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Die eBook-Neuausgabe des hochspannenden Serienkiller-/Berlin-Thrillers: Er sieht aus wie ein Engel. Er hat viele Namen. Und er mordet, ohne Spuren zu hinterlassen … Ein Serienmörder treibt in Berlin sein Unwesen. Sein drittes Opfer, eine ältere Dame, wird in einem weißen Leinenhemd aufgebahrt auf ihrem Esstisch gefunden. Spuren gibt es keine, die Wohnung ist klinisch rein geputzt – ein Albtraum für jeden Ermittler. Die letzte Hoffnung des LKA, den »Putzteufel-Mörder« zu finden, ruht auf Julius Kern. Schon einmal konnte er einen grausamen Massenmörder fassen. Doch Kern ist daran fast zerbrochen. Während er nur langsam zu seiner alten Form zurückfindet, hat sein Gegner bereits das nächste Opfer im Visier. Und Kern muss erkennen, dass er den Mörder nur mit Hilfe eines Mannes fassen kann, den er in seinem Leben nie mehr wiedersehen wollte... Ein Serienmörder in Berlin – und ein Kommissar, der nichts so gut kennt wie das Böse! Die Julius Kern-Thriller-Trilogie von Vincent Kliesch ist in folgender Reihenfolge erschienen: - Die Reinheit des Todes - Der Todeszauberer - Der Prophet des Todes
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Seitenzahl: 364
Veröffentlichungsjahr: 2025
Vincent Kliesch
Thriller
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Ein Serienmörder treibt in Berlin sein Unwesen. Sein drittes Opfer, eine ältere Dame, wird in einem weißen Leinenhemd aufgebahrt auf ihrem Esstisch gefunden. Spuren gibt es keine, die Wohnung ist klinisch rein geputzt – ein Albtraum für jeden Ermittler. Die letzte Hoffnung des LKA, den »Putzteufel-Mörder« zu finden, ruht auf Julius Kern. Schon einmal konnte er einen grausamen Massenmörder fassen. Doch Kern ist daran fast zerbrochen. Während er nur langsam zu seiner alten Form zurückfindet, hat sein Gegner bereits das nächste Opfer im Visier. Und Kern muss erkennen, dass er den Mörder nur mit Hilfe eines Mannes fassen kann, den er in seinem Leben nie mehr wiedersehen wollte...
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Widmung
PROLOG
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
58. Kapitel
59. Kapitel
60. Kapitel
61. Kapitel
62. Kapitel
63. Kapitel
64. Kapitel
65. Kapitel
DANKSAGUNG
Für alle, die im Service arbeiten.
Lasst euch nicht ärgern!
Mit dem lang ersehnten Gast war auch der Wahnsinn in ihr Haus gekommen. Doch während die wundervolle Musik den Raum mit ihrer bittersüßen Melancholie füllte, verdrängte Elisabeth Woelke die Warnungen, die ihr Unterbewusstsein ihr sandte.
Es war zu schön; es konnte gar nicht sein, wie es schien. Sie hätte weglaufen sollen, um Hilfe rufen. Doch obwohl sie spürte, dass sie diesen Abend vielleicht nicht überleben würde, lächelte sie.
»Möchtest du Wein?«, fragte sie ihren Gast, der in eleganter Pose auf dem Sofa saß.
»Gern«, gab er mit demselben Lächeln zur Antwort, mit dem er sie schon auf den ersten Blick in seinen Bann gezogen hatte.
Die einundsechzigjährige Apothekerin hatte wochenlang darauf gewartet, ihn endlich persönlich kennenzulernen, ihm leibhaftig gegenüberzustehen. Er hatte sie von der ersten Minute an verstanden. Wirklich verstanden. Doch die unheimliche Gefahr, die hinter seinem Lächeln lag, wurde mit jedem Satz, den sie miteinander sprachen, stärker. Er sah sich prüfend im Raum um, seine Augen hinter einer großen Sonnenbrille verborgen.
Sie hat sich gut auf meinen Besuch vorbereitet, aufgeräumt und sauber gemacht, dachte er. Trotzdem würde er viel zu tun haben, gleich wenn er sie begleitet hatte.
»Du bist so völlig anders, als ich es mir vorgestellt habe«, sagte Elisabeth Woelke, während sie den Wein einschenkte.
»Wie bin ich denn?«, entgegnete er sanft.
Allein der Klang seiner Stimme berührte sie.
»Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Fast ein bisschen wie ein …«
Sie war sich unsicher, ob sie es aussprechen sollte. Was, wenn es wirklich so war?
»Wie ein Engel?«, half er ihr.
Dann stand er auf und lief zu ihr hinüber. Sie waren allein, und niemand würde sie stören; dafür hatte sie gesorgt.
»Lass uns tanzen«, sagte er und reichte ihr die Hand. Eingehüllt in Chopins Nocturne, wiegten sie sich im Takt der Musik.
Es war ein beängstigendes Bild, das das ungleiche Paar im warmen Licht des Kerzenscheins abgab, auf eigentümliche Weise voller Frieden und Ruhe. Und das, obwohl der herannahende Tod immer größer werdende Schatten warf. Die Apothekerin ahnte das Unheil, das er in ihre Wohnung gebracht hatte, doch sie verschloss die Augen davor. Denn nie zuvor in ihrem Leben hatte sie sich so unbeschreiblich gefühlt wie jetzt in seinen Armen.
»Und, bist du einer?«, flüsterte sie leise in sein Ohr. »Ein Engel?«
Sie blieben stehen. Er nahm seine Sonnenbrille ab und blickte ihr tief in die Augen.
»Wünschst du es dir denn?«, fragte er.
Sie konnte den Blick nicht von seinen Augen wenden. Es war, als spiegelten sich alles Glück und alle Geborgenheit der Welt darin wider. Und obwohl sie die Konsequenzen ihrer Antwort ahnte, sagte sie:
»Mehr als alles andere.«
Der Tatort war noch bemerkenswerter, als Julius Kern ihn sich vorgestellt hatte.
In ein schneeweißes Hemd gekleidet, lag die gewaschene, frisierte und geschminkte Leiche von Elisabeth Woelke in der Mitte ihres Wohnzimmers auf dem Esstisch aufgebahrt. Und auch der Rest des Raums sah aus, als sei er für einen ganz besonderen Anlass hergerichtet worden. Jedes Möbelstück, jede Lampe, sogar die Glühbirnen waren penibel gereinigt worden. Die Fensterscheiben waren so blank poliert, dass man glauben konnte, es seien gar keine eingesetzt gewesen. Die Bilder und ihre Rahmen waren mit Glas- und Holzpolitur behandelt worden; sogar die Nägel, an denen sie aufgehängt waren, glänzten. Einfach alles in diesem Raum war mit unglaublicher Akribie geputzt und geordnet worden, die Fernbedienungen auf dem Couchtisch, die Bücher in den Regalen, die Fotos auf dem Schreibtisch – einfach alles glänzte und verströmte den Duft von Reinigern und Pflegemitteln.
Kern war tief beeindruckt. Der Raum strahlte in seiner makellosen Reinheit eine unheimliche Kälte aus, die sich schwer beschreiben ließ.
»Wie in einem OP«, sagte er leise zu sich selbst. Jetzt erst bemerkte Quirin Meisner, dass Kern eingetroffen war.
Meisner war der Leiter der Mordkommission, die mit der Aufklärung der Mordserie beschäftigt war, die nun das dritte Opfer innerhalb von kaum acht Monaten gefordert hatte. Knapp eine Stunde zuvor hatte er Kern aus Brandenburg kommen lassen, damit er sich den Tatort ansehen konnte.
»Julius, danke, dass du so schnell gekommen bist!«, begrüßte er Kern.
»Das ist diese verdammte Stadt«, entgegnete der, während er sich weiter in dem steril wirkenden Raum umsah. »Zieht die ganzen kranken Freaks an. Und keinen interessiert’s.«
»Hat Brandenburg dich etwa weich gemacht?«, erwiderte Meisner spöttisch.
Julius Kern arbeitete seit mittlerweile fünf Jahren für das LKA Brandenburg. Seine Karriere hatte er aber in Berlin begonnen. Dort war er schon früh durch seine außergewöhnliche Art des Ermittelns aufgefallen. Immer wieder waren es allein seine Erkenntnisse gewesen, die den entscheidenden Ausschlag für die Ergreifung von Verbrechern gegeben hatten. Kern gab niemals auf. Auch dann nicht, wenn alle seine Kollegen bereits mit ihrer Weisheit am Ende waren.
»Das ist die Dritte. Ich habe schon nach dem zweiten Mord überlegt, dich ins Team zu holen, aber du weißt ja selber, wie das dann immer ist.«
»Warum musst du mich bloß in so einen kranken Fall reinziehen?«
Meisner brauchte nicht lange zu überlegen.
»Wäre es dir lieber, man würde dich nur noch für Falschparker einsetzen?«
»Dann erzähl mal.«
»Er geht immer gleich vor. Erst betäubt er sie mit Chloroform, dann ertränkt er sie.«
»Kampfspuren?«
»Nein, sie scheinen sich nicht zu wehren. Auch keine Einbruchspuren.«
»Sie kannten ihn?«
Kern blickte sich weiter um. Obwohl er in seiner Laufbahn schon einiges zu sehen bekommen hatte, war der Anblick, der sich ihm an diesem Ort bot, selbst in seinen Augen bemerkenswert. Die unglaubliche Mühe, die sich der Täter nach dem Mord damit gemacht hatte, Sauberkeit und Ordnung herzustellen, war geradezu unheimlich.
»Meinst du, es war eine Art Ritualmord?«, fragte Kern.
»Haben wir auch überlegt. Aber die Experten finden nichts, was darauf hinweist.«
»Aber ausschließen können sie es nicht?«
»Sie sagen, wenn er religiöse Motive hätte, würde er es uns wissen lassen. Tut er aber nicht.«
»Was will er dann? Es sieht nicht so aus, als ob der Tod des Opfers sein Ziel wäre. Das könnte er viel leichter haben. Ich meine, wie lange braucht man, um so zu putzen?«
»Die Kollegen sagen, vier bis sechs Stunden. Wenn er allein war.«
»War er«, sagte Kern.
»Warum so sicher?«, wollte Meisner wissen.
»Dieser Kerl will absolut nichts falsch machen. Und einen Mitwisser zu haben, wäre verdammt falsch.«
»Wo wären wir mit unserer Arbeit, wenn Mörder keine Fehler machen würden?«, wandte Meisner ein.
»Dieser Kerl macht keine Fehler.«
»Wie kommst du darauf?«
»Weil du mich sonst nicht geholt hättest.«
Sie schmunzelten. Kern und Meisner kannten einander seit vielen Jahren. Sie hatten oft zusammengearbeitet, bevor Kern nach Brandenburg versetzt worden war. Meisner war um einiges älter als Kern, weswegen dieser ihn immer auch als väterlichen Freund gesehen hatte.
»Er ist verdammt kräftig«, stellte Kern fest. »Er muss sie das Chloroform eine ganze Weile lang einatmen lassen. Also, ich würde mich da wehren. Und dann hebt er auch noch die Leiche auf den Tisch. – Habt ihr schon einen Spitznamen für ihn?«
»Die Jungs nennen ihn Putzteufel.«
»Nicht schlecht.«
Je genauer Kern sich umsah, desto bewusster wurde ihm das Ausmaß der Sauberkeit, die der Täter hinterlassen hatte.
»Mann, der könnte mal zu mir kommen. Meine Bude sieht aus!«
»Ist Nathalie immer noch …?«, fragte Meisner vorsichtig.
»Was soll ich machen? Sie hat ihre Gründe.«
Kerns Frau Nathalie hatte ihn mit ihrer gemeinsamen Tochter Sophie vor einiger Zeit verlassen.
»Musst mir nichts erzählen. Ich weiß ja selber, wie das ist, wenn einem die Familie Sorgen macht.«
Der Leiter des Erkennungsdienstes trat an die beiden heran.
»Wir haben alles. Die Jungs von der Gerichtsmedizin würden sie gern mitnehmen«, sagte er.
»Ist denn was dabei?«, fragte Meisner, ohne ernsthaft auf eine positive Antwort zu hoffen.
»Na ja, wie bei den beiden anderen. Kein Blut, keine Haare, keine DNA. Kein einziger Fingerabdruck in Wohnzimmer, Bad oder Flur. Nicht mal vom Opfer. In den anderen Räumen scheint er nicht gewesen zu sein.«
»Was ist mit den Mitteln, die er benutzt hat?«
»Die Liste kriegst du so schnell wie möglich. Sonst kann ich dir leider nicht groß weiterhelfen. Er hat wieder mal alles sauber gemacht.«
»Warum macht er das denn?«, fragte Kern. »Wenn man einen Mord begangen hat, dann haut man doch so schnell wie möglich ab. Aber er bleibt noch stundenlang in der Wohnung.«
»Die Psychologen sagen, er hat dabei uns im Visier. Er will uns seine Stärke beweisen«, antwortete Meisner.
»Nach dem Motto Ätschibätsch, ihr kriegt mich nicht? Das ist diese verdammte Anonymität der Großstadt. Millionen Menschen, und keiner kennt den anderen. Und das kommt dann dabei raus: durchgeknallte Spinner mit einer Mission. Was ist das für ein Hemd, das sie anhat?«
Kern ging zu der Leiche hinüber, Meisner folgte ihm.
»Die Hemden bringt er mit. Immer der gleiche Hersteller, Massenware. Kann man überall kaufen.«
»Er uniformiert sie?«
»Wenn du so willst, ja.«
Kern überlegte.
»Er nimmt ihnen die Persönlichkeit. Alles, was ihre Individualität ausmacht. Ihre Kleidung, ihre Frisur. Sogar ihren Schmutz. Er macht sie alle gleich. Im Tod. Wer waren die anderen Opfer?«
»Ich gebe dir die Akte im LKA«, antwortete Meisner, bevor er sich dem Kollegen vom Erkennungsdienst zuwandte. »Kannst du uns kurz allein lassen, bitte?«
»Klar.«
Nachdem keiner mehr in Hörweite war, sagte Meisner leise:
»Dieser Kerl macht mit uns, was er will. Wir haben absolut nichts. Er lässt uns wie Idioten dastehen, und ich fürchte, er wird damit nicht aufhören. Kannst du mir helfen? Ich weiß langsam nicht mehr, was ich noch machen soll.«
»Was sagt denn Castella dazu?«
»Die lass meine Sorge sein.«
Kern sah sich weiter um. In diesem Zimmer hatte Leben stattgefunden. Lachen und Weinen. Wahrscheinlich hatte die alte Frau ihre Enkel hier empfangen, Gäste hierher eingeladen. Aber ihr letzter Gast hatte das alles ausgelöscht. Jetzt sah nichts in dem Raum mehr nach Leben aus. Es war einfach nur ein Zimmer. Sauber, ordentlich, kalt.
»Ich habe eine Bitte«, setzte Kern an. »Ich möchte mit ihr allein sein.«
»Wie, allein?«
»Bevor du sie wegbringen lässt. Fünf Minuten. Nur die Leiche und ich.«
Meisner wunderte sich zwar, andererseits kannte er seinen Freund Julius und dessen ungewöhnliche Ermittlungsmethoden. Gerade deshalb hatte er ihn ja auch angefordert.
»Was versprichst du dir davon?«, wollte er trotzdem wissen.
»Er will uns was sagen. Die Sauberkeit und die Ordnung sind eine Nachricht an uns. Wenn ich den Raum so erlebe wie er, dann verstehe ich sie vielleicht.«
Meisner hatte keine Einwände. Die Spuren waren gesichert und alle Fotos gemacht.
»Okay, zehn Minuten. Aber dann müssen wir sie wirklich wegbringen.«
Innerhalb weniger Minuten hatten alle die Wohnung verlassen. Das Team vom Erkennungsdienst, die Schutzpolizisten und die Mitglieder der Mordkommission hatten sich zurückgezogen.
Jetzt war es auf einmal ganz ruhig in der Wohnung. Die Stille, die von der perfekten Reinheit des Ortes noch verstärkt wurde, hing wie eine dunkle Wolke in der Luft. Julius Kern stand allein in dem perfekt gesäuberten Raum vor der makellos hergerichteten Leiche von Elisabeth Woelke. Sekundenlang sah er in das tote Gesicht der Frau, das sie, geschminkt, wie es war, so aussehen ließ, als sei sie einfach nur kurz eingeschlafen.
Kern ging ans Fenster. Die Wohnung lag im Berliner Stadtteil Charlottenburg, nicht weit vom Schloss Charlottenburg entfernt, das regelmäßig Horden von Touristen anzog.
»Muffiges Betriebsfeierflair«, flüsterte er leise in den Raum, als sein Blick auf die Eckkneipe fiel, die auf der anderen Seite der mit groben Steinen gepflasterten Straße lag. »Wahrscheinlich gibt’s im Keller ’ne Kegelbahn.«
Es war ein ungewöhnlicher Ort für einen Serienmord. Hier, im alten, ehemals gutbürgerlichen Berlin, in einer der großen Altbauwohnungen mit ihren hohen Wänden und dem Stuck an der Decke.
Jetzt machen sich diese Irren schon über alte Leute her.
An diesem 11. Juni war Elisabeth Woelke nicht in ihrer Apotheke erschienen. Astrid Sokorsky, ihre langjährige Mitarbeiterin und Freundin, hatte zunächst über eine Stunde lang versucht, sie telefonisch zu erreichen. Nachdem dies ohne Erfolg geblieben war, hatte sie von dem Ersatzschlüssel Gebrauch gemacht, den ihr die Chefin vor einer Weile anvertraut hatte.
»Wenn mal was ist, kommst du damit immer in meine Wohnung«, hatte Woelke ihr damals gesagt.
An diesem Tag war etwas gewesen.
Elisabeth Woelke war alleinstehend, seit ihr Ehemann vor einigen Jahren an Krebs gestorben war. Ihre beiden gemeinsamen Kinder lebten nicht mehr in Berlin. Woelke hatte zwar gelegentlich Kontakt zu ihnen gehabt, doch dieser hatte sich in den vergangenen Jahren immer mehr auf Geburtstage und Weihnachten beschränkt.
Jetzt lag sie tot und aufgebahrt vor Kern.
Warum hat er dir das angetan? Du hast ihn gekannt, oder?
Kern wandte sich von der Toten ab und ging langsam und bedächtig durch den stillen Raum. Nur der Klang seiner Schritte hallte ihm nach. So, wie der Täter die Leiche und die Wohnung hinterlassen hatte, war es unmöglich, Rückschlüsse auf den Tathergang zu ziehen. Wo hatte er sie ermordet? Welche Kleidung hatte sie angehabt? Wie hatte die Wohnung ausgesehen? Er hatte das Vorher gegen die vollkommene Leere der Sauberkeit ausgetauscht.
Kern holte tief Luft. Sie roch frisch und hygienisch.
Hast du den Duft genossen?
Er schloss die Augen und versuchte, sich in die Denkweise des Mörders hineinzuversetzen. Aber konnte er wirklich einen Zugang zu ihm bekommen?
Du bist schlau. Du verwendest sehr viel Zeit für die Planung. Du willst nicht einfach nur deine Spuren verwischen; das könntest du einfacher haben. Du hast ein anderes Ziel. Welches? Hast du es auf uns abgesehen? Du weißt, dass wir dich mit allen Mitteln jagen werden. Du denkst, wir kriegen dich nicht, oder? Wie suchst du deine Opfer aus? Was müssen sie haben, um für dich interessant zu sein?
Kern atmete noch einmal tief durch. Dann trat er wieder an den Tisch in der Mitte des Raums. Er sah in das Gesicht der Toten. Sein Entschluss stand fest: Er würde sich Meisners Team anschließen. Endlich wieder eine echte Aufgabe.
Als er so nah bei der Toten stand, wie es der Mörder getan haben musste, bemerkte er einen kleinen Fleck auf dem schneeweißen Hemd. Er sah genauer hin. Es schien Asche zu sein. Nicht viel, nur ein paar Spuren, kaum zu sehen. Aber sie war da.
Hast du etwa deinen ersten Fehler gemacht?
Kern versuchte, Kontakt zu dem Mann aufzunehmen, den er von jetzt an erbarmungslos jagen würde. Dann sagte er:
»Wenn ja, zieh dich warm an.«
Kern hatte eine furchtbare Nacht gehabt, bevor der Anruf aus Berlin gekommen war. Seit drei Jahren quälten ihn Albträume. Dieser war wieder besonders schlimm gewesen.
»Sieh uns ruhig an. Sieh dir an, was er mit uns gemacht hat.«
Julius Kern hatte es nicht gewagt, seinen Blick zu heben. Er hatte die zerschlagenen, von Glassplittern zerfetzten Schädel schon zu oft gesehen. Das Paar, das sich mit verzweifelt aufgerissenen Augen anstarrte. Den aufgebrochenen Schädel des Dicken. Er wollte nicht hinsehen, aber irgendetwas zwang ihn dazu.
»Es tut mir so leid«, rief Kern verzweifelt in die Runde, die nicht aufhören wollte, ihn mit toten Augen anzustarren.
Plötzlich trat hinter den fünf Körpern jemand langsam aus dem Dunkel. Mit bedächtigem Schritt näherte er sich der Tafel. Jetzt erschien eine Silhouette im fahlen Licht des Kerzenscheins. Kern erkannte sie sofort: Tassilo.
»Geh weg!«, rief er ihm entgegen.
Er versuchte, so laut, wie es ihm möglich war, zu schreien, doch sosehr er sich auch anstrengte, seine Stimme blieb brüchig und heiser.
»Sie können mich ja erschießen«, erwiderte Tassilo und war dabei so freundlich, dass es Kern auf eine beklemmende Weise unheimlich war.
Kern blickte an sich hinab und stellte fest, dass die Fesseln, die ihn eben noch an seinen Stuhl gebunden hatten, mit einem Mal verschwunden waren.
Meine Pistole. Er steht direkt vor mir. Er kann ihnen nichts mehr tun, wenn ich nur schnell genug bin.
»Ich habe nicht bis morgen Zeit«, setzte Tassilo nach.
Mit einem furchtbaren Weinen sanken die Gäste der blutigen Runde auf die Tischplatte nieder.
»Oder können Sie es etwa nicht?«
Kerns Waffe war viel schwerer als sonst. Er konnte sie mit einer Hand nicht heben. Doch selbst mit beiden Händen war das Abdrücken nicht so einfach, wie es immer auf dem Schießstand gewesen war.
Der Sicherungshebel funktionierte nicht richtig. Er sprang immer wieder in seine Grundposition zurück. Außerdem klemmte der Abzug. Unerträglich steigerte sich der Chor aus Weinen, Schreien und Flehen. Plötzlich ein Knall.
Mit seiner ganzen Kraft war es Kern endlich gelungen, einen Schuss abzufeuern. Aber ein genaues Zielen war ihm nicht möglich gewesen. Die Kugel traf Tassilo in die Schulter.
Lachend strich er sich so lange über die Wunde, bis sie verschwunden war.
Die Kugel hatte Tassilo noch nie getötet. Nicht auch nur in einer einzigen Nacht.
Kern erwachte, wie fast immer an dieser Stelle. Es dauerte einige Minuten, bis er in der Lage war, das Erlebte als das einzuordnen, was es war: ein Albtraum.
Noch immer verstört, rollte er sich auf Nathalies Seite des Doppelbetts. Er wollte sich an sie schmiegen, wie er es immer getan hatte, wenn seine Arbeit ihn bis in seine Träume verfolgt hatte. Erst als seine Arme auf der Suche nach Nathalies warmem Körper mehrmals ins Leere gegriffen hatten, erinnerte er sich schmerzhaft, dass sie ihn bereits vor Monaten verlassen hatte.
Kurz darauf klingelte das Telefon. Als er, noch immer verschlafen, die Aufforderung entgegennahm, sich einen Tatort in Berlin anzusehen, konnte er noch nichts von dem Wahnsinn ahnen, der ihm bevorstand.
Diese Geschichte ist eine tickende Zeitbombe. Und wenn die hochgeht, dann haben wir ein echtes Problem.«
Daniela Castella, Dezernatsleiterin im LKA Berlin und Quirin Meisners Vorgesetzte, hatte ihn sofort sprechen wollen, nachdem er Kern aus Brandenburg hatte kommen lassen. »Wie lange können wir unseren Putzteufel noch vor der Presse geheim halten? Was meinen Sie?«, fragte die kleine, zierliche Frau, die eher an eine Ballettlehrerin als an eine Kriminalbeamtin erinnerte.
»Wir sind mit Hochdruck an der Sache dran«, antwortete Meisner.
»Und hat Ihr Hochdruck verhindert, dass wir eine neue Leiche haben? Was ist mit der Frau, die das Opfer gefunden hat?«
Meisner winkte ab.
»Da sickert nichts durch.«
Castella war sichtlich beunruhigt. Nervös tippte sie mit ihrem Kugelschreiber auf die Glasplatte ihres Schreibtisches.
»Irgendwann bekommen die Pressefritzen es mit. Und wenn der Rummel losgeht, dann steckt wer mittendrin? Kern.«
Meisner hatte verstanden, was Castella ihm sagen wollte.
»Sie würden ihn lieber aus der Sache raushalten?«
»Er ist über diese Scheunengeschichte immer noch nicht weg. Und Tassilos Buch kommt auch bald raus. Erzählen Sie mir nicht, dass ihn das kaltlässt. Und diese ewigen Interviewanfragen. Die nerven ja sogar mich schon.«
»Klar, er leidet. Er war ja auch damals einer der Ersten am Tatort. Das steckt keiner einfach so weg.«
»Und ausgerechnet ihn wollen Sie jetzt im Team haben? Na, danke schön. Normalerweise fordern die Brandenburger Kollegen Leute von uns an, nicht umgekehrt. Warum bringen Sie einen Mann ins Spiel, der sich bis heute nicht von einem tief sitzenden Schock erholt hat? Und der weiß Gott keinen neuen Misserfolg brauchen kann? Was soll das?«
Meisner hatte Zweifel an der Echtheit von Castellas Sorge.
»Geht es Ihnen wirklich um Julius? Oder haben Sie Angst um das Image der Polizei? Ich meine, der Name Kern in Verbindung mit ungeklärten Morden …«
»Das ist das Letzte, was ich brauche. Also, wenn Sie wirklich möchten, dass ich ihn anfordere, dann mache ich das. Aber ich hoffe, dass sich das nicht als Fehler herausstellen wird. Haben wir uns verstanden?«
Meisner kannte seine Chefin gut genug, um zu wissen, was sie ihm sagen wollte.
»Ich verspreche Ihnen, ich habe ein Auge auf ihn. Wenn ich merke, dass der Fall noch zu groß für ihn ist, ziehe ich ihn wieder ab.«
»Wenn’s dann nicht schon zu spät ist. Sie haben mal gesagt, dass Kern messerscharfe Reißzähne hat, mit denen er sich in seine Fälle verbeißt. Erinnern Sie sich?«
»Das ist auch so. Als er damals Tassilo gejagt hat, hat er nächtelang nicht geschlafen.«
»Und jetzt verdient der sich eine goldene Nase an seinen Verbrechen, und Kern sieht täglich seine Fanklubs feiern. Und was ist mit Kerns Frau? Hat sie sich nicht wegen der Sache sogar von ihm getrennt?«
»Schon«, gab Meisner zu.
»Soll ich Ihnen jetzt wirklich erklären, wie wichtig das soziale Umfeld ist? Kann es nicht sein, dass Kerns Reißzähne stumpf geworden sind?«
»Genau deswegen halte ich ihn ja für den Richtigen. Er will wieder zurück. Wieder der Alte sein. Und dafür wird er kämpfen.«
Castella rückte ihre Brille zurecht. Dann lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück und musterte Meisner.
»Wenn ich nicht wüsste, dass er ein alter Freund von Ihnen ist, würde ich fast vermuten, Sie suchen einen Sündenbock. Der herhalten muss, falls Sie diesen Fall nicht lösen.«
Willkommen im Team! Gleich ist Meeting. Willst du vorher noch in die Akte gucken?«, begrüßte Meisner Kern in seinem Büro.
»Kurz, ja. Was ist mit der Asche?«
»Die Kollegen sind dran. Meinst du, er hat geraucht?«
»Eine Belohnungszigarette nach dem Putzen, wer weiß? Passt aber eigentlich nicht zu ihm, oder?«
»Ich würde was drum geben, dir sagen zu können, was zu ihm passt und was nicht.«
»Wie sehen ihn denn die Psychologen?«
»So gut wie gar nicht. Mitte zwanzig, männlich, intelligent. Nicht sexuell motiviert.«
»Riesennummer. Weil die Opfer älter waren?«
»Auch. Außerdem – erst zwei Männer, dann eine Frau? Und keine Spuren von sexueller Einwirkung? Nein, der hat was anderes vor. Der will sich einen Spaß mit uns machen.«
»Klappt ja auch ganz gut.«
Meisner schob Kern die Fallakte zu.
»Der Mord ist für ihn nur Mittel zum Zweck«, sagte er dann. »Wenn wir ihn kriegen wollen, müssen wir sein eigentliches Ziel rausfinden. Hast du eine Idee?«
Kern versuchte, sich zu erinnern, was er gefühlt hatte, als er mit der Leiche allein gewesen war.
»Er stellt seine Opfer regelrecht aus, wie in einem Museum. Vielleicht sieht er sie als Trophäen«, überlegte er.
»Die er uns ganz stolz zeigen will?«
»Entweder stolz oder überheblich. Vielleicht ist er einer von diesen Freaks, die den perfekten Mord begehen wollen.«
»Du weißt doch, ein perfekter Mord ist es nur, wenn wir ihn für einen Unfall halten. Oder für Selbstmord«, antwortete Meisner.
»Was ihn aber um den Spaß bringen würde, von uns gejagt zu werden. Außerdem, was nützt es ihm, ein perfektes Verbrechen zu begehen, wenn er niemanden hat, der ihn dafür bewundert?«
»Also will er genau das. Ein Duell mit uns«, sagte Meisner.
»Sicher steht er drauf, in der Zeitung zu verfolgen, wie blöd wir uns anstellen. Was gebt ihr denn an die Presse raus?«
»Das kleine Paket. Leiche gefunden, Ermittlungen aufgenommen, die näheren Umstände werden noch ermittelt. Wir gönnen ihm keine große Medienresonanz.«
Kaum dass er von großer Medienresonanz gesprochen hatte, zuckte Meisner leicht. Kern bemerkte es.
»Schon okay«, beruhigte er seinen Freund. »Ich weiß doch, dass ihr das alle verfolgt.«
Meisner nickte.
»Sprich es im Meeting am besten sofort an«, sagte er dann. »Dann hast du’s hinter dir. Die freuen sich alle drauf, mit dir zu arbeiten; also wisch die Tassilo-Nummer einfach schnell vom Tisch.«
Meisner hatte versehentlich den falschen Ton getroffen.
»Tassilo schnell vom Tisch wischen?«, reagierte Kern. »Du bist gut. Kannst du die Sache mit deinem Sohn einfach schnell vom Tisch wischen?«
Meisner senkte seinen Blick. Jetzt tat Kern seine Bemerkung leid.
»So war’s nicht gemeint«, entschuldigte er sich.
Meisner hatte mit seinem Sohn kaum weniger Sorgen als er mit Nathalie.
»Wie lange hat er denn noch?«, fragte Kern.
»Zwei Jahre. Bei guter Führung.«
»Schöne Scheiße.«
»Als er ein Kind war, hat er mal im Supermarkt eine Tafel Schokolade geklaut. Die haben ihn erwischt und ihn im Streifenwagen nach Hause fahren lassen. Das war ihm so peinlich; er hat den ganzen Tag geheult«, erinnerte sich Meisner. »Julius, du musst aufhören, dir Vorwürfe zu machen. Glaub mir, ich habe das alles selber durch. Wir können die Dinge um uns herum nicht kontrollieren. Ohne dich wäre Tassilo nie erwischt worden. Und wie es dann gelaufen ist, war nicht deine Schuld.«
»Er hat mich reingelegt.«
»Er hat alle reingelegt. Aber es ist vorbei. Jetzt läuft ein Serienmörder durch die Stadt, der Menschen umbringt, weil er uns zeigen will, dass er es kann. Ich brauche dich. Aber nicht mit halber Kraft.«
Kern sah zur Tür, um sich zu vergewissern, dass niemand zuhörte. Dann fragte er leise: »Hältst du es für möglich, dass der Putzteufel einer von uns ist?«
Auch Meisner sah kurz zur Tür.
»Weil er weiß, welche Spuren er verwischen muss?«, entgegnete er dann leise. »Die Idee hatte ich am Anfang auch, aber ich bin weg davon.«
»Wegen der Art, wie er putzt?«
»Genau. Einer von uns würde es sich leichter machen. Der Putzteufel weiß offenbar nicht, wie wir arbeiten. Deswegen macht er einfach alles sauber. Sogar Stellen, an denen gar keine Spuren sein können. Und er benutzt Spezialreiniger für jedes Material.«
Kern schmunzelte.
»Dann ist er wirklich nicht von uns. Unsere Jungs wären dafür viel zu faul.«
Meisner freute sich über die Auflockerung. Dann sagte er: »Also, guck noch kurz in die Akte, alles andere gleich im Meeting. Okay?«
»Kommt Castella auch?«
»Ja. Binde dir lieber eine Krawatte um.«
Kern hatte vor dem Meeting nur eine knappe Stunde Zeit, sich in die Akte einzuarbeiten. Am 17. Oktober vergangenen Jahres hatte der Putzteufel zum ersten Mal zugeschlagen. Der Unternehmensberater August Danner war einen Tag nach seiner Ermordung von seiner Haushaltshilfe aufgefunden worden. Auch er war in der Mitte seines Wohnzimmers aufgebahrt worden, auch er gewaschen, frisiert und mit einem weißen Hemd bekleidet. Und auch sein Flur, sein Bad und sein Wohnzimmer hatte der Mörder mit größter Sorgfalt gereinigt.
Bei dem Dachdeckermeister Kurt Mankwitz, der knapp vier Monate später das zweite Opfer wurde, war es nicht anders. Die bisherigen Ermittlungsergebnisse waren alles andere als üppig. Die Hemden gab es fast an jeder Ecke zu kaufen. Die Auflistung der Putzmittel, die der Täter verwendet hatte, war ebenfalls wenig nützlich. Es handelte sich zwar um eine breite Palette der verschiedensten Spezialreiniger, aber man konnte sie alle in Kaufhäusern und Baumärkten bekommen. Auch die Anwohnerbefragungen hatten keine verwertbaren Ergebnisse gebracht. Eine Nachbarin von Mankwitz hatte zwar angegeben, den Täter gesehen zu haben. Sie verwickelte sich aber bei ihren Beschreibungen immer weiter in Widersprüche. Bis sich zuletzt sogar herausstellte, dass die alte Frau eine Sehschwäche hatte, die ihr die Beobachtungen, die sie gemacht haben wollte, gar nicht ermöglicht hätte. Am Ende gab sie zu, dass es ihr nur um ein bisschen Aufmerksamkeit gegangen war.
Sie lebt in einer Millionenstadt. Aber sie ist so einsam wie auf einer Insel. Bist du auch einsam? Geht es dir auch nur um Aufmerksamkeit?
Kern befürchtete, dass er aus den bisherigen Ermittlungen keine neuen Erkenntnisse würde gewinnen können. Quirin und sein Team hatten gute Arbeit geleistet, aber vielleicht gab es doch noch irgendeine Kleinigkeit, die alle bisher übersehen hatten. So wie damals bei Tassilo. Vielleicht würde ja auch die Analyse der Asche etwas Neues ergeben.
In wenigen Minuten würde das Meeting beginnen. Sollte Kern Meisners Rat befolgen und das Thema, das ohnehin im Raum stand, gleich zu Beginn ansprechen? Es wäre wohl wirklich das Beste.
»Jetzt haben wir also das dritte Opfer«, eröffnete Meisner die Teamsitzung seiner Mordkommission. »Wir haben alle hart daran gearbeitet, das zu verhindern. Aber leider sind wir dabei an unsere Grenzen gestoßen. Jetzt müssen wir alles daransetzen, dass er zum letzten Mal zugeschlagen hat. Deswegen habe ich unser Team verstärkt. Die meisten von euch kennen ihn ja schon. Für die anderen: Hauptkommissar Julius Kern vom LKA Brandenburg. Er steht uns seit heute Morgen zur Verfügung.«
Das achtköpfige Ermittlerteam klopfte beifällig auf die Tische. Dann richtete Kern das Wort in die Runde.
»Ich bin im Grunde so was wie eine Leihgabe«, begann er. »Quirin hat mich heute Morgen aus dem Bett klingeln lassen, sodass ich den Tatort sehen konnte. Und in die Akte habe ich auch schon reingeguckt. Schwierige Sache. Ich hoffe, ich kann mich nützlich machen. Schnappen wir uns den Kerl!«
Aus der hinteren Ecke des Raumes meldete sich Dennis Baum zu Wort: »Wir schnappen den schon. Wäre halt nur schön, wenn er dann auch in den Knast käme. Und nicht ins Fernsehen.«
Die Anwesenden konnten sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Dennis war ein sportlicher junger Mann, durchtrainiert, zu jeder Jahreszeit gut gebräunt und bevorzugt in Turnschuhen unterwegs.
»Natürlich, unser Spaßvogel«, sagte Meisner. »Das ist Dennis. Ein guter Polizist, aber ein lausiger Komiker.«
»Schon okay, ich wollte sowieso drauf zu sprechen kommen«, antwortete Kern. »Also, dass Tassilo gerade groß durch die Medien geht, bekommt ja jeder mit. Ich kriege pausenlos Interviewanfragen, aber ich lehne alle ab. Bringt ja nichts. Er ist frei und bleibt es auch, also was soll’s? Wir hätten es alle lieber anders gesehen, aber wir können halt nicht immer gewinnen. Leider.«
»Nach diesem kleinen Exkurs sollten wir uns vielleicht wieder unserem Serienmörder zuwenden«, mischte sich Castella ein. »Sie haben gewissenhaft gearbeitet, aber weiter sind wir trotzdem nicht. Hauptkommissar Kern hinzuzuziehen, war Quirins Idee. Ich hoffe, er bringt ein bisschen frischen Wind in die Ermittlungen. Also, lassen wir Tassilo mal Tassilo sein, und richten wir den Blick nach vorn. Danke schön.«
Meisner griff den willkommenen Impuls auf.
»Also, was haben die Anwohnerbefragungen ergeben? Judith?«
Oberkommissarin Judith Beer war die einzige Frau im Team.
»Wenig. Nur einer hat was gehört. Leise Musik aus der Wohnung des Opfers. Kann sein, dass er seine Putzgeräusche mit dem Radio überdecken wollte – keine Ahnung«, erklärte sie.
»Wonach sucht er die Opfer aus?«, fragte Kern in die Runde.
»Viel gemeinsam haben sie jedenfalls nicht«, antwortete Dennis Baum. »Unterschiedliche Geschlechter, unterschiedlich alt, unterschiedliche Gesellschaftsschichten. Aber alle haben allein gewohnt.«
»Ihr nehmt an, dass sie ihn gekannt haben?«, fragte Kern weiter.
»Er wusste, dass er mit ihnen ungestört ist. Und, dass er genug Zeit hat, stundenlang zu putzen«, antwortete Meisner.
»Er muss wirklich sehr schwer gestört sein. Wie könnte er das sonst so eiskalt durchziehen?«, überlegte Kern.
Wieder meldete sich Dennis Baum zu Wort.
»Das ist Berlin. Da kommen locker dreihunderttausend Typen infrage, die schwer gestört sind.«
»Dann können Sie ja schon mal anfangen, deren Alibis zu überprüfen«, antwortete Castella.
Sie stand auf, um den Besprechungsraum zu verlassen. Kurz vor der Tür drehte sie sich noch einmal zu Meisner um.
»Kommen Sie bitte gleich noch mal zu mir.«
Meisner hatte bemerkt, dass ihr Blick dabei auf Kern gefallen war. Er konnte sich gut vorstellen, worüber sie mit ihm sprechen wollte.
Drei Jahre zuvor.
Dieter Wagner hatte als Erster das Bewusstsein wiedererlangt. Noch immer benommen von der fatalen Wirkung des Schlafmittels, das ihn und die vier anderen Gäste außer Gefecht gesetzt hatte, rang er verzweifelt um Orientierung. Fieberhaft kämpfte er darum, seine Erinnerung zurückzugewinnen. Klebeband fesselte ihn an einen massiven Holzstuhl, zudem war er geknebelt. Ein dichter Nebel umhüllte ihn und ließ ihn zwischen Schlafen und Wachen hin und her gleiten. Einige Minuten sollte dieser Zustand noch andauern. Wenige gnadenvolle Minuten, die ihn noch davon trennten, sich seiner tatsächlichen Lage bewusst zu werden. Viel zu schnell sollten sie verstreichen.
Es war schon einige Stunden her, dass er vor der abgelegenen Scheune eingetroffen war.
Früher hatte sie als Fütterungsaußenstelle zu einem Bauernhof gehört, auf dem Schweine-, Hühner- und Pferdezucht betrieben wurde. Das wirtschaftliche Potenzial der Anlage war schon damals überschaubar gewesen. Neben dem typischen Vierseitenhof gehörten noch verschiedene Geräte und Maschinen zum Anwesen. Nach der Wende und der in den Jahren darauf immer stärker zunehmenden Abwanderung aus diesem Teil des Landes war das Gut dann immer weiter heruntergekommen. Der ehemalige Besitzer Paul Reinhardt war ein freundlicher, dicker Mann mit der wundervoll schrulligen Mentalität eines Landwirts aus Leidenschaft gewesen. Er hatte seinen Hof trotz einsetzender Wirtschaftsprobleme noch eine ganze Weile weitergeführt. Letztlich musste er sich aber der Realität beugen. Tapfer nutzte der alt gewordene Mann noch die wenigen Möglichkeiten, die der Hof ihm für seine Eigenversorgung bot. Irgendwann war ihm aber auch das nicht mehr möglich.
Es dauerte fast vierzehn Tage, bis der Wirt des kleinen Dorfgasthauses, in dem Reinhardt gern eingekehrt war, sich Sorgen machte. Paul Reinhardt, dessen ständig schlechter werdende Finanzlage ihn immer öfter zum Anschreibenlassen gezwungen hatte, war schon länger nicht mehr erschienen.
Man fand ihn schließlich auf seinem Sofa. Die Fliegen, die sonst die wenigen verbliebenen Tiere des Hofes umschwirrt hatten, waren sein letztes Geleit gewesen und tagelang um ihn gekreist, als wollten sie einem alten Freund treu die Totenwache halten.
Bald darauf waren die Kinder herbeigeeilt, um den Hof zu verkaufen. Doch er stand viel zu abgelegen, irgendwo in der Mitte von Wäldern und ungenutzten Äckern, als dass irgendjemand sich dafür interessiert hätte. Letzten Endes gaben die Erben ihre Bemühungen auf und entschieden, das Gelände sich selbst zu überlassen. Viele Jahre waren seitdem vergangen, in denen der Tod sich von diesem Ort ferngehalten hatte.
Bis zu diesem 13. August vor drei Jahren, dem Tag, an dem sich der Bau der Berliner Mauer zum x-ten Mal jährte und Paul Reinhardts Hof zum Schauplatz eines bizarren Sterbens wurde.
Jemand hatte Fackeln in den Boden vor dem Scheunentor gestochen, die mit ihrem knisternden Flammenspiel ein einladendes Ambiente schufen. Ein kleiner Stehtisch war vor der Scheune aufgestellt, an dem die Gäste den Begrüßungscocktail trinken sollten. Der Ort war außergewöhnlich für eine Dinnerparty. Fast eine Stunde hatten Wagner und die anderen benötigt, um hier hinaus ins Umland zu kommen, obwohl der Einladung eine präzise Wegbeschreibung beigelegen hatte. Letztlich waren aber alle an ihrem Ziel angekommen.
An ihrem letzten Ziel.
Vanessa Christensen war als Erste eingetroffen. Eine schlanke Frau, die die fünfzig bereits hinter sich gelassen hatte. Ihre für ihr Alter erstaunlich gute Figur verdankte Vanessa ihrer strengen Selbstdisziplin. Sie ernährte sich bewusst und ausgewogen, zudem trieb sie regelmäßig Sport. Sie liebte es, zu kleinen Partys und Empfängen eingeladen zu werden. Es schmeichelte ihrer Eitelkeit, wenn man ihr das Gefühl gab, interessanter zu sein als andere. Vor allem, weil sie es nicht war.
Bald nach Christensen trafen die Dosanders ein. Michael, der als Geschäftsführer einer Druckerei tätig war, und Annabelle, seine Ehefrau. Das Paar hatte keine Kinder. Innerhalb der Familie tuschelte man schon lange, dass Zeugungsprobleme bei Michael der Grund dafür waren. Angesprochen hatte das aber selbstverständlich nie jemand.
Wagners Mercedes SLK fuhr kurz nach dem Eintreffen der Dosanders vor. Wagner liebte das silberne Cabrio. Er war mit seinen einundsechzig Jahren nicht mehr der Jüngste, und der Wagen war für ihn wie eine Art Jugendersatz. Wagners Geschäfte waren früher, besonders nach der Maueröffnung, gut gelaufen. Zunächst hatte er mit Gebrauchtfahrzeugen gehandelt und dank der Unerfahrenheit der ehemaligen DDR-Bürger in der Wendezeit hohe Profite erzielt. Später hatte er dann Immobiliengeschäfte getätigt, die seine Altersversorgung bereits frühzeitig sichergestellt hatten. Nur eine Frau fehlte ihm. Später würde er vielleicht von einer ausgedehnten Asienreise in weiblicher Begleitung zurückkehren. Doch das hatte noch Zeit; ganz so alt war er schließlich auch noch nicht.
Olaf Steinbrecher war der letzte Gast, der an diesem warmen Sommerabend eintraf. Er war mit seinen sechsundzwanzig Jahren auch der jüngste Teilnehmer des exklusiven Empfangs. Steinbrecher betrieb eine Solarienkette, der fünf Filialen angehörten. Er hatte sie mit dem Geld aus einer Erbschaft aufgebaut, die ihm sein Großvater hinterlassen hatte. Zusätzlich eröffnete er einige Zeit später eine Cocktailbar, die allerdings nur mäßig lief.
Spätestens seit dem Moment, als Dieter Wagner wieder klare Gedanken fassen konnte, war nichts von alledem mehr von Belang.
Er war mit stabilem Gafferband an Armen und Beinen festgebunden, außerdem mit mehreren Bahnen davon geknebelt. Wagner versuchte verzweifelt, sich zu befreien, gab aber kurz darauf völlig entkräftet wieder auf. Er hatte eine ganze Weile geschlafen, wie lange genau, wusste er nicht. Aber in der Scheune war es inzwischen stockfinster geworden. Da, ein Zischen. Jemand hatte ein Streichholz angezündet. Für einen Augenblick erhellte die Stichflamme einen Winkel hinten in der Scheune. Wagner konnte unscharf erkennen, wie Kerzen angezündet wurden.
Eine dunkle Gestalt stand, Wagner den Rücken zuwendend, vor einem schweren Kerzenständer. Ohne jede Hektik führte sie mit gekonnten Griffen ihre eleganten Bewegungen aus, um dann, kurz nachdem das fahle Kerzenlicht den Raum ein wenig erhellt hatte, lautlos ins Dunkel zurückzutreten. Wagners Augen benötigten einige Sekunden, um sich auf die veränderten Lichtverhältnisse einzustellen. Als sein Verstand endlich wieder klar war, bemerkte er die anderen.
Auch Steinbrecher, Christensen und die Dosanders waren an ihren Stühlen festgebunden und geknebelt. Wie verdammt noch mal waren er und diese Menschen hierhergekommen? Was war das für ein muffig riechender Raum, in dem es bis auf den Schein der Kerzen überhaupt kein Licht gab?
Erinnere dich, verdammt, erinnere dich!, ging es Wagner durch den Kopf.
Die Bilder kamen langsam zurück; jetzt erinnerte er sich wieder, wie er diese merkwürdige Scheune draußen hinter dem Dorf endlich gefunden hatte. Stimmen, belanglose Gespräche. Erinnerungsbruchstücke, wie sie gemeinsam hineingegangen waren und an der festlich gedeckten Tafel Platz genommen hatten. Plötzlich bekam er eine düstere Vorstellung von dem, was mit ihm und den anderen geschehen war.
»Üüüüülfföööööö!«, schallte es dumpf durch den Raum.
Der Knebel war zu eng gewickelt, als dass Wagner imstande gewesen wäre, das »H« oder das »I« auszusprechen.
»Üüüüülffföööööö!«
Ein leises Rascheln, Schritte, die sich von hinten bedächtig auf Wagner zubewegten.
»Psssst! Wir wollen doch die anderen ausschlafen lassen«, flüsterte der Unbekannte ihm mit beängstigender Ruhe ins Ohr.
Ein Gefühl, das Dieter Wagner lange nicht mehr verspürt hatte, ergriff ihn mit grausamer Macht: Angst.
»Er sün Sü?«, keuchte Wagner.
»Was für eine unoriginelle Frage. Sie enttäuschen mich. Seien Sie jetzt bitte leise. Ich sähe mich höchst ungern genötigt, deutlicher zu werden.«
Die unheimliche Gestalt klopfte ihm auf die Schulter, bevor sie sich wieder von ihm entfernte. Wer verdammt konnte das nur sein, der es geschafft hatte, sie an diesen abgelegenen Ort zu locken? Und was hatte er vor?
Einige Zeit später waren auch die vier anderen erwacht. Sie alle hatten in ihrer Angst zunächst die gleichen Befreiungsversuche unternommen wie Wagner. Früher oder später hatten aber alle verzweifelt aufgegeben. Weinend und ächzend wanden sie sich in ihren Fesseln und warteten darauf, dass irgendetwas passieren würde.
»Wundervoll, wir sind komplett«, klang es aus dem dunklen Teil der Scheune. »Ich freue mich, Sie begrüßen zu dürfen. Denn, wie Nietzsche einst sehr treffend bemerkte: Der Sinn in den Gebräuchen der Gastfreundschaft ist: das Feindliche im Fremden zu lähmen.«
Keiner der fünf wagte es, auch nur einen Laut von sich zu geben. Denn zum ersten Mal, nachdem sie alle wieder zur Besinnung gekommen waren, gab es Informationen. Jetzt würden sie endlich erfahren, was geschehen war.
»Ich muss Sie um Entschuldigung bitten, dass meine Bekleidung nicht der Etikette entspricht. Aber der Umstände halber sah ich mich leider genötigt, mein Gewand den Zweckmäßigkeiten anzupassen.«
Der Unbekannte ergriff den Kerzenständer im hinteren Teil des Raums und lief damit zur Tafel. Als er nah genug herangekommen war, konnten die fünf Gefangenen erkennen, dass er einen Ganzkörperschutzanzug trug. Darüber hinaus einen Mundschutz und eine Schweißer-Schutzbrille. Nachdem der Mann den Kerzenständer abgestellt hatte, setzte er seine Ansprache fort.
»Wie Sie möglicherweise bereits bemerkt haben, sind Sie unter Vortäuschung falscher Tatsachen hierher gebeten worden. Das war vermutlich nicht sehr nett von mir. Und doch kann ich einfach keine Reue empfinden, wenn ich in diese wundervolle Runde blicke. Sie alle beisammen. Was für eine exzeptionelle Gesellschaft!«
Mit einer katzenartigen Bewegung neigte sich der verhüllte Mann zu Vanessa Christensen hinunter. Er streichelte sanft mit seinem Gummihandschuh über ihre Wange. Als sie zu weinen begann, wandte er sich wieder ab.
»Der Abend, der vor uns liegt, wird amüsant werden. Der guten Form halber sollte ich Sie aber darauf hinweisen, dass nicht zu erwarten steht, dass Sie ihn überleben werden. Also, nicht dass mir Beschwerden kommen.«
Nach einer genussvoll inszenierten Pause fügte er hinzu: »Aber überstürzen wir nichts. Wir haben ja schließlich Zeit.«
Sei Dennis nicht böse. Er hat ’ne große Klappe, aber er ist schon in Ordnung.«
Kern war gemeinsam mit Judith Beer auf dem Weg zu Woelkes Apotheke. Sie wollten noch einmal mit Astrid Sokorsky sprechen, die die Leiche gefunden hatte.
»Wenn mal alle so wären«, antwortete Kern. »Die meisten haben mich wie Porzellan behandelt. Zumindest am Anfang. Da ist mir so ein Spruch schon lieber.«
»War schlimm für dich, oder? Du hattest ihn schon, und dann …«
Es war unangenehm für Kern. Als wäre der Misserfolg im Prozess gegen Tassilo nicht schon schlimm genug gewesen, musste er sich seitdem auch noch wieder und wieder die Tröstungsversuche seiner Kollegen anhören. Alle hatten ihm auf die Schulter geklopft und ihn mit Mach dir nichts draus! oder Es war nicht deine Schuld! gequält. Natürlich wollten sie ihm nur beweisen, dass sie hinter ihm standen. Aber ihr Trost war im Ergebnis auch nicht mehr als eine subtile Form der Stichelei.
»Lass mal«, wiegelte er darum ab. »Jetzt machen alle großen Wind um die Geschichte. Und in einem Jahr redet dann kein Schwein mehr drüber. Da müssen wir jetzt durch.«
Kurz darauf erreichten sie ihr Ziel.
Die Tür der Apotheke war verriegelt. Ein Schild hing daran: Wegen Trauerfall geschlossen. Schlicht, wie es war, konnte es nicht im Ansatz das Leid des Menschen ausdrücken, der es tapfer angefertigt und aufgehängt hatte. Es dauerte eine Weile, bis Astrid Sokorsky den Beamten öffnete. Sie trug noch immer ihren Apothekerkittel.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte Judith die Frau, die mit abwesendem Blick vor ihnen stand.
»Gut?«, erwiderte sie entgeistert.
»Wir haben noch ein paar Fragen. Dürfen wir reinkommen?«
Frau Sokorsky führte die beiden in die Kaffeeküche.
»Was für ein Mensch war Ihre Chefin?«, fragte Kern, nachdem sie sich gesetzt hatten.
»Freundin«, korrigierte Sokorsky, die sich nun daran würde gewöhnen müssen, dass die Menschen ab diesem Tag in der Vergangenheitsform über die Apothekerin sprachen. »Fast zehn Jahre haben wir zusammengearbeitet.«
Dann sah sie Kern mit verständnislosem Blick an.
»Wer tut so was?«
»Deswegen sind wir hier. Hatte Ihre Freundin irgendwelche Feinde?«
Die Antwort bestand aus einem unverwandten Blick.
»Wir müssen das fragen«, erklärte Judith Beer. »Ist Ihnen irgendwas an ihr aufgefallen? Vielleicht erst in der letzten Zeit?«
»Was hätte mir denn auffallen sollen? Nachdem ihr Mann gestorben ist, war sie nicht mehr die Alte. Sie hat oft geweint. In den letzten Wochen war sie endlich wieder ein bisschen aufgeblüht.«
Sokorsky kämpfte mit den Tränen.