du die alte, knarrende Treppe hinunter, hältst dich mit der linken Hand am Geländer fest. Du nimmst jede Stufe mit Bedacht und tastest dich langsam in die Dunkelheit vor. Die Kälte kriecht unter deine Kleidung und lähmt jede deiner Bewegungen. Schritt für Schritt steigt deine Unruhe, und du wünschst dir nichts sehnlicher, als so schnell wie möglich wieder zurück nach oben zu gelangen. Nun bist du am Fuß der Treppe angekommen und gehst an der nackten Lehmwand entlang in den nächsten Raum, den Werkzeugraum. Gegenüber am Fenster siehst du im schwachen, flackernden Licht der Deckenlampe einen Werkzeugkasten auf dem Boden stehen. Leise gehst du durch den Raum, bückst dich, hebst mit beiden Händen den schweren Deckel an und ertastest verschiedene Werkzeuge darin. Nur eines davon kannst du auf deinen Weg mitnehmen. Entscheide dich, damit du diesen dunklen Ort so schnell wie möglich wieder verlassen kannst. Egal, welches Werkzeug es ist, greife es rasch und stecke es in deine Tasche. Und dann: Lauf so schnell nach oben, wie du nur kannst!«
Es war ganz still in der kleinen Souterrainwohnung, in die er sie für sein magisches Experiment eingeladen hatte. Die junge Frau war nicht hypnotisiert, nur vollkommen entspannt und tief in seine Geschichte eingetaucht.
»Schnellen Schrittes nimmst du jetzt jede zweite Stufe und fühlst kurz darauf wieder die wohlige Wärme der oberen Räume. Von der Diele gehst du nun in Richtung Wohnzimmer. Im Türrahmen bleibst du stehen und betrachtest das beruhigende Bild, das sich dir bietet: Der Raum ist sanft erhellt durch das Licht von zahlreichen Kerzen, und während die Wärme in deine Glieder zurückkehrt und sich dein ganzer Körper wieder entspannt, betrachtest du den kunstvoll arrangierten Blumenstrauß, der in einer großen Vase auf dem dunklen Eichentisch in der Mitte des Raumes steht. Gebannt betrachtest du eine Weile lang die Szenerie. Doch dann lockt dich der Duft der Blumen. Du gehst langsam durch den Raum und riechst vorsichtig an dem Strauß. An jeder einzelnen Blume. Nimm jetzt die heraus, deren Duft dir am besten gefällt, und leg sie in deine Tasche neben das Werkzeug.«
Er genoss es, sie anzusehen. Sie war eine schöne Frau, intelligent und freundlich. Genau nach seinem Geschmack.
»Jetzt gehst du hinaus in den Flur, die Tasche mit der Blume und dem Werkzeug fest an deinen Körper gedrückt. Der Gang ist lang, viel länger, als es normale Flure sind. Du siehst dich aufmerksam um und stellst dabei fest, dass es hier alles gibt, was man gebrauchen kann, wenn man die verlässliche Sicherheit eines Hauses verlässt, um sich auf den Weg in die ungewisse Ferne zu machen. Sieh dich um, ganz in Ruhe. Dann wähle einen der nützlichen Gegenstände aus und lege ihn in die Tasche zu dem Werkzeug und der Blume. Doch vergiss nicht: Sobald du dich entschieden hast, kannst du deine Wahl nicht mehr rückgängig machen.«
Er saß ihr direkt gegenüber. Seinen Stuhl hatte er so nah an ihren Sessel gerückt, dass sie seine Worte förmlich spüren konnte. Er beugte sich etwas weiter zu ihr vor, um die Intensität seiner Worte noch zu steigern.
»Es ist so weit. Die Tür öffnet sich, und plötzlich wird es dunkel im Haus. Wo eben noch Wärme und Licht waren, gibt es plötzlich nur noch Kälte und Dunkelheit. Hörst du die Schritte, die sich dir nähern? Lauf! Lauf aus dem Haus, so schnell du kannst. Aber vergewissere dich, dass du die Tasche mit den drei Gegenständen bei dir trägst, denn ohne sie bist du verloren. Im Freien angekommen, siehst du eine Weggabelung. Das Licht des Mondes, das ab nun deine einzige Orientierungshilfe ist, scheint gerade hell genug, um sie zu erkennen. Entscheide dich für einen Weg und geh ihn, so schnell du kannst. Beeile dich – es ist alles andere als sicher hier draußen in der Dunkelheit. Und vergiss nicht, dass dir noch immer jemand folgt.«
Er sah die kleinen Regungen in ihrem schönen Gesicht und lächelte überlegen. Dann fuhr er fort.
»Du weißt noch immer nicht, wer es ist, der hier draußen auf dich gelauert hat, aber du glaubst, seine Schritte zu hören. Ganz langsam kommen sie dir näher. Du wagst es nicht, dich umzudrehen. Wie lange wird es noch dauern, bis er dich erreicht hat?«
Er spürte, wie tief sie in ihre Fantasie eingetaucht war, und las in ihrem Gesicht wie in einem offenen Buch.
»Du läufst immer weiter, so schnell du kannst, die drei Gegenstände sicher bei dir. Da, plötzlich versperrt dir etwas den Weg. Ein großes schwarzes Eisentor ragt vor dir in den Nachthimmel, zu hoch, um darüberzusteigen. Außerdem wird es von einem Wächter bewacht; unbemerkt kannst du es nicht überwinden. Aber du kannst nicht zulassen, dass es dich aufhält. Nicht jetzt, während dein Verfolger dir immer näher kommt. Was, so überlegst du fieberhaft, kannst du nur tun, um den Wächter dazu zu bringen, dir das Tor zu öffnen? Sieh in deine Tasche. Du trägst ein Werkzeug, eine Blume und einen nützlichen Gegenstand darin. Meinst du, der Wächter wird vielleicht etwas davon gebrauchen können? Welchen Gegenstand kannst du entbehren, und welchen willst du auf keinen Fall hergeben, hier draußen in der feindlichen Kälte der Nacht? Überlege nicht zu lange, deine Zeit wird knapp, und dein Vorsprung vor der Gestalt, die dir folgt, schmilzt mit jedem Augenblick, den du zögerst. Du nimmst jetzt einen Gegenstand aus deiner Tasche und reichst ihn dem Wächter. Er mustert dich mit kritischen Blicken. Seine Uniform ist schwarz, mit hohen Stiefeln und einer Mütze, die er tief in sein zerfurchtes Gesicht gezogen hat. Jetzt greift er nach dem Gegenstand, den du ihm reichst, und betrachtet ihn kritisch. Dann verziehen sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln, und er öffnet das Tor gerade so weit, dass du hindurchpasst. Immer noch lächelnd, hebt er seine Hand zum Gruß und weist dir mit einem leichten Nicken den Weg. Lauf! Du hast wertvolle Zeit verloren.«
Er machte eine kurze Pause. Sie hatte jetzt klare Bilder vor ihrem geistigen Auge und konnte es kaum erwarten, das Ende der Geschichte zu erfahren.
»Zwei Gegenstände trägst du noch bei dir. Du läufst immer schneller, und irgendwo weit hinten am Horizont glaubst du Lichter zu sehen. Die Lichter einer großen, modernen Siedlung, die Sicherheit versprechen. Mit jedem Moment, den du zögerst, wird die Dunkelheit mächtiger, die dich umgibt. Dein Weg führt dich jetzt in einen Wald; die hohen Bäume stehen sehr dicht. Das Licht des Mondes dringt dort nur noch spärlich zu dir vor. Du musst jetzt etwas langsamer gehen, wenn du nicht fallen willst. Und das, obwohl du noch immer verfolgt wirst. Angst und Kälte schnüren dir die Kehle zu und beschleunigen deine Schritte wieder. Du rennst, so schnell du kannst. Die kalte Luft brennt unangenehm in deinem Hals und lässt deine Augen tränen. Plötzlich dringt ein Schluchzen an dein Ohr und lässt dich innehalten. Du schaust dich um und erkennst gerade noch, wie ein Kind aus der Dunkelheit tritt. Der Anblick des kleinen Mädchens hier draußen, mitten im Wald, lässt dich frösteln. Obwohl es kalt ist, trägt sie nichts weiter als ein hauchdünnes Seidenkleid, das gerade bis zu ihren Knien reicht. Ihre kleinen Füße sind nackt, Schuhe trägt sie keine. Allein ihre großen blauen Augen leuchten in der Dunkelheit.«
Mit einer Kunstpause verstärkte er ihre Anspannung.
»In den Augen des Kindes siehst du Tränen; du spürst in diesem Augenblick keine Angst, nur Mitgefühl. Du weißt nicht, zu wem das Kind gehört und wie es hierhergekommen ist, aber du weißt, dass du ihm helfen musst. Öffne deine Tasche. Was befindet sich noch darin? Das Werkzeug, die Blume, der nützliche Gegenstand? Entscheide, was davon du nun dem Kind gibst, aber vergiss dabei nicht, dass du den letzten Gegenstand noch brauchen wirst.«
Er spürte ihre Erleichterung, als sie anscheinend glaubte, eine gute Wahl getroffen zu haben. Er wartete noch einige Sekunden, bevor er fortfuhr. Das Finale musste präzise inszeniert werden.
»Deine Füße tragen dich jetzt immer weiter, immer schneller. Du erreichst das Ende des Waldes, und der Mond erhellt nun wieder mit seiner vollen Kraft den kurzen Rest des Weges, der noch vor dir liegt. Die Lichter der Siedlung kommen näher, die Umrisse der Häuser werden schärfer. Dein Weg führt dich jetzt direkt ins Innere des Dorfes, und du entdeckst ein Haus, das dir bekannt vorkommt. Du bist heute Abend schon einmal hineingegangen. Und jetzt verstehst du, wohin dein Weg dich geführt hat. Du vergisst alles um dich herum und gehst noch einmal in dieses Haus, die Tasche dabei noch immer fest im Griff. Ein letzter Gegenstand befindet sich noch darin. Als du das Zimmer betrittst, kommt es dir vertraut vor, denn du hast es heute Abend schon einmal betreten. Du siehst einen gemütlichen Sessel, den du bereits kennst. Du hast heute schon einmal darauf Platz genommen. Jetzt tust du es ein weiteres Mal, stellst die Tasche mit dem verbliebenen Gegenstand neben dir ab und schließt die Augen. Atme noch einmal tief durch, sodass Fantasie und Wirklichkeit langsam wieder miteinander verschmelzen können. Was wird geschehen, wenn du gleich deine Augen öffnest?«
An dieser Stelle lag eine Spannung in der Luft, die er über alles liebte. Diese Spannung war für ihn mehr als bloßer Nervenkitzel. Sie war magisch.
»Öffne deine Augen«, sagte er schließlich.
Es dauerte einige Sekunden, bis sie seiner Aufforderung folgte.
»Und?«, fragte sie vorsichtig.
»Sieh neben den Sessel.«
Sie tat, was er sagte, und bemerkte, dass dort eine alte Ledertasche stand, die zuvor noch nicht da gewesen war.
»Du hast sie eben selber dort hingestellt, oder etwa nicht? In deinen Gedanken.«
Antworten konnte sie nicht; sie hatte einen dicken Kloß im Hals, der sie am Sprechen hinderte. Deshalb nickte sie nur.
»Nimm jetzt die Tasche auf den Schoß und mach sie auf«, fuhr er fort.
Sie hob die alte Tasche vorsichtig an und öffnete den rostigen Verschluss. Nur ganz langsam traute sie sich hineinzusehen. Nur ein einziger Gegenstand befand sich darin.
»Hast du diesen Gegenstand im Haus gewählt? Und ist er während deiner Wanderung bis jetzt in der Tasche geblieben?«, fragte er.
Sie nickte völlig verstört.
»Nimm ihn jetzt heraus.«
Sie griff in die Tasche und zog einen blank polierten Hammer hervor.
»Die Rose hast du ja schon verschenkt«, hauchte er.
Woher wusste er das? Sie sah ihn fassungslos an. Er streckte seine Hand aus und deutete mit einem Nicken an, dass sie ihm den Hammer geben solle.
»Es waren allein deine Entscheidungen, die du auf deinem Weg getroffen hast«, stellte er flüsternd fest. »Wir alle sind allein das Ergebnis der Entscheidungen, die wir treffen.«
Er erhob sich, bedacht darauf, mit der Wirkung seiner theatralischen Bewegung die Dramatik des Augenblicks noch zu steigern. Dann sagte er:
»Ich war es, der dir aufgelauert hat. Und ich war es auch, der dir gefolgt ist, draußen, in der Dunkelheit.« Noch bevor sie begreifen konnte, was geschah, holte er auch schon aus und schlug ihr den Hammer mit einem präzisen Hieb gegen die Schläfe.
Egal, wie sehr man Berlin auch liebt, manchmal kann es einen wirklich in den Wahnsinn treiben.
Über zehn Minuten hatte Julius Kern allein dafür gebraucht, seinen Dienstwagen die zwei Kilometer vom Ende der Friedrichstraße bis zur Kreuzung Mehringdamm/Gneisenaustraße zu bewegen. Von dort war es nur noch ein Katzensprung bis zum Hauptgebäude des LKA Berlin. Kern würde es trotzdem nicht pünktlich ins Büro schaffen, darüber war er sich im Klaren. Irgendwo an einer Ampel weiter vorn war jemand seinem Vordermann aufgefahren. Anstatt nun aber die Fahrbahn frei zu machen, war der offensichtliche Unfallverursacher mit dem Geschädigten in eine lautstarke Diskussion über die vollkommen unstrittige Schuldfrage geraten. Es war bereits der zweite Stau auf Kerns Weg ins Büro.
Julius Kern war Hauptkommissar beim Dezernat Delikte am Menschen, seit er drei Jahre zuvor aus dem benachbarten Brandenburg in die Hauptstadt versetzt worden war.
Bestimmt zum zehnten Mal an diesem Vormittag spielte er mit dem Gedanken, seine Sirene auf das Wagendach zu setzen, um so dem Stop and Go des Großstadtverkehrs zu entkommen. Als wohlerzogener Sohn eines Schuldirektors war er dafür aber viel zu pflichtbewusst. So hielt er geduldig vor einer weiteren roten Ampel und wartete.
»Welchen Teil von Nein hast du Arschloch nicht verstanden?!«, schrie plötzlich jemand aus dem Wagen, der vor Kern an der Ampel stand. Die Kreuzung war seit Jahren ein Treffpunkt von Punks, die auf der Mittelinsel warteten, um für Trinkgeld oder Zigaretten die Windschutzscheiben der an der Ampel wartenden Fahrzeuge mehr schlecht als recht zu säubern. Im Normalfall gegen den Willen der Fahrer.
»Jeden beschissenen Tag komme ich an diese Ampel! Jeden beschissenen Tag kommt einer von euch Pennern an und winkt mit seinem Scheißwischer! Jeden beschissenen Tag sage ich Nein, und jedes Mal malt ihr mir ein verkacktes Herz auf die Scheibe!«, schrie der zierliche Mann, der offensichtlich vollkommen mit den Nerven am Ende war.
Der Punk hätte gut daran getan, einfach weiterzugehen. Offensichtlich aber war er sich dessen nicht bewusst.
»Halt doch die Fresse, du Wichser!«, rief er dem Mann entgegen und klatschte ihm einen großen Spritzer seines schmutzigen Wischwassers auf die Scheibe.
Kern hoffte, dass die Ampel schnell grün werden würde. Er hätte sich ungern zum Eingreifen gezwungen gesehen; das konnte die Lage nur verschärfen. Die anderen Punks hatten jetzt aber mitbekommen, was passiert war, und liefen auf das Fahrzeug des Mannes zu. Von mehreren Seiten näherten sich die ungepflegten Männer dem Wagen. Mit ihren zahlreichen Tattoos und Piercings wirkten sie auf den akkurat und gepflegt gekleideten Autofahrer höchst bedrohlich, was seine Aufregung weiter steigerte.
»Jetzt reicht’s!«, rief er und sprang aus seinem Wagen.
Endlich schaltete die Ampel auf Grün. Sofort begannen die anderen Autofahrer lautstark zu hupen. Die Punks, zwei davon mit Hunden, liefen zügig auf den außer sich geratenen Mann zu und schienen ihn angreifen zu wollen. Kern entschied, nun doch auszusteigen und die Situation zu klären.
Doch bevor er dazu kam, zog der Mann plötzlich einen Revolver und richtete ihn mit zittriger Hand auf die herannahenden Punks, die ihre Schritte daraufhin verlangsamten.
»Habt ihr ein Problem, ihr Wichser?«
Der Punk, der noch immer vor dem Bewaffneten stand, war zu betrunken, um sich der Gefahr bewusst zu werden, in der er sich plötzlich befand.
»Komm doch her, wenn du was willst!«, provozierte er sein gereiztes Gegenüber.
Kern musste innerhalb von Sekunden entscheiden, was zu tun war. Nicht nur die Punks waren in Gefahr. Schaulustige standen überall um die belebte Kreuzung herum und sahen sich das Spektakel an, als sei es eine Theaterinszenierung. Einige von ihnen verschärften die angespannte Situation sogar noch mit provozierenden Rufen. Unter keinen Umständen durfte es zu einem Schusswechsel kommen. Was aber, wenn Kern seine Pistole ziehen und den Mann damit bedrohen würde? Gereizt und in die Enge gedrängt, wie er war, hätte er womöglich sofort abgedrückt.
Seine Waffe ist wahrscheinlich nicht echt. Aber wenn doch …? Kern griff nach seiner Pistole. Er hatte keine Wahl und musste sofort handeln. Als er die Tür seines Wagens gerade öffnen wollte, hörte er eine Stimme.
»Lassen Sie die Waffe fallen und legen Sie die Hände auf den Kopf!«
Der Streifenwagen, der wegen des Auffahrunfalls gerufen worden war, war eingetroffen. Die Beamten hatten den Streit bemerkt und sofort reagiert. Der bewaffnete Autofahrer starrte die beiden Schutzpolizisten mit schweißbedeckter Stirn an und überlegte fieberhaft, was er tun sollte. Kern blieb jetzt doch in seinem Auto.
Besonnen und konzentriert griff er zum Handy und rief die Zentrale an.
»Ich brauche sofort den Halter eines Fahrzeugs«, sagte er und gab das Kennzeichen des Wagens vor ihm durch.
»Endlich zeigt’s denen mal einer!«, rief ein kleiner, drahtiger Mann, der sich offenbar ebenfalls von den Windschutzscheibenwischern belästigt fühlte. »Die sollen sich Arbeit suchen, statt ehrliche Bürger zu belästigen!«
Die aufgebrachten Hunde der Punks, die langsam zurückwichen, bellten ohne Unterbrechung. Zudem riss das Hupkonzert der gereizten Autofahrer nicht ab. Das lärmende Durcheinander von Schreien, Hupen und Hundegebell vermischte sich zu einem einzigen quälenden Geräusch, das jeden der Beteiligten unter immer stärkeren Druck setzte und die Gefahr einer fatalen Kurzschlusshandlung von Sekunde zu Sekunde steigerte.
»Es ist meine letzte Warnung: Lassen Sie die Waffe fallen!«, wiederholte der Polizist.
Hoffentlich hat der Kollege keinen nervösen Finger. Sonst gibt es hier gleich ein Blutbad.
Der Angesprochene folgte der Aufforderung nicht. Stattdessen sprang er auf den Punk schräg vor sich zu und presste ihm den Lauf seines Revolvers gegen den Kopf.
»Schnappt euch lieber den hier!«, schrie er wütend. »Jeden Tag wird man von denen belästigt! Und vor dem Supermarkt stehen die Penner mit ihren Scheißzeitungen, in denen nur Rotz drinsteht! Und die Zeugen Jehovas quatschen einen voll! Und wenn man nach Hause kommt, rufen diese beschissenen Callcenter an und wollen einem Dreck verkaufen. Überall geht einem jemand auf den Sack!«
Die immer zahlreicher werdenden Schaulustigen riefen weiter ihre Kommentare. Die einen unterstützten den Mann mit dem Revolver, die anderen die Punks.
»Hey, Lars, lange nicht gesehen! Wie geht’s dir?«, fragte Kern den Geiselnehmer plötzlich in einem lockeren Ton, der absolut nicht in die angespannte Situation passte. Er war aus seinem Wagen ausgestiegen und von hinten an den wütenden Mann herangetreten. Der Angesprochene drehte sich um, ohne dabei seinen Revolver zu senken.
»Kennen wir uns?«, fragte er überrascht.
»Klar, erinnerst du dich nicht? Na ja, ist lange her. Wollten wir nicht mal einen trinken gehen?«
Die Polizeibeamten, die weiter ihre Pistolen auf den Autofahrer richteten, kannten Kern nicht.
»Steigen Sie sofort wieder in Ihr Fahrzeug!«, riefen sie ihm schroff zu.
Kern ignorierte die Aufforderung und sprach weiter in freundlichem Ton zu dem Geiselnehmer.
»Wie geht’s Linda?«
Er hatte über die Zentrale die Namen des Fahrers und seiner Frau herausgefunden. Lars Varbelow war achtundvierzig Jahre alt, auf seinen Namen war keine Waffe registriert.
Sie ist bestimmt nicht echt. Eine Gaspistole. Damit laufen Hunderte durch Berlin.
»Was? Äh … gut«, stotterte Varbelow verwirrt.
»Ein schönes Auto hast du. War sicher nicht billig«, fuhr Kern fort.
Er ist total aus dem Konzept.
Unaufhörlich bellten die Hunde, und das Hupen der Fahrzeuge zerrte unerträglich an den Nerven. Varbelow stand unter enormem Stress. Zudem hatte er keine Chance zu entkommen. Und genau das machte Kern Angst.
»Gib mal her«, sagte er mit unglaublicher Selbstverständlichkeit und deutete auf den Revolver.
Varbelow sah Kern an. Er würde innerhalb der nächsten Sekunden eine Entscheidung treffen. Wäre es die falsche, konnten Menschen sterben. Daran hatte Kern, der jetzt selbst im Schussfeld stand, keinen Zweifel.
»Ich knall euch alle ab!«, brüllte Varbelow plötzlich und stieß den Punk von sich.
Jetzt!
Der Rest dauerte keine drei Sekunden. Varbelow richtete seine Waffe auf Kern. Der bekam blitzschnell dessen Arm zu fassen, drehte ihn mit einem geübten Griff herum und warf ihn auf den kalten Asphalt. Ein Schuss löste sich.
Verdammt!
Kern griff sofort nach dem Revolver, brachte ihn in seine Gewalt und warf sich dann mit seinem ganzen Gewicht auf den Liegenden. Sofort stürmten die Polizisten auf die beiden zu, rissen Kern zur Seite und fixierten Varbelow am Boden.
»Geben Sie den her!«, rief ein Beamter Kern zu und streckte seine Hand nach dem Revolver aus.
»LKA«, antwortete er und zog seinen Dienstausweis.
Der Beamte nickte und legte dem vollkommen perplexen Varbelow zügig Handschellen an. Dann öffnete Kern die Trommel des Revolvers. Es war keine Attrappe. Kern sah sich suchend um, inständig hoffend, nur niemanden am Boden liegen zu sehen. Der Punk saß schimpfend auf dem schmutzigen Bordstein, die Hunde bellten weiter, und die Schaulustigen hörten nicht auf, den Einsatz zu kommentieren.
Keiner verletzt. Zum Glück.
Gerade als Kern die Kollegen von der Schutzpolizei unterstützen wollte, klingelte sein Handy. Auf dem Display sah er, wer ihn anrief.
»Daniela, was gibt’s denn?«, meldete er sich.
Daniela Castella war die Dezernatsleiterin der Abteilung 1, Delikte am Menschen, im LKA Berlin. Eine kleine, entschlossene Frau, ebenso hart wie gerecht.
»Wo sind Sie?«, erkundigte sie sich.
»Gneisenaustraße.«
»Da, wo immer die Punker stehen?« Kern schmunzelte.
»Die machen gerade Pause«, antwortete er. »Die Autofahrer sind heute ein bisschen gereizt.«
»Gut, dann fahren Sie mal schnell in die Havelchaussee. Wir haben Besuch.«
Kern kannte den Unterton, den seine Vorgesetzte in ihre Worte gelegt hatte. Ihm war schlagartig klar, dass etwas Außergewöhnliches geschehen sein musste.
»Wen?«, fragte er besorgt.
»Den Schläfenmörder. Er ist jetzt bei uns.«
Während die Kreuzung in einem absoluten Chaos zu versinken drohte, erfasste Kern die Bedeutung dessen, was Castella gerade gesagt hatte.
»Verwechslung ausgeschlossen?«, fragte er sicherheitshalber nach.
»Scheint so«, erhielt er zur Antwort. »Also fahren Sie los! Der Erkennungsdienst ist schon da. Und Dennis kommt auch gleich.«
Castella beendete das Gespräch.
Das wüste Geschehen um ihn herum war für Kern mit einem Schlag bedeutungslos geworden. Alles schien sich auf einmal in Zeitlupe abzuspielen, und da, wo eben noch tosender Lärm gewesen war, schien plötzlich absolute Stille zu herrschen. Während die Beamten alle Hände voll zu tun hatten, die verworrene Lage unter Kontrolle zu bringen, war das Einzige, das Kern nun im Gewirr bemerkte, eine Wildtaube. Sie flog gemächlich vom Dach eines kleinen Imbisses in Richtung Berlin-Mitte.
In Kerns Magen regte sich ein Gefühl, das er seit Jahren nicht gespürt hatte. So absurd es jetzt auch erscheinen mochte: Kern fühlte sich allein. Denn wenn der Schläfenmörder wirklich in Berlin war, hatte er es soeben mit einem Serienmörder zu tun bekommen, an dem sich bereits ganze Sonderkommissionen jahrelang die Zähne ausgebissen hatten.
Einen Wimpernschlag lang huschte ein Lächeln über seine Lippen, als ihm ein Gedanke kam:
Wenigstens kann ich jetzt die Sirene benutzen.
Die Havelchaussee im Süden Berlins ist über zehn Kilometer lang. Sie führt mitten durch den Grunewald am Ostufer der Havel entlang und ist wegen ihrer wunderschönen Landschaft ein beliebtes Ausflugsziel der Berliner.
Auch Kern war an manchen Wochenenden mit seiner Frau Nathalie und seiner Tochter Sophie dort hinausgefahren. Es war ein traumhafter Ort, vor allem im Sommer. Weitab vom Trubel der anonymen Großstadt. Auch an diesem Sommertag schien die Sonne warm auf die Chaussee hinunter. Wären die beiden Säcke mit den Leichenteilen nicht gewesen, hätte sich Kern wie auf einem Ausflug gefühlt.
Die Schutzpolizei hatte einen großen Teil des Ufers abgesperrt; mehrere Einsatzwagen sicherten den Fundort. Der Erkennungsdienst tat, was er konnte, aber viel gab es für ihn nicht zu finden. Schließlich waren die Säcke nur zufällig gerade hier ans Havelufer geschwemmt worden.
Kern näherte sich bedächtig dem einen der beiden Säcke. Der zweite lag etwa hundert Meter weiter westlich. Er würde ihn sich später ansehen.
Der abgetrennte Oberkörper der jungen Frau war weder verwest noch aufgeschwemmt. Ihr Mörder hatte ihn mit viel Mühe wasserdicht eingewickelt. Kern erkannte sofort das typische Merkmal des mysteriösen Serientäters, den seine Kollegen bereits in neun Bundesländern vergeblich suchten: die Wunde an der rechten Schläfe.
Du warst eine schöne Frau. Warum hat er dir das angetan?
Dr. Adrian Homann von der Gerichtsmedizin war bereits eingetroffen, um die erste Leichenschau am Fundort vorzunehmen. In einem weißen Schutzanzug hatte sich der groß gewachsene Mediziner bereits einen Eindruck vom Zustand des Opfers gemacht. Er war sofort zu Kern gelaufen, als er ihn bemerkt hatte.
»Als er sie zersägt hat, war sie da …?«, fragte Kern ohne aufzublicken.
»Noch am Leben?«, erwiderte Homann. »Ich fürchte schon. Aber nicht mehr bei Bewusstsein, sonst gäbe es Kampfspuren. Und der Schnitt wäre unsauberer.«
Der Arzt deutete auf die Verletzung an der Schläfe.
»Schweres Schädelhirntrauma«, erklärte er. »Sonst wäre sie wach geworden. Niemand bleibt bewusstlos, wenn er zerteilt wird. An der Kopfverletzung wäre sie übrigens auch gestorben.«
»Aber dazu hat er es nicht mehr kommen lassen«, entgegnete Kern mit einem mitfühlenden Unterton. »Wer hat sie gefunden?«
»Ein Spaziergänger. Genauer gesagt sein Hund.«
»Ist der Mann vernehmungsfähig?«
»Dem geht’s gut. Er hat den Kollegen schon alles erzählt, aber viel war das natürlich nicht.«
Kern sank auf die Knie, um sich den angeschwemmten Müllsack genauer ansehen zu können. Im ersten war der Oberkörper des Opfers gefunden worden, im zweiten der Unterleib.
»Die Säcke kriegt man in jedem Supermarkt. Ich hab selber solche zu Hause«, stellte Kern fest. »Hat der Erkennungsdienst denn schon was Interessantes gefunden?«
Dr. Homann zuckte mit den Schultern.
»Na ja, außen ist alles weg. Das Wasser … Aber im Innern der Säcke finden die sicher was.«
»Wie lange ist sie denn schon tot?«
»Schwer zu sagen«, antwortete der Arzt. »Es gibt drei sichere Todeszeichen: Totenflecken, Leichenstarre und Fäulnis. Das Problem ist: Er hat sie zersägt. Im Körper ist kein Blut mehr.«
»Also gibt es auch keine Totenflecken«, kombinierte Kern.
Adrian Homann nickte mit einer Note von Resignation, ging auf die Knie und griff den linken Arm der Toten. Er war steif. Es gelang dem Arzt nur mit einiger Kraft, ihn nach innen zu beugen. Danach fiel er dann von selbst auf den Boden zurück.
»Also, nach dem Status der Leichenstarre ist sie zwischen acht und vierundzwanzig Stunden tot. Genauer finde ich das hier nicht raus.«
Kern sah prüfend auf die Havel hinaus.
»Die Strömung ist nicht besonders stark. Wenn sie hier angetrieben ist, dann hat er sie auch irgendwo in der Nähe ins Wasser geworfen. Also ist sie länger als acht Stunden tot.«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Homann neugierig.
»Die Havelchaussee ist zwischen Mitternacht und sechs Uhr für den Privatverkehr gesperrt. Mit einer Leiche im Auto wird er nicht riskiert haben, angehalten zu werden.«
Homann nickte.
»Wenn er die Säcke beschwert hätte, wären sie erst viel später aufgetaucht. Vielleicht sogar gar nicht«, bemerkte er dann.
»Der wollte doch, dass wir sie finden.«
Kern sah noch einmal in das tote Gesicht des Opfers. Was mochte das Letzte gewesen sein, das ihre Augen gesehen hatten? Welche Schrecken mochten ihrem grausamen Tod vorangegangen sein?
»Wir sollten ihre Leiche finden. Aber wir sollen nicht wissen, wo er es getan hat«, sagte er dann. »Der Fundort ist vollkommen beliebig. Das macht der seit Jahren so. Ich wüsste nicht, dass die Kollegen jemals einen seiner Tatorte gefunden hätten.«
»Haben sie nicht«, fügte plötzlich jemand hinzu, der von hinten unbemerkt an die beiden herangetreten war.
Kern kannte den jungen, sportlichen Mann gut und begrüßte ihn mit einer freundschaftlichen Umarmung.
»Dennis, warum so spät? Hat Suzi dich nicht aus dem Bett gelassen?«
Dennis Baum war Oberkommissar beim LKA und Kerns Kollege. Bei einem Schusswechsel drei Jahre zuvor hatte er den größten Teil seines rechten Ohres verloren, den jetzt eine kaum erkennbare Prothese ersetzte. Gleichzeitig hatte er damals aber auch seine große Liebe gefunden. Suzana Kostic, die alle nur Suzi nannten.
»Wenn’s mal an Suzi gelegen hätte«, antwortete er. »Die ganze verdammte Stadt spielt mal wieder verrückt. Am Mehringdamm ist ein Bekloppter mit einer Waffe auf Punks losgegangen. Stau ohne Ende.«
»Sachen gibt’s …«, entgegnete Kern kopfschüttelnd. Dann wandte er sich wieder der Leiche zu. »Wissen wir schon, wer sie war?«
»Noch nicht«, antwortete Homann. »Ihre Taschen waren leer.«
Kern wunderte sich nicht.
»Das sollen wir schön selber rausfinden.«
»Was glaubst du, warum er das macht?«, fragte Dennis.
Er kannte Kerns besonderes Gespür für die Psyche von Mördern. Kaum jemand konnte sich so in seine Gegner hineinversetzen wie er. Und auch, wenn alle Kollegen im LKA Kerns Fähigkeiten bewunderten, gab es doch nicht wenige, denen sie ebenso unheimlich waren.
»Es kostet zunächst mal Zeit«, antwortete Kern. »Er fährt durchs Land und tötet Frauen. Und je länger wir brauchen, deren Identität zu finden, umso mehr Zeit hat er weiterzuziehen.«
Dr. Homann warf noch einmal einen Blick auf den Fundort.
»Hier findet ihr jedenfalls keine Spuren«, stellte er fest.
»Ich fürchte auch. Fahr lieber in die Gerichtsmedizin und untersuch sie da«, entgegnete Kern. »Dennis, du checkst die Blitzanlagen in der Gegend, vor allem auf Mietwagen und Fahrzeuge von außerhalb. Er ist nicht aus Berlin.«
»Ich kann mir sogar vorstellen, dass er schon gar nicht mehr in der Stadt ist«, entgegnete Dennis.
Kern überlegte. Er hatte sich mit dem Fall nie wirklich beschäftigt; schließlich hatte sich bislang keiner der Morde in Berlin oder Brandenburg zugetragen. Trotzdem war der geheimnisvolle Schläfenmörder in Polizeikreisen bekannt.
»Kann sein«, antwortete er schließlich. »Aber selbst wenn nicht: Er war hier. Und er kann diese Sauerei nicht begangen haben, ohne etwas von sich zurückzulassen.«
Dennis kannte diesen ganz bestimmten Glanz in den Augen seines Kollegen. Kern hatte sich offensichtlich vorgenommen, dieser schrecklichen Mordserie ein Ende zu setzen. Gut möglich, dass er es sogar schaffen wird, dachte Dennis. Aber so, wie er Kern kannte, bewegte den in diesem Moment ein ganz anderer Gedanke: Was, wenn es ihm nicht gelingen würde?
»Er ist ein Phantom«, gab Dennis zu bedenken. »Die Kollegen haben seit Jahren keine echte Spur.«
Kern antwortete nicht. Er sah nur noch einmal den verstümmelten Körper des Opfers an und lief auf das Wasser zu. Er kniff die Augen leicht zusammen, als sich die Sonne auf der Oberfläche des Wassers spiegelte. Dann ging er noch einige Schritte weiter durch den Sand auf das Ufer zu und blickte eine Weile still auf die weit entfernten Bäume, die das Wasser umgaben.
Erst als niemand ihn mehr hören konnte, hauchte er schließlich leise in den Wind:
»Egal, wo du dich versteckst. Ich werde dich finden. Bald.«
Das Institut für Rechtsmedizin befand sich in der Invalidenstraße in Berlin-Moabit. Der Sektionssaal bot eine kalte, unfreundliche Arbeitsumgebung. Allein die gelben Wandfliesen und die blauen Kittel des Rechtsmediziners und seines Assistenten brachten ein wenig Farbe in den tristen Raum, der durch Milchglasscheiben vor Blicken von außen geschützt war. Die Leichenhälften der unbekannten Frau lagen mit etwas Abstand zueinander vor Dr. Adrian Homann auf dem Sektionstisch, als Kern und Dennis den Raum betraten.
»Und, wie sieht’s aus?«, begann Kern.
Man konnte Dr. Homann, der in seiner Laufbahn bereits viele Hundert Sektionen vorgenommen hatte, anmerken, dass der Fall selbst für ihn sehr ungewöhnlich war.
»Also, ich habe zwei konkurrierende Todesursachen festgestellt«, begann er so sachlich, wie es ihm angesichts der Situation möglich war. »Zum einen die Prellmarke an der Stirn. Zum anderen Verbluten nach Durchtrennen des Körpers. Schwer zu sagen, was zuerst zum Tod geführt hat. Ich tippe aber auf Verbluten.«
Homann griff zu einem Klemmbrett, auf dem er sich zwischendurch Notizen zu seinen Untersuchungsergebnissen machte. Sein Kugelschreiber funktionierte nicht; er rieb erst langsam, dann immer energischer damit auf dem Papier herum.
»Die Mine habe ich gerade erst eingesetzt«, grummelte er.
»Was ist mit der Tatwaffe?«, wollte Dennis wissen.
»Mit ziemlicher Sicherheit ein Hammer. Hier, seht mal.«
Homann richtete die Sektionslampe auf die Stirn der Frau.
»Das ist ganz eindeutig ein Hammerabdruck. Das kann man vor allem an den Abrundungen der Ränder gut erkennen. Ich habe zwar noch keine Unterlagen aus den anderen Bundesländern, aber ich sage euch jetzt schon, dass die Ausprägung der Wunde, die Schlagrichtung und die Form mit denen der anderen Opfer übereinstimmen werden. Zumal unser Täter auch Linkshänder ist.«
Kern nickte. Er ging ebenfalls davon aus, dass es sich hier wirklich um ein neues Opfer des Schläfenmörders handelte.
»Was ist mit der anderen Verletzung?«, fragte er dann.
»Das ist wirklich außergewöhnlich«, begann Homann und sah zu seinen Gästen auf. »Er hat die Frau nämlich an der unsinnigsten Stelle durchtrennt, die man sich überhaupt nur aussuchen kann.«
Homann schraubte seinen Kugelschreiber auf und entnahm die leere Mine. Dann lief er zu einer Schublade, öffnete sie und suchte darin nach einer neuen.
»Wie meinst du das?«, wollte Kern wissen.
»Hätte er ein paar Zentimeter weiter oben gesägt, hätte er nur die Wirbelsäule durchtrennen müssen. Das hätte so etwa fünf Minuten gedauert. Aber stattdessen hat er sich das Becken ausgesucht.«
»Und wie lange dauert das?«
»Also, wenn er mit Engagement dabei ist und es ihm wirklich wichtig ist, dann vielleicht fünfzehn Minuten. Aber es ist ja nicht nur der massive Knochen, den er durchtrennen muss. Er trifft dabei die Beckenarterie, und das Blut spritzt in großen Stößen aus der Wunde. Das gibt eine Riesensauerei. Und es dauert bestimmt fünf bis sieben Minuten, bevor das Opfer verblutet ist. Dazu kommt, dass er sehr wahrscheinlich mit einer grobzackigen Säge zu Werke gegangen ist.«
Homann gab seine Suche nach einer Kugelschreibermine auf und richtete jetzt das Licht der Sektionslampe auf die Schnittstelle.
»Das ist total unsauber und ausgefranst gesägt«, fuhr er fort.
»Er hat mehr gerissen als geschnitten, zumindest die Weichteile. Das ist ihm hier alles aufgefasert – grausam.«
»Kann es sein, dass er sie foltern wollte?«, fragte Kern. Homann schüttelte den Kopf.
»Sie war da schon so gut wie gestorben. Nein, aus medizinischer Sicht war sein Ziel der Tod. Und natürlich das Zerteilen der Leiche an sich.«
»Aber warum sucht er sich dann die schwierigste Stelle zum Sägen aus?«
»Vielleicht wollte er es genießen. Oder weil er einfach keine Ahnung von Anatomie hat. Ein Arzt wäre jedenfalls nicht so vorgegangen«, antwortete Homann.
»Vielleicht hat sie am Stück nicht in sein Auto gepasst. Oder sie war zu schwer für ihn«, überlegte Kern.
»Jedenfalls muss er sich am Tatort sehr sicher gefühlt haben«, warf Homann ein. »Nachdem er fertig war, muss es da ausgesehen haben wie in einem Horrorfilm. Und er selber muss auch vollkommen mit Blut beschmiert gewesen sein. Und dann hat das alles auch noch angefangen zu riechen …«
»Er musste also absolut sicher sein, dass ihn niemand überrascht?«
»Bei der Sauerei? Absolut, ja«, entgegnete Homann.
»Wann haben wir den Bericht?«, wollte Kern wissen.
»Das hängt davon ab, wann ich einen Stift finde, der funktioniert.«
Kern griff in seine Tasche und zog einen Kugelschreiber hervor. Er reichte ihn Homann.
»Aber nicht verbummeln! Das ist Staatseigentum«, sagte er.
»Ich werde ihn im Safe aufbewahren«, entgegnete Homann schmunzelnd. »Also, ich mache sie noch auf, gucke mir den Mageninhalt und die Leber an. Und die Blutreste, falls ich noch welche finde. Toxikologische Untersuchung, Fingerabdrücke und Zahnstatus wegen Alter und Identität. Ein paar Tage wird das Labor brauchen, den Rest bekommt ihr morgen. Ach so, ich habe übrigens noch was gefunden. Das könnte euch helfen herauszufinden, wer sie ist.«
Kern und Dennis horchten auf. Homann fasste vorsichtig unter die rechte Schulter der Toten und drehte ihren Oberkörper so herum, dass man einen Teil ihres Rückens sehen konnte. Jetzt erkannten sie eine kleine Rose, die mit sorgfältigen, gekonnten Stichen auf das Schulterblatt der toten Frau tätowiert war.
»Die ist ziemlich frisch, vielleicht ein paar Wochen alt«, schätzte Homann.
»Sehr gut«, entgegnete Dennis. »Dann klappern wir mal die Tattoostudios ab. Machst du uns ein Foto davon?«
»Klar, habt ihr in einer Stunde auf dem Tisch.« Kern war seine Erleichterung deutlich anzumerken.
Es ist nicht immer einfach, die Identität unbekannter Opfer zu ermitteln. Erwachsene werden oft erst nach Wochen vermisst gemeldet, manchmal auch gar nicht. Gelegentlich muss sich das LKA sogar mit Fotos der unbekannten Toten an die Öffentlichkeit wenden, um deren Identität herauszufinden. Eine Tätowierung dagegen kann unter Umständen so gut wie ein Fingerabdruck sein.
Dennis trat noch einmal näher an die Leiche heran und betrachtete die Spuren der unglaublichen Gewalt, die der Mörder hinterlassen hatte. Er musste unwillkürlich an seine Freundin denken, die etwa im selben Alter wie die Tote war.
»Wie halten wir das eigentlich jedes Mal wieder aus?«, fragte er kopfschüttelnd.
Sowohl Kern als auch Homann, die beide deutlich älter als Dennis waren, hatten sich diese Frage während ihres Berufslebens oft gestellt. Deswegen dauerte es auch nicht lange, bis Homann antwortete:
»Weil wir die Letzten sind, die noch etwas für sie tun können.«
Serienmörder gehen normalerweise nach einem immer gleichen Muster vor. Sie sind in einem engen Umkreis um ihren Wohnort herum aktiv und töten in Zeitabständen, die sich verringern, je länger sie unentdeckt bleiben. Durchschnittlich töten deutsche Serienmörder gut vier Jahre lang, bevor sie ergriffen werden.
Der Schläfenmörder war anders. Er hatte seinen ersten bekannten Mord bereits vor sieben Jahren begangen. Im niederbayerischen Viechtach war die Leiche einer jungen Frau in einem Straßengraben gefunden worden. Er hatte sie mit einem heftigen Schlag gegen die Schläfe getötet und ihre Leiche anschließend mit mehreren Stichen einer langen Klinge durchbohrt.
Danach war mehr als ein Jahr vergangen, bis man erneut eine Frauenleiche fand, die man später demselben Täter zuordnete. Allerdings hatte er dieses Mal in einer vollkommen anderen Stadt zugeschlagen, im rheinland-pfälzischen Trier. Zudem war die junge Frau nicht erstochen worden. Ihr Mörder hatte sie an den Händen gefesselt und anschließend ertränkt. Trotz der räumlichen Trennung und der vollkommen unterschiedlichen Vorgehensweisen war man sich dennoch sicher, es mit demselben Täter zu tun zu haben. Denn auch die zweite Frau war mit einer Schlagwunde an der Schläfe aufgefunden worden. Sie war aber, anders als das erste Opfer, nicht daran gestorben. Es ließ sich eindeutig nachweisen, dass es sich in beiden Fällen um einen Hammer des gleichen Fabrikats gehandelt hatte, sehr wahrscheinlich sogar um denselben.
In den folgenden Jahren hatte der unbekannte Täter insgesamt sechzehn Frauen in fast allen Teilen Deutschlands getötet. Manchmal in Abständen von wenigen Tagen, dann wieder erst nach Monaten. Er hatte seinen Opfern dabei die verschiedensten Grausamkeiten angetan. Nur eines war an seinem Vorgehen immer gleich geblieben: der Schlag gegen die Schläfe. So war er in Polizeikreisen zu seinem Spitznamen gekommen.
»Julius, ich möchte Sie mit jemandem bekannt machen«, begrüßte ihn Dezernatsleiterin Castella in ihrem Büro.
Sie trug ein geschmackvolles Kostüm und war dezent geschminkt, was ihre eher strenge Wirkung noch unterstrich. Obwohl sie klein und zierlich war, hatte sich die intelligente, zielstrebige Frau im Laufe ihrer Karriere bis an die Spitze des LKA Berlin hochgearbeitet. Niemand, der sie kannte, hatte es jemals gewagt, sie zu unterschätzen. Denn wenn es darauf ankam, konnte Castella, die mit einem italienischen Geschäftsmann verheiratet war, eiskalt durchgreifen. Auch Kern hatte es zunächst schwer gehabt, sich bei seiner Vorgesetzten Respekt zu verschaffen. Mittlerweile war ihr Verhältnis jedoch von gegenseitiger Achtung und Sympathie geprägt.
»Das ist Eva Fuchs. Sie ist Fallanalytikerin beim LKA Bayern. Sie ist gleich mit der ersten Maschine nach Berlin gekommen, als das hier bekannt geworden ist«, fuhr sie fort.
Die süddeutsche Kollegin war eine gut aussehende Frau. Etwas jünger als Kern, sportlich, dabei aber elegant und geschmackvoll gekleidet. Sie saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem der unbequemen, quietschenden Besucherstühle vor Castellas Schreibtisch und wandte sich Kern mit einem umwerfend sympathischen Lächeln zu.
»Grüß Gott«, sagte sie und reichte Kern die Hand, ohne aufzustehen.
»Hauptkommissarin Fuchs ist seit seinem ersten Mord mit dem Fall befasst. Sie hat auch den Kollegen in Rheinland-Pfalz, Sachsen und dem Saarland beigestanden. Außerdem kennt sie alle Akten und Gutachten über ihn. Sie wird uns unterstützen.«
Kern lächelte etwas breiter, als er es sonst immer tat, und ergriff Fuchs’ Hand. Die Kollegin aus dem Süden hatte einen kräftigen Händedruck. Kern gefiel das; es überzeugte ihn von ihrem Selbstbewusstsein. Kern mochte starke Frauen.
»Ich möchte, dass Sie den Fall leiten, Julius«, fuhr Castella fort. »Frau Fuchs wird Ihnen dabei beratend zur Seite stehen.«
»Genau so hat es bei mir damals auch angefangen«, entgegnete Kern in Richtung seiner neuen Kollegin. »Ich bin damals nur aus Brandenburg hergekommen, um bei der Suche nach einem Serienmörder zu helfen. Und am Ende haben sie mich dann gleich dabehalten. Ich hoffe, Ihnen gefällt Berlin.«
Fuchs lachte.
»Na ja, der Straßenverkehr ist hier angenehmer als der in München. Aber ich fürchte, meine Dienststelle gibt mich trotzdem nicht her.«
»Das kann ich mir vorstellen. Also, das mit dem Hergeben. Beim Straßenverkehr habe ich so meine Zweifel«, antwortete Kern mit einem Zwinkern.
»Sie waren noch nie in München, oder?«, erwiderte Fuchs und zwinkerte zurück.
»So, dann mal wieder zum Thema«, unterbrach Castella.
»Wir müssen davon ausgehen, dass er sich nur kurz in Berlin aufhält. Falls er überhaupt noch da ist. Ich schlage vor, Sie beide ziehen sich zurück und entwerfen eine Strategie.«
Kern und Fuchs nickten zustimmend.
»Und danach, mein lieber Julius, unterhalten wir beide uns mal über Straßenkreuzungen und Windschutzscheiben.«
Natürlich war Castella inzwischen über die Vorfälle am Morgen informiert worden. Die Art, wie ihr Mitarbeiter Kern bei ihrem Telefonat damit umgegangen war, gefiel ihr aber. Auch wenn man es ihr nicht unbedingt ansah, besaß sie doch einen ausgeprägten Sinn für Humor.
»Ich kann es kaum erwarten«, antwortete Kern, bevor er sich wieder an Fuchs wandte. »Essen Sie nur Leberkäs-Semmeln, oder darf es auch mal eine original Berliner Currywurst sein?«, fragte er.
Fuchs lachte erneut und strich sich dabei durch ihre langen Haare, die sie zu einem Zopf zusammengebunden hatte.
»Ehrlich gesagt – darauf freue ich mich schon den ganzen Vormittag!«
Gegenüber dem Hauptgebäude des LKA befand sich Bärbel’s Gourmet-Tempel, eine alte Berliner Imbissbude, an die sich Kern gern zurückzog, wenn ihm die tristen Wände und das kalte Neonlicht seines Büros wieder einmal den Verstand vernebelten. Er hatte Eva Fuchs dorthin geführt, um mit ihr in einer angenehmeren Atmosphäre über den Schläfenmörder sprechen zu können. Die selbst gebastelten Schilder mit den grotesken Rechtschreibfehlern hatten ihn schon oft amüsiert, und er freute sich jedes Mal, wenn er einem Gast dieses urige Kleinod Berliner Gemütlichkeit vorstellen konnte.
»Was möchten Sie?«, fragte er.
»Dasselbe, was Sie nehmen«, antwortete Fuchs.
Kern bestellte zwei Currywürste mit Pommes frites. Dann ging er zu dem kleinen Stehtisch hinüber, an dem Fuchs gerade damit beschäftigt war, die Spuren von Ketchup abzuwischen, die einer der vorherigen Gäste hinterlassen hatte.
»Also, was wissen wir über ihn?«, begann er.
»Weniger, als uns lieb ist. Nach seinem ersten Mord sind wir noch davon ausgegangen, dass er aus der Stadt kommt, in der es passiert ist. Viechtach hat gerade mal neuntausend Einwohner. Da haben wir dann natürlich das ganz große Besteck aufgefahren. Im Umfeld des Opfers ermittelt, Vorbestrafte überprüft, das volle Programm halt. Nichts. Sogar einen Massen-DNA-Test haben wir gemacht.«
Kern horchte auf.
»Wir haben seine DNA?«
»Na ja, die Kollegen haben an der Leiche ein paar Haare gefunden. Aber ob die wirklich vom Täter sind, wissen wir natürlich erst …«
»… wenn wir ihn haben. Klar.«
»Leider haben sich bei keiner der weiteren Leichen irgendwelche DNA-Spuren mehr gefunden. Er hat offenbar dazugelernt.« Die beiden wurden von einem markerschütternden Ruf unterbrochen.
»Zweimal Curry-Pommes zu verjeben!«, schrie Bärbel, die korpulente Betreiberin des Imbisses. »Wer will nochma, wer hat noch nich? Aber Vorsicht, heiß und fettig!«