Invasion der Springer - Peter Schmidt - E-Book

Invasion der Springer E-Book

Peter Schmidt

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Angriff auf die Demokratie? Politische Destabilisierung? Machtübernahme? Der Klimawandel hat zu einem hohen Anstieg der Temperaturen in der afrikanischen Sahelzone geführt. Die Folgen: neue Flüchtlingswelle vor allem nach Deutschland. Anders als früher folgen die Flüchtlinge diesmal einem wohlorganisierten Plan und dringen als sogenannte "Springer" ins Land, besetzen leer stehende Schulen, Verwaltungsgebäude und Fabrikhallen … Wegen des Verdachts, dass diese Strategie auch in anderen Ländern der EU und den USA zur Gefahr werden könnte, wird der deutschstämmige Geheimdienstoffizier Colonel Hans Lauer von der amerikanischen NSA und westlichen Regierungen beauftragt, herauszufinden, ob es sich dabei nur – wie anfangs vermutet – um ein lukratives Geschäftsmodell von Schlepperbanden handelt, oder ob politische Interessen im Spiel sind, womöglich ein Komplott Russlands oder des wiedererstarkten IS zur Destabilisierung der NATO-Staaten. Die Lösung ist erschreckend und macht nachdenklich, denn sie zeigt erstmals die Möglichkeit der Manipulierbarkeit unserer staatlichen Ordnung ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 207

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



PETER SCHMIDT

Invasion

der Springer

Thriller

ZUM BUCH

Der Klimawandel hat, wie von Wissenschaftlern vorausgesagt, die Meeresspiegel ansteigen lassen, aber auch zu einem unerwartet hohen Anstieg der Temperaturen in der afrikanischen Sahelzone auf oft annähernd fünfzig Grad geführt. Die Folge: neue Flüchtlingswellen vor allem nach Deutschland.

Anders als bei früheren Flüchtlingsströmen, dem „Jahr der offenen Grenzen“ über die Balkanroute oder dem Ansturm auf den nordafrikanischen Grenzzaun der spanischen Exklave Melilla folgen die Flüchtlinge diesmal anscheinend einem wohlorganisierten Plan und dringen zunächst nur einzeln als – wie sie sich selbst bezeichnen – sogenannte „Springer“ ins Land, besetzen leer stehende Schulen, Verwaltungsgebäude, Werksgelände und Fabrikhallen, in denen sie sich dann gemeinsam gegen ihre Vertreibung zur Wehr setzen …

Wegen des Verdachts, dass diese Strategie auch in anderen Ländern der EU und den USA zur Gefahr werden könnte, wird der deutschstämmige Geheimdienstoffizier Colonel Hans Lauer von der amerikanischen NSA und westlichen Regierungen beauftragt, herauszufinden, ob es sich dabei nur – wie anfangs vermutet – um ein lukratives Geschäftsmodell von Schlepperbanden handelt, oder ob politische Interessen im Spiel sind, womöglich ein Komplott Russlands oder des wiedererstarkten IS zur Destabilisierung der NATO-Staaten.

TEIL I

Komplott

1

Hitzewelle

Oberst Lauer blickte hinaus auf die lange Allee vor der Brücke, die während der Baumblüte so etwas wie die Zierde der Hauptstadt gewesen war, deren Blätter aber in diesem heißesten Sommer des Jahrhunderts vorzeitig abfielen wie goldenes Herbstlaub …

Der Mann, der sich aus dem Schatten des Brückenpfeilers löste, war dunkelhäutig und etwa einen Meter neunzig groß, einer jener typischen „Springer“ aus der Sahelzone Afrikas, wo die Temperaturen momentan bei annähernd fünfzig Grad lagen.

Er lief im gewohnten Zickzackkurs, um in den sicheren Bereich der Wellblechhallen zu gelangen.

„Erst schießen, wenn er nahe genug heran ist“, sagte Lauer ins Sprechfunkgerät. „Nur auf den Oberarm zielen, kein Kopfschuss.“

„Oberarmschüsse wie gehabt“, antwortete eine Männerstimme aus dem Wellblechhäuschen hinter ihnen.

Doch ehe ein Schuss fiel, blieb der Flüchtling stehen und starrte misstrauisch zum Ende der Brücke hinüber.

„Was ist passiert?“, fragte Oberst Lauer.

„Hat wohl Lunte gerochen und will lieber umkehren“, sagte Meyers.

Der Farbige lief wieder im Zickzackkurs, nur diesmal in entgegengesetzter Richtung …

„Eine Gummikugel in den Nacken, damit er merkt, dass es kein Spaziergang ist“, sagte Lauer.

Die Kugel erwischte ihn, als er schon fast den Brückenpfeiler erreicht hatte. Er fiel vornüber wie ein gefällter Baum, die Arme nach vorn, das Gesicht am Boden. Helfende Hände streckten sich ihm entgegen und zogen ihn in den Schatten der Betonwand zurück.

„Das war’s“, sagte Lauer.

„Und wenn heute noch mehr kommen – alle auf einmal?“

„Nein, sie testen wieder nur, was machbar ist.“

„Ihr Wort in Gottes Ohr …“

Wurden die Flüchtlinge nicht gewaltsam mit Warnschüssen gestoppt, dann tauchten sie unkontrolliert im Stadtgebiet unter und bildeten weitere Lager.

Ihre Methode war offenbar nicht wie bisher, einzelne Aufenthaltsgenehmigungen zu erlangen, sondern dies für alle auf einmal durch Besetzung von immer mehr Stützpunkten zu erzwingen.

Auf diese Weise hatten sie außer leer stehenden Lagerhallen oberhalb der Spree-Inseln auch zwei verlassene Markthallen erobert. Wegen der überhasteten Flucht der Händler waren ausreichend viel Lebensmittel zurückgeblieben.

Da die Kühlhäuser schon aus humanitären Gründen nicht abgeschaltet wurden, blieben ihnen dort für die nächsten Versuche genügend Vorräte.

Es war eine völlig andere Strategie als in den vergangenen Jahren – keine langen Flüchtlingszüge mehr, sondern ein einziges großes Versteckspiel. Als sei es fast so gut wie eine Lebensversicherung. Aber das war es nicht …

„Wie sieht’s denn mit der ärztlichen Versorgung im Notfall aus?“, fragte Lauer über Funk.

„Alles nach Plan. Keine besonderen Vorkommnisse“, antwortete eine Frauenstimme aus der Zentrale.

„Wie immer möglichst wenig Aufsehen in den Medien. Und ohne Kommentar, wenn ich bitten darf.“

Er hob das Fernglas und starrte zur Brücke.

„Weiß eigentlich jemand, wie viele sich dort verschanzt haben?“, fragte Meyers.

„Über siebenhundert Flüchtlinge allein aus der Sahelzone“, schätzte Lauer. „Hauptsächlich junge Männer. Kommen noch etwa fünfzig Trittbrettfahrer aus den nordafrikanischen Staaten hinzu.“

„Aber dabei wird’s nicht bleiben?“

„Nein, ist wohl erst der Anfang wegen der Hitzewelle. Die Temperaturen in der Sahelzone werden laut Prognosen künftig mittags kaum noch unter vierzig Grad sinken.“

„Wäre mir auch zu heiß …“

„Wahrscheinlich würden Sie als Flüchtling schon bei dreiunddreißig Grad das Handtuch werfen, was, Karl?“, erkundigte sich Lauer grinsend.

Meyers war sein Stellvertreter in der Abwehr der neuen Flüchtlingswelle, aber Oberst Lauer fragte sich, ob er nicht schon bei dem Gedanken einen Schweißausbruch oder Nervenzusammenbruch bekam, es könnte in den nächsten Monaten so weitergehen.

„Will mich gar nicht in die Lage der armen Kerle versetzen“, sagte Meyers. „Leben doch alle unter dem Existenzminimum, um sich dann auch noch in fremdem Land eine Kugel einzufangen.“

„Abwehr funktioniert nun mal nur, wenn die Schmerzen stärker sind als der Gewinn.“

Meyers hob wegen der grellen Sonne die Hand – nahm dann aber doch sein Fernglas und musterte den Eingang der Markthalle hinter den Brückenpfeilern.

Schwer zu erkennen, wie viele Personen von dort aus im Schatten ihren Posten auf dieser Seite der Brücke beobachteten.

„Sieht so aus, als wenn es noch einer versuchen will …“

Der zweite Flüchtling war gut einen Kopf kleiner und noch ein wenig dunkelhäutiger als der erste. Er hielt eine weiße Plastiktasche in der Hand. Nach wenigen Schritten auf der Brücke holte er mit Schwung aus und warf die Tasche so weit er konnte in ihre Richtung.

„Reizgasgranate Typ GLI-F4“, sagte Lauer. „Ziemlich üble Wirkung. Aber keine Angst, das Zeug reicht nicht bis zu uns heran …“

Die Granate explodierte nur wenigen Sekunden nach dem Aufprall auf der Brücke. Eine helle Wolke breitete sich aus und wehte in Richtung Spree-Insel.

Ihr grauweiß gesprenkelter Nebel erinnerte eher an ein harmloses Silvesterfeuerwerk.

„Trotzdem nicht zu unterschätzen“, sagte Lauer und blickte der treibenden Wolke nach. „Außer Reizstoff auch noch 25 Gramm Sprengstoff TNT – daher der laute Knall.“

Der Farbige machte auf dem Absatz kehrt, die rechte Hand mit zwei Fingern zum Siegeszeichen erhoben.

„Wie kommen die denn bloß immer wieder an solch hochmodernes Zeug?“, fragte Meyers.

„Keine Ahnung. Jedenfalls nicht im Supermarkt.“

„Und dann auch noch all die Smartphones, mit denen sie sich untereinander abstimmen. Chinesisches Fabrikat, Billigmodell, immer derselbe Typ. Womöglich mit gleichem Verschlüsselungscode …“

„Ja, genau das sollten wir möglichst schnell herausfinden. Wer initiiert ihre neue Strategie, große Gruppen zu bilden anstatt wie üblich Einzelanträge auf Asyl zu stellen? Wer sind ihre Hintermänner? Und ihre Zulieferer? Wer schleust sie ein? Und mit welchem Plan und welcher Absicht?“

„Kann es sein, dass sie diese aggressiven Gruppen bilden, weil die meisten von ihnen wissen, dass sie als Flüchtlinge ohnehin nicht anerkannt werden?“

„Ja, das wäre denkbar“, sagte Oberst Lauer.

Er verfolgte per Fernglas den Flug einer Aufklärungsdrohne, mit der sie die Flüchtlinge überwachten.

Ihre Technik war jetzt so weit entwickelt, dass man Drohnen dieser Bauart am Himmel kaum noch also solche identifizieren konnte. Es hätte für einen arglosen Beobachter unten am Boden auch irgendein gewöhnlicher Vogel hoch oben in den Lüften sein können, der im Gleitflug das Treiben anderer Vögel unter sich beobachtete.

Mit dieser Methode war es leichter, mehr über ihre genaue Ausbreitung zu erfahren.

„Es ist einfach wie ein Krebsgeschwür, das wir am weiteren Wachstum hindern“, sagte Lauer. „Ihre Enklaven werden sich sonst unkontrolliert vervielfältigen. Nur so machen die dauernden Versuche der Springer Sinn, das Terrain zu erkunden. Sieht ganz so aus, als wollten sie ein Netz aus Waben errichten, das nach und nach die ganze Republik überzieht …“

Meyers nickte und strich kopfschüttelnd mit dem Handrücken über die Stirn, als wische er sich imaginären Schweiß ab.

„Diese neue Taktik der schwarzen Meute bringt mich immer aus dem Konzept, Colonel – erst recht, wenn sie einzeln kommen.“

„Nennen Sie mich nicht dauernd Colonel, verdammt noch mal …“

„Sorry, Sir.“

„Und dann auch noch mit amerikanischem Akzent. Hab gedacht, Sie sind deutschstämmig, Meyers?“

„Tut mir Leid, Oberst. Versuche ab sofort wieder akzentfrei zu sprechen, wie es mir meine Mutter beigebracht hat – oder Hausa, wenn Ihnen das lieber ist?“

„Ja, Hausa passt besser wegen der Flüchtlinge“, sagte Lauer.

Meyers Frau stammte aus dem Niger.

Lauer warf einen prüfenden Blick auf die gegenüberliegenden Häuserfronten, hinter deren Fenstern sich alles Mögliche verbergen konnte, auch Abhöranlagen. Wegen der neuerdings in der Hauptstadt installierten Videokameras mit Gesichtserkennung trug er eine dunkle Sonnenbrille, um möglichst nicht als Colonel im Dienste der NSA identifiziert zu werden.

„Ist ja zum Glück kein Massenansturm an den Grenzen mehr wie früher“, sagte Meyers.

„Weil sie wissen, dass sie jetzt andere Strategien benötigen. Fünfundneunzig Prozent weniger Flüchtlinge wegen der Weigerung der Anrainerstaaten Italien, Griechenland und Malta. Und Spanien macht bei Gibraltar die Küsten dicht.“

„Trotzdem sind die Lager auf den griechischen Inseln weiter überfüllt …“

„Wegen der langen Asylzeiten. Die Folge der ersten Flüchtlingswelle.“

Es war das Jahr gewesen, in dem ein paar Einsichtige erkannt hatten, dass die Europäische Union einen Ausweg finden musste.

Für Afrikaner wurde es danach immer schwieriger, legal nach Europa zu gelangen, selbst in kleineren Gruppen wie bei der Überwindung der hohen Drahtzäune in den spanischen Enklaven Melilla und Ceuta.

Wer es doch noch über die Stacheldrahtkronen schaffte, wurde spätestens in Gibraltar oder an den weiter nördlich liegenden portugiesischen und spanischen Badeküsten aufgegriffen.

Anfangs hatte man angenommen, die meisten kämen jetzt allein und über Schleichwege ins Land oder versuchten es mit gefälschten Arbeitspapieren. Doch das konnte ihre immer größer werdende Zahl nicht erklären. Es musste irgendeinen anderen Zugang geben.

Aber welchen? Lauer schüttelte nachdenklich den Kopf.

„Sehen Sie den einzeln stehenden Baum drüben am Ende der Brücke?“, fragte er.

Meyers folgte seiner ausgestreckten Hand.

Einige Zweige reichten bis in den Schatten der Hauswände. Er schien die neuen Temperaturen klaglos überstanden zu haben. Sein frühlingshaftes Grün wirkte wie die unwirkliche Verheißung einer besseren Zukunft.

„Ja, was ist damit?“

„Seltsam, oder?“

„Weil seine Blätter trotz der Hitze noch nicht abgefallen sind?“

„Nein, eher wie ein Symbol der Hoffnung, dass sich die Dinge doch noch zum Besseren wenden.“

„Weil sich das Klima wieder erholen könnte?“

„Weil da draußen irgendetwas Ungeheuerliches im Gange ist …“

„Sie machen sich ernsthaft Sorgen, Oberst?“

„Die Lage ist nicht so harmlos, wie es scheint.“

Auf dem Rückweg zur Wohnung wechselte er sicherheitshalber einmal sein Taxi und stieg nahe beim Spreekanal aus; nur als Zwischenstation. Das Haus in der Wallstraße 86 hatte eine uralte grüne Holztür, die meist offen stand; vielleicht wegen eines Rollstuhlfahrers.

Lauer lehnte sich an die Wand und verharrte minutenlang im Dunkel des Treppenhauses. Es roch nach Essen – Sauerbraten, Kohl und scharfen Gewürzen. Irgendwo pfiff ein Wasserkessel.

Falls ihn jemand beschattete, würde er ihm irgendwann ins Haus folgen müssen …

Wenn er sich etwas aus dem Schatten vorbeugte, konnte er den Eingang des gegenüberliegenden Hotels sehen. Eine gut besuchte Adresse – an- und abfahrende Wagen, Gepäck, das von Concierges übernommen wurde, Schlüsselübergabe, Trinkgelder.

Nach einigen Minuten ging Lauer durchs Treppenhaus zur Hofseite hinüber und dann den kleinen Garten entlang zum Fußweg am Spreekanal.

An der Brücke angekommen winkte er einem vorüberfahrenden Taxi.

„Fahren Sie mich zum Golden Gate.“

„Sie meinen den Klub in der Schicklerstraße?“

„Genau den …“

„Ist der denn überhaupt geöffnet?“, fragte der Taxifahrer. „Soviel ich weiß, nur von Donnerstag bis Sonntag – heute ist Montag?“

„Das lassen Sie mal meine Sorge sein.“

Das Golden Gate war ein bekannter Techno-Club in einem abbruchreifen Brückenpfeiler der Berliner Stadtbahn, „dunkel und dreckig – aber ohne stressige Alpha-Männchen als Türsteher“, wie es hieß, sozusagen eine weltberühmte Institution. Die New York Times führte den Club ironisch als Beispiel dafür an, dass die Berliner so lange nach dem Krieg immer noch gern in Ruinen feierten.

Lauer stieg aus und bog in eine dunkle Unterführung ein. Rechts war eine Einbahnstraße. Falls ihm jemand im Wagen gefolgt war, würde er dort auffallen, weil er zwangsläufig falsch abbiegen musste …

Es waren die alten Vorsichtsmaßnahmen, die man in der Abwehr lernte – lästig und umständlich, aber seit Zeiten des Kalten Krieges bewährt.

Weiter hinten – nur etwa 150 Meter entfernt vom Bahnhof Jannowitzbrücke – lag eine elende Gegend mit unbebauten Sandplätzen und einzeln stehenden Hochhäusern, wo er gewöhnlich seinen Wagen parkte.

General Paul Halsen im Hauptquartier der NSA hielt diesen Standort in Berlin wegen seiner Verkehrsanbindungen für besonders geeignet. Es gab mehrere Linien der S- und U-Bahn.

Lauer betrat den Eingang zum Golden Gate-Club, schloss die unscheinbare graue Eisentür neben dem Haupteingang auf und ging die Treppe zu seiner Kellerwohnung hinunter.

Seit der Ankunft in Berlin hatte er hier übernachtet, einige Tage zuvor allerdings noch wesentlich komfortabler in den Patch Barracks, ihrem US- Stützpunkt in Stuttgart.

Es war ein Appartement, wie er es selbst nie eingerichtet hätte – ostfriesisches Porzellan, bayrische Bierkrüge, üppig gepolsterte Klubsessel und eine Anrichte mit Windspiel, deren Muschelschalen beim geringsten Luftzug sirrende Klänge von sich gaben. Offenbar so, wie sich ein Planer der die Bedürfnisse eines Deutschen vorstellten …

Das Einzige, was er selbst zur Dekoration beigetragen hatte, war Ellens schon etwas verblichenes Foto aus ihrer gemeinsamen Studienzeit.

Noch immer verschlug es ihm den Atem, wenn er an ihre unaufdringliche Anmut und Schönheit dachte. Er war nie so verliebt gewesen wie in Ellen Carlos …

Und er hoffte niemals im Leben wieder so darunter leiden zu müssen, dass zwei Menschen politisch völlig anderer Meinung waren – in der Diskussion wie angriffslustige Terrier, die sich bis aufs Blut bekämpften.

Ellen war populistisch und autoritär wie ihr italienischer Vater – er so liberal wie seine britische Mutter.

Lauer schüttelte unwillig den Kopf und legte das Bild mit der Vorderseite auf die Anrichte.

Er duschte, als sei die Hitze so etwas wie Therapie, und wischte sich mit dem Handrücken den Wasserdampf von der Stirn. Heißes Wasser bringt dich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück, dachte er.

Dann zog er sich zur Lagebesprechung um. Als er das Badehandtuch an den Haken hängte, klingelte sein Smartphone. Er warf einen Blick auf den Bildschirm und hielt überrascht inne …

Colonel Lauer!

Als Liga zum Schutze von Flüchtlingen ist es unsere Aufgabe, jedes ungesetzliche Verhalten gegenüber Einreisewilligen zu unterbinden. Wir legen Ihnen daher dringend nahe, Ihre aggressiven und ungesetzlichen Aktivitäten zu beenden. Andernfalls werden wir Gegenmaßnahmen ergreifen.

Die Telefonnummer war ihm unbekannt. Das Anschreiben hatte keinen Absender. Aktivisten für Flüchtlinge gab es viele in der Welt. Er kannte keine „Liga zum Schutze von Flüchtlingen“.

Lauer wählte die Nummer des NSA-Hauptquartiers in Fort Meade, Maryland und tippte ein:

Anbei Weiterleitung einer Nachricht

an mich. Absender ermitteln!

Zusätzliche Aktivitäten erst nach

ausdrücklicher Anweisung.

C.H.L.

Vor der Lagebesprechung vergewisserte er sich, dass er die Eisentür oben neben dem Eingang zum Golden Gate-Club abgeschlossen hatte.

Dann ging er wieder hinunter und an seiner Kellerwohnung vorüber die rückwärtige Seite der Treppe hinauf zur Hofseite und zum unbewohnten Nachbarhaus, das vom Club nur durch einen brachliegenden Holzhandel mit alten Backsteinmauern getrennt war.

Ein Posten an der Hintertür nickte ihm wortlos zu. Offenbar, weil er Lauers Gesicht aus der Gästeliste kannte …

Das leer stehende Haus wurde schon seit langem zur Vermietung angeboten. Eine solche Gelegenheit hatte sich die NSA nicht entgehen lassen und hier vorübergehend einen Treffpunkt eingerichtet, weil ihr US-Stützpunkts Patch Barracks in Stuttgart von ausländischen Gästen nur umständlich zu erreichend war. Diesmal mit großzügigen Räumlichkeiten für europäische und amerikanische Geheimdienstexperten, Minister und Staatssekretäre.

Einziges Ziel ihres Treffens: aufzuklären, ob jemand versuchte, die neue Flüchtlingswelle für politische Zwecke zu missbrauchen.

Oben angekommen, blickte er prüfend auf die Straße.

Fahrzeuge hielten nacheinander in kurzen Abständen vor dem Eingang – über Funk organisiert, nahm er an – und unauffällig gekleidete Fahrgäste stiegen aus, meist Männer mittleren und höheren Alters, die schnell im Haus verschwanden. Einige trugen altmodische Aktentaschen, manchmal uralte Modelle mit Metallbesatz und Klappbügeln wie nach dem Zweiten Weltkrieg. In Geheimdienstkreisen war es ein stehender Witz:

Je älter der Besitzer, desto zerschlissener und aus der Mode gekommen seine Tasche. Anders als bei Schuhen und Krawatten …

Lauer entdeckte nur eine Frau unter den Ankömmlingen.

Gegenüber in der ersten Etage hinter getönten Scheiben und auf dem Dach hatten Scharfschützen mit Gewehren Posten bezogen. Als einer von ihnen das Fenster öffnete und Oberst Lauer erblickte – ein hagerer Mann mit dunkler Sturmhaube, die nur einen schmalen Sehschlitz freiließ –, legte er salutierend seine Hand an die Schläfe.

Lauer gab nicht zu erkennen, dass er ihn bemerkte …

2

Lagebesprechung

„Heute haben wir einen unserer erfahrensten Experten der NSA eingeladen, um uns darüber aufzuklären, was an den Gerüchten – auch Indizien – wahr sein könnte, dass die neue Flüchtlingsstrategie auf einem Komplott gegnerischer Kräfte beruht“, begann General Paul Halsen aus dem US-Hauptquartier.

Er bedeutete Lauer, ans Podium zu kommen.

Der Besprechungsraum im unbewohnten Haus war das ehemalige Café einer insolventen Firma. Parkettböden, glatte, moderne Polstersessel in auffallenden Farben, gemütliche Holzbestuhlung mit kleinen Tischen, leicht abgedunkelt, die Fenstervorhänge sorgfältig geschlossen, als befürchte man bei der hier versammelten Prominenz, dass irgendein vorwitziges Kamerateam unversehens die Nase in den Raum stecken könnte.

„Es scheint, dass die neue Flüchtlingswelle durch gezielte Manipulationen ausgelöst wurde, deren Urheber wir noch nicht kennen“, fuhr General Halsen fort.

„Und zu welchem Zweck?“, fragte Pierre Morgue vom französischen Geheimdienst.

„Es könnte sich um eine Kampagne zur Destabilisierung der NATO-Staaten handeln. Möglicherweise durch russische Geheimdienste. Oder auf Betreiben Chinas“, sagte General Halsen.

„Halten Sie auch eine Beteiligung des wiedererstarkten IS für denkbar, nach seiner Zerschlagung in Syrien?“, fragte Winston Brown vom britischen Außenministerium.

„Verdächtig sind alle, die ein plausibles Motiv haben.“

General Halsen winkte Lauer, fortzufahren.

„Colonel Lauer hat sich als Oberst in den deutschen Streitkräften, als Mitarbeiter des britischen Secret Intelligence Service, MI6, dann in den USA als Spezialist für politische Komplotte einen Namen gemacht, wenn auch immer im Verborgenen, nie in der Öffentlichkeit – ganz, wie es sich in unserer Branche gehört“, fügte Halsen augenzwinkernd hinzu. „Bitte übernehmen Sie, Colonel …“

Die Zuhörerschaft klatschte höflich, aber verhalten Beifall.

Lauer mochte diese Art von Lobhudelei nicht – wie er es überhaupt verabscheute, im Mittelpunkt zu stehen. Sein Ehrgeiz war nie gewesen, irgendeine Rolle in der Öffentlichkeit zu spielen. Er kannte seine Schwachstellen und wusste, wo er angreifbar war. Nicht nur wegen des militärischen Konflikts, den er vor langer Zeit als Oberst an einer NATO-Grenze ausgelöst hatte. Ein Fehler, an den er sich nur ungern erinnerte.

Noch schwerer wog sein Vorgehen, als späterer Staatsanwalt einen Minister mit nicht ganz koscheren Beweisen zu Fall gebracht zu haben – am Ende dennoch zu Recht, nur wusste er das damals nicht. Aber eben nicht legal.

Nach seiner Entlassung als Staatsanwalt war er wegen seiner britischen Mutter zunächst nach London gegangen, ins Hauptquartier des SIS gegenüber der City of Westminster, am sogenannten „Knie der Themse“. Und dann in die USA, wo ihn die NSA als erfolgreichen Analytiker schnell in ihren innersten Zirkel aufgenommen hatte.

Entweder scherten sie sich dort einen feuchten Kehricht um die Fehler, die er gemacht hatte, oder sie ahnten nichts davon. Aber er konnte auch nicht gut vor das oberste Gremium treten und sich erkundigen, was man dort über seine Vergangenheit wusste.

„Können Sie uns sagen, Colonel Lauer, welcher Art genau Ihre Hinweise oder Indizien sind, dass die neue Flüchtlingsstrategie auf einem Komplott gegnerischer Kräfte beruht, wie General Halsen erwähnt?“, fragte Queneau von der französischen Regierung.

„Sicher, es gibt mehrere Hinweise“, sagte Lauer. „Ich bitte aber um Verständnis, dass ich momentan noch auf Einzelheiten verzichten muss – keine Details im laufenden Verfahren. Manche Informationen könnten den Gegner vorwarnen und zu noch größerer Vorsicht veranlassen.“

„Und in welche Richtung geht Ihr Verdacht? Vielleicht ähnlich der früheren politisch motivierten Manipulation Lukaschenkos, von Belarus aus Flüchtlinge über Polen nach Deutschland einzuschleusen?“

„Näherliegend ist wohl ein Eingreifen aus der Trollfabrik russischer Geheimdienste. Wie üblich nach dem Strohmann-Strohmann-Prinzip, um die wahren Hintermänner zu verschleiern. Das heißt, es werden Spuren in verschiedene Richtungen gelegt. Solche Aktionen brauchen Komplizen, die sowohl zur Flucht animieren wie auch Hilfestellung leisten. Eine Art von Hilfe besteht darin, dass Flüchtlinge Smartphones bekommen, mit denen sie sich untereinander abstimmen, immer das gleiche Modell.“

„Und welchen Typs – etwa der Marke Huawei?“

„Weil spekuliert wird, dass dieser chinesische Konzern unentdeckte Spionagebauteile verarbeiten könnte?“, fragte Lauer. „Nein, es ist ein No-Name-Produkt, speziell für Entwicklungsländer wie Afrika, zusammengebaut aus weltweit erhältlichen Komponenten, allerdings ebenfalls chinesischen Ursprungs.“

„Lassen sich solche Anrufe denn nicht orten und nachverfolgen?“

„Nur, wenn sie nicht über einen geheimen Server in der Sahelzone gehen. Ebenfalls nach dem Strohmann-Strohmann-Prinzip. Dabei wird jede einzelne Station oder Etappe sorgfältig verschlüsselt. Der NSA ist es bisher nicht gelungen, nachrichtentechnisch in ihr System einzudringen.“

„Was lediglich ein Euphemismus dafür ist, es einfach nicht knacken zu können?“, fragte Winston Brown vom britischen Außenministerium.

„Wenn Sie so wollen, ja. Aber darüber hinaus werden auch ganz normale Telefone eingesetzt, die keine Schwierigkeiten bereiten.“

„Um Ihnen weitere Meldungen zu ersparen“, unterbrach General Halsen und hob ein DIN-A4-Blatt, „habe ich in dieser Liste alle Fragen gesammelt und werde sie der Reihe nach vortragen, sobald Colonel Lauer sie jeweils beantwortet hat – einverstanden, Hans?“

„Gern. Bitte fangen Sie an, General …“

„Erste Frage: Wieso werden die Flüchtlinge ‚Springer’ genannt?“

„Nicht wir haben ihnen diesen Namen gegeben, sondern die Flüchtlinge sich selbst, wie aus abgehörten Kommentaren hervorgeht.“

„Und wozu?“

„Weil sie jetzt strategischer vorgehen, anders als bei früheren Flüchtlingszügen. Sie überwinden Zäune und Absperrungen, klettern über Mauern, durchschwimmen Flüsse und Seen, arbeiten sich einzeln durch unsere Großstädte und schließen sich erst am Ziel zusammen.

Anfangs kamen sie über unkontrollierte Grenzen. Später, nach Öffnung der Türkei, reagierte man in Griechenland mit strikter Absperrung und militärischer Gewalt.

Daher entschlossen sich die Flüchtlinge der Sahelzone anders als etwa aus Afghanistan zu einer abweichenden Strategie – die der Springer in kleinen Gruppen und auf anderen Wegen. Wohl auch, um zu zeigen, dass sie anders sind als frühere Geflüchtete, und weil ihnen das als Aktivisten und Einzelkämpfer so etwas wie eine neue Art von Identität verleiht.

Es sind fast immer junge Männer und sie agieren vor allem einzeln, weil sie so unauffälliger untertauchen können. Wenn sie überhaupt in Erscheinung treten, dann nicht, weil sie umgehend Asyl beantragen wollen, sondern vorrangig mit dem Ziel, einen neuen Stützpunkt zu besetzen. Der Ausdruck Springer taucht übrigens schon in einer der ersten Nachrichten auf, die wir abfangen konnten.“

„Zweite Frage auf meiner Liste“, fuhr General Halsen fort. „Warum wird auf diese sogenannten Springer geschossen? Früher wurden Flüchtlinge doch nur im Notfall mit Waffen attackiert, wieso also dieses rabiate, ja unmenschliche Vorgehen? – Colonel, Ihre Antwort?“

„Na ja, zunächst einmal sind es wohlgemerkt nur Gummikugeln. Mit irgendetwas muss man schließlich antworten, damit sich keine weiteren unkontrollierten Enklaven bilden“, sagte Lauer. „Natürlich auch, weil sie sich der Festnahme widersetzen und weil die meisten anders als früher gar keine Aufnahmeanträge stellen.“

„Vielleicht, um mehr Druck auszuüben?“, erkundigte sich Queneau von der französischen Regierung. „Könnte diese Verfahrensweise auch dadurch begründet sein, dass ohnehin nur zwanzig Prozent aller Flüchtlinge in Deutschland anerkannt werden? Also versucht man es diesmal mit Gewalt?“

„Schon möglich, ja.“

„Weitere Frage. Warum werden die Springer in ihrer illegalen Enklave nicht von einem starken Polizeiaufgebot angegriffen? – Colonel Lauer …?“

„Weil sie sich mit Waffen verteidigen. Auch mit Reizgasgranaten, Typ GLI-F4. Diese insgesamt 190 Gramm schwere Granate enthält zusätzlich 25 Gramm TNT und explodiert schon Sekunden nach der Aktivierung. Damit wird sie im Straßenkampf zu einer durchaus gefährlichen Waffe.“

„Aber Sie tun, was Sie können?“

„Wir sind nicht gerade zimperlich im Umgang mit Flüchtlingen. Aber denken Sie dabei bitte auch an das negative Echo in den Medien.“

„Und an die kommenden Wahlen im Lande?“

„Na ja, dabei handelt es sich wohl um ein Problem aller Parteien.“

„Heißt das nicht auch, Frontex, die Europäische Agentur für Grenz- und Küstenwache, die ja zumindest an den Außengrenzen der EU zuständig wäre, kann ihre Aufgabe nicht erfüllen? Beispielsweise durch sogenannte Push-Backs?“

„So ist es.“

„Vierte Frage“, sagte General Halsen. “Warum greift in diesem Fall das Militär nicht ein?“

„In Artikel 87a Absatz 2 Grundgesetz heißt es, die Streitkräfte dürfen außer zur Verteidigung nur eingesetzt werden, soweit das Gesetz es ausdrücklich zulässt. Außer bei Katastrophenhilfe müsste eine Gefahr für die freiheitlich demokratische Grundordnung vorliegen.“

„Weitere Frage“, fuhr Halsen fort. „Nach EU-Recht – auch laut Urteil des Europäischen Gerichtshofs – ist für einen Flüchtling grundsätzlich jenes Land zuständig, über das er erstmals in die Europäische Union gelangte.

Wieso werden Flüchtlinge nicht einfach dorthin zurückgeführt? Beispielsweise nach Spanien, Griechenland, Italien? Ein Verbot der Rückführung bestehe erst, wenn im anderen Land unmenschliche Behandlung und extreme materielle Not drohe. Colonel Lauer, Ihre Antwort …?

„Weil sie sich gewaltsam der Rückführung widersetzen. Aber auch, da diesmal anders als früher kaum Asylanträge gestellt werden, denen dann widersprochen werden könnte. Außerdem ist ihr Einreiseland leider nicht immer klar zu ermitteln.

Es gibt Indizien – allerdings noch keine Gewissheit –, dass es sich momentan überwiegend um Frankreich oder Belgien handelt, irgendwo an der Küste, also direkt vom Ärmelkanal oder der Nordsee her.“

„Bedeutet das, wir müssen ebenso wie hier in Berlin auch in anderen NATO-Staaten – beispielsweise in Washington, New York, Brüssel, Amsterdam, Paris, Madrid und Rom – mit solchen illegalen Enklaven rechnen?“, fragte Brown vom britischen Außenministerium.

„Womöglich auch in London, Ihrer Heimat, Außenminister“, bestätigte Lauer. „Wie überhaupt in europäischen und amerikanischen Großstädten. Laut ersten Verhören gefangener Flüchtlinge handelt es sich um ein zentral gesteuertes Netz, das sich immer weiter ausbreitet. Momentan allerdings noch mit Schwerpunkt Berlin.“

„Nächste Frage“, sagte Halsen. „Könnten Flüchtlinge denn nach geltendem Recht nicht einfach ausgewiesen werden? Ihre Antwort, Colonel?“