Aus dem Rahmen gefallen - Peter Schmidt - E-Book

Aus dem Rahmen gefallen E-Book

Peter Schmidt

5,0

Beschreibung

Über Autisten gibt es viele Vorurteile, die durch Filme wie "Rain Man" transportiert wurden und das gängige Bild bis heute prägen. Doch was ist Autismus und wie kann man Autisten besser verstehen? Dr. Peter Schmidt, selbst Asperger-Autist und hochbegabter Geophysiker, erklärt die typischen Verhaltensweisen von Autisten und wie diese aus der Innenund Außensicht wahrgenommen werden. Missverständnisse im Zusammenleben und am Arbeitsplatz sind vorprogrammiert, wenn Nicht-Autisten die andersartige Wahrnehmung und die speziellen Bedürfnisse von Autisten nicht berücksichtigen. Das Buch liefert hierzu einen fachlich fundierten und dennoch unterhaltsamen Beitrag. >> Autismus verstehen >> ein Sachbuch über Autismus aus der Innen- und Außenperspektive >> mit Empfehlungen für autistenfreundliche Schulen und Arbeitsplätze

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Peter Schmidt

Aus dem Rahmen gefallen

Praktische Autismuskunde von einem, der es wissen muss

Patmos Verlag

Inhalt

Auftakt

Vorwort von Prof. Dr. Dr. Kai Vogeley

Der aus dem Rahmen fällt

Was isn das, Autismus?

Die zerrissene Jeans – Bug oder Feature

Eine knappe, knackige Antwort

Die mysteriöse, unsichtbare Mauer – wie ich Autismus als Kind fühlte

Inseln und Kontinente – ein Autismus-Modell

Das Muster, das Autismus charakterisiert

Autistische Begleitsymptome wie Reizüberflutung, Prosopagnosie und andere

Autismus-Folgen – Depressionen, soziale und andere Phobien

Wie ich Kommunikation erlebe – wenn Grau Rot oder Grün sein kann

Finden Sie die Swimming-Pools! – was Kompensation bedeutet

Die plattgebügelte Katze – Autisten haben alle Gefühle, die es gibt

Strukturen geben Halt – Ordnungen, Pläne, Rituale, Stereotypien

Stereotypien sind keine Zwänge

Wenn es tilt macht – Overload, Meltdown und Shutdown

Der AH-Effekt, intensive Gefühle und andere Wahrnehmungen

Wenn aus normal-unangenehm unerträglich-schmerzvoll wird

Anders geboren – allein unter Kindern

Die tollen Tapeten und die tolle Tante

Die Reise nach Jerusalem

Der Arm, der nicht brechen wollte

Die Mautstelle im Supermarkt

Die unteilbaren Süßigkeiten

Mensch-ärgere-dich-nicht!

Der Weihnachtsliedersingplan, die Autonummernbücher und weitere Tabellen

Im Land der blauen Freunde – Das Lied vom Anderssein

Merkmale einer autistenfreundlichen Schule

Der Zuckertütentag – aus meiner Sicht

Keine zweite Chance für den ersten Eindruck – die Lehrersicht

Eine Schule voller Straßen

Das Autochen-Ritual

Der Junge, der nur Einsen oder Vieren schrieb

Blue or black? – das Erreichen des Lernziels ist nicht nach Schema F prüfbar

Bilder haben eine Aussage

U wie United – über Sitzordnungen und reizarme Räume

Der Unterricht ist Erholung – die Pause ist Stress

Konflikte und Mobbing – Brennendes Fett in der Pfanne

Opfer und Täter bei Störungen durch Mitschüler

Die gegenseitige Angst vor dem Unbekannten

Steif wie ein Brett? – Auch Bretter biegen sich! – Sport gehört dazu

Bad und Bus – auf Jugendfreizeiten und Klassenfahrten

Autisten lernen anders – konkurrierende Erlasse und die ideale Schule

Gesetze für den Take-Off ins Leben – die geplante Flexibilität

Der autistenfreundliche Arbeitsplatz

Die Kantine und der Achtstundentag

»Stell dich nicht so an!« – im ersten Job als Werkstudent

Widerstand oder Kapazität – Die Wirkung des ­polarisierten Fähigkeitenprofils

Bärendienste und andere unverstandene Spielchen – Alltag im Berufsleben

Konflikte und Mobbing – Die Gratwanderung der Gerechtigkeit

Einzelbüro statt Kommunikationslandschaften

Kontaktalarm und Gelassenheit

Was mir hilft und was ich brauche, um abzuliefern

Als Autist erfolgreich im Team – so kann es gehen!

Konkurrierende Sehnsüchte – Partnerschaft und Liebe

Allein, aber nicht einsam

Pubertät jenseits von Cliquen und Disco

Innere Konflikte – selbstverletzendes Verhalten

Gewaltfreie Kommunikation

Von Checklisten, Tests und der Liebe im Koordinatensystem

Herausforderndes Verhalten – die Mohnbrötchengeschichte

Voraussetzungen beim nicht-autistischen Partner

Geplante Gefühle und sexuelle Leidenschaften

Was ich mit meinen Kindern (nicht) anfangen konnte

Vulkanisches Fazit

Auch das noch!

Die Störung als System der Stärke

Innen- und Außensichten – Autismus durch das JOHARI-Fenster

Vor- und Nachteile einer frühen oder späten Diagnose

City – Stadt – Großraum

Abgrenzung zu anderen Störungen und Mischformen: ADHS, schizoide und narzisstische Persönlichkeitsstörung

MASC und mehr – über Sozialverhalten und Empathie

Outing? Jein, bitte! – Von klinischer Relevanz und vermeintlicher Gewissheit

Training statt Therapie – Lebenshilfe versus Psychofolter – ABA bitte mit Sahne!

Schlussakkord – die Nimm-Mits

Was Inklusion ist – von Schnittmengen, Integration und Extrawürsten

Fazit – Ein Autist kann aufblühen, wenn …

Who is Who

Disclaimer

Danksagung

Weiterführende Literaturhinweise

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

»Du kannst einen Menschen nichts lehren; du kannst ihm nur helfen, es in sich zu finden.«

GALILEO GALILEI

Für alle, die im Bizarren zuallererst

das bewundernswert Besondere sehen und

mir damit helfen, meinen Weg zu gehen.

Auftakt

Vorwort von Prof. Dr. Dr. Kai Vogeley

Das Phänomen Autismus ist mindestens seit dem letzten Jahrzehnt in der Öffentlichkeit sehr prominent geworden. Besondere Beachtung haben dabei insbesondere erwachsene Personen mit Autismus bekommen. Dies kann daran liegen, dass das Konzept des Autismus 1981 durch die britische Psychiaterin Lorna Wing wiederbelebt wurde und die Kinder, die zu dieser Zeit eine Autismus-Diagnose erhielten, nun das Erwachsenenalter erreicht haben. Autismus aus der Perspektive von erwachsenen Betroffenen zu betrachten, ist aus zwei Gründen besonders wichtig. Zum einen bringt Autismus im Erwachsenenalter ganz neue Herausforderungen mit sich, etwa die Gestaltung von Partnerschaften oder den Einstieg ins Berufsleben. Zum anderen sind erwachsene Menschen mit Autismus natürlich in einer ganz besonderen Weise in der Lage, über charakteristische Eigenschaften von Menschen mit Autismus zu berichten und zu informieren.

Eine solche, hochinformative Lebensbeschreibung aus der Innenansicht eines Menschen mit Autismus wird in der vorliegenden »Autismuskunde« von Herrn Dr. Peter Schmidt mit den Lebenserfahrungen des autistischen Jungen in seiner Schulzeit, seinem Einstieg in den Beruf, der Teilhabe am Arbeitsleben als junger Erwachsener und der Gestaltung von Partnerschaft und Familie vorgelegt. Sämtliche Lebensphasen und Alltagswelten werden sorgfältig analysiert. Diese Beschreibung ist auch ein interessanter Einblick in gelungene Inklusion und das gesamte Bedingungsgefüge dahinter: die vielen verschiedenen wechselnden Kontexte von Peergroup, Arbeitskollegen und Familie. Eine wichtige Besonderheit an dem vorliegenden Buch ist, dass sich Peter Schmidt in einer sehr differenzierten und reflektierten Weise über sein eigenes Leben im jeweiligen Umfeld seiner Lebenswelt äußert, so dass wir nicht nur über die äußerliche Entwicklung informiert werden, sondern vor allem auch darüber, wie es sich anfühlt, immer nur wie hinter einer »Glasmauer« mit anderen zu kommunizieren oder auf einer von den »Kontinenten« abgegrenzten »Insel« zu leben oder eine Partnerin mit der »Checkliste Ehefrau« zu suchen.

Die vielen Beispiele machen den Zugang zu den Besonderheiten des autistischen Erlebens leicht nachvollziehbar und ermöglichen auch dem Leser, Empfehlungen für den Umgang mit autistischen Menschen abzuleiten, sei es in der Gestaltung von Schule oder Arbeitsplatz. Damit ist es ein sehr praktisches Buch. Obwohl das Buch das Thema Autismus inhaltlich auf hohem Niveau bearbeitet, ist es dennoch sehr kurzweilig und unterhaltsam geschrieben, so dass man es, einmal in die Hand genommen, kaum wieder weglegen kann.

Dabei werden in den Ausführungen von Peter Schmidt drei übergeordnete Aspekte immer wieder deutlich. Erstens: Das Leben eines autistischen Menschen in einer nicht-autistischen Umwelt ist mit enormen Anstrengungen verbunden. Zweitens: Auch wenn Autismus allgemeine Merkmale aufweist, die Grundlage der Diagnosestellung sind oder die eine Einschränkung am gesellschaftlichen Leben im Sinn einer Schwerbehinderung definieren, ist Autismus zugleich auch immer als Folge der jeweiligen Lebensgeschichte der einzelnen Personen ganz individuell ausgestaltet; das bedeutet auch, dass Menschen mit Autismus auch Eigenschaften besitzen, die gar nichts mit Autismus zu tun haben. Drittens: Autismus beschreibt Eigenschaften einer inneren Verfassung, die lebenslang besteht und nicht durch einfache Maßnahmen »korrigiert« werden kann, wenngleich von der Frühförderung junger Kinder bis zur therapeutischen Begleitung von Erwachsenen auch substantielle Hilfe bereitgestellt werden kann.

Das wiederum bedeutet, dass sich nicht nur Menschen mit Autismus auf die oft unverständliche Welt von Nicht-Autisten einstellen müssen. Vielmehr müssen wir alle offen und neugierig für andere Menschen bleiben, insbesondere für die, die in mancherlei Hinsicht vielleicht anders wahrnehmen, erleben, fühlen, denken oder handeln als wir selbst. Nur dann wird es uns gelingen, Menschen, die »anders« sind, nicht auszugrenzen, sondern an unserem eigenen Leben teilhaben zu lassen. Dieses »Anderssein« schließt natürlich nicht nur die vermeintlichen Schwächen von autistischen Menschen ein, sondern mindestens genauso ihre Stärken, beide Seiten sind in diesem Buch als »bug« versus »feature« oder – in eine physikalische Metapher gewendet – als »Kapazität« versus »Widerstand« sehr eindrucksvoll dargestellt. Damit ist auch die Leserschaft definiert. Profitieren werden von diesem Buch nicht nur autistische Personen selbst, die einer anderen autistischen Person bei ihrem Lebensvollzug zuschauen und aus ihren Erfahrungen für sich selbst lernen können, sondern auch alle nicht-autistischen Personen, die offengeblieben sind, sich mit Anders-Denkenden und Anders-Erlebenden auseinanderzusetzen, unabhängig davon, ob sie in einem therapeutischen Kontext tätig sind oder nicht.

Ich persönlich wünsche dem Buch eine breite Leserschaft und hoffe, dass dieses Buch Diskussionen anregen kann, besonders zwischen den sogenannten Autisten und Nicht-Autisten.

Kai Vogeley, Köln, im Oktober 2019

Der aus dem Rahmen fällt

Liebe Leserin, lieber Leser!

Stellen Sie sich vor, Sie seien als Blinder auf einem Gehweg unterwegs, ohne zu wissen, was »Sehen« wirklich ist. Am laufenden Band kommt es zu Kollisionen mit anderen Menschen. Immer wieder fragen diese Sie vorwurfsvoll: »Können Sie bitte mal genauer hingucken, wo Sie hintreten?« Und Sie wundern sich dann und kontern: »Was soll das sein, sehen, hingucken? Wie muss ich mir das vorstellen? Wenn Sie das können, dann gehen Sie mir doch einfach aus dem Weg!«

Wenn meine Tochter wissen wollte, ob ihr Kleid gut aussieht, antwortete meine Frau: »Geh zu Papa, wenn der dir sagt, dass es gut aussieht, dann kannst du davon ausgehen, dass das stimmt!« Meine Antwort war stets ehrlich und aufrichtig, aber mitunter auch unpassend und schmerzvoll. Es sind gerade diese sozialen Situationen, die Autisten ins Abseits bringen, weil hier oft nicht die Wahrheit, sondern eine Höflichkeitslüge, zumindest aber eine höfliche, ausweichende Antwort erwartet wird. Denn Wahrheit kann schwer verletzen.

Wenn man zu mir als Schulkind gesagt hätte: »Solange du deine Hausaufgaben nicht gemacht hast, darfst du nicht spielen gehen!«, wäre ein ewiger Aufstand die Folge gewesen. Aus Sicht meiner Eltern, die mich möglicherweise gar als unerziehbar hingestellt hätten, hätte ich »herausforderndes Verhalten« gezeigt. Dabei wären sie es gewesen, die sich mir gegenüber vollkommen danebenbenommen hätten, wenn sie strikt auf der Einhaltung dieser aus meiner Sicht völlig willkür­lichen Regel bestanden hätten. Für mich war es nicht die Frage, dass ich die Hausaufgaben machen will oder muss, sondern wann und wie! Denn ich war motiviert, hatte aber ein großes Erholungsbedürfnis. Erst musste der »Kommunikationskater«, auch gerne als »Sozialkater« bezeichnet, abgebaut werden, dann war ich bereit. Punkt 17 Uhr begann ich, meine Hausaufgaben zu machen!

Drei Beispiele, die charakterisieren, wie Autismus auf Außenstehende wirken kann. Autisten können die Beziehungsebene einer Kommunikation nicht intuitiv erkennen, sie verhalten sich in sozialen Situationen anders als erwartet und bestehen auf Rituale und Regeln, die ihnen guttun. Alle verbindlichen Vorgaben, die mein Gefühls­leben und meine Wahrnehmung infrage stellten, blockier(t)en meine Weiterentwicklung! So ließen meine Eltern mich letztendlich, wenn auch zunächst mit Widerstand, stets meinen eigenen Weg zum Ziel gehen. Wer neue Wege gehen will, muss ohne Wegweiser auskommen.

Ich war, bin und werde lebenslang ein Mensch bleiben, der aus dem Rahmen fällt. Im Jahr 2007, im Alter von 41 Jahren, war ich geschockt und erleichtert zugleich, als mich ohne Vorwarnung »wie ein Blitz aus heiterem Himmel« die Diagnose erreichte, dass ich lebenslänglich ein Autist mit einem lehrbuchartig ausgeprägten Asperger-Syndrom gewesen sei, ohne das zu wissen. Das Leben bekam durch das, wofür dieses Wort »Autismus« steht, eine generalschlüssige Erklärung. Der mittlerweile großkronig verzweigte, dick- und hochstämmig gewachsene Warum-Baum verzweifelter, unbeantworteter Fragen wurde mit einem Schlag gefällt.

Auf der Suche nach Hilfe fanden es andere Menschen interessant, wenn ich erzählte, was ich erlebt habe, wie ich meinen Weg gegangen bin. Dies führte auf einen Weg, der mich als Autor und Referent für Autismus in die breite Öffentlichkeit führte. Immer öfter fragten mich die Menschen, wo sie denn das nachlesen könnten, was ich über das Phänomen Autismus erzähle. So kam es schließlich zu diesem Buch!

Das vorliegende Buch veranschaulicht, was Autismus ist und dass eine andersartige Wahrnehmungsverarbeitung Grundlage aller autistischen Verhaltensweisen ist.

Konkrete Beispiele zeigen, wie ich als Kind und Jugendlicher die Schulzeit (üb)erlebt habe, wie ich mich als Erwachsener durch die Untiefen der Arbeitswelt navigierte und wie ich die himmelhohen Hürden auf dem Weg zur eigenen Familie überwand. Strategien, die mich weitergebracht haben, zeigen grundsätzlich, wie Autisten und ihr Umfeld besser miteinander klarkommen können. So wird deutlich, was ein Leben als Autist und ein Leben mit Autisten ausmacht, welche Herausforderungen bestehen und welche Lösungen es dafür geben kann.

Dieses Buch ist ein Beitrag für Außenstehende, Bedürfnisse autistischer Menschen zu erkennen, zu verstehen und zu akzeptieren. Autisten können inspiriert werden, indem sie die Analyse meiner Lebenserfahrungen auf die eigene Situation übertragen. Das hilft Autisten, sich selbst besser zu verstehen, um daraus Rückschlüsse für die Gestaltung ihres weiteren Lebensweges zu ziehen und ein fruchtbares Zusammenleben mit anderen Menschen zu ermöglichen. Dabei zeigt sich grundsätzlich, was Energie kostet und was Energie liefern kann.

Die konkrete Ausprägung allgemeiner autistischer Verhaltensmuster ist verschieden. Daher gibt es kein allgemeingültiges Rezept, wie man mit Autisten umgehen kann! Es sind immer individuelle Lösungen! Das Buch liefert auch keine Anleitung, wie man aus einem Autisten einen normalen Menschen macht! Denn das geht nicht!

Stattdessen wird herausgearbeitet, was helfen kann, den Alltag zu bewältigen, ohne dass eine wie auch immer geartete Therapie dabei die Persönlichkeit verändert.

Ein autistischer Mensch entwickelt sich am besten, wenn man seine Stärken fördert und ihm hilft, damit aufblühen zu dürfen. Denn das ist das Einzige, womit er es schaffen kann, sich nutzbringend in die Gesellschaft einzubringen, was mit weiterer motivierender Anerkennung und Teilhabe verbunden ist.

Vor Ihnen liegt nun meine kleine Autismuskunde für eine autistenfreundlichere Welt.

Mit diesem Werk, dessen Inhalt auf eigenen Beobachtungen, auf Austausch in vielen Diskussionen und Selbsthilfegruppen und natürlich auch auf Inhalten in der Literatur beruht, übergebe ich meine brücken- und tunnelreiche Autobahn durch das ansonsten nur schwer zugängliche, bizarr geformte autistische Gebirge dem Verkehr. Viel Spaß beim Entdecken einer anderen, bereichernden Weltsicht!

Was isn das, Autismus?

Die zerrissene Jeans – Bug oder Feature

Für die einen ist es eine Krankheit, eine Störung oder eine Behinderung. Für die anderen ist es eine Form des Andersseins, der Neurodiversität. Und wenn man genauer nachfragt, stellt man fest, dass keiner ganz genau sagen kann, was Autismus wirklich ist. Oder alle wissen es! Autismus ist zu verschieden. Autismus ist in aller Munde. Viele Menschen fragen sich mittlerweile, ob überall, wo Autismus draufsteht, auch wirklich sinnvoll definierter Autismus drin ist. Denn Autismus ist »in«.

Autismus ist umstritten! Besonders bizarr ist die Diskussion, ob es sich bei Autismus um eine bloße Form des Andersseins handelt oder ob dieses Wort für eine klinisch relevante Diagnose steht. Ein Anderssein kann durchaus attraktiv sein; klinisch auffällig sein, das möchte eigentlich niemand, und es wirkt sich auf das Leben eher nachteilig aus.

Ist Autismus nun ein Bug oder ein Feature? Bug steht negativ konnotiert für Störung und Feature positiv konnotiert für Merkmal. Die Antworten sind dieselben, die man auf die Frage »Ist eine zerrissene Jeans ein Bug oder ein Feature?« geben kann!

Ob eine zerrissene Jeans kaputt oder ein modisches Accessoire ist, hängt davon ab, in welchem Kontext die Hose getragen wird, wie sie ganz konkret aussieht und welchen Geschmack der Betrachter hat. Weiterhin spielt es eine ganz wichtige Rolle, wie die Löcher aussehen, wo sie sich genau befinden und wie groß sie sind. Eine Jeans, die man löchrig gerissen im Laden kaufen kann, gilt sicherlich als schickes Feature. Eine beim Bücken geplatzte Hose, die den blanken Po freilegt, dürfte als Bug einzustufen sein. Ob die zerrissene Jeans oder Autismus als Bug oder Feature wahrgenommen wird, hängt somit von der Einstellung, Perspektive und Erwartungshaltung ab.

Eine knappe, knackige Antwort

Wenn sich mir ein noch unbekanntes Wort präsentierte, nervte ich als kleiner Junge alle meine Mitmenschen mit der Frage: »Was isn das?« Und nicht immer war die Antwort leicht. Bei komplexen Dingen muss man ganz einfach anfangen. So war das auch mit der Antwort auf die Frage »Wat is en Dampfmaschin« aus dem Film »Die Feuerzangenbowle«: »Da stelle mer uns janz dumm.«

Wer so gar keine Ahnung von irgendwas hat, der zog in internet­losen Zeiten ein dickes graues Buch aus dem Regal, das alle Wörter wohlgeordnet listete. Und darin wurde auch ich, sobald ich endlich lesen konnte, oft kurz und bündig fündig.

In der Ausgabe des Dudens, den ich zu Hause habe, wird das Wort »Autismus« ganz schlicht wie folgt definiert: »angeborene Entwicklungsstörung, die sich durch extreme Selbstbezogenheit und soziale Kontaktunfähigkeit ausdrückt«. Ergänzend wird erläutert, dass das Wort »autos« aus dem Griechischen stammt und schlicht »selbst« bedeutet. Autismus ist also knapp und knackig »Selbstismus«.

Im Bedeutungswörterbuch von »Google« im Internet war 2018 zu lesen: »Autismus (Substantiv, maskulin; Medizin, Psychologie) – Entwicklungsstörung, die sich u. a. in (gravierenden) Schwierigkeiten im Umgang mit Mitmenschen, in der Kommunikation und in sich wiederholenden und stereotypen Verhaltensweisen äußert.«

Sowohl die »alte« Duden-Definition als auch die »neue« Internet-Definition bringen die Bedeutung von »Autismus« knapp, aber sehr prägnant auf den Punkt. Beide Definitionen beschreiben das Muster, das Menschen, die »Autismus haben«, die »Autisten sind« oder wie man es heute ganz genau nennt, »im autistischen Spektrum« liegen, verbindet und wie dieses Muster auf andere wirkt.

Autismus, der »Selbstismus«, ist dabei von Egoismus, dem bewussten Streben auf Kosten anderer, zu unterscheiden! Indem ich mich damit auseinandersetze, wodurch diese von Autisten gar nicht gewollte Fremdwahrnehmung zustande kommt, wird deutlich, was schließlich Autismus ausmacht, was damit in Zusammenhang steht und auch was damit wohl eher nichts zu tun hat und vielfach anderweitig erklärbar ist.

Das Phänomen Autismus zeigt sich durch verschiedene Symptome, die die Medizin in einem »Katalog der Krankheiten«, dem International Catalogue of Diseases (ICD), listet. Sie sind der Versuch, das Unbeschreibbare, aber augenscheinlich dennoch Vorhandene zu beschreiben.

Hans Asperger, Leo Kanner und andere prägten den Begriff Autismus medizinisch, doch die verblichenen Wissenschaftler helfen hier nicht mehr wirklich weiter. Denn die Klarheiten, die diese Menschen einst zu verbreiten schienen, indem sie unter anderem Begriffe wie Asperger-Syndrom und Kanner-Syndrom prägten, sind Geschichte. Zu viele Menschen gibt es, die nicht eindeutig in diese Strukturen passen und Mischformen darstellen. Und überdies gibt es mittlerweile verwirrende und zum Teil sich gar widersprechende Auffassungen unter Forschern und Ärzten darüber, was denn zum Beispiel speziell ein Asperger-Syndrom und ganz allgemein Autismus sein soll und was nicht. Die Wissenschaft spricht vom »autistischen Spektrum«, ohne jedoch klar zu umreißen, was denn Teil dieses Spektrums sein soll und was nicht.

Das Phänomen Autismus geht mit einer spezifischen Wahrnehmung einher. Diese manifestiert sich in erster Näherung als Kontaktstörung auf der Beziehungsebene, was sich wiederum durch charakteristische Symptome im Alltag äußert. Allgemeine autistische Verhaltensmuster sind individuell verschieden ausgeprägt.

Begabungen und Talente autistischer Menschen bleiben oft ungenutzt, weil sie nicht selten hinter der autistischen Fassade, die auf andere Menschen meist abstoßend wirkt, verborgen bleiben.

Sämtliche in diesem Buch vorgestellten Beispiele, aus denen Anregungen, Strategien und Wege zur Gestaltung des Lebens von und mit autistischen Menschen abgeleitet werden, orientieren sich an der grundlegenden Bedeutung des Wortes »Autismus«. Dabei ist es völlig unerheblich, ob Autismus aus der Innensicht heraus nun als Störung, Krankheit, Behinderung oder nur als eine andere Seinsform gesehen wird.

Die mysteriöse, unsichtbare Mauer – wie ich Autismus als Kind fühlte

Als Kind und Jugendlicher habe ich, ohne über das Phänomen Autismus Bescheid zu wissen, mein Sein unter Menschen so gefühlt, wie ich es in meinem ersten Buch Ein Kaktus zum Valentinstag beschrieben habe: »Es ist alles wie Glas, das man durchschauen kann, das zwischen dem Innen und dem Außen liegt. Unsichtbar. Ich erinnere mich an einen Vogel, der am Fenster sterben musste. Der wollte da einfach nur langfliegen, aber plötzlich gefror die Luft. Beständig fliege ich gegen etwas, das unsichtbar da ist. Ich begreife es nicht, genauso wenig wie dieser Vogel.«

Als ich im Alter von 41 Jahren, ohne danach zu suchen, herausfand, dass ich ein Autist sein soll und beim diesbezüglichen Aufarbeiten meines Lebens in der Literatur Bilder entdeckte, die Autismus durch ein Kind unter einer Glasglocke illustrierten, fühlte ich mich in meinem Gefühl voll bestätigt. Voller Wiedererkennungswert. Ja, das Modell zeigt einen Aspekt dessen auf, was Autismus ausmacht. Ein Merkmal von Autismus ist ja, dass er wie das trennende Glas als unsichtbar gilt. Die Unsichtbarkeit besteht in der Undeutbarkeit von Auffälligkeiten und Abweichungen.

Und bei genauerem, reflektierendem Denken wurde mir auch klar, warum das Glas ein sogar noch weitreichenderes Modell für Autismus ist: Man kann alles da draußen durch das Glas von innen heraus sehen, aber von außen nach innen ist es schon schwieriger zu erkennen, was hinter der Glasscheibe ist. Man bleibt im Innen für die Außenstehenden so gut verborgen wie Menschen hinter einer Fensterscheibe, die im Winter das warme Drinnen vom kalten Draußen trennt.

Und noch etwas illustriert dieses Modell: Ich bleibe im Innen für die im Draußen erst recht gefühlsmäßig unverstanden. Im Innen kann ich nicht das Wetter da draußen spüren. Nicht die Hitze oder Kälte, nicht die Nässe oder Trockenheit, nicht den Wind oder den Duft der Blumen und Blüten. Ich lebe sozusagen abgeschottet vom Außen im eigenen Raumklima. Und das hat bizarre Konsequenzen für Sozialverhalten und Kommunikation.

Denn die Menschen da draußen geben mir beständig Tipps, wie ich mich anziehen soll, damit ich in der Kälte überleben kann. Ich brauche innen aber keine Winterjacke. Und erst recht keinen juckenden und kratzenden Schal oder gar einen halswürgenden Wollkragenpullover. Stattdessen empfehle ich denen da draußen, endlich in T-Shirt und Shorts rumzulaufen. Das ist doch viel angenehmer! Und die da draußen meinen, ich spinne ja wohl!

Das Modell veranschaulicht ein grundlegendes autistisches Problem: Jeder kennt die Gefühlswelt, hier dargestellt durch die Umgebungsbedingungen, des anderen nicht. Weil sie durch eine mysteriöse, unsichtbare, undeutbare Mauer getrennt sind und dadurch andere Dinge fühlen. Genau deshalb passt das Glasmauermodell so gut zum Autismusthema. Es zeigt auf, welcher Verlust an Informationen vorliegt und was das für Konsequenzen hat. Für beide Seiten. Dass man sich nur rational, aber nicht intuitiv ineinander hineinversetzen kann. Und weil die da draußen in der Mehrheit sind, heißt es, Autisten hätten keine Empathie. Was in Bezug auf die da draußen stimmt. Aber umgekehrt gilt dies auch! Was schnell übersehen wird! Die da draußen haben allesamt auch keine Empathie für die im Innen, die Autisten. Jedenfalls nicht intuitiv. So hält sich übrigens das weit verbreitete Vorurteil, dass Autisten überhaupt keine Gefühle hätten. Was falsch ist. Autisten haben alle Gefühle, die es gibt!

Inseln und Kontinente – ein Autismus-Modell

Autisten sind wie Inseln, wenn Gesellschaften die zusammenhängenden Kontinente darstellen. Ihre einzige Gemeinsamkeit ist ihre Eigenschaft als Insel. Dieses Modell dient dem Zweck, die grundsätzliche Problematik autistischer Menschen im gesellschaftlichen Kontext zu beschreiben. Auf zusammenhängenden Landmassen, Kontinenten und Inseln herrscht gegenseitige Empathie. Dabei verstehen einander auf der Beziehungsebene alle Menschen, die auf derselben Landmasse leben, also deren Wohnorte auf dem Landweg verbunden sind. Und das völlig unabhängig von der gelebten Kultur und der gesprochenen Sprache. Zwischen Menschen ist in diesem Modell wechselseitige Empathie möglich. Dabei leben die meisten Menschen auf den kontinentalen Landmassen. Diese bestimmen mit ihrer Mehrheit die weltweit gültigen gesellschaftlichen Regeln. Es gibt eine wechselseitige Empathie zwischen zwei Orten in ganz Afreurasien, jener Landmasse, die aus Afrika, Europa und Asien besteht. Man kann von Berlin nach Shanghai über Land fahren, jedoch nicht nach Mallorca.

Eine wechselseitige Empathie ist jedoch nicht mehr möglich, sobald sich Wasser zwischen zwei Orten befindet! Das eine Insel vom Kontinent trennende Wasser unterbricht in diesem Modell die intuitive Kommunikation auf der Beziehungsebene. Um die nonverbale Kommunikation von einer Insel zum Festland oder einer anderen Insel zu ermöglichen, muss das Wasser überbrückt werden. Das geht zum Beispiel mit einem Schiff oder einem Flugzeug. Auf jeden Fall ist damit erheblicher Aufwand notwendig, um die Verbindung herzustellen.

Für festlandsnahe Inseln geht es vielleicht sogar noch sportlich schwimmend oder es reicht eine lange Brücke. Diese Hilfen entsprechen in diesem Modell dann dem Training oder einer Therapie, wenn es darum geht, Autisten Teil der globalen Gesellschaft sein zu lassen. Die Verbindung ist von beiden Seiten zu wollen und zu bauen.

Das Insel-Modell für Autismus illustriert ganz nebenbei, dass auch zwischen den Inseln die Kommunikation auf der Beziehungsebene blockiert wird. Wahre Empathie unter Inselbewohnern funktioniert also nur unter Einwohnern gleicher Inseln.

Da die Menschen auf den Kontinenten in der Überzahl sind und diejenigen, die auf Inseln leben, deutlich in Unterzahl sind, behaupten sozusagen die Kontinentalen, dass die Insulaner keine Empathie hätten. Umgekehrt meinen die Insulaner, dass die Kontinentalen keine Empathie für sie hätten. Es besteht intuitiv keine gegenseitige Empathie. Allen Inseln ist bei aller Verschiedenheit genau eine Sache gemeinsam. Sie sind ein Stück Land, das vollständig von Wasser umgeben ist. Genau das definiert sie als Inseln. Denn es gibt auch Halbinseln, die aussehen wie Inseln, aber keine sind, weil das entscheidende Kriterium fehlt.

Nun gibt es große, kleine, bergige und flache, kalte und heiße, trockene und feuchte, festlandsnahe und festlandsferne Inseln, die die verschiedenen Ausprägungen von Autismus darstellen sollen. Es gibt Gegenden, da ist unmittelbar klar, dass man sich auf einer Insel befindet, sei es durch die Größe, die Form oder die Perspektive. Und es gibt Gegenden, da ist es nicht gleich offensichtlich. Zum Beispiel wenn man in der Caldera einer Vulkaninsel steht. Da sieht man nur den gewaltigen, mondartigen Vulkan vor sich. Erst wenn man auf seinem Kraterrand steht, sieht man, dass man auf einer idealtypischen Insel steht.

Indem ich Ihnen nun mit Beispielen und Erfahrungen aus dem eigenen Leben meine Insel vorstelle, hilft Ihnen dieses Buch, die Eigenschaften einer Insel zu verstehen, um mit ihr zu kommunizieren. Dazu sind die hinter meinen konkreten Ausprägungen stehenden, alle Autisten verbindenden Muster auf die eigene Situation zu übertragen.

Als kleiner Junge bezeichnete ich mich selbst als »Tomai«, gründete mit vier Jahren meinen eigenen Staat, Ausdruck einer eigenen Identität, ein Rückzugsgebiet, in dem ich weitestgehend nach meinen Regeln leben und mich entfalten konnte. Ich galt als einzigartig und eigenartig. Mein Verhalten, das mich auszeichnete und von vielen Menschen beobachtet, bedauert und zugleich bewundert wurde, hatte keinen Namen außer den eigenen.

Ich hatte und habe das »Tomai-Syndrom«, nach 41 Jahren des Daseins auf der Erde, als Autismus verstanden. Mein Leben ist dabei natürlich eine konkrete Ausprägung allgemeiner Muster autistischen Verhaltens, die auf allen (autistischen) Inseln zu finden sind.

Das Muster, das Autismus charakterisiert

So verschieden autistische Menschen in der Ausprägung ihrer Persönlichkeit auch sind, es gibt allgemein verbindende Muster in Wahrnehmung und Verhalten, die bei allen Autisten in der einen oder anderen Form individuell ausgeprägt vorhanden sind.

Den Film »Rain Man« kennt eigentlich jeder. Statt diesen Film als zu klischeelastig zu verdammen, lässt sich an ihm wunderbar das autistische Spektrum erklären, indem man auf das hinweist, was Autisten verbindet und nicht auf das, was Autisten trennt.

Wenn ich irgendwo aufgetreten bin, bekam ich nicht selten sich auf den ersten Blick widersprechende Feedbacks wie »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie sich in bestimmten Situationen genauso wie Rain Man verhalten« und »Ich habe mir einen Autisten immer wie Rain Man vorgestellt, aber so sind Sie ja gar nicht«. Die einen sahen also einen Rain Man in mir und andere dagegen gar nicht. Das liegt an der subjektiven Voreinstellung, der selektiven Wahrnehmung.

Diejenigen, die in mir den Rain Man sahen, stellten auf gewisse Muster ab, die alle Autisten zeigen. Diejenigen, die in mir keinen Rain Man sahen, stellten dagegen auf die konkrete Ausprägung der gesamten Person ab. Beides ist nicht zielführend.

Es gibt Eigenschaften an mir und Rain Man, die nichts mit Autismus zu tun haben. Unreflektiert bedeutet dies, dass die große Gefahr besteht, Verhaltensweisen einem Autismus zuzuschreiben, die damit letztendlich nichts zu tun haben. Bei Rain Man sind es die Savant-Fähigkeiten, dass er Streichhölzer zählen kann, bei mir sind es andere Merkfähigkeiten wie ein eidetisches Gedächtnis oder die Hochbegabung. Beides kommt auch völlig ohne Autismus vor. Sowohl an Rain Man als auch an mir sind die uns beide verbindenden, klinisch leitenden Merkmale von Autismus zu finden, wobei die Ausprägung dieser Merkmale fundamental verschieden ist.

Das Muster des wörtlichen Verstehens zeigt sich individuell verschieden wie folgt:

Rain Man bleibt mitten auf der Straße stehen, als die Fußgängerampel auf »Nicht gehen« umspringt. Ich biss meine Mitschüler, weil ich mich mehr durchbeißen müsse. Oder ich suchte die rostigen Ketten im Schnee, mit denen die Bürgersteige eines entlegenen Ortes hochgeklappt werden. Das Muster repetitiver Verhaltensweisen kann sich so zeigen:

Rain Man kann seine Unterhosen nur in Cincinnati kaufen. Ich musste auf meiner ersten USA-Reise mit meiner Frau unbedingt im K-Mart einkaufen und fahre, um einen solchen zu finden, zwei Stunden aus Los Angeles heraus bis Bakersfield, weil auf der geplanten Strecke erst hier einer in mein Blickfeld rückte und ich nur diese Kette als Lebensmittel- und Gemischtwarenladen kannte.

Die Fachwelt sieht heute wie bereits zum Zeitpunkt meiner Diagnose 2007 eine sogenannte »Trias«. Drei wesentliche Säulen. Das Basis-ABC-Muster, das autistisches Verhalten und Wahrnehmen charakterisiert. So wie man auch genau drei Punkte braucht, um ein Objekt auf der Erdoberfläche sicher stehend zu verankern.

Kommunikation ohne Beziehungsebene (Säule A)

Es gibt eine kommunikative Andersartigkeit und damit verbundene Probleme im zwischenmenschlichen Bereich, weil Autisten die nonverbale Kommunikation nicht intuitiv verstehen. Dies lässt sich mit dem Nichtwahrnehmen der Beziehungsebene in einer Kommunikation erklären. Sie kann weder gesendet noch empfangen werden. Autisten können überdies die eigenen Gefühle nicht zuverlässig senden und erst recht nicht die Gefühle anderer aus dem, was Sprache und Kommunikation über die bloßen Worte hinaus sonst noch so transportiert, erkennen. Die Mimik im Gesicht anderer kann nicht gedeutet werden. Und die Mimik im Gesicht des Autisten kann nicht intuitiv mit dem Schema anderer Menschen dechiffriert werden.

Sozialverhalten ohne gegenseitige Empathie (Säule B)

Darüber hinaus gibt es charakteristische Probleme im Sozialverhalten, das abweichend sein kann. Dies liegt daran, dass die Empathie zum Gefühlsleben der meisten Menschen fehlt, wobei die Sache mit der Empathie allerdings in beide Richtungen gilt. Autisten fehlt sie in Bezug auf die sie umgebenden Menschen und den anderen Menschen fehlt sie in Bezug auf den Autisten. Es mangelt gegenseitig an Empathie. Beide Seiten können sich emotional intuitiv nicht in die jeweils andere Seite hineinversetzen. Ein Autist fühlt nur bezogen auf sich selbst. Um mit jemandem mitfühlen zu können, muss er die emotionale Situation, um die es geht, bereits selber einmal durchlebt haben. Außerdem interessieren sich Autisten grundsätzlich nicht für die Alltagsbelange anderer Menschen.

Rigiditäten und Stereotypien (Säule C)

Und last but not least gibt es im Alltag jede Menge haltgebende Rituale und Rigiditäten, die von anderen Menschen nicht gestört werden dürfen, weil sonst je nach charakterlicher Veranlagung totaler Rückzug oder Panik droht. Diese Eigenschaft macht den Betroffenen bereits im Wortsinne zum Autisten. Weil er dadurch zum einen isoliert ist und zum anderen es immer »nach seiner Nase« gehen muss, damit er sich wohlfühlen kann. Auch stereotype und idiosynkratische Beschäftigungen, die unbedingt von einem intensiv betriebenen Hobby zu unterscheiden sind, gehören zu dieser Kategorie, zum Beispiel das Auswendiglernen und Aufmalen von U-Bahn-Netzplänen.

Alle diese drei ABC-Eigenschaften können in unterschiedlichster individueller Ausprägung daherkommen, das macht das »autistische Spektrum« aus. Aber allen Autisten gleich ist das übergeordnete Muster. Autismus im klinisch-relevanten Sinne liegt bei Auftreten dieser drei Merkmale aber nur dann vor, wenn dieses Verhalten ab frühester Kindheit charakteristisch ist. Denn die dem Autismus zugeschriebene Wahrnehmung muss angeboren und nicht durch Umwelt- oder Erziehungseinflüsse im Laufe des Lebens geprägt worden sein. Außerdem muss sich die durch diese Trias beschriebene autistische Symptomatik grundsätzlich persistent zeigen. Das bedeutet, sie tritt lebenslänglich auf und zeigt sich unabhängig von der gegebenen Situation oder den Reizen, denen der Betroffene gerade ausgesetzt ist.

Alle drei Eigenschaften führen dazu, dass zum einen soziale Erwartungshaltungen anderer unerfüllt bleiben und zum anderen Betroffene aus Sicht anderer zuerst »nur an sich denken«. Das führt zu der Fremdwahrnehmung, dass ein »Autist« ein »Selbstist« im griechischen Wortsinn ist. Autisten sind somit in gewisser Weise per definitionem egozentrisch, allerdings im gutartigen Sinne, weil sie die Sicht anderer nicht intuitiv verstehen. Sie sind aber, darauf sei an dieser Stelle ausdrücklich hingewiesen, per se NICHT egoistisch im bösartigen Sinne, womit das bewusste Übervorteilen anderer gemeint ist. Autisten leben grundsätzlich nicht bewusst auf Kosten anderer, indem sie diese betrügen oder übervorteilen.

Ein Autist kreist aufgrund seiner Wahrnehmung aus Sicht anderer um sich selbst, in sozialen Situationen wirkt er unbeholfen, dabei scheint er keine Rücksicht auf die Gefühle anderer zu nehmen (wie denn auch, wenn er sie nicht sehen, geschweige denn sich in sie hineinversetzen kann) und last but not least, ist das Leben für ihn und andere, die mit ihm leben (müssen), nur dann erträglich, wenn seine bisweilen bizarr anmutenden Bedürfnisse zumindest so weit berücksichtigt sind, dass er Halt im Leben finden kann. Autismus wirkt auch ohne Zutun anderer Menschen behindernd.

Neben den bereits genannten Autismus-Formen, dem »Asperger-Syndrom« und dem »Kanner-Syndrom«, auch als »frühkindlicher Autismus« bezeichnet, diagnostizierten die Ärzte bei Patienten, die nicht in eine dieser beiden »Schubladen« passten, aber dennoch irgendwie »autistisch« wirkten, den atypischen Autismus. Hinzu kam später der Ausdruck »Hochfunktionaler Autismus«. Damit sollten im Allgemeinen Personen beschrieben werden, deren Symptomatik zum einen dem frühkindlichen Autismus entspricht, die aber zum anderen auch als Asperger beschrieben werden können. Nach Professor Dr. Dr. Vogeley können beide Begriffe insbesondere in der rückwirkenden Erwachsenendiagnostik synonym verwendet werden.

Mittlerweile spricht man ganz allgemein von einer »Autismus-Spektrum-Störung«, auch kurz »autistisches Spektrum« genannt. Inwieweit es sich dabei wirklich um eine Störung im Wortsinn handelt, bleibt umstritten. Das hängt sicherlich vom Einzelfall ab. Das autistische Spektrum stellt auf die vielfältige, individuelle Ausprägung der Kernmerkmale ABC ab. So liegt im Unterschied zum frühkindlichen Autismus beim Asperger-Syndrom keine allgemeine Verzögerung der Entwicklung, insbesondere keine Verzögerung der Sprachentwicklung, vor.

Folgende Ausprägungen des ABC-Musters charakterisieren das Autismus-Spektrum. Sie können für unkundige Außenstehende unsichtbar sein. Diese Unsichtbarkeit ist dabei eine für Außenstehende undeutbare beobachtbare Auffälligkeit. Menschen mit diesen Merkmalen, sofern sie intelligent waren, haben vor allem bis 2010 die Diagnose Asperger-Syndrom erhalten.

Für alle Autisten ist die Kommunikation auf der Beziehungsebene sehr schwierig bis unmöglich. Beispielsweise werden daher Ironie und Wortwitze selbst bei allgemein als intelligent einzustufenden Betroffenen insbesondere bei erstmaligem Hören oft nicht verstanden, ebenso werden Redewendungen und Metaphern vielfach nicht ad hoc erkannt, sie müssen wie Satzvokabeln gelernt werden.

Betroffene sind nicht multitaskingfähig. Ihre Aufmerksamkeit kann sich nur auf eine Sache zu einer Zeit richten. Außerdem gehen sie gerne idiosynkratischen Beschäftigungen nach, einer speziellen Form von Stereotypien, den sogenannten Spezialinteressen. Darüber hinaus­gehende Interessen und darauf aufbauende Begabungen sind meist inselartig auf bestimmte Sachgebiete fokussiert. Das inselartige Wirken der Begabung entsteht dabei durch den Umstand, dass sie großen Schwächen gegenübersteht, die man so nicht erwarten würde.

Betroffene können sich nicht intuitiv emotional in andere hineinversetzen, geschweige denn gar anderen im Umgang mit deren Gefühlen helfen, zum Beispiel trösten. Zwar gilt dies auch umgekehrt, aber die meisten Menschen »wohnen« auf den Kontinenten, die wenigsten auf den Inseln, was begründet, dass die Reaktionen der Menschen auf den Kontinenten für die Menschen auf den Inseln rätselhaft und merkwürdig erscheint und umgekehrt. Gefühle der jeweils anderen Seite können nicht nachvollzogen werden.

Betroffene haben darüber hinaus erhebliche Schwierigkeiten, die Gefühle anderer zu erkennen. Die Mimik anderer ist für sie ein »Buch mit sieben Siegeln«. Eigene Gestik und Mimik wirkt auf andere irgendwarum seltsam, mitunter starr, besonders bei Kindern: »Du guckst wie ein Auto!«, sagte man mir früher oft, außerdem fehlt Gestik ­entweder vollkommen oder sieht zumindest irgendwarum zeitweise komisch aus. Die Satzmelodik folgt nicht dem üblichen Sprechschema.

Freundschaften oder gar Partnerschaften zu knüpfen und zu erhalten, fällt Autisten sehr schwer. Small Talk ist für Betroffene unmöglich.

Rituale und für Außenstehende zwanghaft erscheinende Handlungen, die aber von echten Zwängen zu unterscheiden sind, kennzeichnen ihr Leben.

Stereotype Bewegungen sind ein weiteres Charakteristikum autistischer Menschen. Sie sind Ausdruck erlebter Emotionen, sie fungieren als Blitzableiter bei Stress oder dienen dem Ausleben und Verarbeiten intensiv erlebter Gefühle.

Betroffene sind oft motorisch erheblich ungeschickter als die meisten übrigen Menschen. Sie wirken mitunter hölzern in ihren Bewegungen. Eine mögliche Ausprägung ist ein seltsam anmutender Zehenspitzengang.

Menschen mit Asperger-Syndrom fällt es vergleichsweise leicht, selbstständig zu arbeiten. Teamwork hingegen ist äußerst schwierig und nur möglich bei klaren Aufgaben und Abgrenzungen.

Last but not least zeichnet viele Autisten eine Überempfindlichkeit gegenüber Geräuschen, Berührungen und anderen Reizen aus.

Autisten verfügen nicht ad hoc über den (emotionalen) Autopiloten, den die meisten Menschen haben, um Dinge des Alltags zu erledigen. Sie müssen sich über ihre zu tätigenden Handlungen lange Zeit aktiv und bewusst Gedanken machen. Irgendwann, je nach Intelligenz und innerer Resonanz, kann das bewusste Handeln auch bei Autisten in das Unterbewusstsein eindringen, sodass für bestimmte Tätigkeiten auch ein Autopilot möglich wird.

Über die drei genannten ABC-Merkmale hinaus, die wie beschrieben seit frühester Kindheit unabhängig von Umwelteinflüssen und Erziehung und persistent vorliegen müssen, sind unter Autisten noch eine Reihe weiterer Merkmale verbreitet, die allerdings für sich allein genommen keine Merkmale von Autismus im Sinne der Definition der Selbstbezogenheit darstellen. Sie eignen sich bestenfalls als Hinweis auf das mögliche Vorliegen von Autismus, können aber auch ganz andere Ursachen haben oder für sich alleine stehen.

Autistische Begleitsymptome wie Reizüberflutung, Prosopagnosie und andere

Typisch für Autisten, aber keinen eindeutigen Rückschluss auf Autismus zulassend, sind über das ABC-Muster hinaus unter anderem die folgenden, weit verbreiteten Begleitsymptome:

D. Reizempfindlichkeit – sensorische Besonderheiten

E. Prosopagnosie – Gesichtsblindheit

F. Alexithymie – Blindheit für eigene Gefühle

G. Nerdig und geekig sein

H. Wörtliches Verstehen

Diese Symptome können sowohl unabhängig vom eigentlichen Autismus, aber auch als Teil des Autismus auftreten. Symptome, die auch durch den Autismus im Verlauf des Lebens als erworbene Eigenschaften auftreten, werden im nächsten Kapitel angesprochen. Es folgt eine Betrachtung der wichtigsten autistischen Begleitsymptome im Einzelnen.

D. Reizempfindlichkeit – sensorische Besonderheiten

Reizempfindlichkeit bedeutet, Probleme bei der Verarbeitung eingehender Reize zu haben. Diese kann sowohl eine Reizfilterschwäche als auch eine stressverursachende andere Form der Reizverarbeitung sein. Betroffene können Lärm, grelles Licht oder eine Vielzahl auf sie einwirkender Reize nicht ausblenden, weil die Filterfunktion fehlt oder nicht so funktioniert wie bei den meisten anderen Menschen.

Zudem haben die meisten Autisten weitere sensorische Besonderheiten. Sie sehen, hören, riechen und fühlen mitunter intensiver als andere Menschen. Sie verarbeiten die auftretenden Reize nicht nebeneinander, sondern nacheinander. Wenn zu viele Eindrücke eintreffen, kommt es zu einem Verarbeitungsstau. Wenn klare Kriterien für einen Filter fehlen, kommt es zur Reizüberflutung.

Der Betroffene ist dann in der Regel sehr schnell geistig erschöpft. Seine »Central Processing Unit«, kurz »CPU«, ist überlastet, weil das Verarbeiten der ungefilterten Reize viel Kraft im Hirn kostet, die ihm woanders hinterher fehlt.

Es gibt intelligente Autisten, die als Kompensation eine Form von Tunnelblick entwickeln. Dies wäre dann ein sehr stark wirkender Filter, der es ihnen ermöglicht, wenigstens das Relevante für eine aktuelle Handlung zu erkennen. Dies geschieht dann aber auf Kosten des bewussten Erkennens und Begreifens anderer Dinge, die vorab nicht im Fokus stehen und die dann übersehen werden. Informationen, die sozusagen unangemeldet auf Autisten treffen, also nicht Teil des aktuellen Filters sind, werden nicht mehr berücksichtigt.

Autisten sind demzufolge nicht per se »ohne Filter«, sondern ihr Filter ist sozusagen nicht ausgewogen, mit der Folge erschöpfender Reizüberflutungen oder zu stark einseitigen Tunnelblicks. Deshalb sind Autisten auch grundsätzlich nicht multitaskingfähig. Ihr Verhalten kommt rigide und stereotyp rüber, weil anstehende Aufgaben sequenziell abgearbeitet werden müssen und nicht parallel abgearbeitet werden können. Manchmal muss ein Gedanke erst zu Ende gedacht werden, bevor man als Autist ansprechbar ist. Man ignoriert dann Ansprachen bewusst oder unbewusst, um den laufenden Prozess im Hirn nicht zu torpedieren.

Im schlimmsten Fall treten durch die Unterbrechung Gedankenschleifen auf, die der Verzweiflung geschuldet sind, sich wieder an das zu erinnern, was vor der Unterbrechung von außen gerade aktuell lief. Im günstigsten Fall kommt es zu einer Verzögerung der Bearbeitung, so wie bei einem ICE, dessen Fahrzeit mit Halten sich gegenüber Fahrten ohne Halt verdoppeln kann.

Für einen Autisten treten bei der Verarbeitung einer hohen Anzahl eingehender Reize demzufolge immer extreme Belastungen auf, was ihn dann unter permanenten Stress setzt. Ein Autist versucht stets aus reinem Überlebenstrieb, möglichst gar nicht erst in solche Situationen zu kommen, diese zu strukturieren, um die Kontrolle zu gewinnen, oder sich denen so bald als möglich zu entziehen.

So kann ein beruflich vor allem geistig tätiger Autist zum Beispiel nicht in einem Großraumbüro arbeiten, weil er die ihn dort umgebenden Reize nicht dauerhaft ausblenden kann, um sich auf hochwertige Arbeit zu konzentrieren. Im Flughafen passiert mitunter das Gegenteil. Dort kommt es zum Tunnelblick. Um den Flugsteig zu finden, wird nur die relevante Beschilderung wahrgenommen, die diesem Ziel dient. Die dringend benötigte Toilette wird nicht sofort gefunden, weil das vergleichsweise meist klein gehaltene WC-Schild im nicht ad hoc verarbeitbaren Sammelsurium anderer Schilder, die als relevant eingestufte Wege weisen, untergeht. Beim Autofahren bin ich zum Beispiel in der Lage, alles, was für das sichere Fahren und die Orientierung relevant ist, zu erkennen, um unfallfrei und zielgerichtet durch den Verkehr zu kommen. Ich kann aber nicht mehr verarbeiten, was auf der für die Verkehrsregelung nicht relevanten Litfaßsäule steht oder wer mich vielleicht gerade auf dem Fußweg grüßt, der dann vergeblich auf mein beantwortendes Nicken durch die Windschutzscheibe wartet.

So typisch Reizüberflutungen für Autisten auch sind, sie können nicht herangezogen werden, um Autisten zu identifizieren. Reizempfindlichkeit ist auch bekannt unter dem Namen Hypersensibilität, ohne dass Außenstehende eine Selbstbezogenheit (Autismus) beobachten können. Außerdem treten Reizüberflutungen üblicherweise auch bei ADHS, ADS oder akuten und chronischen Depressionen auf.

Last but not least, und das sei hier ausdrücklich angemerkt, leiden alle Menschen mehr oder weniger an Reizüberflutung durch die zunehmende Informationsflut. Immer mehr in immer kürzeren Zeitabschnitten will aufgenommen, sortiert und verarbeitet werden. Dieses Problem betrifft alle Menschen gleichermaßen. Die einen kommen damit gut klar, die anderen weniger.

Eine Reizüberflutung, die im Zusammenhang mit einer immer informativeren und schnelllebigeren Welt steht, als eigenständige Diagnose auszusprechen, wäre sinnvoll. Und zwar als eine Art allergische Reaktion auf die immer größer werdende »Informationsverschmutzung«.

An dieser Stelle sei noch auf die Intense World Theory hingewiesen, nach der eine Flut von Reizen autistisches Verhalten auslöst. Allerdings gibt es auch Autisten, die die ABC-Kriterien erfüllen und keine Reizfilterschwäche und auch keine sonstigen großen Probleme mit der Reizverarbeitung haben. Begleitsymptome potenzieren die Auswirkungen auf die Alltagstauglichkeit. Dies kann zu einem hohen Leidensdruck führen.

Symptome von Reizüberflutungen, die auf eine Reizfilterschwäche oder andere Probleme in der Reizverarbeitung zurückgehen, können jedoch nur dann als Teil einer autistischen Symptomatik angesehen werden, wenn diese zusätzlich zu den bereits gelisteten Kriterien A, B und C auftreten. Autistische Menschen zeigen die als A, B und C gelisteten Verhaltensmuster dabei auch dann, wenn sie akut nicht unter einer Reizüberflutung, die durch eine Reizfilterschwäche oder eine andere Form der abweichenden Reizverarbeitung ausgelöst wird, leiden. Die autismustypischen Auffälligkeiten im Kommunikations- und Sozialverhalten zeigen sich also auch dann, wenn gerade keine akute Reizüberflutung vorliegt. Sie treten unabhängig davon auf, ob grelles Licht vorhanden ist oder ein abgedunkelter Raum, ob viele oder nur wenige Menschen zugegen sind, ob viele oder wenige Informationen zu verarbeiten sind. Je mehr Reize da sind, desto stärker sind die Symptome allerdings ausgeprägt.

Es könnte ein Hinweis auf Autismus sein, wenn die Reizüberflutung Blockaden auslöst. Dies gilt aber nur dann, wenn als Komorbidität keine akute Depression im Spiel ist, weil Depressionen ebenfalls zu Rückzügen und Blockaden führen können. Es könnte dagegen ein Hinweis auf ADHS sein, wenn durch die Reizüberflutung ein aufgedrehtes, chaotisches Handeln ausgelöst wird. Doch derartige Zusammenhänge sind nicht abschließend geklärt, sondern basieren auf empirischen Beobachtungen. Unabhängig von der Frage, ob eine Reizfilterschwäche oder ein Leiden unter einer Reizüberflutung durch eine andere Form der Reizverarbeitung autistisches Verhalten darstellt oder nicht, kann es sein, dass allein das Symptom der Reizfilterschwäche zu schwerwiegenden Einschränkungen führen kann, auch dann, wenn kein Autismus im eigentlichen Sinne der Symptome A, B und C vorliegt.

E. Prosopagnosie – Gesichtsblindheit

Prosopagnosie bezeichnet die Unfähigkeit, Menschen am Gesicht wiederzuerkennen. Diese Eigenschaft verstärkt die Wirkung als Autist auf andere, kommt aber kurioserweise in der Wissenschaft nicht als ein mögliches Diagnosekriterium vor. Dabei ist sie unter Autisten weit verbreitet. Betroffene sind zum Beispiel nicht in der Lage, Menschen zuverlässig wiederzuerkennen, die sie bereits kennengelernt, aber noch nicht oft genug wiedergesehen haben.

Prosopagnosie ist nicht zu verwechseln mit der Unfähigkeit, Mimik in den Gesichtern zu deuten, welches als kommunikativ relevantes Diagnosekriterium für Autismus gilt.

Prosopagnosie hat zum Beispiel zur Folge, dass ich Menschen, die ich eigentlich kenne und gerne grüßen würde, nicht grüße, weil ich die Menschen schlicht nicht erkenne. Dann heißt es: »Der kann auch nicht grüßen!« oder »Der könnte auch mal grüßen!« Auch wenn diese Feststellungen nacktfaktisch wahr sind, es wird auf diese Weise angeprangert, dass man mal wieder eine soziale Erwartungshaltung nicht erfüllt hat und man so auf der Beliebtheitsskala gesunken ist.

Wenn mir zum Beispiel ein Kollege, der ansonsten im Büro in Jeans oder Anzughose unterwegs ist, im Fitnessstudio in seinen Sportklamotten begegnet, ist er für mich zunächst eine unbekannte Person. Besonders dann, wenn ich ihn noch nicht öfter gesehen und erfolgreich erkannt habe. Er wird dann nicht gegrüßt, obwohl er dies erwarten könnte. Und ich gelte aus seiner Sicht als selbstbezogen und damit per definitionem als autistisch und obendrein auch noch als unfreundlich.

Weiterhin ist es vorgekommen, dass ich meine eigene Frau nicht erkannt habe, als sie mich als freudige Überraschung nach einer Dienstreise vom Flughafen abholen wollte. Ich lief an ihr vorbei, zielstrebig den Schildern folgend, um das öffentliche Verkehrsmittel zu finden. Und als sie mich dann abfing, dauerte es eine Weile, mich auf die neue, im Grunde doch sehr freudige Situation einzustellen, denn ich reagierte ruppig mit der Frage: »Was machst DU denn hier?« Denn das war nicht geplant!

F. Alexithymie – Blindheit für eigene Gefühle

Autisten haben sowohl Schwierigkeiten, die Gefühle anderer Menschen aus der Beziehungsebene einer Kommunikation abzuleiten, als auch die Gefühle anderer Menschen so wie diese nachzufühlen. Völlig unabhängig gibt es darüber hinaus noch die Unfähigkeit, eigene Gefühle adäquat wahrzunehmen und gegenüber anderen Menschen zu beschreiben. Alexithymie ist unter Autisten nicht selten. Wie oft dies vorkommt, ist jedoch unbekannt.

Fragt man Menschen mit Alexithymie zum Beispiel »Was fühlen Sie in dieser Situation gerade?«, dann kann es sein, dass sie nach Antworten ringen. Ich litt beispielsweise nach wenigen Semestern an der Uni unter einer chronischen Tachykardie, die konsultierten Ärzte untersuchten Herz und Kreislauf. Sie konnten keinerlei Krankheiten finden. »Es muss psychischen Ursprungs sein!«, lautete die Diagnose. Niemand dachte seinerzeit an die Überforderung durch die sozialen und organisatorischen Abläufe im Unibetrieb, unter denen ich latent litt, was rückblickend eine Folge der autistischen Symptomatik ist. Nicht selten sind körperliche Beschwerden die Folge nicht spezifizierbarer seelischer Probleme. In dieser Situation waren mir selbst aber meine eigenen damit zusammenhängenden Gefühle und ihre Auswirkung völlig unbewusst und nicht zugänglich.

G. Nerdig und geekig sein

Nicht jeder Nerd oder Geek ist ein Autist. Und nicht jeder Autist ist ein Nerd oder Geek. Freakiges Benehmen, Abgehobenheit, sich in Hobbys vertiefen, das alles weist auf eine einseitige Interessensausprägung und gegebenenfalls auch auf eine Hochbegabung hin. Nerdsein und Autismus können zusammenkommen, sind aber zwei verschiedene Dinge. Aber wenn diese Dinge gemeinsames Merkmal einer Person sind, wirkt sie sehr bizarr. »Wer so schlau ist wie du, Peter, dem glaube ich nicht, dass er … nicht können soll!« Wenn solche Sätze immer wieder im Umfeld eines Betroffenen zu hören sind, weist das auf ein unebenes Stärke-Schwächen-Profil hin, was typisch ist für hochbegabte Autisten.

H. Wörtliches Verstehen