Todesrauschen - Vincent Kliesch - E-Book
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Todesrauschen E-Book

Vincent Kliesch

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Beschreibung

Wenn Wahrheit tötet ... Die Helden der »Auris«-Bestseller von Vincent Kliesch und Sebastian Fitzek müssen gemeinsam um ihr Leben kämpfen - ein Entführungs-Thriller der Extraklasse! Seit Jahren versucht die erfolgreiche True-Crime-Podcasterin Jula Ansorge die Wahrheit über das Schicksal ihres unter mysteriösen Umständen verschwundenen Bruders herauszubekommen. Moritz wurde von der Polizei erst eines abscheulichen Verbrechens beschuldigt und später von den Behörden für tot erklärt. Matthias Hegel, der berühmte forensische Phonetiker, behauptet Beweise zu haben, dass Moritz noch lebt. Doch der ebenso zwielichtige wie skrupellose Experte, der nur eine Stimmprobe braucht, um die Psyche eines Täters zu analysieren, hat Jula schon oft belogen und manipuliert. Ein letztes Mal will sie sich mit ihm treffen. Dabei kommt es zur Katastrophe: Jula und Hegel werden brutal entführt. Anscheinend gibt es noch jemanden, der Moritz aufspüren will - und um ihn zu finden, schreckt der Täter auch vor grausamster Folter nicht zurück. Jula und Hegel, das ungleiche und verfeindete Ermittlerpaar, stecken in einem unlösbaren, mörderischen Dilemma: Lösen sie gemeinsam das letzte Rätsel um Moritz, wird Julas Bruder umgebracht. Lösen sie es nicht, sterben sie selbst qualvoll in Gefangenschaft ... "Die Story zieht hinein, die Figuren halten den Leser gefangen. Sie sind sympathisch, haben Ecken und Kanten. Sie sind wie du und ich, haben kleine Geheimnisse, manchmal auch düsterer Art. Aber am Ende weiß man: Nur Jula und Hegel zusammen, das funktioniert!" ntv(.de) Die bisherigen Fälle für Jula und Hegel: - Auris - Die Frequenz des Todes

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Seitenzahl: 398

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Vincent Kliesch

Todesrauschen

AURIS

Knaur eBooks

Nach einer Idee von

Sebastian Fitzek

Über dieses Buch

Seit Jahren versucht die erfolgreiche True-Crime-Podcasterin Jula Ansorge die Wahrheit über ihren verschwundenen Bruder herauszufinden. Moritz wurde eines abscheulichen Verbrechens beschuldigt und später von den Behörden für tot erklärt. Matthias Hegel, der berühmte forensische Phonetiker, behauptet, Beweise zu haben, dass Moritz noch lebt. Doch der zwielichtige Experte, der nur eine Stimmprobe braucht, um die Psyche eines Täters zu analysieren, hat Jula schon oft belogen und manipuliert. Als sie sich ein letztes Mal mit ihm treffen will, kommt es zur Katastrophe: Jula und Hegel werden brutal entführt. Anscheinend gibt es noch jemanden, der Moritz aufspüren will. Jula und Hegel, das ungleiche und verfeindete Ermittlerpaar, stecken in einem mörderischen Dilemma …

Inhaltsübersicht

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

Danksagung

Leseprobe »AURIS«

Prolog

Ich bin schuld am Tod meines Bruders.

Ich bin schuld daran, dass ein Verbrecher freigesprochen wurde.

Ich bitte alle Menschen, denen ich etwas bedeute, um Verzeihung! Falls es da überhaupt noch irgendeinen geben sollte. Aber weder werde ich die Konsequenzen meines Verhaltens noch länger ertragen, noch werde ich es dazu kommen lassen, durch meine Fehlentscheidungen weiteres Unheil über andere zu bringen.

Ich werde heute freiwillig aus dem Leben scheiden, und zwar in der festen Überzeugung, damit die einzige Entscheidung meines unseligen Lebens zu treffen, die mehr Nutzen als Schaden über diejenigen bringen wird, die ich liebe.

Bitte verzeiht mir. Alles!

Jula

1

Jula

Der Mann schien sie vom Unterleib aufwärts in zwei Teile reißen zu wollen, und gleichzeitig versetzte der Schmerz sie an einen anderen Ort. Jula war nicht länger in Buenos Aires auf dem Friedhof La Recoleta, betrachtete nicht länger die eindrucksvollen Grabstätten argentinischer Prominenter in der warmen Sommernacht, kurz nachdem sich ihr Bruder Moritz von ihr verabschiedet hatte, weil er früher zurück ins Hotel wollte. Hätte ich ihn doch nur begleitet … Jetzt trieb Jula in einem Meer aus Schmerzen auf einen dunklen Abgrund zu. Der Mann, der ihr Gesicht in die Erde drückte, während er sie brutal vergewaltigte, roch nach Schweiß und Urin, und er war doppelt so schwer wie sie. Mindestens!

»Frau Ansorge?«

Jula schlug die Augen auf und sah Antonio Verón in die Augen. Der Mitarbeiter der deutschen Botschaft hatte sie hier auf dem Polizeirevier im Zentrum von Buenos Aires nun schon seit einer gefühlten Ewigkeit zu dem Überfall befragt, doch nun sagte er etwas, das Jula wünschen ließ, sie wäre auf diesem Friedhof einfach gestorben.

»Wir wissen, wer Sie vergewaltigt hat. Wir haben den Täter, er hat alles gestanden.«

»Wer?«

In diesem Augenblick hatte Jula wirklich die Hoffnung, man habe den Täter gefunden und würde ihn seiner gerechten Strafe zuführen. Falls es für das, was er ihr angetan hatte, überhaupt eine gerechte Strafe gab. Doch stattdessen sagte dieser Antonio nur: »Es war Ihr Bruder! Er hat alles gestanden und sich vor einer Stunde in seiner Zelle erhängt.«

Jula schüttelte den Kopf. »Nein, nein, nein … das ist unmöglich!«

»Jula?« Die Stimme war ihr vertraut.

Sie schüttelte weiterhin den Kopf und reagierte nicht auf ihren Namen, obwohl die Rufe immer lauter wurden. Und obwohl sich die Stimme des Rufers verändert hat.

»Jula! Jula, hey!«

Nein, es war nicht die Stimme von Antonio Verón, sondern die von …

»Paul?«

Jula schlug die Augen auf, diesmal richtig, nicht nur im Traum, und sah direkt in das sorgenvolle Gesicht ihres Ex-Freunds. Verdammt, bin ich schon wieder weggetreten?

»Geht es dir nicht gut? Ich war doch nur kurz auf der Toilette.« Paul setzte sich wieder zu Jula an den Tisch. Ihre Blicke flogen unwillkürlich über seine neue, akkurate Frisur und sein fast schon elegantes Outfit. Der einst wildlockige, bunt und unkonventionell gekleidete Paul hatte sich in den letzten Wochen verändert, nicht nur äußerlich. Um mir zu gefallen, um mich zurückzugewinnen. Aber dafür habe ich gerade wirklich keinen Nerv.

»Sorry.« Sie nickte hastig und fuhr sich verlegen mit der Hand durch die Haare. »Ich habe gestern wohl einfach zu lange gearbeitet. Das war ein kleiner Tagtraum.«

Albtraum trifft es wohl eher.

Jula wusste nicht, warum sie ausgerechnet in letzter Zeit so wenig Schlaf fand und wenn, dann zu den unmöglichsten Uhrzeiten und Gelegenheiten. So wie jetzt, bei diesem Mittagessen mit ihrem Verflossenen. Dass die kurzen Schlafintervalle mit Flashbacks gefüllt waren, die von dem handelten, was ihr damals in Argentinien widerfahren war und was sie nun schon seit Jahren traumatisierte, war hingegen gar nicht so selten. Vermutlich hingen sowohl ihre Schlafstörungen wie auch ihre Albträume damit zusammen, dass Jula heute einen der schlimmsten Tage ihres Lebens erwartete.

»Sie werden diesen Dreckskerl Hegel freisprechen!« Jula gähnte und starrte auf die Scheibe des frischen Baguettes auf ihrem Vorspeisenteller, die sie, kurz bevor Paul auf der Toilette verschwunden war, mit Butter bestrichen hatte.

»Jetzt warte es doch erst mal ab.« Paul griff nach ihrer Hand, doch Jula zog sie weg.

Ein weiteres Mal fuhr sie sich durch die Haare und schloss die Augen. So als könne sie dem Mittagessen mit ihrem Ex-Freund dadurch für einen kurzen Moment entfliehen. Verdammt, das ist mir heute echt alles zu viel. Er meint es ja gut, aber ich bin wirklich nicht in Stimmung für Friede, Freude, Eierkuchen. Natürlich war es eine nette Geste von Paul gewesen, Jula vor der Urteilsverkündung im Landgericht Berlin noch in das kleine Restaurant in der Nähe des Berliner Funkturms einzuladen. In das Lokal, in dem die beiden damals bei ihrem ersten echten Date gegessen hatten. Damals hatte allerdings ringsherum reges Treiben geherrscht, während es jetzt, um die Mittagszeit, noch vollkommen leer war. Einzig Jula und Paul waren anwesend und bereiteten dem netten, aber etwas zu servilen Kellner eine zwar wenig einträgliche, dafür aber umso entspanntere Schicht. Früher hatte das Restaurant mit den authentisch italienischen Spezialitäten erst ab dem frühen Abend geöffnet. Es schien sich unter den Gästen noch nicht herumgesprochen zu haben, dass es nun bereits mittags seine Türen aufschloss. Wie auch immer, Jula hatte andere Sorgen, als sich über die unternehmerischen Entscheidungen des Gastwirts Gedanken zu machen.

»Da gibt es nichts abzuwarten. Hegel ist einer der klügsten Köpfe Deutschlands. Er hat seine Fähigkeiten genutzt, um das perfekte Verbrechen zu begehen.«

»Indem er wie ein Wahnsinniger auf seine Frau eingestochen hat?«

»Indem er ein für seine Intelligenz so stümperhaftes Verbrechen begangen hat, dass so eine blöde True-Crime-Podcasterin wie ich ihm auf den Leim gegangen ist. Ich, Jula Ansorge, getrieben von dem Ziel, meinen Bruder von dem Vorwurf der Vergewaltigung seiner eigenen Schwester reinzuwaschen, habe allen Ernstes versucht, einen Justizirrtum an Matthias Hegel nachzuweisen.«

»Bist du dir denn wirklich sicher, dass er schuldig ist?« Paul legte die Stirn in Falten.

»Allerdings, und das habe ich ihm auch auf den Kopf zugesagt. Matthias Hegel, Deutschlands begnadetster akustischer Profiler, ist ein Mörder! Er hat seine Frau umgebracht, weil sie mit der Information an die Öffentlichkeit gehen wollte, dass Hegel ihre angeblich leibliche Tochter Mathilda von einem Kinderhändlerring namens Remus gekauft hat. Aber alle Welt glaubt jetzt, Hegel wäre selbst ein Opfer von Remus. Und ich blöde Kuh habe für diese Lüge auch noch die Beweise gesammelt, die Hegel für mich platziert hatte. Verstehst du die Ironie des Schicksals? Ich, die Frau, die Justizirrtümer verhindern wollte, habe selbst für einen gesorgt!«

Jula spürte, wie ihre Wangen rot wurden. Vor Wut, aber auch vor Scham.

»Jula?«

Paul sah schon wieder auf seine Uhr, bestimmt zum zwanzigsten Mal, seit sie das Lokal betreten hatten. Ich glaube fast, er ist wegen der Urteilsverkündung nervöser als ich.

»Können wir einen Moment mal über etwas anderes als Hegel reden?« Er griff erneut nach Julas Hand, und nun ließ sie ihn gewähren. Etwas in seiner Körperhaltung veränderte sich, und auch seine Stimme klang weicher, als er fortfuhr: »Es gibt da noch einen anderen Grund, weswegen ich dich hierher eingeladen habe. Ich möchte dir etwas sagen.«

Jula musterte ihren Ex-Freund mit Skepsis. Was kommt denn jetzt bitte? Fängt er schon wieder damit an, dass er mich zurückhaben will? Ja, er hat an sich gearbeitet, und so wirklich sauer bin ich eigentlich auch nicht mehr darüber, dass er damals mein Handy ausspioniert hat. Und ja, er gibt mir noch immer Halt, ist jederzeit für mich da, erträgt meine Launen, bleibt beständig und hat sogar an seinem Aussehen gearbeitet. Aber bitte, Paul, komm mir jetzt nicht mit Liebesavancen. Blöder Zeitpunkt, ich habe gerade echt keinen Nerv dafür!

»Paul, das ist jetzt wirklich …«

Weiter kam sie nicht, denn ihr Ex-Freund fiel Jula ins Wort: »Ich habe ein Angebot vom Sender bekommen. 101.5 expandiert, sie haben neue Frequenzen erworben.«

Jula horchte auf. Auch sie hatte eine Zeit lang als moderierende Redakteurin für den Berliner Radiosender gearbeitet. Dort hatten sie einander kennengelernt. Doch während Paul als Chef der Nachrichtenabteilung im Sender Karriere gemacht hatte, war Jula von ihrer Chefin allen Ernstes dazu aufgefordert worden, einen nächtlichen Sextalk zu moderieren. Sie haben die schönste Stimme im ganzen Sender, ich finde das Format auch nicht toll, aber es wird Quote bringen. Genau! Was konnte man einer Frau wie Jula schon für ein besseres Angebot unterbreiten, als nachts mit notgeilen Typen über deren Sexfantasien zu plaudern? Einer Frau, die vergewaltigt worden war. So brutal, dass sie noch immer unter chronischen Rückenschmerzen litt und bereits in einen Kampfmodus verfiel, wenn sie es nur im Dunkeln knirschen hörte. Ihren bisherigen Programmplatz werde ich Rudy Constantin geben, er ist nun mal der beliebteste Sprecher des Senders. Sex oder Selters! Jula schüttelte sich.

»Ist was?« Paul sah Jula sorgenvoll an.

»Schon okay, ich hatte nur schon wieder so einen kleinen Flashback. Also, was für ein Angebot hat dir der Sender denn gemacht?«

Pauls Miene erhellte sich schlagartig. »Die wollen mich zum Chefredakteur ihrer neuen Außenstelle in Bayern machen! Ich könnte mir da ein eigenes Team aufbauen, Formate entwickeln, und natürlich würde ich auch viel mehr verdienen als bisher!« Paul strahlte, doch Jula sah den Zweifel, der sich seinem Lächeln beigemischt hatte.

»Du bist unsicher, ob du das machen sollst?«

»Na ja, es wäre schon echt weit weg von Berlin. Und damit eben auch von dir. Und ich hätte kaum Zeit, zu Besuch herzukommen, gerade im ersten Jahr nicht. Da werde ich vermutlich dauernd im Sender sein müssen.«

»Und was willst du mir jetzt damit sagen?« Im Grunde hätte sich Jula die Antwort auf ihre Frage ebenso gut auch selbst geben können.

»Ach, Jula, du hast doch sowieso die Schnauze voll von Berlin, das sagst du immer wieder. Der Lärm, die Hektik, die Unpersönlichkeit. Alle sind gereizt, Stau, keine Parkplätze, unbezahlbare Mieten, schlechte Luft, Kriminalität.«

Jula lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und musterte Paul, als sei er ein Lausebengel, der ihr einen Streich spielen wollte. »Das meinst du doch jetzt nicht ernst? Du willst, dass ich mit dir nach Bayern gehe? Was soll ich denn da machen? Mein Jodeldiplom? Damit ich was in der Hand habe, falls mal was ist?«

»Jetzt warte doch erst mal ab!« Paul hob wie zur Beschwichtigung die Hände. »Es wäre ja nicht nur wegen uns beiden privat. Du wolltest doch deinen True-Crime-Podcast schon immer übers Radio machen, mit eigener Sendung. Und wenn ich Chefredakteur bin, kann ich dich in mein Team holen!«

»Paul, das ist ja lieb gemeint. Aber das war, bevor der Fall Hegel meinem Podcast über zwei Millionen Follower eingebracht hat! So viele Leute werden mir im Senderadius von 101.5 Kuhdorf wohl kaum zuhören!«

»Also, es gibt da auch noch einen anderen Grund, aus dem ich dich gern nach Bayern mitnehmen würde.« Paul setzte dieses Lächeln auf, mit dem er Jula schon während ihrer Beziehung immer um den Finger gewickelt hatte. »Es geht nämlich auch darum, dass ich …«

»Was macht ihr denn hier?« Der grelle Ruf schallte lautstark von der Eingangstür her.

Sowohl Jula als auch Paul wandten sich um.

»Das gibt’s ja nicht! Was für ein Zufall!«

Jula traute ihren Augen nicht. Wie groß war wohl die Wahrscheinlichkeit gewesen, dass ausgerechnet jetzt, um diese mittägliche Uhrzeit, Rudy Constantin und seine Dauerverlobte Cassy hier in dieses kleine Restaurant am Funkturm kommen würden? Rudy, der Starmoderator von 101.5, der üblicherweise nicht vor dem Mittagsläuten wach war.

»Hatte ich euch erzählt, dass ich heute mit Jula herkommen will?« Paul schien ebenso verblüfft.

Rudy lachte auf und breitete die Arme aus, als wolle er die ganze Welt damit umarmen. »Als würden wir euer Techtelmechtel sprengen wollen! Du hast nur erzählt, dass die hier jetzt schon früher aufmachen, und da dachten wir uns, probieren wir den Mittagstisch doch mal aus.« Rudy grinste mindestens so breit wie während seiner Sendungen, wenn er wieder mal mit Hohn und Spott über alles herzog, was die tagesaktuelle Presse so an skurrilen Neuigkeiten zu bieten hatte.

»Das hier ist kein Techtelmechtel.« Jula richtete sich auf. »Was ist das überhaupt für ein bescheuertes Wort?«

»Schon gut, wir haben nichts gesehen!« Rudy hielt sich demonstrativ die Hände vor die Augen. »Wir setzen uns ganz nach hinten in die Ecke!«

Cassy fasste Rudy am Handgelenk und sah Jula mit verständnisvollem Blick an. »Entschuldigt, dass wir hier so reinplatzen. Wir lassen euch beide jetzt mal lieber in Ruhe, ihr seid ja sicher hier, weil ihr was besprechen wollt.«

Damit zog Cassy ihren Freund zu einem Tisch weiter hinten im Lokal. Jula sah den beiden kopfschüttelnd nach. Wie abstrus kann dieser Tag eigentlich noch werden?, fragte sie sich. Sie konnte nicht ahnen, dass sie schon wenige Sekunden später eine Antwort auf ihre Frage erhalten sollte – als nämlich die Tür aufsprang, ein maskierter Mann in das Restaurant stürmte, eine Waffe zog und schrie:

»Ein Mucks, und ich knalle euch alle ab!«

2

Was?!« Paul, der dem Eindringling mit dem Rücken zugewandt saß, drehte sich schlagartig um.

»Bleib auf deinem beschissenen Stuhl sitzen, sonst blase ich dir die Rübe weg!«

Jula spürte, wie es in ihr hochkroch. Das ist nicht Buenos Aires. Du bist nicht auf diesem Friedhof. Und du wirst dich nicht ein weiteres Mal in die Opferrolle drängen lassen. Bleibe ruhig, warte ab – und mach keinen Fehler! Mit starrem Blick, ruhigem Atem und angespanntem Körper sah sie zu dem Kerl hinüber. Zitternd und keuchend stand er da, untermalt von italienischen Schlagern aus den Achtzigerjahren, inmitten des kleinen Lokals zwischen Bildern von italienischen Landschaften und mehr oder minder geschmackvollen Deko-Elementen auf dem polierten Parkettboden. Wie ein Uhrenpendel schwenkte er mit seiner Pistole zwischen den vier Gästen und dem Kellner hin und her.

»Was wollen Sie denn von uns?« Paul sprach so ruhig, als sei der Mann ein Sprengsatz, der bei der kleinsten Erschütterung explodieren würde.

»Ich will für euch tanzen! Mann, was ist das denn bitte für eine bescheuerte Frage? Her mit eurem Geld, Wertsachen, Schmuck!«

Endlich bewegte sich der Kerl. Er warf dem Kellner durch die Sehschlitze in seiner Kapuze einen bösen Blick zu, woraufhin dieser die Hände noch etwas höher hob und einen Schritt von dem Telefon wegtrat, neben dem er zufällig gerade gestanden hatte. Jula nahm den Gestank von kaltem Zigarettenrauch und Schweiß wahr, als der Kerl in seiner speckigen Jacke und den hochgekrempelten Jeans mit den aufgeschrammten Knien an ihr vorüberging und zielstrebig auf Rudy Constantin und Cassy zulief.

»Geld, Uhren, Ringe!« Er herrschte die beiden so entschlossen an, dass sie unverzüglich die geforderten Gegenstände auf dem Tisch zusammentrugen.

»Können wir irgendwas tun?«, flüsterte Jula.

»Bitte?«, fragte Paul mit starrem Blick nach.

Okay, Paul wird uns nicht retten, er sitzt da wie eine Marmorstatue. Nur dass Marmorstatuen nicht zittern. Ich kann es ihm nicht verdenken, es ist sein erster Überfall. Bleib ganz ruhig, Jula. Panik hilft nicht. Rudy hat Geld wie Heu, dem tut es nicht weh, wenn ihm seine Uhr geraubt wird. Und Cassys Schmuck ist bestimmt versichert. Ich glaube allerdings nicht, dass Paul was Wertvolles bei sich hat, und ich habe vielleicht fünfzig Euro im Portemonnaie. Hoffen wir, dass das diesen Kerl nicht sauer macht.

»Wenn hier auch nur irgendeiner eine falsche Bewegung macht, lege ich jeden in diesem Raum um!« Der Typ sah kurz zu Jula und Paul hinüber und richtete dann seine Pistole auf Cassy. »Her mit deinen Ringen!«

Sie zog ihren Ring vom Finger und deutete auf Jula. »Gehen Sie doch bitte zu der anderen Frau! Da können Sie sicher mehr holen!«

Das hat sie nicht gesagt! Jula spürte zu ihrer eigenen Verwunderung, dass die Fassungslosigkeit über die Äußerung von Rudys Verlobter sie weit mehr beeindruckte, als es die Angst vor dem Kerl mit der Waffe in der Hand tat. Sie war Cassy bisher nur wenige Male begegnet, meist auf den Weihnachtsfeiern von 101.5. Die studierte Wirtschaftswissenschaftlerin hatte ihr gefallen, und sie hatte sich gefragt, wie der Hallodri Rudy zu so einer klugen und humorvollen Frau gekommen war. Und jetzt das? Sicher, sie alle hatten Angst, aber eine derart unfassbare Rückgratlosigkeit? Wie man sich doch in Menschen täuschen kann. Aber diese Erfahrung mache ich ja nun weiß Gott nicht zum ersten Mal.

»Dann wollen wir doch mal gucken!« Tatsächlich ließ der maskierte Kerl von Cassy ab und ging zielstrebig auf Jula zu. »Los, gib deine Ringe her, sonst knalle ich deinen Mann ab!« Er richtete den Lauf seiner Waffe auf Paul.

»Ich bin nicht ihr Mann!«, sagte Paul.

Hat er das gerade wirklich gesagt? Sind jetzt alle komplett bescheuert geworden? Was ist das denn hier für eine Nummer? Erst fällt mir Cassy in den Rücken, dann bekommt Paul kein Wort raus, und jetzt nervt er den Typen mit der Waffe, indem er ihm grundlos widerspricht. Jula sah auf ihre Hände. Nicht, dass sie nicht gewusst hätte, welcher Anblick sie dort erwartete. Es war lediglich ein Reflex. Jetzt wird es ernst. Und wie es aussieht, wird mir hier wohl keiner helfen.

»Okay, ich gebe dir meine Ringe.« Jula sprach fast freundlich und ließ den vollen Klang ihrer warmen, weichen Stimme auf den Mann wirken.

»Aber du hast ja gar keine!« Der Kerl mit der Waffe sah ebenfalls auf ihre Hände, an denen tatsächlich kein Schmuck prangte.

»Doch, hier!«

Damit hob Jula die linke Hand und hielt sie dem Kerl direkt vor die Augen. Nachdem dieser jetzt nur noch eingeschränkte Sicht hatte, griff sie blitzschnell mit der rechten Hand nach dem Lauf seiner Pistole und drückte ihn nach oben, sodass ein etwaiger Schuss nur in die Decke einschlagen würde. Dann drehte sie die Waffe so ruckartig herum, dass es dem Kerl das Handgelenk verdrehte und er mit einem lauten Aufschrei von der Pistole abließ. Jula schleuderte die Waffe in Richtung des verdutzten Kellners, sprang auf, bekam die Pfeffermühle vom Tisch zu fassen und schlug sie dem Kerl gegen den Schädel. Mit einem hellen Aufschrei fasste sich der Überrumpelte an die getroffene Stelle, sank wimmernd zu Boden und hielt sich schützend die Hände vors Gesicht.

»So hast du dir das nicht vorgestellt, was?« Es platzte regelrecht aus Jula heraus.

Der Schrecken, der Zorn, die Fassungslosigkeit über das Verhalten der anderen und der Mut ihrer Verzweiflung hatten Jula vollen Zugriff auf alles ermöglicht, was sie in dem Selbstverteidigungskurs nach ihrer Vergewaltigung in Buenos Aires gelernt hatte. Entschlossen drehte sie dem Kerl den rechten Arm auf den Rücken und setzte sich so auf ihn, dass der Angreifer sich nicht mehr bewegen konnte. Dann sah sie zu Paul, der dem Schauspiel mit weit aufgerissenen Augen folgte.

»Los, ruf die Polizei!«

Jula war rot angelaufen und Schweiß trat ihr auf die Stirn. Sie bemerkte, dass sich etwas in Pauls Blick veränderte, was sie nicht zu deuten wusste. Jedenfalls traf Paul keinerlei Anstalten, nach seinem Handy zu greifen, und auch keiner der anderen Anwesenden zeigte irgendeine Regung, Jula zu Hilfe eilen zu wollen.

»Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.« Paul klang, als habe er eine schlechte Nachricht zu überbringen.

»Wie du mir WAS sagen sollst?« Jula drückte den wimmernden Eindringling noch etwas fester zu Boden. »Warum rufst du nicht die Polizei?«

Paul erhob sich von seinem Stuhl, kniete sich neben den Angreifer auf den Boden und sah Jula fast mitleidsvoll in die Augen, bevor er ruhig und beschwörend sagte: »Ich werde jetzt nicht die Polizei rufen, Jula. Niemand wird hier die Polizei rufen!«

3

Es kam Jula so vor, als stehe plötzlich ein klirrendes Surren im Raum. Ein verschlagener Unterton, der sich über die nach wie vor unbeeindruckt von der Musikanlage schallenden Italo-Schlager legte und sich wie ein Wurm in ihren Gehörgang zu bohren schien. Eine subtile Frequenz, die vermutlich nur in ihrer Einbildung existierte und ihr dennoch wie die Ankündigung eines bislang noch nicht greifbaren Übels erschien.

»Was ist dein Scheißproblem?«

Noch immer kniete Paul neben dem wimmernden Kerl in Julas Griff und weder Cassy noch Rudy oder der Kellner zeigten irgendwelche Regungen, ihr zu Hilfe eilen zu wollen.

»Lass bitte den Mann los!« Paul griff vorsichtig nach Julas Hand und versuchte, sie von dem am Boden Liegenden wegzuziehen. »Es ist nicht so, wie es scheint.«

Das klirrende Geräusch in Julas Kopf schien stärker zu werden. Die absurde Situation verunsicherte sie, das Dudeln der Schlager, der Geruch von Brot und Butter, der vom Tisch zu ihr herüberzog, die Blicke der regungslos Umherstehenden, die ihr mit einem Mal wie Wachsfiguren vorkamen. Jula spürte plötzlich dieses Grummeln im Bauch, das immer nur dann auftrat, wenn sie meinte, einer Verschwörung zum Opfer gefallen zu sein. Sie sah zu dem Kellner hinüber, der mitleidsvoll das Gesicht verzog, während die Pistole des Verbrechers noch immer vor ihm auf dem Boden lag. Die Waffe hat sich komisch angefühlt. So leicht. Ihr Blick ging zu Cassy und Rudy. Beide standen wie angewurzelt neben ihrem Tisch und sahen zu Jula herüber, als wollten ihre Blicke sie vor irgendetwas warnen.

»Okay, was wird hier gespielt?« Jula lockerte den Griff, mit dem sie den Angreifer auf dem Boden fixierte.

»Das war alles komplett anders geplant. Es tut mir leid, das ist voll in die Hose gegangen …«

Paul neigte sich behutsam zu dem Mann auf dem Boden und zog ihm die Maske vom Kopf. Jula entglitten die Gesichtszüge.

»Das ist doch Charly!«

Was zum Teufel hatte Karl Lindackers, die gute Seele vom 101.5-Empfangstresen, unter dieser verfluchten Maske verloren? Dieser liebenswerte Kerl, der entweder Witze erzählte, Kaffee kochte, Fotos von seinen Kindern herumzeigte oder jedem Kollegen im Sender seine Hilfe anbot, der auch nur entfernt den Eindruck erweckte, sie zu benötigen. Diese Seele von Mensch, herzlich, offen, immer mit einem guten Ratschlag, tatkräftiger Hilfe oder einfach nur einem Schokoriegel zur Stelle, wenn er gebraucht wurde. Charly, dessen größter Traum es war, irgendwann einmal mit einem Wohnmobil durch Europa zu reisen, der an keinem Obdachlosen vorbeigehen konnte, ohne ihm ein paar Euro zu schenken, und der vermutlich mehr Spinnen und Käfer bedächtig und respektvoll aus seinem Haus in den Garten getragen hatte als irgendein anderer Mensch auf dem gesamten Planeten vor ihm.

»Wäre es okay, wenn du mich wieder loslässt?« Karl sah Jula flehend an.

Sofort entließ sie ihn aus ihrem Griff.

»Würde mir bitte mal irgendjemand erklären, was dieses Theater hier soll?« Jula griff ihre Serviette vom Tisch und tupfte Karl damit auf die Stelle, an der sie ihm den Schlag mit der Pfeffermühle verpasst hatte. Er blutete nicht, ein blauer Fleck würde ihn aber vermutlich noch einige Tage an seinen Überfall erinnern.

»Charly sollte mich für deinen Ehemann halten und ich sollte sagen, dass wir nicht verheiratet sind.« Paul klang wie ein kleiner Junge, der sich beim Äpfelklauen hatte erwischen lassen. »Dann sollte er deine Ringe verlangen und du solltest sagen, dass du keine Ringe hast.«

Jula begann zu verstehen. Sie sah im Rund zu den anderen Anwesenden, bevor sie sich wieder Paul zuwandte, der nach wie vor ihr gegenüber auf dem Boden kniete.

»Du sagst jetzt bitte nicht, dass dieser Überfall ein …« Sie zögerte, ihren Satz zu beenden.

»Doch!« Paul griff in die Innentasche seines Sakkos. »Charly sollte dich fragen, wie es sein kann, dass du keinen Ring hast, und warum ich nicht dein Mann bin, obwohl ich doch so gut zu dir passe. Dann wollte ich sagen, dass ich helfen kann. In beiden Fällen.«

Paul zog die Ringschachtel eines namhaften Juweliers aus der Innentasche seines Sakkos und öffnete sie. Ein in Platin gefasster Diamant von vermutlich einem Karat funkelte Jula entgegen. Sie sah zu Rudy und Cassy hinüber.

»So viel also zu dem Zufall, dass ihr hier aufgetaucht seid!«

»Hier ist gar nichts Zufall!« Cassy lächelte Jula verunsichert zu. »Das Lokal hat nicht wirklich neuerdings schon um diese Zeit geöffnet. Paul hat es extra für diese kleine Inszenierung gemietet.«

Rudy legte die linke Hand auf Cassys Schulter und fügte hinzu: »Wir hatten uns das etwas anders vorgestellt. Ehrlich, als Paul mir von seiner Idee für diesen Heiratsantrag erzählt hat, klang es ganz witzig …«

»Witzig?« Jula richtete ihren Blick wieder auf Paul, der noch immer mit der geöffneten Ringschachtel vor ihr hockte, als handele es sich um eine Stellprobe für die Inszenierung eines Laientheaters. »Du verdammter Idiot hast wirklich gedacht, eine Frau, die überfallen und vergewaltigt wurde, könnte sich möglicherweise darüber freuen, wenn der Mann, von dem sie sich getrennt hat und den sie gerade mal eben wieder ein bisschen mehr in ihr Leben lassen wollte, ihr mit einem scheinbaren Raubüberfall einen beschissenen Heiratsantrag macht? Wenige Minuten nachdem du mir erzählt hast, dass du nach Bayern versetzt wirst und mich mitnehmen möchtest? Das war deine Idee?«

»Na ja.« Paul senkte die Schachtel mit dem Ring darin. »Wenn du es so formulierst, klingt es tatsächlich nicht mehr ganz so witzig wie neulich Nacht mit Rudy und Charly in der Kneipe.«

»Werde ich hier noch gebraucht?« Karl lag noch immer zwischen Jula und Paul auf dem kalten Fußboden.

Jula reichte ihm die Hand und zog ihn vom Boden hoch. »Tut mir leid, dass ich dich so angegriffen habe, Charly. Und sorry, dass Paul ein Idiot ist! Geht es dir gut?«

»Schon okay.« Karl lächelte, auch, wenn es ihm noch schwerzufallen schien. »Eine Stunde mit den Kindern im Garten toben ist härter! Ich bin wohl einfach nicht zum Gangster geboren.«

»Also gut.« Jula sah auf die Uhr. »Hier sind wir ja wohl durch. Ich fahre jetzt ins Landgericht und höre mir Hegels Urteil an. Wenn du nachkommen willst, Paul, dann mach es, aber ich fahre allein hin. Und jetzt steck endlich diesen Ring weg!«

Sie griff ihre Jacke von der Stuhllehne und ging, ohne die anderen eines weiteren Blickes zu würdigen, zum Ausgang.

»Äh, Jula!«, rief Paul ihr nach. »Da ist noch was …«

Doch zu spät! Sie hatte den Ausgang bereits erreicht, die Klinke hinuntergedrückt und die Tür kräftig aufgestoßen. PAFF!

»Was, zur Hölle …?!« Jula stand fassungslos und wie eingefroren im Türrahmen, nachdem irgendetwas ihr Gesicht getroffen hatte.

»Alles Gute zur Verlobung, Sis!«

Julas vierzehnjähriger Halbbruder Elyas stand – wie immer in zu weite Hosen, zu wuchtige Turnschuhe und ein für seine schmale Brust viel zu weit ausgeschnittenes Shirt gekleidet – auf dem Bürgersteig vor dem Restaurant und sah breit grinsend dabei zu, wie die bunten Flitter aus der Konfettikanone an seiner Schwester hinunterglitten. Jula drehte sich noch einmal zu Paul um und sah durch die Tür hindurch, wie dieser verschämt den Kopf senkte. Dann sah sie Elyas mit einem Blick an, der nicht falsch zu verstehen war.

»Keine Hochzeit?«, fragte der Junge.

Jula wischte sich mit der flachen Hand etwas Konfetti von ihrer Kleidung, während sie Elyas tief in die Augen sah und entgegnete: »Solltest du jemals irgendwem einen Heiratsantrag machen wollen, dann frag bitte niemals – wirklich niemals! – Paul um Rat!«

4

Landgericht Berlin-Moabit

Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück.« Die Richterin sah auf ihre Armbanduhr. »In etwa einer halben Stunde werde ich das Urteil verkünden.«

Eine halbe Stunde! Mehr Zeit schien sie nicht zu benötigen, um gemeinsam mit ihrem Richterkollegen den beiden Schöffen zu erklären, welche Entscheidung diese abzunicken hatten. Jula sah zu Matthias Hegel hinüber. Die anwesenden JVA-Beamten traten an ihn heran, um ihn bis zur Verkündung des Urteils aus dem Saal zu bringen. Sein Anwalt schien darum zu bitten, Hegel im Raum zu lassen, doch das Kopfschütteln der Beamten war eindeutig. Und dann geschah es: Hegel sah zu Jula hinüber, und ihre Blicke trafen sich. Quer durch den stickigen Raum, der voller Menschen war. Okay, cool bleiben! Nicht wegsehen! Halte seinem Blick stand!

Jula versuchte, sich keine innere Regung anmerken zu lassen, doch sie zweifelte daran, dass es ihr gelungen war. Noch immer sah Hegel ihr direkt in die Augen, während der JVA-Beamte ihn offenbar aufforderte, mit ihm den Saal zu verlassen.

Wie unbedeutend der Trubel um sie herum jetzt war. Die Journalisten, die zu ihren Handys griffen, um in ihren jeweiligen Redaktionen das Bevorstehen des Urteils anzukündigen. Die erzürnten Gespräche der Angehörigen von Peer Kalinsky, Hegels ehemals bestem Freund und Komplizen, der den genialen Mordplan praktischerweise nicht überlebt hatte. Das Spekulieren und Fachsimpeln der Menge, die sich in den Verhandlungssaal gezwängt hatte.

»Was für ein Urteil erwarten Sie denn, Frau Ansorge?«, fragte schon wieder eine Reporterin, die an Jula herangetreten war.

»Lassen Sie mich bitte in Ruhe, ich rede nicht mit Ihnen!« Jula sah die Frau mit dem Mikrofon in der Hand nicht einmal an.

Natürlich waren die Journalisten auch an Jula interessiert. An der Geschichte der Frau, die Hegel zur Freiheit verholfen hatte, nur, um ihn danach selbst als schuldig zu bezeichnen. Doch sie hatte auf ihrem Podcast bereits so ausführlich darüber berichtet, dass ihr der ganz große Ansturm der Reporter mittlerweile erspart blieb. Auch, weil sie bereits an den vorangegangenen Verhandlungstagen deutlich gemacht hatte, dass sie keine Interviews geben würde. Dieses Mal hat Hegel die Öffentlichkeit nicht ausschließen lassen wie bei seinem ersten Prozess. Dieses Mal wollte er, dass es alle miterleben. Wie er sich als Opfer einer Intrige darstellt, als geschundener Mann, dem Unrecht widerfahren ist und der den Mord an seiner Frau nur gestanden hat, weil er seine unschuldige kleine Tochter schützen wollte. Die arme Mathilda. Sie weiß nicht, dass Hegel nicht ihr Vater ist. Dass er sie von einem Kinderhändlerring gekauft hat, als sie noch ein Baby war. Ich kann meine Beweise dazu einfach noch nicht öffentlich machen, die Kleine hat doch mit alldem gar nichts zu tun. Aber wenn dieses Schwein hier als freier Mann rausgeht, dann …

»Unser Mandant möchte nach der Urteilsverkündung mit Ihnen sprechen.«

Jula schrak aus ihren Gedanken auf. Der Assistent von Hegels Rechtsanwalt Dr. Varbelow war von der Seite an sie herangetreten. Ein gut aussehender junger Mann, etwa Anfang zwanzig, vermutlich Jurastudent mit Nebenfach Speichellecken. Wie ein Pfau hatte er an der Seite von Hegels Anwalt gesessen, sich Notizen gemacht, durch die gegelten Haare gestrichen, Unterlagen herausgesucht und sich irgendwelche Dinge ins Ohr tuscheln lassen.

»Sie sind sich ziemlich sicher, dass er dazu Gelegenheit haben wird, was?« Jula wandte den Blick von Hegel ab und sah den Jüngling an.

»Professor Hegel sagt, er habe bei Ihrem letzten Aufeinandertreffen eine Vereinbarung mit Ihnen getroffen, zu der er nach wie vor stehe.«

Der Schönling ließ sich nicht aus der Fassung bringen, das musste Jula ihm lassen. Vermutlich hieß er Maximilian von Irgendwas oder Frederik zu Dingsbums und war mit einem goldenen Löffel im Mund zur Welt gekommen, aber das konnte sie ihm nun wirklich nicht zum Vorwurf machen. Jula flüsterte, sodass die Umstehenden es nicht hören konnten: »Herr Hegel hat bei unserem letzten Gespräch gefordert, dass ich ihm mit meiner Aussage zur Freiheit verhelfen soll. Als Gegenleistung wollte er mir Informationen über meinen Bruder Moritz geben.« Sie sah den Assistenten an, als sei er ein begriffsstutziger Schülerpraktikant. »An diese Vereinbarung habe ich mich nicht gehalten, sie ist also hinfällig.«

Der junge Mann verzog die ebenmäßig geformten Lippen zu einem dezenten Lächeln und zuckte mit den Schultern: »Das ist eine Frage der Interpretation! Sie haben so voreingenommen ausgesagt, dass die Richterin auf Ihre Angaben gar keine Verurteilung stützen könnte. Professor Hegel wird nach der Verhandlung auf Sie warten. Den genauen Ort teile ich Ihnen nach dem Urteilsspruch mit. Er lässt ausrichten: Es geht um Moritz!«

Damit wandte er sich ab und ließ Jula wie eben das dumme Kind auf der harten Zuschauerbank sitzen, für das sie diesen Schmierlappen Sekunden zuvor noch selbst gehalten hatte. Es geht um Moritz! Julas Atem beschleunigte sich.

Eine Stimme durchschnitt den Raum, die lautstark in die Menge der Journalisten und Schaulustigen rief: »Bitte Platz nehmen zur Urteilsverkündung!«

Jula sah ruckartig zu Hegel hinüber, der gerade im Begriff gewesen war, den Saal zu verlassen. Dieses Mal erwiderte er den Blick nicht.

»Ein Urteil nach weniger als zehn Minuten?« Einer der Journalisten auf der Bank hinter Jula sprach offenbar zu einem Kollegen. »Dann ist ja alles klar!«

Und während die Zuschauer eilig zu ihren Plätzen zurückströmten und Hegel mit zufriedenem Lächeln wieder neben seinem Anwalt Platz nahm, ging Jula nur ein einziger Satz durch den Kopf. Er lässt ausrichten: Es geht um Moritz! Was wird er mir erzählen? Und will ich es wirklich wissen? Egal, es führt sowieso kein Weg zurück.

5

Jula, es tut mir alles so leid!«

Ja, genau! Das war es, was sie jetzt gebraucht hatte. Einen reumütigen Paul, der vor der Tür des Verhandlungssaals darauf gewartet hatte, dass sie endlich rauskommen würde. Nur, um ihr die vollkommen überraschende Erkenntnis mitzuteilen, dass sein spektakulär behämmerter Heiratsantrag wohl doch nicht so eine tolle Idee gewesen war.

»Ich habe jetzt wirklich keinen Nerv für dich!«

Jula wollte Paul links liegen lassen, als sie einen Stoß verspürte, der sie direkt in seine Arme fallen ließ. Einer der Journalisten aus der Masse der Prozesszuschauer, die wild durcheinanderredend wie ein Fischschwarm durch die dafür viel zu schmale Tür aus dem Saal strömten, hatte augenscheinlich nicht damit gerechnet, dass Jula plötzlich stehen bleiben würde. Paul fing sie auf, und obwohl es Julas erster Impuls war, sich sofort wieder aus seinen Armen zu lösen, spürte sie doch, dass etwas sie hielt. Ist es der vertraute Duft? Oder die Wärme? Ich habe keine Ahnung. Dieser ganze Tag ist einfach eine Katastrophe! Jula spürte, wie das Starksein schwach wurde, und Tränen schossen ihr in die Augen.

»Im Zweifel für den Angeklagten!« Sie umfasste Paul sogar noch ein bisschen fester. »Die Richterin sagt, sie könne nicht ausschließen, dass Hegel wirklich erpresst wurde. Weil viel zu vieles dafür spricht! Und ich hatte keine andere Wahl, als das auch noch mit meiner Aussage zu untermauern. Hegels Plan ist aufgegangen, er wurde freigesprochen! Für den Mord an seiner Frau kann er jetzt nie wieder angeklagt werden!«

»Frau Ansorge, was sagen Sie zu dem Urteil?« Schon wieder hielt ein Reporter Jula ein Mikrofon unter die Nase.

»Meine Verlobte wird nicht mit Ihnen reden. Was sie der Öffentlichkeit in dieser Angelegenheit zu sagen hat, das sagt sie über ihren Podcast!« Paul sah auch die anderen Reporter im Rund grimmig an, die damit zu liebäugeln schienen, sich ein weiteres Mal einen Korb von Jula einzufangen.

Endlich verteidigt er mich mal! Jetzt trat der Tumult der wild durcheinanderschreienden, telefonierenden und Fotos machenden Journalisten und Schaulustigen in den Hintergrund. Ihr Tosen verlor sich in Julas Tränen.

»Ach, Julchen.« Paul sprach jetzt so sanft, wie er es in ihrer Zeit als Paar immer vor dem Einschlafen getan hatte. »So war es immer, und so wird es immer sein: Die Klugen und Reichen kommen am Ende davon. Weil sie das System nicht nur verstehen, sondern es sich auch leisten können.«

»Hast du das aus der Dreigroschenoper?« Jula schmunzelte, wenn auch nur kurz, und löste sich schließlich aus Pauls Armen. »Und: Ich bin nicht deine Verlobte!«

»In einer halben Stunde, Wilsnacker Straße, bei dem Löwendenkmal!«

Was hat dich so lange aufgehalten, Leontin Graf von Leckmich? Dr. Varbelows jugendlicher Assistent hatte sich seinen Weg durch die Menge zu Jula gebahnt und war von hinten an sie herangetreten. Hegel selbst war sofort nach dem Urteilsspruch gemeinsam mit seinem Anwalt verschwunden.

»Sie wissen, dass dieser Kerl seine Frau ermordet hat, oder?« Jula wandte sich zu dem jungen Mann um, zog die Nase hoch, streckte das Kreuz durch und spürte einen stechenden Schmerz dabei.

»Ich weiß, dass Professor Hegel mit Ihnen über Ihren Bruder Moritz sprechen möchte.« Der junge Kerl hob den linken Arm und sah auf seine ebenso teure wie geschmackvolle Armbanduhr. »In neunundzwanzig Minuten. Und ich weiß, dass Sie ihn mit Behauptungen über die Abstammung seiner Tochter unter Druck zu setzen versuchen. Sie denken, Sie hätten Professor Hegel in der Hand, oder? Wissen Sie, das haben schon ganz andere vor Ihnen gedacht, und nicht alle davon sind heute noch am Leben.«

Hatte dieser Schmierlappen von einem Elitespross das gerade wirklich gesagt? Jula verschlug es für eine Sekunde die Sprache, wenn auch nicht länger.

»Jetzt pass mal auf, du Wicht!« Sie trat ganz nah an den jungen Kerl heran und sah ihm fest in die Augen. »Ihr mögt ja über mich gelacht haben. Über die dumme Jula, die euren besten Mandanten aus dem Knast geholt hat, indem sie versucht hat, ihn genau da hinzubringen. Und ich weiß auch nicht, wer von euch in dieser Geschichte welchen Part übernommen hat. Außer Kaffeekochen, das dürfte wohl deine Aufgabe gewesen sein, Karl-Wilhelm Prinz von Nervmichnicht! Aber wenn Hegel mir in – Moment! – achtundzwanzig Minuten bei dem dämlichen Löwen in der verschissenen Wilsnacker Straße nicht sagt, wo ich meinen Bruder finde, dann nützt ihm alles nichts mehr! Nicht sein Geld, nicht sein Gehör und ganz sicher auch nicht sein Anwalt!«

6

Kampf der Gerechtigkeit gegen Falschheit und Lüge! Ich hoffe, meine Wahl des Treffpunkts gefällt Ihnen.« Hegel deutete eine gespreizte Verneigung an.

Jula rang sich ein Schmunzeln ab und sah sich ein weiteres Mal um. Noch immer herrschte gähnende Leere in der Seitenstraße des Landgerichts Moabit, offenbar war Jula wirklich keiner der Reporter zu dem konspirativen Treffen gefolgt. Nachdem sie mit Paul die Absprache getroffen hatte, dass er sie zunächst allein vorgehen lassen und ihr dann nach einigen Minuten folgen solle, war es Jula gelungen, unbemerkt zu dem Seiteneingang des Gerichtskomplexes in der Wilsnacker Straße zu gelangen. Von diesem erstaunlich opulenten Löwendenkmal hatte Jula noch nie zuvor etwas gehört oder gesehen. Kurz ging ihr durch den Kopf, dass es einen prominenteren Platz in einer Stadt verdient hatte, in der ohnehin an jeder Ecke irgendein Denkmal stand. Nicht, dass es ihren persönlichen Geschmack getroffen hätte, doch es war aufwendig und detailverliebt gefertigt und von einer Symbolik, die Jula durchaus gefiel. Es zeigte einen stolzen Löwen mit seinen zwei Jungen, der im Kampf mit aufgerissenem Maul und erhobener Pranke eine bösartige Schlange zu Boden drückte, die offenbar eines der Löwenkinder zu fressen versuchte.

»Sie finden das hier alles wahnsinnig witzig, oder?« Jula sah zu Dr. Varbelow hinüber, der etwa zwanzig Meter entfernt gegen seinen Mercedes S-Klasse gelehnt an der Fahrbahn stand und allem Anschein nach in irgendeiner Gerichtsakte las.

»Ich habe Wort gehalten, deswegen stehen wir jetzt hier.« Hegel löste sich von der Statue und trat an Jula heran. »Ich bin frei, mein altes Leben kann endlich weitergehen, und ich beabsichtige, es an der Seite meiner geliebten Tochter Mathilda zu verbringen.«

Eine Duftwolke seines edlen Parfums erreichte Jula, während sie die Muskeln anspannte und Hegel fest in die Augen sah. »Juristisch gesehen kann man Sie für den Mord an Ihrer Frau nicht mehr haftbar machen. Aber ich kann Sie immer noch moralisch zerstören. Ich kann an die Presse gehen und öffentlich machen, dass Sie Mathilda über einen Kinderhändlerring gekauft haben. Wie Sie wissen, reicht ein Gerücht, um Karrieren zu beenden. Aber Sie sind ja schon stinkreich, das Ende Ihrer Karriere würden Sie also vermutlich gerade noch in Kauf nehmen.«

»Ich gebe zu, ich habe dieses Szenario durchgespielt.« Hegel verzog keine Miene.

Jula trat näher an das Denkmal und legte die Hand auf den Kopf des zweiten Löwenbabys. »Oder ich gehe direkt zu Ihrer Tochter Mathilda.« Sie blinzelte nicht einmal. »Wie hart würde sie die Wahrheit treffen? Ich vermute, Mathildas Welt würde zusammenbrechen! Die Kleine ist zehn Jahre alt, wie sollte sie Ihnen nach so einer Lüge jemals wieder vertrauen können?«

Etwas veränderte sich an Hegel. Nicht seine sichere Körperhaltung, nicht sein wacher Blick. Es war etwas, das kaum zu greifen war. Jula meinte, dass der Glanz in seinen Augen matter wurde, der Hochmut in seiner Haltung wankte, sein Mut an Kraft verlor.

»Mathilda würde ein weiteres Trauma erleiden, und noch eines wird ihre kleine Seele nicht überstehen.« Hegels Stimme klang fast so, als ginge sie in Deckung. »Sie musste schon den Tod ihrer Mutter verkraften. Aber wenn sie jetzt auch noch erfährt, dass ihre leiblichen Eltern sie für ein paar Euro an Kinderhändler verkauft haben? Das wird ihr ganzes Leben verändern, und nicht zum Guten! Ich bitte Sie zu schweigen und sie nicht mit unbewiesenen Gerüchten zu zerstören.«

Unbewiesen. Von wegen.

»Das Letzte, was ich tun möchte, ist, die Kleine dafür zu bestrafen, dass Sie ein verfluchter Mistkerl sind.«

»Und dafür sollen Sie zum Dank die Informationen bekommen, die ich Ihnen versprochen habe.«

Was ist damals in Buenos Aires mit Moritz passiert? Warum hat mein Bruder diese Lügen verbreiten lassen, warum hat er uns alle glauben lassen, er sei tot? Und wo finde ich ihn?

Das Knattern eines Mopeds unterbrach die beiden in ihrer Aussprache. Hegel sah in die Richtung, aus der das Geräusch kam, und auch Jula drehte sich um. Ein Lieferfahrer, unter dessen Helm ein wallender Vollbart hervorragte, stieg schnaubend von seinem schwachmotorigen Vehikel, griff unter Ächzen und Stöhnen mehrere Pizzakartons aus der eigens dafür angebrachten Warmhaltebox und machte sich mit zügigen Schritten und missmutigem Gesichtsausdruck auf den Weg in das Gerichtsgebäude. Hegel wartete einige Sekunden lang, bevor er wieder Jula ansah.

»Eines müssen Sie wissen: Es gibt einen Grund, warum ich Sie nicht schon früher eingeweiht habe. Wenn ich Ihnen jetzt sage, was mit Moritz geschehen ist, dann werden nicht nur Sie sterben. Man wird jeden Menschen töten, der Ihnen jemals etwas bedeutet hat.«

7

Ein kleiner Vogel landete auf dem Kopf des Löwen. Das ist ein Sperling! Wie seltsam. Meine Mutter hat immer Spatz gesagt, mein Vater Sperling. Warum heißt dieser Vogel dann für mich Sperling? Mein Vater war mir doch sonst kein Vorbild, an dem ich mich orientiert hätte.

»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?« Hegel klang wie ein Notarzt, der eine Frau ansprach, die mitten auf der Straße zusammengebrochen war. »Geht es Ihnen nicht gut?«

Wieder so ein Tagtraum.

»Doch, doch. Alles okay!« Jula schrak aus ihrer gedanklichen Flucht auf. »Wo ist Moritz? Und wer ist hinter ihm her?«

Hegel sah sich ein weiteres Mal um und auch Jula vergewisserte sich, dass niemand in Hörweite war.

»Ihr Bruder hat damals in Buenos Aires nicht deswegen jede Nacht die Unterkunft mit Ihnen gewechselt, weil er Hoteltester war. Das war nur seine Ausrede dafür, wenn auch eine plausible. Er war in Argentinien, um sich mit Leuten zu treffen, die es nicht mögen, wenn man ihre Namen kennt. Mit Leuten, die es nicht mögen, wenn man sich von ihnen abwenden will.«

Konnte das wirklich sein? War es möglich, dass Jula es übersehen hatte? Dass sie es vielleicht einfach nicht hatte sehen wollen? Nicht ein einziges Mal hatten sie ihre Koffer ausgepackt, nirgendwo. Die dürfen nicht wissen, dass ich Hoteltester bin, also verhalte dich wie ein ganz normaler Tourist! Moritz hatte tatsächlich alles in seiner Macht Stehende getan, um nicht aufzufallen. Sogar dieser nächtliche Besuch auf dem Friedhof fügte sich jetzt ins Bild. Ja, La Recoleta war kein abgelegener, einsamer Ort, sondern eine Touristenattraktion, mitten im Stadtzentrum gelegen. Aber dort waren sie eben immer noch weit weniger auf dem Präsentierteller, als sie es in einer Shoppingmall gewesen wären.

»In was war Moritz verwickelt?« Jula spürte keine Angst, keine Sorgen, keine Schmerzen mehr. Genau genommen spürte sie gerade gar nichts.

»Er hatte sich mit einer Organisation eingelassen, die Sie kennen. Mit einer Organisation, die weltweit agiert und ihre Finger in allem hat, was illegal und einträglich ist. Eine Organisation, der selbst Menschen angehören, von denen wir es niemals glauben würden.«

Jula konnte es jetzt sehen, ganz plötzlich. Vielleicht roch oder schmeckte sie es auch, ahnte es nur oder filterte es aus irgendeiner Schwingung in der Luft heraus. Was auch immer. Jedenfalls musste Hegel es nicht aussprechen.

»Remus?« Sie fror und ihre Haut wurde blass.

»Ja!« Hegel stand neben der Löwenstatue, als sei er zu einem Teil von ihr geworden. »Moritz hat eine Zeit lang Drogen verkauft. Zuerst harmloses Zeug, vorwiegend Marihuana. Aber er ist tiefer und tiefer in die Sache hineingerutscht. Irgendwann hatte er Speed, Kokain, Ecstasy und Cristal Meth im Angebot. Der Rubikon war überschritten, die hatten ihn in der Hand. Sie wissen ja selbst, wie klug Moritz ist, und das hat man auch bei Remus erkannt. Er ist aufgestiegen, weg vom Dealen auf der Straße oder in Clubs hin zur Organisation des Vertriebs. Er war der perfekte Mann für diese Leute. Ein blonder, sportlicher Vorstadtjunge aus bürgerlichem Haus. Und mit einer Familie, über die man ihn jederzeit unter Druck setzen konnte, falls er auch nur auf den Gedanken kommen sollte, aussteigen zu wollen. Und dann, eines Tages, ist ihm das Schlimmste passiert, was einem Remus-Mitglied passieren kann.«

Warum wich Julas Blick jetzt auf das blöde Moped von diesemPizzaboten aus? Warum war der Typ noch nicht aus dem Gericht zurückgekommen, der sollte doch längst wieder weggefahren sein? Nicht abdriften, Jula! Keine Fluchtreaktionen! Du musst dranbleiben!

»Was meinen Sie? Was ist ihm so Schlimmes passiert?« Sie sah wieder zu Hegel.

»Er wurde den Bossen vorgestellt! Remus hat unzählige Zellen, überall auf der Welt. Niemand kennt viele Mitglieder, nur jeweils die, die er kennen muss. Aber es gibt auch die, die an der Spitze sitzen. Und das sind keine verschlagen dreinblickenden, Zigarre rauchenden Gangster in irgendwelchen Hütten in Kolumbien. Diejenigen, die Remus kontrollieren, sind die Leute, die das Geld waschen können. Und wir reden hier von Milliarden, die wäscht man nicht einfach mit einem Spätkaufam Kottbusser Tor! Die Bosse sind Politiker, Banker, Unternehmer. Sogar Prominente. Keine Irren mit Narben im Gesicht. Jeder kann dazugehören, sogar Sie oder ich!«

»Warum hat man Moritz so nah an die Bosse rangelassen?« Jula hätte nicht sagen können, ob dieses Gespräch erst eine Minute dauerte oder bereits zwei Stunden.

»Er hat Charme. Er ist klug und hat so gar nichts von einem stereotypen Verbrecher. Er sollte nach ganz oben aufsteigen. Nicht von heute auf morgen, aber Schritt für Schritt, Jahr für Jahr.«

»Und dann?«

Hegels Gesicht schien Bedauern ausdrücken zu wollen. »Dann hat er entschieden, dass er diesen Weg nicht gehen wird. Ja, er hatte sich verführen lassen. Aber er ist nun mal kein Verbrecher. Moritz wollte aussteigen.«

»Und da war es zu spät …«

»Längst! Sie haben ihm gedroht, so massiv, dass er nur noch eine Chance gesehen hat, da rauszukommen: Er wollte auspacken, als Kronzeuge! Die Staatsanwaltschaft hat ihm einen Deal vorgeschlagen. Moritz sollte straffrei ausgehen und mit einer neuen Identität in den Zeugenschutz aufgenommen werden.«

»Aber die von Remus haben Wind davon bekommen?« Julas Stimme wurde brüchig.