Aus dem Leben eines plötzlichen Herztoten - Hans Zippert - E-Book

Aus dem Leben eines plötzlichen Herztoten E-Book

Hans Zippert

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Beschreibung

Ein Mann schreibt alles auf, was wirklich wichtig ist. Weil es sonst keiner tut. Und er stellt die wirklich entscheidenden Fragen: Wenn man im Ausland einen plötzlichen Herztod erleidet und das Leben zieht noch einmal wie im Film an einem vorbei - ist dieser Film dann mit deutschen Untertiteln? Warum werden auf dem Friedhof alle Gießkan- nen mit einem Schloss gesichert? Könnte es sein, dass die Toten nachts aus den Gräbern kommen und sich die Gießkannen holen? Der Autor versteht die Welt nicht mehr, dabei arbeitet er für die Welt. Der Autor beginnt, ein Tagebuch zu führen. Dieses Tagebuch war natürlich nie zur Veröffentlichung bestimmt, es sollte nur irgendwann mal als Buch erscheinen. Bei Suhrkamp. Oder Hanser. Oder Rowohlt. Dass es jetzt bei einem ganz anderen Verlag erscheint, hat den Autor selbst überrascht. Wieder etwas, was wer nicht versteht. Vielleicht wird ja etwas darüber in seinem Buch stehen - der Autor hofft es. Aber das Buch ist auch so schon randvoll mit sensationellen Beobachtungen und Erkenntnissen. Zum Beispiel diese hier: "Je länger man über etwas nachdenkt, desto länger muss man darüber nachdenken." Der Autor überlegt, ob wir Deutschen es uns leisten können, Matratzenlager einzurichten. Nebenbei überlebt er die Aktionswochen im Speisewagen.

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Hans Zippert

Aus dem Leben eines plötzlichen Herztoten

Tagebuch eines Tagebuchschreibers

FUEGO

Das Leben ist mehr oder weniger unbegreiflich. Man weiß bekanntlich weder, woher man kommt noch wohin man geht, oder warum man solche Sätze hinschreibt. Manchmal hilft es, sich alles zu notieren, was einem im Laufe der Zeit so auffällt, und selbst wenn es nicht hilft, dann hat man es doch wenigstens mal aufgeschrieben. Genau das war der Plan.

Meine Notizen beginnen im Januar 2010 und enden in dem Moment, wo der Leser das Buch aufschlägt. Es handelt sich um eine Art Tagebuch oder auch eine Stoffsammlung für eine Stoffsammlung. Dieses Buch enthält Ideen für mindestens fünf Romane, die ich aus Respekt vor dem Leser aber nicht ausgeführt habe.

2010

Januar

Rechtsnachfolger

In die Geschäftsräume von »Video-Express24« ist vor kurzem ein neuer Besitzer eingezogen. Wie der Name schon andeutet, konnte man bei »Video-Express24« Tag und Nacht Videos entleihen, es gab sogar einen automatischen Nachtschalter, der einem morgens um drei Uhr den dringend benötigten vierten Teil von »Beverly Hills Cop« ausspuckte. Natürlich war auch eine nächtliche Videorückgabe möglich. Der neue Besitzer heißt »Oberurseler Bestattungsinstitut W. Schwartz«, und auch er wirbt mit dem bewährten Slogan »Tag und Nacht.« Gestorben wird ja immer. Ein Zettel an der Tür informiert: »Da die Gestaltung der Außenanlage noch nicht abgeschlossen ist, können Sie uns im Moment leider nur telefonisch erreichen.« Anscheinend wollen sie aber möglichst wenig verändern und vor allem den Nachtschalter beibehalten, damit man auch morgens um drei seine Leichen einwerfen kann. Der kleine gelbe Briefkasten neben dem rechten Schaufenster dient dann wahrscheinlich zum Einfüllen von Asche.

Wie heißen Flusspferde in Wirklichkeit?

Der Berliner Zoo wirkt tief verschneit sehr angenehm, man möchte fast sagen, er macht einen würdevollen Eindruck. Es sind nur wenige Leute unterwegs und deshalb bestaunen die Tiere die Menschen. Zum Beispiel F. W. Bernstein und mich. Das Kamel blickt uns tief in die Augen und scheint gespannt, ob uns irgendein Vergleich einfällt, so eine Art Übertragung menschlicher Verhaltensweisen, etwa: »wie ein mürrischer Hausmeister eines altsprachlichen Gymnasiums versperrt uns plötzlich ein Kamel den Weg«, aber es ist einfach zu kalt für Vergleiche, Übertragungen und Allegorien. In der Anlage der Humboldtpinguine steht ein Graureiher und gibt sich große Mühe, wie ein Pinguin auszusehen. Die Pinguine glauben ihm kein Wort, aber uns kann er für zwei Sekunden täuschen. Hier ist die Evolution in vollem Gange, der Reiher hat vom Chamäleon gelernt und bald werden die ersten Exemplare in Berliner Behörden arbeiten, wo man sie von einem Sachbearbeiter nicht unterscheiden kann. In der Eisbäranlage gibt es jetzt sogar Eisschollen, es sieht fast schon zu echt aus. F. W. Bernstein hat den legendären Flusspferdbullen »Knautschke« noch persönlich gekannt und kann sich nicht vorstellen, dass er tatsächlich für die Stasi gearbeitet hat. Die Berliner lieben es traditionell, ihre Flusspferde zu demütigen, und geben ihnen Namen wie »Klops«, »Molle«, »Würstchen«, »Schrippe«, »Plumps« oder »Stulle.« Das haben die Tiere nicht verdient. Aber wie heißen Flusspferde wirklich? Wenn man ihnen länger zuschaut, weiß man es sofort: »Dr. Mossleitner«, »Graf Moltke« und »Geheimrat Eisenhuth«. Das sind echte Flusspferdnamen!

Zum Aufwärmen geht es dann noch schnell ins Aquarium, wo man stundenlang dem Treiben der Quallen zuschauen kann, und weil es Winter und uns so lyrisch zumut ist, seufzen wir: »Quallen sind Schneeflocken unter Wasser.« Anschließend versprechen wir uns in die Hand, niemals einen Gedichtband mit diesem Titel zu veröffentlichen.

Da liegt kein Segen drauf

Wenn es eine Berufsgruppe gibt, deren Arbeit ich größte Hochachtung entgegenbringe, dann sind das Sternsinger. Jedes Jahr rund um den 6. Januar schwärmen sie aus und schreiben einen Segen an die Haustüren, der wie eine Zauberformel klingt und wie eine mathematische Gleichung aussieht. Es ist eine verantwortungsvolle und wichtige Tätigkeit. In diesem Jahr wurde einfach nur ein Aufkleber mit der Formel (20 * C+M+B+10) in den Briefkasten geworfen, den sollte ich mir anscheinend sonst wohin kleben. Doch wahrlich ich sage: Sternsinger, das ist ein verhängnisvoller Irrweg! Wenn Gott gewollt hätte, dass wir unseren Kühlschrank mit Segensaufklebern schmücken, dann hätte er seinen Sohn nicht ans Kreuz nageln, sondern kleben lassen. Oder hätte er ihn tiefkühlen lassen? Wäre vielleicht noch logischer. Am dritten Tage auferstanden von dem Gefriergut.

Stoffsammlung für einen Tannenbaumroman

Die meisten Weihnachtsbäume kommen aus Dänemark. Acht Millionen werden von dort zu uns gebracht. Sie stammen aus Weihnachtsbaumintensivmastbetrieben, werden mit wachstumsfördernden Hormonen hochgespritzt und sind extrem schreckhaft. Wenn man so einen Intensivmastwald betritt und einmal hustet, verlieren die Bäume gleich die Nadeln. Anfang Dezember werden sie alle geschlachtet. Warum stellt der Däne sein ganzes Land mit Tannenbäumen und warum stellen wir unsere Wohnzimmer mit dänischen Tannenbäumen voll? Diese Bäume verstehen uns ja noch nicht mal. Kein Mensch sagt einem, wie man einen dänischen Weihnachtsbaum korrekt anredet. Es ist jetzt Ende Januar und bei einem Kontrollgang durch mein Viertel stellte ich fest, dass der Tannenbaumhändler seine abgezäunte Verkaufsfläche noch immer nicht abgebaut hat. Ein Bauwagen, ein Biertisch mit zwei Bänken stehen verwaist und dazu zehn Weihnachtsbäume, die er nicht verkaufen konnte. Ein seltsamer Anblick, der einen melancholisch stimmt. Ihre Kollegen hatten glanzvolle Auftritte, standen reich geschmückt in den Wohnzimmern und hörten wohl hundertmal den Satz: »Dieses Jahr haben wir aber wirklich einen schönen Baum.« Inzwischen wurden sie abgeschmückt an die Straße gelegt und am 11. Januar von der Müllabfuhr abgeholt. Der 11. Januar war in unserer Stadt der Weihnachtsbaumabholtag. Diesem grausamen Schicksal sind die vergessenen Bäume entgangen. Sie haben den 11. Januar überlebt. Doch was soll jetzt aus ihnen werden? Könnten sie mir vielleicht als Anregung dienen für einen, nein, für den großen Weihnachtsbaumroman, den die Literaturkritik seit Jahrzehnten fordert?

Arbeitstitel: »Das Leiden nicht gekaufter Bäume.« Handlung? Zehn Weihnachtsbäume, oder besser neun, sonst klingt das zu stark nach Negerlein, werden nicht nur nicht verkauft, sondern von ihrem Besitzer vergessen und stehen bis weit in den Februar auf einem abgezäunten Areal herum. Eines Tages kommt ein Auto ins Schleudern und reißt eine Lücke in den Zaun. Die Bäume erkennen ihre Chance und fliehen. Zunächst sind sie nur im Schutz der Dunkelheit unterwegs und halten sich überwiegend auf Grünflächen versteckt, wo sie sich tagsüber als Tannenwäldchen tarnen. Sie wandern ziel- und ahnungslos durch die ganze Republik, denn sie wissen nichts von Deutschland, weil sie ja aus Dänemark stammen. Bäume stammen übrigens naturgemäß immer irgendwoher. Ein skrupelloser Fabrikant für Nadelkissen fängt sie ein, sperrt sie in einen fensterlosen Raum und lässt sie für sich arbeiten, dabei stirbt ein Baum unter dramatischen Umständen, den anderen gelingt die Flucht. Sie kaufen sich Nadelstreifenanzüge, tarnen sich als sibirische Musikstudenten und betteln in der Fußgängerzone. Zwei Bäume werden drogensüchtig und nadeln sich zu Tode, am Ende bleibt nur einer übrig, der sich in eine junge Fleischfachverkäuferin verliebt, die ihn nach Hause einlädt. Dort stellt sie ihn in einen Ständer, legt ihm Schraubzwingen an, wirft ihm prächtigen Baumschmuck über und befestigt duftende Kerzen an seinen Ästen, der Baum muss ohnmächtig zusehen, wie sie es unter ihm mit dem Metzger treibt, und am nächstbesten 11. Januar wirft ihn das saubere Pärchen auf die Straße, wo ihn die Müllabfuhr abholt. Bevor der Baum in der Müllpresse zerquetscht wird, denkt er noch etwas bedeutungsvolles, etwa: »Wir Bäume haben doch immer die Arschkarte« oder »Was sind das nur für Zeiten, wo ein Roman über Weihnachtsbäume…« o.ä.. Vielleicht sollte der Baum noch herausfinden, dass seine Eltern hochrangige Eichen und in der NSDAP waren, damit der Verlag auf die Buchrückseite schreiben kann: »Vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus entfaltet der Autor ein ebenso faszinierendes wie beklemmendes Porträt einer verlorenen Baumgeneration.«

Wie sieht eine unnormale Uhr aus?

Im Kurort Bad Homburg steht in der Louisenstraße eine Säule, an deren Spitze sich eine Uhr befindet und die sonst vollständig mit Werbetafeln bedeckt ist. Ganz unten, wo eigentlich nur Hunde hingucken, liest man die trotzige Botschaft: »Normaluhren gehören ins Stadtbild.« Bezweifelt das hier etwa jemand? Was ist da los in Bad Homburg? Was haben sie dort gegen Normaluhren? Eine Normaluhr hat die Aufgabe, die so genannte Normalzeit allgemein zugänglich zu machen, deshalb ist sie an einer zentralen Stelle der Stadt positioniert. Eine zutiefst demokratische Einrichtung, hinter der eine fast schon kommunistische Idee steckt. Die Zeit gehört allen, jeder soll jederzeit die Zeit ablesen können ohne Ansehen von Stand, Geschlecht, Alter oder Steuerklasse. Das schmeckt ihnen da in Bad Homburg nicht, das kann man verstehen. Bad Homburg zählt zum Hochtaunuskreis, dem reichsten Landkreis Deutschlands. Noch vor dreißig Jahren saßen dort vor den Geschäften zwielichtige Gestalten, die einem für fünfzig Pfennig die exakte Zeit verrieten, für zehn Pfennig erfuhr man wenigstens, ob es schon dunkel war.

Heute besitzen die vermögenden Bürger der Stadt im Schnitt achtzehn Uhren, von denen die billigste 4000 Euro gekostet hat. Sie sind nicht daran interessiert, dass jeder dahergelaufene Hartz IV-Empfänger so einfach und umsonst Zeit ablesen kann, deshalb starteten sie eine Initiative, deren Ziel die Abschaffung der Normaluhr war, denn die Zeit gehört nur denen, die sie sich leisten können. Es ist bestimmt kein Zufall, dass viele reiche Russen zur Kur nach Bad Homburg fahren. Man weiß aus der schlimmen Zeit, dass der Russe sehr hinter Uhren her war und gerne drei bis fünf übereinander trug, was er heute wahrscheinlich immer noch macht und deshalb kein Interesse an Normaluhren hat. Lieber möchte er von armen Tagelöhnern nach der Uhrzeit gefragt werden, um dann, nach einem genießerischen Blick auf seinen uhrenübersäten Unterarm, mit bedauerndem Augenaufschlag zu antworten: »Zu spät, mein Freund, viel zu spät für dich!«

Es gab Demonstrationszüge, auf denen Transparente hochgehalten wurden mit Aufschriften wie »Zeit ist kostbar« oder »Zeit ist Geld« oder eben »Normaluhren raus aus Bad Homburg«. Es wurde durch mehrere Instanzen hart prozessiert, und jetzt muss das Verfassungsgericht entscheiden, ob es ein allgemeines Recht auf freien Zugang zu Zeitanzeigegeräten gibt. Aus Angst vor Racheakten hat der Betreiber der Uhr sein Bekenntnis architektonisch verbrämt und schüchtern an den Sockel der Säule geschraubt: »Normaluhren gehören ins Stadtbild.«

2010

Februar

Unterwegs von Frankfurt nach Hamburg, aber eigentlich unterwegs in fremden Schränken: »Hallo, Frau Berger. Ja, ich sitze im Zug. Wie bitte, was suchen Sie? Also, links neben meinem Schreibtisch, da ist doch der Schrank, nein, nicht der, mit den Hängeregistraturen, genau, daneben, jaja, die Tür klemmt ein bisschen, Sie müssen erst drücken und dann ziehen, was?, nach links und da steht ganz oben, in der ersten oder zweiten Reihe ein Ordner mit einem blauen Rücken, nein, nein, nicht der mit den Pachteinnahmen, der ist unbeschriftet, also, genau, ja, schlagen Sie den mal auf, ganz vorne müsste der Vorgang sein, ja, hab ich vorgestern noch angelegt. Wie? Die Quittung? Ist in der Klarsichthülle dahinter.« Mindestens ein Schrankreiseführer sitzt in jedem Großraumabteil, das gehört zum Serviceangebot der Bahn. Da weiß man dann die Vorteile eines unbeschrankten Bahnübergangs zu schätzen.

Auf dem Rückweg wird es nicht besser. Während der ganzen Fahrt starrt mich ein älterer Herr ungeniert grinsend an. Er fragt mich: »Harndrang unter Kontrolle?« Und er verspricht: »Weniger müssen müssen. Auch unterwegs.« Was geht den Typ das an? Er ist zwar nur auf einem Plakat, aber dafür umso aufdringlicher. Eine eklatante Verletzung der Menschenwürde. Warum muss das Mittel gegen das Müssen ausgerechnet »Prostagutt« heißen? Erwartet uns demnächst ein Potenzmittel namens »Fickoflott«? Der Harndrangkontrolleur kann sein Wasser für sich behalten, aber nicht seine Werbebotschaft. Er sagt: »Nutzen Sie die doppelte Pflanzenkraft von Prostagutt forte.« Was ist denn doppelte Pflanzenkraft? Wurden etwa zwei Pflanzen zur Herstellung dieses dämonischen Präparats verwendet? Wegen der ständigen Verspätungen der Bahn wird allerdings auch Prostagutt bald an seine Grenzen stoßen und dem Harndrang eines Großraumwagens voller Schrankreiseführer nicht mehr gewachsen sein. Spätestens dann wird man uns mit Werbung für Inkontinenzwindeln malträtieren.

Autosuggestionsprobleme

Man kann sich auch bahnfrei bewegen. Meine erste Fahrt in einem Auto, an die ich mich wirklich erinnern kann, fand etwa im Alter von sechs Jahren statt. Ich hatte keinen Führerschein, fuhr aber einen Bus der Firma Pahlmeyer & Studier. Man muss der Genauigkeit halber hinzufügen, dass ich nicht in dem Bus saß, sondern ihn von außen mit den Fingern steuerte. Der Bus war ein schön bemaltes Plastikmodell im Maßstab 1:87. Das Vorbild verkehrte vom Zentralen Bielefelder Busbahnhof nach Kirchdornberg. Ich fuhr damit zweimal in der Woche zu meiner Großmutter und hatte mir alle Geräusche, die der Bus unterwegs machte, genau eingeprägt. Ich konnte die gesamte zwanzigminütige Fahrstrecke wiedergeben. Dabei erzeugte ich einen tiefen, halb singenden, halb brummenden Ton – das war der Busmotor –, bei jedem Schalten heulte ich einmal kurz auf, bevor ich wieder gleichmäßiger vor mich hin brummte. Ich zog den Bus über die geometrischen Muster des Orientteppichs im elterlichen Wohnzimmer und brummte und heulte vor mich hin. Zwar bewegte ich den Bus von außen, saß aber gleichzeitig eigentlich auch drin und fuhr. Ich hatte eine gespaltene Fahrerpersönlichkeit. Auch das Zischen der druckluftbetriebenen Türen beherrschte ich und konnte alle Stationen durchsagen: »Nächste Betheleck« oder »Tierpark Olderdissen«. Das machten Busfahrer damals noch selber, wobei sie auf zusätzliche Informationen wie »Ausstieg in Fahrtrichtung rechts« oder »Umsteigen zu den Straßenbahnen Richtung Schildesche, Baumheide und Sieker« verzichteten. Erwachsene beobachteten mein Treiben lächelnd, aber eher uninteressiert, heute hätte man mich wegen motorischer Störungen längst zum Kinderpsychologen gebracht: »Ihr Sohn hat omnibuspotente Wahnvorstellungen, er leidet an einem Omnibuskomplex, er will seinen Vater töten, um mit seiner Mutter Bus zu fahren.« Damals machte man sich über ein dauerbrummendes Kind nicht so viele Gedanken, die Erwachsenen redeten einfach lauter, dann hörten sie mich nicht.

Den Bus selbst zu bewegen, wurde mir bald zu umständlich, und ich wandte mich dem Modelleisenbahnbau zu. Konstruktion, Verkabelung und Montage einer Bahnlandschaft interessierten mich nicht sonderlich, ich wollte eigentlich nur die Züge beim Fahren beobachten. Besonders liebte ich den dunkelroten Triebwagen oder Schienenbus, aus dessen Fenstern ein gleißend helles Licht flutete. Ich saß abends im dunklen Zimmer und sah dem Triebwagen zu, wie er seine Runden drehte. Strahlend glitt er durch die Pappmacheelandschaften, das Licht aus seinen Fenstern erleuchtete den Bahnhof Zindelstein und die verfallene Villa, von der ich einige Teile verloren hatte und sie deshalb als Bauruine verwendete. Ich konnte Stunden bewegungslos dasitzen und auf den Zug starren. Es war eine Art Meditation, eine Selbstfindung auf Schienen, natürlich nur im Maßstab HO. Wie hätte der Psychologe das wohl beurteilt? Litt ich an Zuganbindungsängsten? War ich etwa Triebwagengesteuert? Die Erfahrung muss mich jedenfalls nachhaltig geprägt haben, denn mein erstes eigenes Auto hatte die gleiche Farbe wie der Märklin-Triebwagen, die Innenraumbeleuchtung ließ jedoch zu wünschen übrig. Es war ein Ford 12m Turnier mit Lenkradschaltung, wobei ich bis heute nicht weiß, was 12m heißen sollte: 12 Meter Wendekreis oder 12 Meter lange Bremsspur? Ich besaß den Wagen zwei Jahre lang. In dieser Zeit war er höchstens drei Monate fahrbereit. Vor allem im Winter versagte er seinen Dienst. Der Wagen sah aber auch sehr gut aus, wenn er nur auf einem Parkplatz stand. Dann verbrauchte er kaum Benzin, sonst gerne mehr als 12 Liter. Deshalb wahrscheinlich 12m. Ich saß nachts oft am Fenster und schaute dem Wagen beim Parken zu. Ich sah, wie er nass und wieder trocken wurde und ich sah, wie er komplett unter Schneemassen verschwand. In einer kalten Winternacht zog ich mir einen Pullover über den Schlafanzug, stieg barfuß in meine Gummistiefel, entfernte den Schnee vom Türgriff, setzte mich in den Wagen und drehte zum Spaß den Zündschlüssel um. Der Wagen sprang zu meiner Überraschung sofort an. Ich schob den Schnee von der Windschutzscheibe und fuhr los, weil man nie wissen konnte, wann mir der Wagen wieder erlauben würde, ihn zu bewegen. Ich kam fast bis Wuppertal, musste dann aber umdrehen, weil ich mich nicht traute, mit Gummistiefeln und Schlafanzug zu tanken.

Vielleicht hatte ich dem Wagen mit dem Anblick auch zu viel zugemutet, jedenfalls sprang er danach nie wieder an, und ich verkaufte ihn schweren Herzens.

Danach begann eine längere autofreie Zeit, die durch den Erwerb eines wiederum dunkelroten VW Käfers beendet wurde. Über dieses Auto gibt es nichts zu sagen, was nicht schon hundertfach gesagt wurde. Im Sommer ging die Heizung nicht aus, im Winter war sie zu schwach, den Motor hatten Scherzkekse in den Kofferraum gezwängt, so dass man seine Koffer im leeren Motorraum transportieren musste. Der Käfer war kein Wagen, der sich gerne beim Parken beobachten ließ. Der Käfer wollte bewegt werden. Ich hatte immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich mal nicht hinterm Steuer saß, das war für den Wagen verschwendete Lebenszeit. Ich nahm extra eine Arbeit in einer weit entfernten Stadt an, damit der Käfer Auslauf hatte, und besuchte Ausstellungen in fremden Bundesländern.