Aus reiner Mordlust - Stephan Harbort - E-Book

Aus reiner Mordlust E-Book

Stephan Harbort

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Beschreibung

Stephan Harbort ist Kriminalhauptkommissar. Aus Gesprächen mit mehr als siebzig Serienmördern entwickelte er international angewandte Fahndungsmethoden zur Überführung von Gewalttätern. Besonders faszinieren ihn Thrill-Killer, Menschen, die morden, weil sie den Drang dazu verspüren: ohne Motiv, ohne Auftrag. Stephan Harbort, der auch als Berater bei TV-Dokumentationen und Krimiserien tätig ist, schildert die Verbrechen, die Ermittlungen und blickt in die psychischen Abgründe der Mörder.

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Seitenzahl: 285

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Stephan Harbort

Aus reiner Mordlust

Der Serienmordexperte über Thrill-Killer

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

WidmungVorbemerkungVorwortBöse aus FreudePrägungsphaseDiskussionsphaseIdentifikationsphaseZielfindungsphaseRollenverteilungsphaseVorbereitungsphaseUmsetzungsphaseReflexionsphaseMaximalphantasieDas Schweigen der Lämmer6.40 Uhr6.55 Uhr7.05 UhrAcht Tage später, 14.35 UhrWeitere elf Tage darauf, 19.55 UhrZweieinhalb Jahre späterElternhausSchule und BerufSozialverhaltenKriminelle KarriereSexualitätGewaltneigungTötungsmotiveHalloween unchainedOnline geködert, offline getötet»Kann ich dein Herz haben?«Zwei WeltenKlaus-Peter FröhmeltFranz RöderHelmut WagnerDissozialitätOpferdispositionGruppendynamikTäterdispositionBlutige AusrufezeichenDonnerstagabend, 21.31 UhrMaske und MesserMordmotivNachwortAnhang1 . Merkmalshäufigkeiten bei Tötungsdelinquenten (N = 25)2. Merkmalshäufigkeiten bei Opfern (N = 30)3. Merkmalshäufigkeiten bei Taten (N = 30)Benutzte und empfohlene Literatur
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Für Amelie und David.

Seid, wie ihr seid.

Einzigartig!

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Die geschilderten Fälle sind authentisch und entsprechen im Ergebnis den kriminalpolizeilichen Ermittlungen bzw. der prozessualen Wahrheit. Als Quellen für die Rekonstruktion und Dokumentation der Ereignisse dienten insbesondere die Gerichtsakten bzw. die Aussagen der von mir interviewten Beteiligten.

Die Namen der handelnden Personen sind pseudonymisiert. Auch biographische Angaben oder örtliche und geographische Bezüge wurden mitunter verfremdet. Passagenweise mussten die Abläufe literarisch bearbeitet werden. Diese Verfahrensweise ist dem Schutz der Persönlichkeitsrechte geschuldet.

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Vorwort

Das kennen wir: Ein Mann erwürgt seine Frau, weil sie ihm untreu geworden ist oder ihn verlassen will. Eine Frau vergiftet ihren Mann, weil sie seine Beleidigungen und Schläge nicht länger ertragen kann. Ein Mann erwürgt seine Geliebte, weil sie damit gedroht hat, sich seiner Frau zu offenbaren. Eine Frau lässt ihren Mann erschießen, um mit ihrem Liebhaber ein neues Leben beginnen zu können. Ein Mann löscht seine Familie aus und tötet sich anschließend selbst, weil er, warum auch immer, keinen anderen Ausweg sieht. Diese und ähnliche Motive, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen, sind uns bekannt und vertraut, weil wir selbst mit diesen oder ähnlichen Problemen zu kämpfen haben, die unter bestimmten Voraussetzungen solche Taten auslösen können, und die Medien keine Gelegenheit auslassen, um darüber – berechtigterweise – zu berichten.

Das kennen wir nicht: Zwei Freunde, 18 und 19 Jahre alt, Söhne von Millionären, beobachten einen 14-jährigen Jungen beim Ballspielen, locken ihn in ein Auto, schlagen so lange auf ihn ein, bis er das Bewusstsein verliert, foltern das Opfer und töten es allein deshalb, weil sie erleben möchten, wie es ist, wie sich das anfühlt, wenn man einen Menschen umbringt. Taten aus reiner Mordlust liegen an der äußersten Grenze des Nachvollziehbaren, aber jenseits des Erträglichen. Und solche Gewaltexzesse bleiben den Menschen wesensfremd, ängstigen, lassen uns schaudern und die Täter als Inkarnation des Bösen erscheinen, auch weil sie verstörende Sätze wie diese sagen: »Ich bin ein Einzelgänger mit kranken Ideen. Ich töte gerne Menschen. Ich bin ohne Skrupel. Im Innersten meiner Seele bin ich kalt wie Eis.«

Wer so etwas nicht nur ausspricht, sondern auch danach handelt, muss naturgemäß unter Verdacht gestellt werden, persönlichkeitsgestört zu sein oder unter einer psychischen Erkrankung zu leiden. Demzufolge sollten die Psychologie, die Psychiatrie und die Psychopathologie Auskunft darüber geben können, was unter Mordlust zu verstehen ist und wie sie entsteht. Doch wer die zeitgenössische wissenschaftliche Literatur studiert oder Datenbanken mit Schlagwörtern durchsucht, wird überrascht feststellen, dass es kaum Fundstellen gibt, die zudem wenig ergiebig sind. Ähnlich verhält es sich bei den wissenschaftlichen Disziplinen der Kriminologie, der Kriminalistik und der Kriminalpsychologie. Man findet einige Fallbeschreibungen, wenige Abhandlungen, aber keine belastbaren Erklärungen. Die Gründe für diese scheinbare Ignoranz sind durchaus plausibel: Die Mordlust wird in der Psychologie bzw. Psychiatrie als von der Norm abweichendes Verhalten mit Krankheitswert nicht definiert. Genau genommen gibt es sie in diesem Kontext gar nicht. Und in der Verbrechenswirklichkeit ist dieses Phänomen so selten zu beobachten, dass es Kriminologen, Kriminalisten und Kriminalpsychologen nicht lohnenswert erscheint, sich dieser Thematik ausführlicher zu widmen.

Vermutlich haben Menschen seit Menschengedenken aus Mordlust getötet, in Deutschland existiert dieses Motiv eigentlich erst seit dem 7. Juli 1953, als der Bundesgerichtshof unter dem Aktenzeichen 1 StR 195/53 folgenden Sachverhalt letztinstanzlich zu beurteilen und zu entscheiden hatte:

 

»Der Angeklagte arbeitete auf dem landwirtschaftlichen Anwesen der Eltern der Margarete S. Er näherte sich ihr und fasste den Plan, sie zu heiraten. Dabei war mitbestimmend die Absicht, als ihr Ehemann später das Anwesen ihrer Eltern zu erhalten. Diese widersetzten sich aber einer Heirat ihrer Tochter, worauf er die Arbeitsstelle verließ. Margarete S. erklärte ihm daraufhin, es habe keinen Wert, das Verhältnis fortzusetzen. Trotzdem versuchte der Angeklagte, sie in der Folgezeit öfters zu treffen; er knüpfte aber auch engere Beziehungen zu einem anderen Mädchen, dem er versprach, immer bei ihr zu bleiben.

Seit März 1952 befasste sich der Angeklagte ernsthaft mit dem Gedanken, Margarete S. zu töten. (…) In seinem Entschluss wurde er bestärkt, als er von seinem Mittäter (…) erfuhr, Margarete S. habe sich mit einem anderen Mann angefreundet. (…) Der Angeklagte beschloss am 8. Juni 1952 morgens, Margarete S. aus dem Hinterhalt zu erschießen, während sie ahnungslos auf dem Feld beschäftigt war. (…) Er schlich sich am Waldrand bis auf 65 Meter an das Mädchen heran und gab fünf Schüsse aus dem Gewehr auf sein Opfer ab, die aber fehlgingen.

Der Angeklagte ging nun mit der in seiner Manteltasche verborgenen Pistole ruhigen Schrittes zu dem Feld. Nachdem er sich dort kurz mit einer Arbeiterin unterhalten hatte, sprang er auf sein Opfer zu, das die bisherigen Schüsse nicht auf sich bezogen hatte und in gebückter Stellung arbeitete. Auf geringe Entfernung schoss er auf das Mädchen, wobei er auf dessen Kopf zielte. Margarete S. sank sofort zu Boden. Der Angeklagte trat hinzu, bückte sich und feuerte zwei weitere Pistolenschüsse auf ihren Kopf ab. Die Schüsse hatten den sofortigen Tod zur Folge. Der Angeklagte wandte sich beim Weggehen nochmals nach seinem Opfer um und gab dabei mit triumphierender Miene aus der Pistole einen Schuss in die Luft ab, um seiner Befriedigung über die gelungene Tat Ausdruck zu verleihen.«

 

Nach Auffassung des Gerichts trieben den Täter die »Rachsucht gegenüber den Eltern«, die ihn als Schwiegersohn abgelehnt hatten, und »Missgunst und verletzte Eitelkeit«, weil seine Avancen von Margarete S. nicht erwidert worden waren. Aber auch Mordlust sei handlungsbestimmend gewesen, die als »unnatürliche Freude an der Vernichtung eines Menschenlebens« definiert wird. Auf welcher seelischen Beeinträchtigung »eine solche abartige innere Genugtuung« beruht, sei »unwesentlich«.

 

Die Lust am Töten im Sinne des Paragraphen 211 des Strafgesetzbuchs (Mord) wird ausdrücklich als sogenannter niedriger Beweggrund genannt, weil in diesen Fällen eine verachtenswerte, besondere sozialethische Verwerflichkeit anzunehmen ist. Deshalb wird derjenige, der aus Mordlust tötet, zwingend mit lebenslänglichem Freiheitsentzug sanktioniert. Eine härtere Strafe kennt das Gesetz nicht.

Anfangs herrschte unter den Juristen in Deutschland Unsicherheit, auf welche Fälle das besagte BGH-Urteil Anwendung finden kann. Soll. Muss. Mittlerweile gab es weitere Ausschärfungen. Demnach handelt jemand ebenfalls aus Mordlust, dessen Handeln auf den Tötungsakt selbst fokussiert ist, indem er beispielsweise mutwillig oder willkürlich einem ihm fremden Menschen das Leben nimmt. Oder er mordet aus Angeberei oder Zeitvertreib. Oder er betrachtet die Tötung als nervliches Stimulans oder sportliche Herausforderung – Thrill-Kill. Entscheidungserheblich ist in jedem Fall die menschenverachtende Zielrichtung des Täters, eine von innen heraus wirkende Motivation. Durch die Ermordung des Opfers darf aber kein andersartiger, übergeordneter Zweck verfolgt werden (zum Beispiel bei Morden aus Habgier oder aus sexuellen Gründen), die Tötung selbst ist der Zweck.

Das juristische Konzept der Mordlust steht auch für die monströs anmutende Kreativität der menschlichen Bestialität, es zeigt sich, wie viele hochabnorme Spielarten des unbedingten Vernichtungswillens die beschädigte menschliche Psyche hervorzubringen vermag. Und genau in diesem Kontext soll das vorliegende Buch erstmals aufklären und erklären, Fragen beantworten, die bislang noch nicht gestellt worden sind: Was sind das für Menschen, die Freude empfinden können, wenn sie ein Opfer niedermetzeln? Kann man die Täter typisieren, charakterisieren? Gibt es eine Art Täterprofil? Unter welchen Voraussetzungen und wie passieren solche Taten? Existieren wiederkehrende Tatelemente? Ist ein Muster zu erkennen, das alle Taten und Täter verbindet? Wer sind die Opfer? Weshalb geraten sie in tödliche Gefahr? Und nicht zuletzt: Was genau passiert, wenn jene dunkle Seite, die wir so gerne leugnen und vor uns selbst verbergen, letztlich doch die Oberhand gewinnt? Wo liegen die Ursachen für solch maßlose Verbrechen?

Wer sich mit der Mordlust auseinandersetzen will, der muss genau hinsehen, der muss auch bereit sein, das Leid anderer Menschen zu teilen, unmenschliche Gewalt zu ertragen. Denn davon handelt dieses Buch. Es wäre eine unvollständige, vor allem eine verharmlosende Darstellung, wenn die Gewalt in all ihren Erscheinungsformen ausgeklammert würde, aus Pietät den Opfern und deren Angehörigen gegenüber. Insofern tut es not, eine ganzheitliche Betrachtung vorzunehmen, will man sich dem Phänomen der Mordlust tatsächlich nähern.

 

Stephan Harbort

Düsseldorf, im April 2013

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Böse aus Freude

Ein früher Morgen im späten April, nahezu wolkenlos. Erste Sonnenstrahlen bahnen sich ihren Weg. Die grünen Wiesen und gelben Rapsfelder ringsum sind noch feucht vom Regen, den die Nacht gebracht hat. Es geht ein leichter Wind. Aus dem nahen Buchenwald dringt Vogelgezwitscher herüber, das hin und wieder vom trommelwirbelartigen Geräusch überlagert wird, das entsteht, wenn ein Specht seinen Schnabel beharrlich gegen Holz schlägt. Die mächtigen Buchen sind bis zu 240 Jahre alt und überragen mit ihren 40 Meter hohen Kronen die farbenfrohe und friedfertig anmutende Landschaft.

Ernst Brunger liebt diese Idylle; das ist einer der Gründe, warum der 52-Jährige von Beruf Förster geworden ist. Vor zwei Tagen ist der Orkan »Lilly« über sein Revier hinweggefegt und hat große Schäden hinterlassen, die es nun so schnell wie möglich zu begutachten und zu beseitigen gilt. Denn auch der neu angelegte Wanderweg »MA« hat unter dem Sturm gelitten, besonders an den neuralgischen Abschnitten in den verschiedenen Waldgebieten der Region. Und weil die Wanderstrecke in der kommenden Woche vorgestellt und mit einer großen Tour am 1. Mai eingeweiht werden soll, besteht Handlungsbedarf.

Als Ernst Brunger sich dem nächsten Waldgebiet nähert und ein Wiesengelände überquert, verschafft er sich zunächst einen Überblick. Plötzlich fällt ihm nur einige Meter entfernt am Wegrand etwas auf, das wie eine kleine ausgetrocknete Pfütze aussieht, allerdings von rötlich brauner Farbe ist. Er macht zwei Schritte nach vorn. Der Mann ist von Berufs wegen mit Blutlachen vertraut, und auch das, was da vor ihm auf dem Boden deutlich zu erkennen ist, kann eigentlich nichts anderes sein. Und zu dieser Annahme scheint eine Schleifspur zu passen, die einen Steinwurf entfernt in den Wald hineinführt. Ernst Brunger denkt spontan an die Tat eines Wilderers, folgt der Spur und stößt einige Herzschläge später auf ein Dornengebüsch, unter dem eine Gestalt zu liegen scheint, länglich ausgestreckt, teilweise verdeckt von Ästen und Gestrüpp. Das kann eigentlich kein Tier sein, was da vor ihm liegt, schlussfolgert Ernst Brunger. »Hallo?« Nichts regt sich. Keine Antwort. Ernst Brunger hört die Vogelgesänge jetzt nicht mehr. Totenstille. »Hallo?«

Vorsichtig nähert er sich dem Busch und erstarrt förmlich, als ihm vollends bewusst wird, was er da entdeckt hat – vor ihm werden Teile eines menschlichen Körpers sichtbar: ein ausgestreckter Arm, ein beschuhter Fuß. Dazu steigt ihm ein unangenehm strenger Fäulnisgeruch in die Nase. Ernst Brunger versteht nichts von sicheren und unsicheren Todeszeichen, aber auch ihm leuchtet ein, dass hier jede Hilfe zu spät kommt. Ein Fall für die Kripo.

 

Nachdem die Spezialisten der Mordkommission eintrafen und den Leichnam untersucht haben, besteht kein Zweifel mehr, dass Ernst Brunger mit seiner Einschätzung richtiglag: Die Vielzahl von äußeren Verletzungen kann sich das Opfer unmöglich selbst beigebracht haben. Überhaupt muss der Mann längere Zeit extremer Gewalt ausgesetzt gewesen sein, denn sein Körper war mit Wunden übersät, die wahrscheinlich von einem spitzen und scharfkantigen Gegenstand verursacht wurden, möglicherweise einem Messer. Näheres soll die gerichtsmedizinische Untersuchung erbringen.

Ganz in der Nähe des Leichnams entdecken die Ermittler Reifenspuren. Aus der Beschaffenheit und der Lage der Spuren zueinander schlussfolgern die Kriminalisten, dass hier mit einem Fahrzeug hin und her gefahren und mehrfach gewendet worden sein dürfte. Möglicherweise transportierte der Täter das Opfer mit seinem Pkw zum Fundort. Warum aber der Wagen gleich mehrmals vor- und zurückfuhr, bleibt vorerst unklar.

Vom oberen Rand des Wiesengeländes führt ein asphaltierter Wirtschaftsweg zur nächsten Straße. Entlang dieser Strecke entdecken die Fahnder zahlreiche Blutspritzer – mit großer Wahrscheinlichkeit von einem Fahrzeug abgetropft bzw. weggeschleudert –, das mit hoher Geschwindigkeit in Richtung der Straße gefahren worden ist. Ebendieses Fahrzeug muss mit dem Blut erheblich kontaminiert gewesen sein, weil die entsprechenden Spuren noch 387 Meter vom Leichenfundort entfernt vorhanden sind. Aus dem Spurenbild insgesamt folgt: Täter und Opfer müssen mit einem Pkw zum Tatort gefahren und der später Getötete muss zu diesem Zeitpunkt bereits erheblich verletzt gewesen sein.

 

Noch am selben Tag wird die Leiche obduziert. Der Körper des Toten ist übersät mit teilweise tiefreichenden Stichwunden. Mit großer Wucht muss der Täter aus verschiedenen Richtungen zugestochen haben. Augen und Hals wurden mehrfach durchbohrt, andere Stichverletzungen hat der Täter hinter den Ohren gesetzt, sie führen in den Schädel hinein. Dort, wo einmal der Mund gewesen ist, befindet sich nur noch eine breiige Masse. Insgesamt zählen die Rechtsmediziner 97 Einstiche. Darüber hinaus werden Rippenserienbrüche festgestellt, hervorgerufen durch stumpfe Gewalt. Todesursache: Verbluten nach innen und außen.

Selbst die Erfahrenen und Hartgesottenen in Reihen der Todesermittler sind angesichts dieser Gewaltorgie betroffen und entsetzt, zumal das Opfer über einen längeren Zeitraum hinweg wiederkehrenden Torturen ausgesetzt gewesen sein muss. Zu diesem Ergebnis kommen jedenfalls die Rechtsmediziner. Wurde der Getötete demnach gefoltert? Oder deutet die Verstümmelung von Mund- und Augenpartien auf eine symbolisch zu verstehende Abrechnung im Milieu hin? Soll die Vielzahl der Verletzungen als Warnung verstanden werden?

In den Kleidern des Toten wurden keine Ausweispapiere gefunden. Die Identifizierung gelingt dennoch schon wenige Stunden nach Aufnahme der Ermittlungen anhand der Fingerabdrücke des Opfers. Bei dem Toten handelt es sich um Joachim Grauert, 36 Jahre alt, ledig, kinderlos, berufslos, arbeitslos, wohnhaft gewesen in einer Zweiraumwohnung am Rand der acht Kilometer vom Leichenfundort entfernten Kreisstadt der Region. Der Mann muss zumindest während der vergangenen sechs Jahre ein unstetes Leben geführt haben, jedenfalls fiel er während dieser Zeit wegen verschiedener Delikte auf und wurde auch verurteilt, allerdings nur zu Geld- oder Bewährungsstrafen: Ladendiebstahl, Beförderungserschleichung, Körperverletzung, Sachbeschädigung, Beleidigung. Häufig soll er dabei hochgradig alkoholisiert gewesen sein.

Diese Vita passt nach allgemeiner Einschätzung der Kriminalexperten nicht zu einem Berufskriminellen, der Opfer einer öffentlichkeitswirksamen Hinrichtung im Dunstkreis der organisierten Kriminalität geworden sein könnte. Auch war Joachim Grauert weder als Vertrauensperson noch als Informant für die Polizei jemals tätig. Überhaupt soll der Mann sehr zurückgezogen gelebt haben, ergeben erste Recherchen und Zeugenbefragungen. Möglicherweise spielte seine Homosexualität dabei eine Rolle, vielleicht der übermäßige Alkoholkonsum, möglicherweise aber auch die fehlende berufliche Perspektive.

Nächste Verwandte können zu seinen Lebensgewohnheiten nicht befragt werden, weil es sie nicht gibt: Die vermögenden Eltern starben bei einem Autounfall, den Joachim Grauert als 14-Jähriger schwerstverletzt überlebte. Geschwister hatte er nicht. Beziehungen zu anderen Verwandten, die überwiegend in Norddeutschland leben, vernachlässigte er. Selbst den Kontakt zu seinen Großeltern, die ihn nach dem Tod der Eltern betreuten, brach er ab, ohne sich zu erklären. Ein Leben im Niemandsland.

Auch sein Vermieter weiß nicht viel über den Mann zu sagen. »Er hat seine Miete pünktlich bezahlt«, gibt der 55-jährige Immobilienmakler zu Protokoll. »Besuch bekam er nur selten, und wenn, dann von jungen, teilweise sehr jungen Männern. Gesprochen hat er nicht viel. Ich bin beruflich häufig unterwegs. Bei meinen Fahrten habe ich ihn immer wieder mal in der Stadt gesehen. Es gibt doch diesen Treffpunkt am König-Heinrich-Platz, wo sich so viele Jugendliche tummeln. Da habe ich ihn öfter gesehen. Was er da gemacht hat, weiß ich aber nicht.«

Die weiteren Ermittlungen bestätigen die Beobachtungen des Vermieters, dass Joachim Grauert sich tatsächlich regelmäßig am König-Heinrich-Platz aufhielt und dort Kontakt zu Jugendlichen suchte, insbesondere männlichen. Nachdem die Stadt vor anderthalb Jahren am Ende des Platzes ein kleines Fußballfeld angelegt hatte, treffen sich hier täglich zwischen zehn und 20 Jugendliche. Mädchen sind unterrepräsentiert.

Es ist keine verschworene Gemeinschaft, keine Gang, keine Bande, die sich am König-Heinrich-Platz versammelt, vielmehr sind es überwiegend deutsche Jugendliche aus der näheren Umgebung mit losen Kontakten untereinander. Freundschaften sind eher selten. Die Ermittler beobachten ein reges Kommen und Gehen und fragen sich, wie Joachim Grauert in diese Szene hineingepasst haben will. Was trieb ihn immer wieder dorthin? Die Hoffnung, einen Sexualpartner zu finden? Die pure Langeweile? Einsamkeit? Oder vielleicht das Bedürfnis nach Anerkennung, nach sozialer Nähe?

Antworten erwartet sich die Kripo von den Jugendlichen, die nahezu ausnahmslos aus Arbeiterfamilien stammen und auch schon mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind. Alle versichern sie, Joachim Grauert oberflächlich gekannt und auch durchaus gemocht zu haben. Er war stets freundlich, höflich und hilfsbereit, habe mal eine Flasche Bier oder eine Schale Pommes frites spendiert, ohne eine Gegenleistung einzufordern. Er stellte sogar seinen Pkw für Spritztouren zur Verfügung oder fuhr selbst mit. Es findet sich niemand, der etwas Negatives über den Mann berichtet.

 

Glaubt man den übereinstimmenden Aussagen der jugendlichen Zeugen, soll Joachim Grauert ein eher devoter und genügsamer Mann ohne Macken gewesen sein, jemand, der nicht aneckt, der aber auch kaum wahrgenommen wird. Ein Opfertyp?

Die Ermittler fragen die Jugendlichen vom König-Heinrich-Platz insbesondere nach Personen, die Joachim Grauert näher gekannt haben. Und dabei fällt immer derselbe Name: Thomas Basler. Der 16-Jährige soll noch am Abend des Todestages mit dem Opfer zusammen gewesen sein. Allerdings habe Joachim Grauert den König-Heinrich-Platz gegen 20.30 Uhr verlassen – allein.

Bevor Thomas Basler vernommen wird, machen sich die Ermittler ein Bild von dem jungen Mann: Er ist das dritte und letzte Kind einer Beamtenfamilie mit tadellosem Ruf. Thomas besuchte vier Jahre lang einen Kindergarten, kam danach in die Grundschule, vier Jahre später wurde er auf die Realschule gegeben. Die achte Klasse wiederholte er. Ein Jahr später musste Thomas die Schule zwangsweise verlassen, nachdem er insgesamt 58 Tage unentschuldigt gefehlt hatte. Eine darauf folgende Lehre als Kfz-Mechaniker brach er ab. Von seinem ehemaligen Lehrherrn erfährt die Kripo, Thomas habe sich in den letzten Monaten zu seinem Nachteil verändert, er sei des Öfteren nicht zur Arbeit erschienen, habe sich uneinsichtig und aufsässig gezeigt, auch sei er in Verdacht geraten, Geld unterschlagen zu haben. Und weil er zuletzt drei Wochen unentschuldigt gefehlt habe, sei ihm schließlich fristlos gekündigt worden.

 

Zwei Ermittler holen den hochgewachsenen, auffallend hageren und langhaarigen jungen Mann zu Hause ab und bringen ihn ins Präsidium. Er bestreitet nicht, Joachim Grauert gekannt zu haben. Auf beharrliches Nachfragen räumt Thomas Basler später ein, von dem Getöteten gelegentlich kleinere Geldbeträge erhalten zu haben, mal zehn D-Mark, mal 20 D-Mark. Die Aussage, das Geld wurde für sexuelle Kontakte gezahlt, muss ihm förmlich abgerungen werden. Thomas Basler weist in diesem Zusammenhang ungefragt und energisch darauf hin, er, Joachim Grauert, habe am Hauptbahnhof regelmäßig mit Strichjungen verkehrt. Wesentlich gelassener gibt sich der jugendliche Zeuge, als ihm vorgehalten wird, er sei derjenige gewesen, der Joachim Grauert letztmals lebend gesehen habe. Ja, er habe den Mann an dem besagten Abend noch getroffen, räumt er bereitwillig ein, aber nein, er sei Joachim Grauert nicht gefolgt, als er gegen 20.30 Uhr den König-Heinrich-Platz verließ. Dies könnten die damals Anwesenden gewiss bezeugen.

Alle in Frage kommenden Jugendlichen werden namentlich ermittelt, überprüft und nacheinander befragt. Die Aussagen widersprechen sich mitunter in wiederkehrenden Aspekten, beispielsweise wenn es darum geht, zeitliche Zuordnungen für bestimmte Ereignisse vorzunehmen: Wann kam bzw. verließ wer mit wem zu welcher Zeit den König-Heinrich-Platz? Nur in einem Punkt herrscht Einigkeit: Joachim Grauert verließ den Bolzplatz gegen 20.30 Uhr. Niemand war bei ihm. Niemand folgte ihm später, insbesondere Thomas Basler nicht. Der soll sich weiter im Kreis der Jugendlichen aufgehalten haben.

Die Widersprüche in den zeitlichen Abläufen lassen sich auch durch weitere Nachforschungen nicht ausräumen. Entweder resultieren die abweichenden Aussagen aus typischen Erinnerungsfehlern, oder aber jemand soll geschützt werden, überlegen die Fahnder – vielleicht Thomas Basler?

Die Mordkommission erhofft sich weitere Aufklärung durch ein gemeinsames Gespräch mit allen Jugendlichen. Verplappert sich einer? Hält jemand dem Druck dieser Situation nicht stand? Lassen sich einzelne Jugendliche auf diese Weise besser erreichen und zur Vernunft bringen? Oder tut man ihnen unrecht?

 

Alle Zeugen werden ins Präsidium bestellt und in einem großen Raum, der normalerweise für Dienstbesprechungen genutzt wird, versammelt. Der Chef der Mordkommission und zwei Mitarbeiter erklären den Jugendlichen, worum es geht und warum man hier zusammengekommen ist. Doch die Beamten ernten nur Gekicher, Gelächter, Unverständnis und Unmut.

»Was wollt ihr von uns?«

»Keiner von uns hat was damit zu tun!«

»Lasst uns doch endlich in Ruhe!«

»Wir sind unschuldig!«

»Leckt uns doch am Arsch!«

Die Veranstaltung muss nach nur zehn Minuten abgebrochen werden.

 

Folgen die Fahnder einer falschen Fährte? Begegnete Joachim Grauert seinem Mörder eventuell wesentlich später als 20.30 Uhr, fernab der Szenerie am König-Heinrich-Platz? Gabelte er möglicherweise am Bahnhof wie üblich einen Strichjungen auf, fuhr mit ihm weg und wurde später attackiert und getötet? Gab es einen Streit, der schließlich eskalierte und die Vielzahl der Verletzungen erklärt? Die Brutalität? Die Maßlosigkeit?

Und tatsächlich: Als die Fahnder in Joachim Grauerts Lieblingslokal vorstellig werden, erfahren sie von dem Bedienungspersonal, dass der Getötete sich zur tatkritischen Zeit in dem Restaurant aufgehalten haben soll, und zwar noch bis etwa 21.15 Uhr. Eine Verwechslung kann ausgeschlossen werden. Und er sei in Begleitung eines etwa 40 bis 50 Jahre alten Mannes gewesen, berichten die Kellner, der einen sehr seriösen Eindruck gemacht habe. Wurde Joachim Grauert, der die Rechnung nicht bezahlt haben soll, von seinem Mörder erst zum Essen eingeladen und kurz darauf gefoltert und umgebracht?

Bevor die Ermittler dieser Hypothese nachgehen können, wird Joachim Grauerts Wagen gefunden: verschlossen und ordentlich am Straßenrand geparkt, nur etwa 300 Meter vom König-Heinrich-Platz entfernt. Auf der Rückbank, am Fahrzeughimmel, an den Rückseiten der Lehnen der Vordersitze und auf einem cremefarbenen Sitzkissen entdecken die Kriminaltechniker Blutverschmierungen. Als der Wagen auf der Hebebühne steht, sehen sie, dass die Bodenplatte links eingedrückt ist; auch hier werden großflächige Blutspuren gefunden, unter dem Kotflügel, massiv an der hinteren linken Stoßdämpferhalterung haftend. Von dort ist das Blut wohl abgetropft und hat entsprechende Spuren gelegt, die noch knapp 400 Meter vom Leichenfundort entfernt entdeckt wurden.

 

Die Ermittler bezweifeln weniger, wer auf der Rückbank saß und sein Blut dort hinterließ, sondern vielmehr in welchem Zustand er sich befand. War Joachim Grauerts Körper schon zu diesem Zeitpunkt übersät mit Stichwunden? Waren seine Rippen bereits serienweise gebrochen? Lag er längst im Sterben?

Nach längerer Erörterung und Rücksprache mit dem rechtsmedizinischen Gutachter wird angenommen, Joachim Grauert habe während des Transports das Schlimmste noch bevorgestanden, weil die Blutspuren in seinem Wagen zu gering ausgeprägt waren, um mit der Vielzahl der erlittenen Verletzungen in Einklang gebracht werden zu können. Auch die Spuren und Beschädigungen unter dem Pkw sollen darauf hindeuten, dass der Mann mehrmals überrollt wurde. Jedenfalls seien durch diese Annahme die Rippenserienbrüche – nach dem rechtsmedizinischen Gutachten hervorgerufen durch massive stumpfe Gewalt – zwanglos zu erklären. Und weil überdies angenommen wird, dass derjenige, der den Wagen im Nahbereich des König-Heinrich-Platzes abstellte, auch eine Beziehung dorthin haben musste, geraten abermals die Jugendlichen ins Fadenkreuz der Ermittler.

Wieder werden die Jungen und Mädchen ins Präsidium geholt und vernommen. Lange sieht es so aus, als würde man weiter auf den Durchbruch warten müssen, weil die Zeugen einer nach dem anderen bei ihren vormals gemachten Aussagen bleiben und sich auch nicht durch eine härtere Gangart beeindrucken lassen.

Dann ist Chantal Breitkreuz an der Reihe. Die 14-Jährige geht in die siebte Klasse einer Hauptschule und hat bei ihrer ersten Aussage erzählt, sie habe keine Freunde unter den anderen Jugendlichen und halte sich eher selten an dem Bolzplatz auf. Sie könne aber bestätigen, dass Joachim Grauert das Gelände zur besagten Zeit alleine verlassen habe.

Die Vernehmungsbeamten lassen Chantal zunächst reden, ohne Fragen zu stellen oder sie zu unterbrechen. Nach nicht ganz vier Minuten hat sie ihre Geschichte erzählt, haargenau so wie die erste Version drei Tage zuvor. Ob das ihr Ernst sei, wird Chantal gefragt. Das Mädchen antwortet nicht. Ob sie glaube, dass man ihr die Geschichte einfach so abkaufen werde? Chantal tut unbeteiligt und sagt nichts. Ob sie sich mit einer Falschaussage und den sich daraus ergebenden Konsequenzen ihr weiteres Leben verbauen wolle? Das Mädchen schweigt auch weiterhin. Doch kurz darauf beginnt Chantal unvermittelt und hemmungslos zu schluchzen. Und zu reden: »Ich halte das nicht mehr aus …«

In den nächsten Minuten redet sich Chantal alles von der Seele und erzählt den staunenden Ermittlern eine unglaubliche Geschichte. Alle hätten sie von dem Mord gewusst, der von den Tätern sogar angekündigt wurde. Nach der Tat habe man sich von den Mördern die Abläufe bei einer Flasche Bier schildern lassen, Szene für Szene, man habe kein grausiges Detail ausgelassen. Man habe sich dabei prächtig amüsiert und sei bester Stimmung gewesen.

»Alle« – das sind insgesamt 13 Jugendliche, zwischen 14 und 17 Jahre alt, darunter drei Mädchen. Nun, als der Damm gebrochen ist und die Kripo Bescheid weiß, legen alle mittelbar und unmittelbar Beteiligten ein Geständnis ab, auch die beiden Täter. Was jetzt ans Tageslicht kommt, führt die Beamten an die Grenze ihrer seelischen Belastbarkeit – und darüber hinaus.

Bei den Tätern handelt es sich um Thomas Basler – also doch! – und Peter Brückmann. Letzterer ist 17 Jahre alt und der Kripo als Autodieb und Schlägertyp bestens bekannt. Seine Vita: Als Peter vier Jahre alt ist, trennen sich seine Eltern, er bleibt bei der Mutter, die anderthalb Jahre später abermals heiratet – und nur zwei Jahre darauf wieder geschieden wird. Danach folgen diverse Männerbekanntschaften der Mutter, deren Namen Peter heute größtenteils nicht mehr weiß. Mit acht Jahren kommt er zu seiner Großmutter. Die zweite Klasse der Hauptschule muss Peter wiederholen, ein Jahr später wird er in ein Heim gegeben, weil weder die Oma noch die Lehrer mit dem Jungen zurechtkommen. Er gilt als frech und aufsässig. Auch drastische Erziehungsmethoden zeigen nicht die gewünschte Wirkung.

Der Heimaufenthalt währt nur kurz, weil Peter seine Mitbewohner beklaut und verprügelt. Der Junge wird wieder auf die Hauptschule gegeben, die Mutter weigert sich, ihn aufzunehmen, die Großmutter erbarmt sich schließlich abermals. Als Peter die Schule nach fortwährend unbeachtlichen Leistungen und beachtlichen Fehlzeiten als 16-Jähriger verlassen muss, beginnt er eine Lehre als Industrieschlosser. Sechs Monate später wird er nach einer Schlägerei mit seinem Ausbilder aber auch hier geschasst. Weitere Versuche, einen Beruf zu erlernen, unterlässt Peter, er lebt auf Kosten seiner Oma und begeht Einbrüche, die ihm allerdings nicht nachgewiesen werden können. Vier Monate vor dem Mord an Joachim Grauert lernt er am König-Heinrich-Platz Thomas Basler kennen und freundet sich mit ihm an. Das Unheil nimmt nun seinen Lauf.

Alles beginnt in einer öffentlichen Toilettenanlage knapp einen Monat zuvor. Peter Brückmann, Thomas Basler und vier andere Jungs lungern dort herum. Sie warten auf eine Gelegenheit. Als ein älterer Herr mit Hut die Toiletten aufsucht, gibt Peter das vereinbarte Zeichen. Sie folgen dem Mann, der jetzt vor einem Pinkelbecken steht und sich erleichtert. Peter nähert sich dem Mann und schlägt wortlos von hinten mit einem Knüppel so lange auf Kopf und Körper, bis das Opfer stöhnend zu Boden geht. Johlend flüchtet die Gruppe.

 

Kripo: Warum hast du den Mann geschlagen, was wolltet ihr von dem?

Peter: Weiß nicht.

Kripo: Das macht man doch nicht einfach so. Wolltet ihr dem an die Brieftasche?

Peter: Nee.

Kripo: Was denn?

Peter: Das hat einfach Laune gemacht. Ein geiles Gefühl.

 

Stunden später stehen etwa zehn Jugendliche am König- Heinrich-Platz zusammen, darunter zwei Mädchen. Peter erzählt von dem Überfall auf den älteren Herrn. Alle hören sie gebannt zu. Eine tolle Geschichte. Aufregend. Faszinierend. Und zur Nachahmung empfohlen.

 

Kripo: Wann bist du auf die Idee gekommen, den Joachim Grauert zu töten?

Peter: Das war nicht meine Idee.

Kripo: Wessen Idee war es denn?

Peter: Nachdem ich den Alten weggeklatscht hatte, ist das so hochgekommen.

Kripo: Kannst du das mal genauer erzählen?

Peter: Wir standen an dem Abend zusammen, Thomas und die anderen. Da hat einer gemeint, man müsste einen mal in echt allemachen. Das wäre doch viel geiler.

Kripo: Wer hat das gemeint?

Peter: Weiß nicht.

Kripo: Und wie seid ihr auf Joachim Grauert gekommen?

Peter: Einer meinte: am besten so’n Schwuler. Das war für alle okay.

 

Also Joachim Grauert. In den nächsten Tagen werden Pläne geschmiedet, wann, wo und wie man »die schwule Sau plattmachen« will. Am besten in dessen Wohnung. Die Möchtegern-Täter übertreffen sich gegenseitig mit grausigen Ideen, wie »das abgehen soll«: den Leichnam beispielsweise zerstückeln, mit Stöcken aufspießen und an der Decke aufhängen – »ein schönes Mobile«; oder den Kopf des Toten aufschlagen, das Gehirn herausnehmen und »einfach an die Wand klatschen«.

Die Jugendlichen kennen auch in den nächsten Tagen nur ein Thema: Joachim Grauert soll »kaltgemacht werden«. Alle drängen sich danach, mitzumachen. Selbst die Mädchen wollen vor der Tötung eines Menschen, den sie kennen und der ihnen nichts getan hat – im Gegenteil –, nicht zurückschrecken.

 

Kripo: Wenn doch angeblich alle mitmachen wollten, warum habt dann nur Thomas und du die Tat begangen?

Peter: Die Mädels wollten wir nicht dabeihaben, die hätten später gequatscht. Maximal drei Mann. Der Bernd wollte auch mitmachen, der war richtig heiß drauf. Hat aber dann doch nicht geklappt.

 

Bernd heißt mit Nachnamen Fischer und ist 16 Jahre alt. Als Peter und Thomas den Termin für die Tötung Joachim Grauerts festlegen, ist Bernd verhindert. Er muss auf seine jüngeren Geschwister aufpassen, weil die Eltern zu einer Geburtstagsfeier eingeladen sind.

Es ist 21.30 Uhr, als Peter von einer Telefonzelle aus Joachim Grauert anruft. Ob sie ihn jetzt noch besuchen dürften? Einverstanden. Eine Viertelstunde später öffnet Joachim Grauert bereitwillig seinen Mördern die Tür. Peter hat unter seiner Kleidung zwei Messer versteckt.

 

Kripo: Warum seid ihr von dem Plan abgewichen, den Mann in seiner Wohnung zu töten?

Peter: Kam uns irgendwie komisch vor.

Kripo: Kannst du das genauer erklären?

Peter: Als der mal auf dem Klo war, hab ich mit Thomas gelabert. War uns irgendwie zu unsicher, das Ganze. Wenn wir den killen, schreit der doch. Die Nachbarn hören das. Nee.

 

Als Joachim Grauert seinen Toilettengang beendet hat, erzählt Thomas ihm von einem Zelt, das noch am Baggerloch steht und dringend abgeholt werden muss. Ob er ihm dabei behilflich sein und ihn dorthin fahren könne? Peter würde auch dabei sein wollen. Kein Problem. Joachim Grauert willigt ein.

Die Fahrt geht zu einem sieben Kilometer entfernten Baggerloch an der Peripherie der Stadt. Zehn Minuten später laufen die drei am Ufer entlang und suchen in der Dunkelheit nach einem Zelt, das es nicht gibt.

Peter lässt sich kurz zurückfallen. Jetzt ist Joachim Grauert vor ihm. Peter zieht das Fleischermesser aus seinem Hosenbund und stößt es Joachim Grauert in den Rücken. Der zweite Stich dringt wesentlich tiefer in den Körper ein, bis zum Schaft. Das Messer bleibt stecken.

 

Kripo: Was hast du beim Zustechen empfunden?

Peter: Geiles Gefühl. Warm. Kribbeln.

Kripo: Warum hast du nicht weiter zugestochen?

Peter: Ging nicht.

Kripo: Warum nicht?

Peter: Der hat sich weggedreht und wollte weglaufen.

 

Joachim Grauert stöhnt vor Schmerzen und versucht, seinen Peinigern zu entkommen. Doch Thomas stoppt ihn mit einem wuchtigen Faustschlag ins Gesicht. Joachim Grauert bricht zusammen. »Stich doch weiter!«, brüllt Thomas. Er weiß nicht, dass das Messer noch im Rücken des Opfers steckt.

Also wird getreten, mit aller Kraft: gegen den Kopf, gegen den Hals, gegen den Oberkörper. »Hört doch bitte auf!«, fleht Joachim Grauert. Aber es wird weiter zugetreten. »Ihr bringt mich ja um!« Die Antwort sind weitere Fußtritte.

Plötzlich Stimmengewirr. Spaziergänger nähern sich. Thomas und Peter halten ein und spähen gebannt in die Dunkelheit. Währenddessen versucht Joachim Grauert, sich aufzurappeln, fällt wieder hin und stürzt eine kleine Böschung hinunter.

Sekunden später ist Thomas bei ihm und beruhigt den Schwerstverletzten. Man werde ihm sofort helfen und in ein Krankenhaus bringen. Er müsse nur versprechen, sie nicht zu verraten.

Schließlich ist auch Peter wieder da. Man richtet Joachim Grauert auf. Der hat Schmerzen und jammert und stöhnt. Er wird lauter. »Jetzt sei doch endlich ruhig!«, zischt Peter. Die Spaziergänger kommen in Sichtweite. Joachim Grauert hält die Schmerzen nicht aus, keucht, röchelt, fleht leise: »Helft mir doch! Es tut so weh!«

 

Kripo: Als Joachim Grauert um sein Leben gebettelt hat, was ging dir da durch den Kopf?

Peter: Versteh die Frage nicht.

Kripo: Er war doch dein Freund. Hattest du kein Mitleid?

Peter: Nee.

 

Weil Joachim Grauert seine Schmerzen nicht unterdrücken kann, beginnt Peter laut zu pfeifen. Thomas auch. Jetzt ist Joachim Grauerts Stöhnen nicht mehr zu hören – nur noch das Pfeifen der Mörder.

Die Spaziergänger bemerken die Männer am Ufer, reagieren aber nicht auf sie. Dann sind die unliebsamen Zeugen weg. Thomas will von Joachim Grauert wissen, wo das Messer ist. »Ich habe es rausgezogen und weggeworfen.« Einige Minuten lang wird gesucht, vergeblich.

Erst jetzt bemerken Peter und Thomas im Uferbereich einen Lagerplatz, etwa dreißig Meter entfernt. Ob sich dort jemand aufhält, können sie nicht feststellen. Es könnte aber so sein. Die Sache am See wird ihnen zu heiß. Joachim Grauert muss »weg«.

 

Kripo: Wann habt ihr den Entschluss gefasst, Joachim Grauert zu töten?

Peter: War sowieso klar.

Kripo: Kannst du das genauer erklären?

Peter: Das war so abgemacht.

Kripo: Bevor ihr zu ihm hingefahren seid?

Peter: Klar.

 

Peter belügt Joachim Grauert, er werde seinen Wagen holen und ihn ins Krankenhaus fahren. In der rechten Hosentasche des Verletzten findet Thomas den Autoschlüssel und übergibt ihn Peter. Der macht sich auf den Weg.

Joachim Grauert liegt jetzt seitlich auf dem sandigen Boden und krümmt sich vor Schmerzen, blutet.

»Ich halte das nicht mehr aus.«

»Doch, du schaffst das, gleich kommt Hilfe.«

»Ich schaffe es nicht. Ich verblute.«

»Quatsch, das schaffen wir schon. Kannst dich drauf verlassen.«

»Ich habe so starke Schmerzen. Ich schaffe das nicht.«

So geht es eine Weile hin und her.

Thomas bekommt es mit der Angst zu tun. Er befürchtet, alsbald von Passanten bemerkt zu werden, noch bevor sein Kumpan zurück ist.

»Pass auf, Joachim. Wenn einer kommt und uns entdeckt, sage ich, dass ich dich so gefunden habe. Klar?«

Joachim Grauert versteht, worauf Thomas hinauswill. Er muss den jungen Mann, der ihn eben noch töten wollte, jetzt für sich gewinnen, ihm eine menschliche Regung abgewinnen, um zu überleben. Und er muss ihn davon überzeugen, keine Gefahr für ihn darzustellen.

»Wenn einer kommt«, flüstert Joachim Grauert, »sage ich, dass es Ausländer waren, die mich überfallen haben. Mach dir keine Sorgen, das geht klar.«