Im Augenblick des Todes - Vincent Kliesch - E-Book
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Im Augenblick des Todes E-Book

Vincent Kliesch

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Beschreibung

Mörderische Schnitzeljagd in Berlin – Fall 2 für Kommissar Severin Boesherz Im 2. Boesherz-Thriller von Bestseller-Autor Vincent Kliesch (u. a. »Auris«) wird der geniale Kommissar von den dunkelsten Seiten seiner Vergangenheit eingeholt.  16 Jahre ist es her, dass Kommissar Severin Boesherz versagt hat: Den bizarr inszenierten Mord an einem Arzt, der in seiner eigenen Praxis ausgeweidet wurde, konnte er nie aufklären. Bis heute verfolgt ihn die Frage, was er übersehen hat. Auf eine zweite Chance hätte Boesherz trotzdem lieber verzichtet, doch als er am Tatort seines neuesten Falls in Berlin eintrifft, erwartet ihn eine exakte Kopie jenes brutalen Verbrechens. Und nicht nur das: Jemand hat eine verschlüsselte Botschaft hinterlassen, die nur Boesherz zu enträtseln vermag – jemand, der offenbar mehr über seine Vergangenheit weiß, als dem Kommissar lieb sein kann …  Seinen ersten Fall löst der ebenso eigenwillige wie hochintelligente Kommissar Severin Boesherz in Vincent Klieschs hartem Thriller »Bis in den Tod hinein«. Boesherz' Kollegin Olivia Holzmann ist die leitende Ermittlerin im Thriller »Im Auge des Zebras«, dem Auftakt einer neuen Reihe.

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Seitenzahl: 408

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Vincent Kliesch

Im Augenblick des Todes

Ein Bösherz-Thriller

Knaur eBooks

Über dieses Buch

16 Jahre ist es her, dass Kommissar Severin Boesherz versagt hat: Den bizarr inszenierten Mord an einem Arzt, der in seiner eigenen Praxis ausgeweidet wurde, konnte er nie aufklären. Bis heute verfolgt ihn die Frage, was er übersehen hat. Auf eine zweite Chance hätte Boesherz trotzdem lieber verzichtet, doch als er am Tatort seines neuesten Falls in Berlin eintrifft, erwartet ihn eine exakte Kopie jenes brutalen Verbrechens. Und nicht nur das: Jemand hat eine verschlüsselte Botschaft hinterlassen, die nur Boesherz zu enträtseln vermag – jemand, der offenbar mehr über seine Vergangenheit weiß, als dem Kommissar lieb sein kann … 

Inhaltsübersicht

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Prolog

Es war alles von Anfang an offensichtlich. Und trotzdem unsichtbar«, stellte Severin Boesherz fest. »Weißt du, es ist keine Tragödie, sich zwischen richtig und falsch entscheiden zu müssen. Bei einer Tragödie hat man nur die Wahl zwischen richtig und richtig.«

Olivia Holzmann behielt aufmerksam die Dienstwaffe ihres Kollegen im Blick, die dieser griffbereit auf einem goldfarbenen Hocker neben sich abgelegt hatte. Ob sie entsichert war, konnte Olivia nicht erkennen. Der Sicherungshebel befand sich auf der unten liegenden Seite.

»Und egal, für welches richtig man sich auch entscheidet – es ist in jedem Fall falsch«, entgegnete sie dann.

Severin Boesherz saß nachdenklich auf seinem Sessel aus dem neunzehnten Jahrhundert, den er von seinem Großvater geerbt hatte, und war dabei vollkommen anders gekleidet, als Olivia es von ihm gewohnt war. Sie hatte ihren Kollegen bislang ausschließlich in edlen Dreiteilern, mit maßgefertigten Hemden, Manschettenknöpfen, Krawatte und italienischen Lederschuhen gesehen. Jetzt, da er ruhig und mit einem Blick, in dem bereits eine Ahnung des Unvermeidlichen zu liegen schien, vor ihr saß, war davon jedoch nichts mehr zu sehen. Der Trainingsanzug, den Boesherz wie eine Verkleidung trug, stand ihm ebenso wenig wie die abgenutzten Turnschuhe und das T-Shirt mit dem stilisierten Foto eines Popstars darauf, den der Kommissar noch nicht einmal kannte.

»Ich musste in den vergangenen Tagen viele Entscheidungen treffen«, fuhr Boesherz besonnen fort. »Und das habe ich auch getan. Was hätte auch schon passieren sollen? Die Tragödie war ja sowieso nicht abzuwenden.«

Boesherz hatte eine Flasche von seinem Lieblingsrotwein geöffnet; von der Musikanlage kamen die Klänge einer Aufnahme der Oper Fidelio. Der Kommissar sah seine Kollegin nicht an. Sein Blick war auf die Fensterfront gerichtet, durch die man über den Balkon hinaus auf die alten Villen sehen konnte, die Boesherz’ Wohnhaus direkt gegenüber lagen.

»Kennst du diese Hundehalter, die sich einen Spaß daraus machen, so zu tun, als ob sie einen Stock werfen und sich dann freuen, wenn der Hund losrennt, um ihn zu holen?«, setzte er an. »Die Tiere suchen aufgeregt und voller Vorfreude nach dem Spielzeug, um dann festzustellen, dass es überhaupt keinen Stock für sie zu holen gibt.«

Olivia verzichtete auf eine Antwort.

»Genau so ist das Leben«, fuhr Boesherz daher fort. »Es tut nur so, als ob es einen Stock für uns wirft. Und dann lacht es sich kaputt, wenn wir noch zum tausendsten Mal loshecheln, um ihn zu suchen. Finden werden wir ihn nie …«

Die Nacht schien unheilvoll und wie ein düsterer Schleier über Berlin zu liegen. Und obwohl Olivia erst wenige Minuten zuvor den Auftrag erhalten hatte, zu Boesherz zu fahren, schien dieser sie dennoch aus irgendeinem Grund bereits erwartet zu haben.

»Hast du mich die ganze Zeit über belogen?«, fragte Olivia in einem Ton, mit dem sie ihre Angst vor der Antwort zu unterdrücken versuchte.

Boesherz schmunzelte und nahm noch einen Schluck aus seinem Rotweinglas.

»Manchmal muss man viele belügen, um Einzelne zu schützen«, antwortete er schließlich.

Dann deutete er auf die Flasche, die auf dem Couchtisch stand.

»Möchtest du?«, fragte er, doch sofort korrigierte er sich: »Ach nein, du bist ja noch im Dienst.«

»Ich würde dich so gern verstehen«, setzte Olivia nach. »Was ist denn bloß mit diesem Jungen?«

Jetzt, zum ersten Mal, bemerkte Olivia eine emotionale Regung bei Boesherz. Auch wenn sie nicht deuten konnte, wie diese genau auszulegen war.

»Vergiss den Jungen«, entgegnete er schließlich. Dann lehnte er sich zurück, überschlug die Beine und begann, scheinbar zusammenhanglos, zu erzählen: »Wir hatten damals ein Aquarium in unserer Grundschulklasse.«

Olivia atmete flacher als sonst. Sie bemühte sich, ihre Anspannung zu verbergen, obgleich ihr bewusst war, dass sie keine Chance hatte, bei ihrem Kollegen damit durchzukommen.

»Jeden Tag durfte eins von uns Kindern die Fische füttern«, erinnerte sich Boesherz weiter. »Es ging nach dem Alphabet. Mit Boesherz wäre ich gleich der Zweite gewesen, aber wir waren erst sechs Jahre alt – es ging nach den Vornamen. Severin. Ich war fast der Letzte auf der Liste.«

Sowohl Olivia als auch ihr Kollege waren sich im Klaren darüber, dass die Zeit drängte. Die Kollegen warteten vor dem Haus, und es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie die Geduld verlieren würden. Dennoch erzählte Boesherz leidenschaftslos weiter.

»Ich habe jeden Tag vor dem Aquarium gestanden und den Fischen versprochen, dass sie bald ihr Futter von mir bekommen würden. Immer waren noch andere Kinder vor mir dran, aber das hat mir nichts ausgemacht. Weil ich wusste, dass der Tag kommen würde, an dem ich an der Reihe sein würde. Aber dann ist etwas passiert. Meine Eltern hatten entschieden, mich auf eine andere Schule zu schicken. Mit einem speziellen Förderzweig für Hochbegabte. Das war schon länger in Planung, aber sie haben mir davon lieber nichts erzählt. Ich hätte pausenlos dagegen protestiert; welcher Sechsjährige möchte schon seine Freunde verlassen? Und so kam es dann, dass ich ganz plötzlich und unvorbereitet meinen letzten Tag in der Klasse hatte.«

»Aber du warst noch nicht mit den Fischen dran gewesen«, verstand Olivia.

»Ich dachte, weil ich ja nun gehen musste, würde die Lehrerin eine Ausnahme machen und mich vorziehen. Aber das hat sie nicht getan. Wahrscheinlich ist sie gar nicht auf die Idee gekommen, weil das Fischefüttern für sie einfach viel zu unbedeutend war und sie im Traum nicht angenommen hätte, dass das einem Kind so viel bedeuten könnte. Und so musste ich meine Freunde und mein vertrautes Umfeld verlassen, ohne vorher wenigstens noch die Fische gefüttert zu haben.«

Olivia sah auf die Uhr.

»Wir müssen los«, sagte sie dann, und ihre Stimme klang brüchig dabei.

Boesherz roch noch einmal an seinem Rotwein, stellte das Glas dann auf dem Couchtisch ab und griff nach seiner Dienstwaffe. Olivias Pulsschlag erhöhte sich für einen Moment. Dann entnahm Severin der Pistole jedoch das Magazin, sicherte sie und reichte sie seiner Kollegin.

»Ich habe die Fische nie gefüttert!«, stellte er fest und erhob sich. Dann lächelte er Olivia zu und sagte: »Ich freue mich, dass Castella dich geschickt hat.«

»Das war das Mindeste«, entgegnete Holzmann und zog, wenn auch widerwillig, ihre Handschellen aus der Tasche. »Tut mir leid, aber …«

»… du musst dich nicht entschuldigen. Warum solltest du?«

Unaufgefordert streckte Boesherz seiner Kollegin die Handgelenke entgegen. Und während diese nun widerwillig ihre Handschellen daran befestigte, erklärte sie so sachlich, dass es fast schon unheimlich klang: »Ich nehme dich fest. Du musst keine Angaben machen, außer zu deiner Person.«

Kapitel 1

Berlin. einige Tage zuvor.

Die dunkle Limousine kam beinahe geräuschlos zum Stehen, bevor ihr Fahrer den Motor abschaltete, ausstieg und mit sicheren Schritten auf die Parkbank zuging, auf der Severin Boesherz saß.

»Sie sind etwas größer, als ich Sie mir vorgestellt habe«, eröffnete der Unbekannte ohne Umschweife das Gespräch.

Der selbstbewusst wirkende Mann trug einen dunkelblauen Anzug, farblich abgestimmte Schuhe und erinnerte mit seiner stilsicheren Erscheinung ein wenig an die großen Hollywoodstars der Fünfziger- und Sechzigerjahre. Es war nichts erkennbar Bedrohliches an ihm, und vielleicht war es unter den gegebenen Umständen gerade das, was ihn auf eine schwer zu beschreibende Weise beängstigend wirken ließ.

»Ich hoffe, ich bin nicht auch noch dicker, als Sie es sich vorgestellt haben«, erwiderte Boesherz trocken, während er kurz von seiner Zeitung aufsah, um einen knappen Augenkontakt mit dem Fremden herzustellen, den er bereits auf dessen Weg zur Parkbank mit geübtem Blick gemustert hatte.

Boesherz hatte eben erst einen ausgedehnten Spaziergang um den Berliner Schlachtensee unternommen. So, wie er es fast immer tat, wenn er einen freien Tag hatte. Sein Ausflug folgte dabei einem immer gleichen Ablauf. Fast exakt zwei Stunden lang spazierte Boesherz in der belebenden Luft des Berliner Frühherbstes um das Gewässer und sah Joggern, Radfahrern und Hundebesitzern bei ihren Unternehmungen zu. Wie jedes Mal, wenn er seinen Spaziergang machte, war er auch an diesem Tag auf halber Strecke in das Restaurant Fischerhütte eingekehrt, das direkt am Ufer lag. Er hatte dort einen Elsässer Flammkuchen gegessen und ein Glas Weißwein dazu getrunken. Im Anschluss an seinen Rundgang hatte er dann auf derselben Bank in der Nähe des S-Bahnhofes Schlachtensee Platz genommen, um in aller Ruhe in seiner Zeitung zu lesen. Wirklich alles an diesem Tag war für den Rheingauer wie immer verlaufen. Bis zu diesem Augenblick.

»Darf ich?«, erkundigte sich der Unbekannte formvollendet und deutete auf den freien Platz neben dem Kommissar.

»Ich lese gerade einen Artikel über eine Frau, die in ihrem Wasserbett gestorben ist«, antwortete dieser. »Sie hat sich betrunken und unter Drogeneinfluss in voller Bekleidung hingelegt. Dann hat sie im Schlaf mit ihren High Heels die Matratze eingerissen, woraufhin das Wasser ausgelaufen ist. Bevor sie zu sich kommen konnte, war sie auch schon in ihrem eigenen Bett ertrunken. Was meinen Sie? Haben Sie eine spannendere Geschichte für mich?«

Der Fremde lächelte, bevor er sich ohne Aufforderung setzte. Dann richtete er seinen Blick auf den blauen Himmel, schlug seine Beine übereinander und antwortete: »Ist das nicht ein wunderschöner Tag? Was halten Sie davon, wenn wir einen kleinen Ausflug machen? Ich nehme doch an, mein Fahrzeug entspricht Ihrem Geschmack?«

Severin Boesherz war nicht entgangen, dass sein Gesprächspartner in einem Volkswagen Phaeton vorgefahren war. Der Kommissar selbst besaß einen solchen Wagen, und das, obwohl ihm aufgrund seiner Position beim LKA Berlin ein Dienstfahrzeug zugestanden hätte. Doch Boesherz hatte kein Interesse daran, freiwillig auf den Komfort seines Oberklassefahrzeuges zu verzichten. Auch wenn er unter seinen Kollegen damit nicht selten zur Zielscheibe von Spott und Häme wurde.

»Der Zwölfzylinder Benziner?«, fragte Severin interessiert.

»Mit vierhundertfünfzig PS«, erhielt er zur Antwort.

»Streng genommen eine Energieverschwendung – aber zugegebenermaßen eine höchst vergnügliche«, stellte Boesherz fest und widmete sich demonstrativ wieder seiner Zeitungslektüre.

»Nun ja, man kann den Bären wohl nicht waschen, ohne sein Fell nass zu machen«, kommentierte der Fremde, bevor er bemerkte: »Ich habe mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt. Nennen Sie mich Ismael.«

Boesherz gab sich unbeeindruckt.

»Und was führt Sie zu mir, Ismael?«

Der Fremde schmunzelte vergnügt. Er hatte allem Anschein nach von Boesherz, der wie immer einen eleganten Dreiteiler mit Krawatte und Manschettenknöpfen trug, keine andere Reaktion erwartet.

»Ich habe eine kleine Überraschung für Sie mitgebracht, Herr Hauptkommissar«, erklärte er nun.

»Kleine Überraschungen enden nicht selten in großen Katastrophen.«

Ismael lachte auf.

»Da spricht der Kriminalist, sehr gut!«, entgegnete er. Dann senkte er seine Stimme wieder und fuhr fort: »Nun kommen Sie schon. Normalerweise läuft es bei Ihnen doch so: Etwas Ungewöhnliches geschieht, Sie fragen sich, wer oder was wohl dahinterstecken könnte, stellen allerlei Ermittlungen an, und am Ende verstehen Sie, wen Sie die ganze Zeit über gesucht haben.«

»Das ist das übliche Prozedere«, bestätigte der Kommissar, noch immer scheinbar ungerührt.

»Ermüdet es Sie nicht auch, dass so vieles im Leben so unerträglich vorhersehbar ist? So gleich, sich ständig wiederholend?«

»Eigentlich ist es genau diese Vorhersehbarkeit, die meinen Beruf erleichtert.«

»Und doch möchte ich, dass wir das Spiel heute einmal andersherum spielen!«

Ismael war nicht besonders groß, hatte volles, kräftiges Haar und buschige Augenbrauen. Es war nichts Unverkennbares an ihm, doch die ungewöhnliche Art seines Auftretens im Zusammenspiel mit einer schwer zu beschreibenden Präsenz beeindruckte Severin weit mehr, als er es sich anmerken ließ.

»Sie trauen sich also zu, mich überraschen zu können?«, erkundigte er sich und legte seine Zeitung schließlich beiseite.

»Sollten Sie nicht überrascht sein, bekommen Sie Ihr Geld zurück!«, entgegnete der Fremde mit charismatischem Lächeln, erhob sich von der Bank und trat an seinen grauen Phaeton mit den abgedunkelten Fondscheiben heran. Dann öffnete er die Tür zur Rückbank.

»Meine Mutter hat mir davon abgeraten, mich zu fremden Männern ins Auto zu setzen.«

»Sie hat Ihnen sicher auch davon abgeraten, Alkohol zu trinken«, erwiderte Ismael und demonstrierte Boesherz den Rotwein, den er für die Fahrt in der Mittelkonsole des Fahrzeuges deponiert hatte. »Quercus, das ist doch Ihre Marke? Oder haben Sie mittlerweile gewechselt? Der hier ist von zweitausendsechs.«

Tatsächlich handelte es sich bei dem Spätburgunder aus dem Rheingau um Boesherz’ Lieblingswein, insbesondere aus dem genannten Jahrgang.

»Der Zweitausendsechser ist in Singapur zum drittbesten Spätburgunder der Welt gewählt worden. Aber ich vermute, Sie wissen das«, antwortete er und erhob sich nun ebenfalls von der Parkbank. »Was, wenn ich nun dem Rat meiner Mutter folge und Sie nicht auf Ihrer mysteriösen Reise begleite?«

Ismael lachte ein weiteres Mal auf, dieses Mal sogar noch etwas lauter. Dann schloss er für einen Moment die Augen, legte den Kopf schräg in den Nacken und antwortete selbstsicher: »Nun, in diesem Fall müsste ich zu Plan B übergehen. Aber glauben Sie mir: Plan A wird Ihnen viel mehr Spaß machen! Kommen Sie schon, ich weiß doch, dass Sie neugierig sind.«

Boesherz war unbewaffnet, und die hintere Tür des Phaetons konnte vom Fahrer ohne Weiteres mit der automatischen Kindersicherung von innen verriegelt werden.

»Also gut«, entschied er dennoch und ging auf den Wagen zu. »Ich muss gestehen, Sie haben sich meine Aufmerksamkeit ehrlich verdient. Wo fahren wir hin?«

Ismael lächelte süffisant, während der Kommissar es sich auf der Rückbank bequem machte. Schließlich antwortete er seinem Gast: »Das ist ja das Besondere – heute ist nämlich Ihr ganz großer Tag! Ich bringe Sie jetzt an den interessantesten Ort, den Ihnen ein Mensch überhaupt nur bieten kann! Und, ist das nichts?«

Kapitel 2

Ebenso kraftvoll wie elegant bog die Limousine an der Spanischen Allee auf die Stadtautobahn ab, während Boesherz einen guten Schluck des edlen Quercus in das Glas schenkte, das in der Halterung seiner Armlehne steckte. Es handelte sich dabei um ein grobes Wasserglas, aus dem der Kommissar üblicherweise keinen Rotwein trinken würde. Doch ein bauchiges Weinglas mit langem Stil hätte in der Aussparung seiner Armlehne keinen Halt gefunden. Severin sog genüsslich den ihm wohlvertrauten Duft von roten Beeren, Holunder und Eichenholz ein, während er dabei sowohl Ismael als auch das Fahrzeug auskundschaftete. Dabei entging ihm nicht, dass eine kleine Kamera an der Windschutzscheibe befestigt war. Üblicherweise dienten solche Kameras dem Fahrer dazu, nach Verkehrsunfällen seine Unschuld beweisen zu können. Nun war die Linse jedoch nicht auf die Fahrbahn, sondern auf das Innere des Phaetons ausgerichtet. Zudem erklang über die Musikanlage eine ältere Aufnahme der Oper Medea von Giovanni Pacini. Boesherz genoss die Musik, ungeachtet der absonderlichen Umstände.

»Sie sind erstaunlich gut über mich informiert«, stellte er fest, während er sich die Fahrtroute einprägte.

»Das sollte ich auch sein, ich habe schließlich nicht irgendwen an Bord. Man hört einiges über Sie, Herr Kommissar. Stimmt es, dass Sie an einem Aschenbecher erkennen können, wer darin seine Zigarette ausgedrückt hat?«

»Solche Dinge erzählt man sich über mich?«

»Dem Vernehmen nach vor allem in den Gefängniszellen.«

»Ich darf Ihnen versichern, dass ich noch niemanden hinter Gitter gebracht habe, weil er eine Zigarette ausgedrückt hat.«

Die Fahrt dauerte nun bereits mehr als zehn Minuten, und noch immer war nicht abzusehen, wann der geheimnisvolle Fremde preisgeben würde, aus welchem Grund er Boesherz ausfindig gemacht und zu der rätselhaften Partie eingeladen hatte.

»Was können Sie mir denn über den interessanten Ort sagen?«, erkundigte sich Boesherz schließlich.

»Wenn ich Ihnen dazu etwas verrate, ist es doch keine Überraschung mehr, oder?«, erhielt er zur Antwort. »Aber soweit ich weiß, haben Sie Freude an Rätseln. Also lassen Sie mich so viel sagen: Der Ort, an den ich Sie bringe, ist wie eine Schlange. Sie liegt die längste Zeit über einfach nur da. Ruhig, oft schön, manchmal aber auch bedrohlich. Doch bisweilen bewegt sie sich. Auf uns zu, von uns weg, an uns vorbei. Mitunter schnappt sie auch nach uns. Dann müssen wir hoffen, dass ihr Biss nicht giftig ist. Und falls doch, dann können wir nur beten, dass wir ihn überleben und sich die Schlange danach für lange Zeit wieder zurückzieht.«

»Interessant«, entgegnete Boesherz, nachdem er einen weiteren Schluck Quercus getrunken hatte. »Und, schnappt die Schlange nach mir?«

»Das hat sie doch schon! Warum wäre ich wohl sonst hier?«

»Ich spüre aber keine Lähmungserscheinungen.«

Ismael unterdrückte ein Schmunzeln, während er seinen Blick nach vorn auf die Straße richtete. Nicht ein einziges Mal während der gesamten Fahrt sah er in den Rückspiegel.

»Wir sind gleich an Ihrem Ziel«, kündigte er an, nachdem er zwischenzeitlich von der Stadtautobahn abgefahren war und sich nun einer ruhigen Gartensiedlung im etwas außerhalb gelegenen Stadtbezirk Spandau näherte.

»Und ich nehme an, Sie möchten mir selbst jetzt noch nicht mitteilen, um was für ein Ziel es sich handelt?«

»Es kommt nicht oft vor, dass Sie so etwas nicht von selbst erraten können, oder?«, kokettierte der Fahrer daraufhin. »Aber es Ihnen jetzt einfach so zu erzählen würde Ihnen doch die Vorfreude verderben!«

»Ich empfinde keine Vorfreude.«

»Oh, das sollten Sie aber! Denn obwohl ich weiß, wie brillant Sie kombinieren können, darf ich Ihnen doch eines versprechen: Sie werden nicht darauf kommen, was Sie erwartet!«

Boesherz hatte jedes Detail genau registriert. Das Aussehen des Unbekannten, das Auto, die Weinflasche, die Fahrtroute, jedes Wort, das sie miteinander gewechselt hatten. Und doch, in diesem Punkt musste er Ismael recht geben. Tatsächlich hatte er noch keine echte Vorstellung davon, welchen Sinn die befremdliche Aktion haben mochte.

»Bisher haben Sie nichts über mich gewusst, das man nicht auch herausfinden könnte, wenn man sich mit meiner Supermarktkassiererin unterhalten würde. Meine Automarke, meinen Lieblingswein, mein Interesse an Opern. Wenn Sie mich beeindrucken wollen, dann muss schon noch etwas mehr kommen.«

Der Fahrer setzte den Blinker, bevor er unmittelbar darauf den Phaeton am Straßenrand zum Stehen brachte. Zum ersten Mal seit Fahrtbeginn wandte er sich nun zu Boesherz um.

»Es kommt sogar noch viel mehr, als es bräuchte, um Sie zu beeindrucken! Die letzten Meter bis zu Ihrer Überraschung müssen Sie jetzt allerdings allein zurücklegen.«

»Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir uns wiedersehen werden«, entgegnete der Kommissar und versuchte dabei die Mimik seines Gegenübers zu lesen. »Werde ich Sie suchen?«

»Ohne jeden Zweifel!«, antwortete der Fremde mit einem Anflug von Vorfreude. »Und es würde mir ein Fest sein, mich finden zu lassen. Falls Sie es rechtzeitig schaffen sollten, versteht sich.«

»Rechtzeitig?«

»Herr Hauptkommissar, ich lasse Ihnen heute ein Privileg zuteilwerden. Nicht nur, dass ich Ihnen den erbaulichsten Tag des ganzen Jahres schenke, ich zeige Ihnen auch mein Gesicht. Ist das nicht ein Traum für einen Polizisten? Von Anfang an zu wissen, mit wem man es zu tun hat?«

Boesherz gab sich unbeeindruckt.

»Ich könnte Sie jetzt sofort zur Feststellung Ihrer Personalien mit auf die Wache nehmen.«

»Aber in diesem Fall würden Sie die Dinge aus dem Gleichgewicht bringen, und der ganze Spaß wäre verdorben.«

»Sie pokern hoch«, stellte Boesherz fest.

»Das kann ich mir ja auch erlauben. Ich bluffe nämlich nicht«, konterte Ismael eloquent. »Sie sollten jetzt aussteigen.«

Boesherz nickte zustimmend und leerte sein Weinglas. Er hatte sich nur sehr wenig von dem Quercus aus dem Spitzenjahrgang eingeschenkt, um seine Sinne nicht zu vernebeln.

»Gehen Sie jetzt einfach die Straße bis zum Ende entlang. Dann nach links. Sie sehen dann ein kleines Backsteinhaus. Das Gartentor steht offen. Gehen Sie auf das Grundstück, dann hinter das Haus und öffnen Sie die Terrassentür. Sie ist nur angelehnt. Treten Sie ein – und genießen Sie Ihre Überraschung!«

Boesherz war sich bewusst, dass er keine weiteren Informationen von seinem mysteriösen Gesprächspartner erhalten würde. Er stieg daher aus dem Wagen und warf die Tür hinter sich zu, woraufhin sich die Limousine wieder in Bewegung setzte und nach wenigen Sekunden aus seinem Blick verschwunden war.

 

Severin war den Anweisungen des Fremden gefolgt. Nun befand er sich vor dem Grundstück mit dem Backsteinhaus, dessen Gartentor wie angekündigt offen stand. Er sah auf das Namensschild.

Dr. Praetorius. Nie gehört.

Boesherz dachte kurz darüber nach, ob er seine Kollegen von der Schutzpolizei hinzuziehen sollte, bevor er das fremde Grundstück betrat. Er kam jedoch zu dem Schluss, dass objektiv kein überzeugender Grund dafür vorlag. Und noch etwas anderes hielt ihn davon ab, nach seinem Handy zu greifen, um in seiner mysteriösen Lage Unterstützung zu erbitten: seine Neugier. Es kam nicht oft vor, dass es einem Menschen gelang, Boesherz nicht allein schon durch sein Erscheinungsbild alles zu verraten, was dieser von ihm wissen musste. Doch der seltsame Herr in dem grauen Phaeton hatte es geschafft. Er hatte Boesherz’ Aufmerksamkeit gewonnen, ihn dazu bewegt, eine skurrile Irrfahrt anzutreten, und jetzt, unmittelbar vor der Beantwortung der drängendsten Frage, würde er nicht wie ein kleiner Junge um Hilfe rufen, sondern sich der Situation so stellen, wie man es offenbar für ihn vorgesehen hatte.

Der Garten war gepflegt, und anhand der Techniken, mit denen er angelegt und instand gehalten war, konnte Boesherz erkennen, dass sich professionelle Gärtner darum kümmerten. Nichts Ungewöhnliches oder gar Beunruhigendes ließ sich ausmachen. Genau genommen empfand Severin die Atmosphäre sogar als angenehm, während er sich nun langsam und umsichtig über den Rasen bis zum Haus bewegte.

»Herr Doktor Praetorius?«, rief er durch die Terrassentür, die tatsächlich nur angelehnt war. »Mein Name ist Boesherz, darf ich reinkommen?«

Unwillkürlich musterte der Kommissar durch die Glastür hindurch jeden Winkel des Wohnzimmers. Es dauerte keine fünf Sekunden, bis ihm etwas aufgefallen war.

Es gibt mehrere Türen, die in verschiedene Räume führen. Unter den Regalen und Schränken im Wohnzimmer ist länger nicht Staub gewischt worden. Außer unter dem einen, das neben der Tür steht, die in den Flur führt. Er will mich auf diese Tür aufmerksam machen.

»Ich komme jetzt rein!«

Ein Spirituosenwagen mit verschiedenen Whiskys und Cognacs, daneben ein Zigarrenhumidor. Hausschuhe in Größe sechsundvierzig, ein Herrenmantel an der Garderobe, ein einzelnes großes, leeres Bierglas auf dem Fernsehtisch. Dr. Praetorius ist ein Mann, aber nicht derjenige, der mich hergefahren hat. Der trug Schuhgröße zweiundvierzig und wäre zu groß für den Mantel gewesen.

Boesherz erreichte nun den Flur, der zu den anderen Räumen des Hauses führte. Nur eine der Türen war geschlossen, ein Schild mit der Aufschrift Praxis war daran befestigt.

Ein Foto von Christiaan Barnard an der Wand. Barnard hat die erste Herztransplantation der Welt durchgeführt. Historische medizinische Instrumente im Flur. Praetorius ist Chirurg.

Boesherz klopfte an die Praxistür, doch es erfolgte keine Reaktion.

›Treten Sie ein – und genießen Sie Ihre Überraschung!‹ Also gut, dann wollen wir mal …

Boesherz griff nach der Klinke, drückte sie vorsichtig nach unten und öffnete die Tür dann einen Spaltbreit. Das Szenario, auf das sein Blick nun fiel, verschlug ihm für einen Augenblick den Atem. Sein Herzschlag beschleunigte sich rasant, und er musste um Fassung ringen, als er mit furchtbarer Wucht erkannte, wovon Ismael die ganze Zeit über gesprochen hatte.

›Ein Ort … wie eine Schlange. Oft schön, manchmal aber auch bedrohlich … Mitunter schnappt sie nach uns. Dann müssen wir hoffen, dass ihr Biss nicht giftig ist.‹ – Das ist also der interessanteste Ort, an den er mich bringen konnte: meine Vergangenheit!

Kapitel 3

Dr. Praetorius schien aufrecht hinter seinem Schreibtisch zu sitzen. Sein Mörder hatte die Leiche des Arztes gekonnt mit Angelschnüren an dessen Sessel festgebunden, bis es schließlich so aussah, als befände sich der Chirurg im Gespräch mit einem Patienten. Dann hatte der Täter das Kunststoffskelett, das in einer Ecke der Praxis aufgestellt gewesen war, von dessen Halterung entfernt. Er hatte es dem Toten direkt gegenüber auf einen Patientenstuhl drapiert und ebenfalls mit Angelschnüren daran befestigt. Erst dann war der Mörder dazu übergegangen, zunächst das Herz, danach die Leber und schließlich den Magen von Dr. Praetorius an die jeweils anatomisch korrekte Stelle in das Skelett einzuhängen. Zuvor hatte er sein Opfer im nebenan gelegenen Operationsraum ausgeweidet und es anschließend wieder mit dessen Arztkittel bekleidet. Als schreckliches Finale hatte der Täter Praetorius zudem skalpiert, um dem Skelett danach Kopfhaut und Haare des Arztes wie eine Perücke aufsetzen zu können. Zusätzlich war dem Arzt auch noch der kleine Finger seiner linken Hand abgetrennt worden, der jedoch nirgendwo in der Praxis zu finden war. Der unwirkliche Anblick der Leiche, die einem Skelett mit ihren eigenen Eingeweiden darin gegenübersaß, war auf entsetzliche Weise ebenso bestialisch wie faszinierend.

 

Die Ruhe in der familiär anmutenden Gartensiedlung war gewichen. Die Schutzpolizei hatte das gesamte Areal abgesperrt, der Erkennungsdienst war damit beschäftigt, Spuren im Haus und auf dem Grundstück zu sichern, und die Befragung der Anwohner war im vollen Gang.

»Und du bist einfach zu diesem Typen ins Auto gestiegen und mitgefahren? Ohne eine Ahnung zu haben, wer er war und was er wollte?«, fragte Olivia Holzmann ihren Kollegen Boesherz, mit dem sie auf einer Holzbank vor dem kleinen Springbrunnen im Garten des Hauses Platz genommen hatte.

»Gerade deswegen«, betonte Severin. »Die Situation hatte einen Reiz, dem ich mich nicht entziehen konnte. Und offen gestanden möchte ich jetzt auch nicht mehr wissen, welchen Plan B er gehabt hätte, wenn ich nicht eingestiegen wäre.«

Boesherz bemerkte einen Frosch, der in dem Wasserbecken des Springbrunnens saß.

»Und du hast wirklich überhaupt keine Vorstellung davon, wer dieser Ismael ist?«, drängte Olivia. »Irgendwas muss er dir doch von sich verraten haben. Mit seiner Frisur, seiner Kleidung, was weiß ich? Du siehst doch sonst immer alles.«

Boesherz war auffallend ruhig und in sich gekehrt. Der Kommissar, dessen selbstsicheres Auftreten in Verbindung mit seiner überragenden Kombinationsgabe ihn oft unnahbar, nicht selten sogar herablassend erscheinen ließ, zeigte Olivia jetzt eine Seite von sich, die sie bislang noch nicht an ihm beobachtet hatte.

»Ich kann ihn dir bis ins Detail beschreiben. Alles, was er gesagt, getan oder gelassen hat«, hielt Severin ihr entgegen, während der Frosch gerade seine Backen aufblies. »Ihr bekommt ein Phantombild, das besser wird als ein Foto. Aber darüber hinaus war er wie ein weißes Blatt für mich. Ein Anzug mittlerer Preislage, den er überall herhaben kann, keine besondere Marke, nichts Seltenes. Seine Schuhe sind Massenware aus China, und seine Frisur bekommt jeder Azubi im zweiten Ausbildungsjahr hin. Dafür muss er in keinen teuren Salon gehen.«

»Und das Kennzeichen seines Autos?«

»Schon gecheckt. Die Schilder waren geklaut, was auch sonst? Der Phaeton war sowieso nicht seiner.«

»Nicht?«

Boesherz winkte ab.

»Die Außenspiegel waren nicht exakt auf seine Sichthöhe eingestellt, und die Lehne von seinem Sitz war zu steil. Er hat sich am Steuer nicht entspannt, weil er mit dem Wagen nicht richtig vertraut war. Trotzdem hat er nicht wie ein Chauffeur gewirkt, er hatte Charisma und Präsenz.« Boesherz schloss einen Moment lang die Augen. »Ich kann es kaum erwarten, ihn zu verhören.«

»Was meinst du? War Ismael derjenige, der das da drinnen angestellt hat?«, wollte sie nun wissen.

»Das möchte man vermuten«, antwortete Boesherz. »Obwohl er nicht nach Blut gerochen hat und seine Hände unversehrt waren. Bei dieser Sauerei sollte er sich eigentlich ein paar Schrammen zugezogen haben. Aber wenn er vorsichtig war oder Handschuhe anhatte, kann er es auch unverletzt hinbekommen haben.«

»Wie alt war er denn etwa?«

»Nach Hautbild, Zahnstatus, Haaren und Ausdrucksweise etwa Mitte dreißig. Damit wäre er damals zwar ein bisschen jung gewesen, aber auch wieder nicht zu jung.«

»Damals?«, staunte Olivia und sah ihren Kollegen unverwandt an.

Boesherz nickte. Während er noch abwägte, wie er seiner Kollegin beibringen sollte, was er soeben angedeutet hatte, sprang der Frosch vom Springbrunnen hinunter und hüpfte durch den Garten hindurch in Richtung des nahe gelegenen Sees davon.

»Dieser Mord da drinnen …«, setzte Severin jetzt zögerlich an, doch der Ruf eines der Kollegen vom Erkennungsdienst unterbrach ihn.

»Könnt ihr mal reinkommen?«, schallte es den beiden Kommissaren vom Haus her entgegen. »Adrian hat eine erste Einschätzung!«

Ohne seinen Satz zu beenden, erhob sich Boesherz und ging zielstrebig auf das Haus zu. Olivia folgte ihm.

 

»Handwerklich eine saubere Arbeit«, stellte Dr. Adrian Homann, der Rechtsmediziner, anerkennend fest, während er die Leiche von Dr. Praetorius dabei unablässig von allen Seiten betrachtete.

»Wie lange hat der Täter wohl dafür gebraucht?«, wollte Olivia wissen.

»Also, der Schädel ist ziemlich schwer verletzt. Dadurch, dass er durch das Skalpieren freigelegt worden ist, kann man den Bruch deutlich sehen«, antwortete Homann und deutete auf den enthäuteten Hinterkopf des Toten, der eine unverkennbare Fraktur aufwies. »Sieht aus, als hätte man ihn mit einem schweren Gegenstand niedergeschlagen. Ich vermute, Praetorius ist dann an einer Hirnblutung durch das Schädeltrauma gestorben. Das würde auch erklären, dass es keine erkennbaren Abwehrverletzungen gibt. Es ist wohl wenigstens schnell und schmerzlos für ihn abgelaufen. Im Nebenzimmer ist der Operationsraum. Die Liege ist vollkommen mit Blut verschmiert; da hat der Täter den Körper dann wohl geöffnet. Mit dem Y-Schnitt.«

Der Rechtsmediziner hatte die erste Leichenschau am Fundort abgeschlossen. Dabei hatte er auch den Kittel von Dr. Praetorius aufgeknöpft und festgestellt, dass der Körper des Arztes mit derselben Schnitttechnik seziert worden war, die auch bei Obduktionen von Leichen angewendet wird.

»Der Täter musste die Haut zur Seite klappen, dann war das Omentum majus freigelegt. Das große Netz, dient der Aufhängung der Organe im Bauchraum. Das konnte er relativ leicht wegschneiden, dafür hat er nicht lange gebraucht. Ein bisschen Zeit muss ihn dagegen das Herz gekostet haben. Die Kollegen haben nebenan einen Seitenschneider gefunden, mit dem hat er wohl die Rippen durchtrennt. Die musste er dann wegbrechen, den Herzbeutel aufschneiden, die Gefäße abtrennen, und dann konnte er es rausnehmen. Die Leber ging sicher schneller, da musste er nicht durch Knochen durch. Einfach hinter den Rippen hervorziehen und die Gefäße kappen. Die Gallenblase hat er dabei gleich noch mitbekommen. Danach hat er dann wohl noch ein bisschen Zeit für den Magen benötigt.« Adrian Homann zeigte an seinem eigenen Körper die Lage des Organs. »Der Magen liegt hier, neben der Leber im linken Bereich der oberen Bauchhöhle. Der muss von den Aufhängebändern getrennt werden. Dann musste der Täter die Speiseröhre durchschneiden, die den Magen nach oben begrenzt, und den Zwölffingerdarm, der ihn nach unten mit dem Gedärm verbindet. Den kleinen Finger hat er dann ganz schnell abbekommen, das hat ihn nur ein paar Sekunden gekostet. Dann musste er noch das Opfer und die Organe waschen, damit wir den Toten schön sauber vorfinden. Die Eingeweide mit Angelschnur in das Skelett einhängen, mit einem Skalpell um die Haare herum schneiden, die Kopfhaut abziehen, die Leiche wieder bekleiden, auf den Stuhl hieven, festbinden. Also, das ist jetzt eine grobe Schätzung, aber ich nehme an, mit einer Stunde kann er hingekommen sein. Nach dem Status der Leichenstarre vermute ich, dass der Tod noch in den Morgenstunden eingetreten ist, aber die Obduktion müsst ihr natürlich noch abwarten. Ihr wisst ja, bei ausgebluteten Leichen ist es schwerer, den Todeszeitpunkt zu ermitteln, weil es keine Totenflecken gibt.«

Olivia versuchte, sich keine emotionale Regung anmerken zu lassen. Schließlich wandte sie sich zu Boesherz um.

»Wenn Ismael sich nach seiner Metzgerarbeit noch gründlich sauber gemacht und umgezogen hat, dann könnte das zeitlich problemlos hinkommen.«

Severin ging nicht sofort auf Olivias Hypothese ein. Er betrachtete stattdessen aufmerksam, beinahe abwesend, den Tatort.

Die Praxis war, allein schon aus hygienischen Gründen, minimalistisch eingerichtet. Hinter dem Besprechungstisch des Arztes stand ein hohes Regal mit Glastüren, durch die zahlreiche Medikamente und Behandlungswerkzeuge zu erkennen waren. Die Fenster waren mit leicht vergilbten Gardinen verhängt, der Boden mit einfach zu reinigendem PVC belegt, und außer zwei Patientenstühlen befand sich noch eine Liege in dem hellen Raum.

Erst nach einigen Sekunden brach Boesherz schließlich sein Schweigen. Jedoch nicht, um Fragen aufzuwerfen oder über den Sachverhalt zu spekulieren. Im Gegenteil, der Kommissar wirkte vollkommen abgeklärt und selbstsicher, als er schließlich seine Überlegungen auszuführen begann.

»Der Täter hat eine Szene entworfen, mit der er uns etwas über sein Motiv erzählt. Ein Arzt behandelt sich selbst. Aber was soll uns das sagen? Es geht nicht um das Thema Organspende, auch wenn das naheliegend wäre. Es geht auch nicht um Rache wegen einer verpatzten Operation, bei der ein Angehöriger des Täters gestorben ist. Alle Patienten aus seiner Datenbank haben entweder Alibis, keine Motive oder hätten das hier gar nicht anstellen können. Wir werden keine einzige echte Spur finden, und die Ermittlungen werden nach monatelanger, frustrierender Arbeit im Sande verlaufen. Der Fall kommt zu den Akten. Ungelöst.«

Mit einem Mal herrschte Stille im Raum, alle Blicke der Anwesenden waren allein auf Boesherz gerichtet. Der Fotograf hatte vorübergehend damit aufgehört, den Tatort abzulichten, und auch die anderen Mitglieder des Kriminalistenteams hatten ihre Tätigkeiten unterbrochen. Sicher, Boesherz war für seine oft überraschenden Feststellungen bekannt. Dennoch konnte sich keiner der Anwesenden erklären, welche Beobachtung ihn wohl zu dieser unerwartet pessimistischen Prognose geführt haben mochte.

»Eigentlich könnt ihr die Arbeit auch gleich abbrechen«, fügte er noch hinzu, bevor er Olivia tief in die Augen sah, noch einmal kräftig durchatmete und schließlich das aussprach, was ihm schon in dem Augenblick bewusst gewesen war, in dem er die Tür der Praxis von Dr. Praetorius geöffnet hatte: »Wir haben es hier mit der exakten Kopie eines Verbrechens zu tun, das ich vor fast fünfzehn Jahren im Rheingau untersucht habe.«

Jetzt war es so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Erst nach scheinbar endlosen Sekunden fügte Boesherz hinzu: »Es war das einzige Verbrechen, das ich niemals aufklären konnte.«

Kapitel 4

Das hier wird ein rein privates Gespräch. Sie verstehen?«

Staatsanwalt Carl vom Stein schmunzelte so dezent, dass es seiner Gastgeberin vermutlich entgangen wäre, hätte sie ihn nicht so gut gekannt.

»Ihr Sherlock Holmes scheint seinen Professor Moriarty gefunden zu haben«, antwortete er und ließ seine Blicke dabei über die Drucke der Gemälde Michelangelos und Leonardo da Vincis schweifen, die die Wände von Daniela Castellas Haus schmückten.

Das Anwesen im Stadtteil Westend, das die Leiterin des Dezernats für Delikte am Menschen im LKA Berlin zusammen mit ihrem Ehemann Paolo bewohnte, war großzügig geschnitten und mit sicherem italienischen Chic eingerichtet. Das Ehepaar hatte seinerzeit eigens einen Innenarchitekten aus Florenz einfliegen lassen. Eine Tatsache, die einem jedoch deutlich weniger großspurig erschien, wenn man erfuhr, dass es sich dabei um einen nahen Verwandten Paolo Castellas gehandelt hatte. Flavio Castella hatte es verstanden, sowohl eine deutlich verkleinerte Nachbildung von Michelangelos David als auch zahlreiche hochwertige Drucke von Porträts wichtiger Persönlichkeiten der italienischen Renaissance so zu inszenieren, dass sie elegant und geschmackvoll zu einem gehobenen Ambiente beitrugen.

Die Dezernatsleiterin hatte es sich nicht nehmen lassen, ihrem Gast von der Staatsanwaltschaft einen doppelten Espresso mit ihrer dreigruppigen Kaffeemaschine anzufertigen. Carl vom Stein ließ unter seinen Kollegen ohnehin keine Gelegenheit aus, darauf hinzuweisen, dass man im Hause der Castellas den besten Kaffee außerhalb Italiens bekomme.

»Er hat seinen Moriarty schon vor sechzehn Jahren gefunden. Und nie ein Wort darüber verloren«, fügte Castella hinzu.

»Ich habe auf der Fahrt hierher mit den Kollegen in Hessen gesprochen. Boesherz hat damals bei der Kripo unter der Leitung von Hauptkommissar Rupert Schirlo ermittelt. Schirlo ist schon auf dem Weg zu uns.«

»Das wird Severin nicht gefallen.«

Castella erhob sich von ihrem Sessel und ging am Kamin entlang zum Bücherregal hinüber.

»Warum haben Sie mich zu sich nach Hause gebeten?«, erkundigte sich der Staatsanwalt nun, während er den Zucker in seinem Espresso verrührte, dessen Duft inzwischen den halben Raum füllte.

Carl vom Stein war ein imposanter Mann. Bei Gericht tuschelte man gern hinter vorgehaltener Hand, er sei nach Abschluss seines Studiums vermutlich nur deswegen zur Staatsanwaltschaft gegangen, weil er mit seiner ehrfurchteinflößenden Gestalt und der Narbe auf seiner Wange als zu bedrohlich für einen Richter und zu undurchsichtig für einen Verteidiger angesehen worden wäre. Tatsächlich entstammte vom Steins Berufswahl aber einer langen Familientradition. Mehrere seiner Vorfahren waren bereits Staatsanwälte gewesen.

»Der ganze Fall ist ziemlich pikant. Ich hielt es für besser, zunächst unter vier Augen darüber zu sprechen. Ich bin mir nämlich keinesfalls sicher, ob Boesherz wirklich der geeignete Mann für diese Ermittlung ist«, gab Castella zu. »Er ist viel zu persönlich involviert.«

Castella schloss für einen Moment die Augen, atmete tief aus und neigte den Kopf.

»Ich verstehe Ihre Sorge. Aber welche Alternative würden Sie denn bevorzugen? Ihnen muss klar sein, dass Boesherz sich nicht einfach von dem Fall abziehen lässt. Immerhin, als er damals ermittelt hat, war es ein perfider Mord – aber nach dem heutigen Tag weiß er, dass das Ganze auch etwas mit ihm persönlich zu tun hat. Und wer weiß, ob es nicht damals auch schon so war?«

Castella griff sich selbst in den Nacken und massierte ihn mit leichtem Druck.

»In diese Richtung werden wir auch den Fall von damals noch mal aufrollen«, kündigte sie dabei an. »Vielleicht sollte ich Boesherz einfach eine Sonderposition in der Ermittlung geben. Etwas, das es ihm ermöglicht, seine Stärken auszuspielen.«

»Was auch immer Sie für die geeignete Methode halten«, räumte der Staatsanwalt ein. »Hauptsache, diese Geschichte entwickelt sich nicht zu so einem Fiasko wie damals.«

Castella konnte nicht widersprechen.

»Wir wissen, dass es hier weniger um Dr. Praetorius geht als um Severin selbst«, stellte sie fest. »Das macht der absurde Auftritt dieses Ismael deutlich.«

»Was halten Sie überhaupt von dieser Geschichte?«

»Sie ist genauso abstrakt, rätselhaft und unbegreiflich wie der ganze Rest der Angelegenheit. Der Kerl scheint sich seiner Sache sehr sicher zu sein, und genau das macht mir Sorgen.«

Vom Stein schlug gelassen die Beine übereinander, bevor er entgegnete: »Wir haben ein großartiges Phantombild! Die Datenbanken werden schon nach Ismael durchsucht. Glauben Sie, er hat sich schon ins Ausland abgesetzt?«

»Es wäre das Klügste, was er in seiner Lage machen könnte«, stellte Castella fest. Dann legte sich ihre Stirn in Falten, als ihr eine Überlegung durch den Kopf ging: »Wer sagt uns eigentlich, dass Ismael der Killer von damals ist? Warum sollte er nicht jemand sein, dem der damalige Täter alles erzählt hat? Jemand, der das Werk eines anderen weiterführen möchte? Oder beenden?«

»In dem Punkt gebe ich Ihnen recht«, stimmte vom Stein zu, der seinen Espresso in der linken Hand hielt, während er mit der rechten gestikulierte. »Wir haben es hier mit einer genau geplanten Inszenierung zu tun. Ismaels großer Auftritt, das Auto, der Wein, der Tatort – jemand spielt ein Spiel mit offenem Visier. Aber dieses Mal endet das Spiel nicht mit einer verstaubten Akte im Keller.«

»Und genau deswegen denke ich darüber nach, Boesherz von dem Fall abzuziehen«, gestand Castella. »Ich sage es nicht gern, aber wenn man die Umstände berücksichtigt, sieht es ganz danach aus, als ob dieser Ismael Severin kennt. Jedenfalls gut genug, um zu wissen, wie er tickt. Und er ist schlau genug, um zu wissen, wie er ihn austricksen kann. Ich habe die Sorge, dass er mit ihm Katz und Maus spielt. Dieses Spiel müssten dann nämlich möglicherweise weitere unschuldige Menschen mit ihrem Leben bezahlen.«

»Und was«, gab vom Stein zu bedenken, »wenn unser Moriarty nun mitbekommt, dass sein Sherlock ihn gar nicht jagt? Meinen Sie nicht, dass ihn das ungehalten machen würde? Möchten Sie einen Mann, der nur um des Spieles willen Menschen ausweidet und skalpiert, wirklich so provozieren?«

»Ich möchte einen solchen Mann gern fassen«, entgegnete Castella. »Und ich habe meine Sorgen, ob Severin das gelingen wird.«

»Und wer, wenn ich fragen darf, sollte es Ihrer Meinung nach schaffen, ein Spiel zu spielen, das allein für Boesherz entwickelt worden ist?«

Castella verließ ihre Position, ging auf das Sofa zu und setzte sich direkt neben Carl vom Stein. Ohne Worte griff sie dessen Espresso und nahm einen Schluck davon.

»Sie haben ja recht«, stieß sie dann aus. »Ich lasse mir was Gutes für ihn einfallen.«

Kapitel 5

Severin Boesherz war sich nicht sicher, was das größere Unbehagen in ihm auslöste. Der süßliche Geruch des Todes oder die beinahe schon gespenstische Leere in der Arztpraxis, jetzt, nachdem die Leiche abtransportiert und das Ermittlerteam gegangen war. Die zügig zusammengestellte Sonderkommission hatte die Ermittlungen aufgenommen und die Fahndung nach Ismael eingeleitet, während Severin noch einmal ganz in Ruhe das Szenario auf sich wirken ließ, das sein mysteriöser Widersacher an diesem Tag anscheinend eigens für ihn kreiert hatte. Boesherz blinzelte kaum, während er mit starrem Blick den Raum betrachtete, in dem sich das grausame Schauspiel zugetragen hatte.

Praetorius war Angler. Überall im Haus sind Bilder von Fischen und Bücher über die See. – Nennen Sie mich Ismael.

Boesherz konnte nicht damit aufhören, das Bild, das sich ihm in diesem Haus in Spandau bot, wieder und wieder mit den Erinnerungen von damals abzugleichen, als er schon einmal vor der sezierten und skalpierten Leiche eines Arztes gestanden hatte, dessen Eingeweide in ein Kunststoffskelett eingehängt worden waren.

Die Kopie weicht teilweise vom Original ab. Du hast dein Werk von damals nicht ganz exakt nachstellen können. Dafür sind die Praxen der beiden Ärzte zu unterschiedlich. Aber es ist bemerkenswert, wie viele Details du nach der langen Zeit noch präzise kopieren konntest.

»Für mich sieht es so aus, als hätte Ismael Angst«, wurde Boesherz plötzlich aus seinen Gedanken gerissen.

Die Stimme war ihm wohlvertraut.

»Julius, du bist noch da?«, wunderte er sich, ohne sich dabei umzuwenden.

Julius Kern war vor einem guten Jahr zum Ersten Kriminalhauptkommissar befördert worden. In dieser Funktion hatte er viele Sonderkommissionen geleitet, auch unter Beteiligung von Severin Boesherz. Doch wenngleich seine Arbeit und die Kollegen in Berlin Kern sehr am Herzen lagen, würde er sich für einige Zeit von der Hauptstadt verabschieden. Das Bundeskriminalamt hatte ihn nach Wiesbaden eingezogen. Kern sollte dort mit Kollegen anderer Bundesländer Fälle aufarbeiten, bei denen aufgrund mangelnder Kommunikation der verschiedenen Landeskriminalämter zunächst keine Zusammenhänge festgestellt werden konnten.

»Streng genommen sitze ich schon halb im Flugzeug. Die Umzugskartons sind auf dem Weg, und meine beiden Frauen sind gestern schon mit dem Auto vorgefahren«, gab Kern zur Antwort, dessen Frau Nathalie und Tochter Sophie sich nach einigem Hin und Her mit dem Gedanken abgefunden hatten, die kommende Zeit außerhalb der Hauptstadt zu verbringen. Die Vorstellung, ihren Mann und Vater in einer weniger gefährlichen Position als in Berlin zu wissen, hatte die beiden letztlich überzeugt.

»Und, wovor hat Ismael deiner Meinung nach Angst?«, hakte Boesherz jetzt nach, ohne sich dabei von seinem Stuhl zu erheben.

»Im ersten Moment möchte man meinen, dass er sich vor dir fürchtet«, behauptete Kern. »Dass er deswegen jetzt wieder das Duell mit dir sucht. Aber diese Angst liegt nur an seiner Oberfläche.«

»Er hatte mich damals auf den Fersen und hat mich abgehängt. Was daran sollte ihm Angst machen? Das erscheint mir unlogisch.«

Kern schmunzelte. Dann zog er einen Stuhl zu sich heran und setzte sich neben Boesherz, um nun den gleichen Blick in den Raum zu haben wie sein Kollege.

»Deine Logik ist der Anker, den du auswirfst, wenn deine See unruhig wird«, erwiderte er dann. »Was für dich die Logik ist, ist für mich die Intuition. Den fehlenden Staub unter dem Regal hätte ich so schnell nicht bemerkt, das gebe ich zu. Aber während du Schlüsse aus faktischen Gegebenheiten ziehst, versuche ich mich emotional in ihn hineinzufühlen. Zu verstehen, was er in dieser Praxis empfunden hat.«

»Guck dir mal den Boden an«, bat Boesherz seinen Kollegen nun. »Es gibt kleine Schleifspuren von der Gummisohle des Opfers auf dem PVC. Der Mörder hat Praetorius vorsichtig angehoben und auf seinen vorgesehenen Platz getragen. Das ist ein sehr sorgfältiges und aufmerksames Vorgehen. Darin sehe ich keine Angst. Er war sich seiner Sache absolut sicher. Er verspottet mich sogar, indem er mich noch zum Tatort fährt. Weil er davon ausgeht, dass ich ihm nichts anhaben kann. Nennen Sie mich Ismael.«

Kern wusste, worauf Boesherz anspielte.

»Das ist der erste Satz aus Moby Dick, oder? Nennt mich Ismael.«

»Ja, Herman Melvilles große Geschichte von Zorn und Rache. Käpt’n Ahab, den der weiße Wal einst verwundet hat und der sich seitdem nichts anderes wünscht, als endlich Vergeltung an ihm zu üben. Ohne Rücksicht auf sich und andere.«

»Ahabs blinde Rachsucht reißt alle in den Tod«, erinnerte sich Kern, der den Klassiker zu seiner Schulzeit gelesen hatte. »Außer den Wal.«

»Und Ismael.«

Die beiden schwiegen einige Sekunden lang.

»Ich hatte mal eine Schulfreundin, die war verknallt in mich«, begann Kern schließlich zu erzählen. »Sie hat mir ständig Zettel zugesteckt, ob ich mit ihr gehen will und ob wir uns nicht nach der Schule treffen wollen.«

»Hat sie dir gefallen?«

»Ich war elf. Aber ich fand sie nett.«

»Nett wie einen Apfelkuchen, oder nett wie …«

»Ich fand sie nett«, kürzte Kern ab. »Aber ich wollte mich ums Verrecken nicht mit ihr treffen.«

»Weil du Angst vor ihr hattest? Davor, was passiert, wenn ihr allein seid? So eklige Sachen wie Händchenhalten und auf den Mund küssen?«

»Ja, das dachte ich lange. Aber die Angst vor ihr war nur an meiner Oberfläche. Irgendwann bin ich dann darauf gekommen, dass ich im Grunde nur Angst vor mir selbst hatte. Davor, was passiert, wenn mir Händchenhalten und auf den Mund küssen gefallen. Wenn ich sie mehr als nur nett finden würde. Angst vor den Konsequenzen.«

Boesherz nickte verständnisvoll.

»Du meinst also, Ismael hat in erster Linie Angst davor, dass ich ihn nicht finde?«

»Er hat dir heute bewiesen, dass er dich für den einzigen Menschen hält, der ihn fassen kann. Und er vergibt dir dein Versagen von damals. Du bekommst eine zweite Chance von ihm.«

»Das ist eine wirklich grausame Art, mir Ehre zu erweisen.«

»Findet es eine Katze grausam, wenn sie ihrem Besitzer eine tote Maus bringt? Er hat heute ein Bild für dich gemalt. So, wie es Kinder für ihre Eltern machen, wenn sie lieb gehabt werden wollen. Er hat dich mit der Limousine und dem Wein nicht verspottet. Er hat dir seinen Respekt erwiesen! Aber gleichzeitig droht er dir auch.«

»Du meinst, er wird weitere Bilder für mich malen, wenn ich ihn nicht stoppe? Weißt du, Julius, er hat seine Spuren damals genialer verwischt als jeder andere Täter, von dem ich jemals gehört habe.«

»Und du kannst Spuren besser entschlüsseln als jeder andere Ermittler, von dem er jemals gehört hat. Deshalb ist er dir gefolgt. Vom Rheingau nach Berlin. Und wenn du wieder nicht herausfindest, was er dir mit seiner grausamen Szene sagen will, dann reist er dir vielleicht auch bis nach Timbuktu hinterher. Vielleicht kann er das Böse in sich ja noch mal für sechzehn Jahre zurückhalten. Vielleicht will er es dieses Mal aber auch mit aller Entschlossenheit zu Ende bringen.«

»Mit einem ungleichen Kampf gegen einen Widersacher, der ihn schon einmal enttäuscht hat?«

»So sieht er dich nicht«, widersprach Kern. Dann beugte er sich zu Boesherz vor und fragte ihn: »Was passiert, wenn ein Elefant gegen eine Ameise kämpft?«

»Der Elefant gewinnt.«

»Worin sollte also bei einem solchen Kampf der Reiz für den Elefanten liegen?«

Boesherz verstand.

»Er geht davon aus, dass wir einander ebenbürtig sind. Dass es ein reines Glücksspiel ist, wer am Ende triumphiert.«

»Wobei er sich ein bisschen Herablassung trotzdem nicht verkneifen konnte«, ergänzte Kern. »Er hat dir im Phaeton sein Gesicht gezeigt. Ein Schachzug, der so überheblich ist, dass er dir zu denken geben sollte.«

Boesherz stimmte zu. Dann konstatierte er trocken: »Nach meinem Reinfall von damals denkt er wohl, er müsse mir ein bisschen auf die Sprünge helfen.«

»Das, was er heute für dich getan hat, drückt eine tiefe Sehnsucht aus. Den innigen Wunsch, etwas zu Ende zu bringen, das weder ihn noch dich ruhen lassen wird, bis es endlich vorbei ist. Ich weiß, wovon ich rede.«

Severin war sich bewusst, worauf sein Kollege damit anspielte. Es hatte seinerzeit fast zehn Jahre gedauert, bis es Julius Kern gelungen war, seinen Erzrivalen Tassilo Michaelis zu fassen und hinter Gitter zu bringen. Der Dorn, dem ebenso intelligenten wie soziopathischen Tassilo niemals eines seiner grausamen Verbrechen nachgewiesen zu haben, hatte so tief in Kerns Fleisch gesteckt, dass er beinahe daran zerbrochen wäre.

»Wann kommt Tassilo eigentlich wieder raus?«, erkundigte sich Boesherz daher.