Killerinstinkt - Stephan Harbort - E-Book

Killerinstinkt E-Book

Stephan Harbort

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Beschreibung

Warum wird ein unscheinbarer Familienvater zum kaltblütigen Killer? Was bringt einen Krankenpfleger dazu, seine Patienten zu töten? Stephan Harbort, Deutschlands bekanntester Serienmordexperte, hat mit unzähligen Tätern gesprochen, um ihren Motiven auf den Grund zu gehen. In seinem neusten Buch versammelt er die spektakulärsten Fälle seiner Karriere und gewährt uns einen persönlichen und exklusiven Einblick in die Arbeit mit den Tätern.

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Das Buch

In Killerinstinkt versammelt der bekannte Kriminalist Stephan Harbort spektakuläre Fälle des Phänomens »Serienmord«. Immer wieder beschäftigte ihn dabei die Frage, was Menschen zu Mördern werden lässt. Harbort nähert sich dieser Frage auf seine ganz eigene Art: Er sucht das Gespräch – mit den Tätern, ihren Angehörigen und mit den Angehörigen der Opfer. So spricht er beispielsweise mit einem Krankenpfleger, der mehrere Patienten getötet hat, mit einer Frau, deren Mann zum kaltblütigen Killer wurde, und mit einem Vater, dessen Sohn entführt und getötet wurde. Durch die Einbeziehung von Täter- und Opferperspektiven gelingt es Stephan Harbort, dem Leser einen sehr unmittelbaren Blick auf die Täter und ihre Taten zu vermitteln.

Der Autor

Stephan Harbort, geboren 1964, ist Kriminalhauptkommissar und Deutschlands bekanntester Serienmordexperte. Er entwickelte international angewandte Fahndungsmethoden zur Überführung von Serienmördern und sprach mit mehr als siebzig Tätern. Außerdem ist er Dozent an der Universität Cottbus und beratend bei Krimiserien und Kinofilmen tätig. Seine Bücher sind kriminalistische Bestseller und wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Durch seine zahlreichen TV-Auftritte bei Fernsehgrößen wie Frank Elstner, Günther Jauch oder Johannes B. Kerner ist er einem breiten Publikum bekannt.

Homepage des Autors: www.stephan-harbort.de

Stephan Harbort

Killerinstinkt

Serienmördern auf der Spur

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-taschenbuch.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Dezember 2012© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2012Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, MünchenTitelabbildung: © Andreas KühlkenSatz und eBook: Pinkuin Satz und Datentechnik, BerlinISBN 978-3-8437-0369-7

Für Ilona, David, Amelie und Katharina. Vier Namen. Ein Leben. Meins.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort – Die Aura des Bösen

Black Box

Morbus Freitag

Ein Vater sucht einen Mörder

»Er holt dich heut!«

Charakter: Verbrecher

Nachwort – Vom Wesen des Bösen

Die folgenden Ereignisse sind authentisch und entsprechen dem Ergebnis der kriminalpolizeilichen Ermittlungen bzw. der prozessualen Wahrheit. Als Quellen für die Rekonstruktion und Dokumentation der Kriminalfälle dienten insbesondere die Gerichtsakten bzw. die Aussagen der von mir interviewten Serienmörder und anderer Beteiligter.

Die Namen der handelnden Personen sind anonymisiert. Auch biographische Angaben oder örtliche und zeitliche Bezüge wurden mitunter verfremdet. Diese Verfahrensweise ist dem Schutz der Persönlichkeitsrechte geschuldet.

Vorwort – Die Aura des Bösen

Im April 1992 absolvierte ich als 27-jähriger Kriminalstudent mein zweites Fachpraktikum in Duisburg. Zu der Zeit war ich seit gut sieben Jahren bei der Polizei. Zu Beginn des Studiums hatte ich mir drei Dienststellen bei der Kripo aussuchen dürfen. Meine Wahl war dieses Mal auf das 2. Kriminalkommissariat gefallen, sachlich zuständig für Drogendelikte, Sexualstraftaten und Vermisstenfälle. Meine Aufgabe war es derzeit, Junkies und Dealern auf die Schliche zu kommen.

Der Anruf, der mein Leben verändern sollte, erreichte mich um 8 Uhr morgens in meinem Büro. Mein Chef war dran.

»Stephan, die vom 1. K. haben nach dir gefragt. Die haben wohl Bedarf. Hast du Lust?«

Ich zögerte keine Sekunde. »Natürlich. Worum geht es denn?«

»Da hat wohl einer ganz großen Mist gebaut. Genaueres weiß ich aber nicht.«

»Gut, ich nehme gleich Kontakt auf.«

Mein erstes Praktikum hatte ich vor einigen Monaten beim 1. Kriminalkommissariat absolviert – dort werden insbesondere sogenannte Todesermittlungsverfahren durchgeführt – und mitunter auch in einer Mordkommission (MK) ausgeholfen. Den Raubmord an einem Marokkaner hatten wir nach langwierigen und auch körperlich anstrengenden Ermittlungen zwar aufklären können, doch der Täter war nach wie vor flüchtig.

Nachdem ich die Verfahren mit unaufschiebbaren Ermittlungen, in Kürze durchzuführenden Vernehmungen oder noch zu vollstreckenden Durchsuchungsbeschlüssen für Wohnungen verschiedener Kleindealer meinem Vorgesetzten zurückgegeben hatte, ging ich eine Etage tiefer und stellte mich beim Leiter der Mordkommission »Gross« (benannt nach dem Opfer) vor, der zugleich Chef des 1. Kriminalkommissariats war.

Karl-Josef Röttgen, ein älterer, herzensguter Kollege, schaute zwar stets ziemlich mürrisch drein, führte das »1. K.« jedoch seit vielen Jahren erfolgreich an und wurde von seinen Mitarbeitern uneingeschränkt respektiert. Nach knapper Begrüßung riss er nur kurz an, worum es sich drehte, und sagte dann: »Aber was soll ich lange reden, nimm dir die Akten vor und lies dich ein. Wenn du damit fertig bist, kommst du wieder zu mir. Dann schauen wir weiter.«

Also ging ich zum Aktenführer, der mir empfahl, den ersten Zwischenbericht des MK-Leiters zu lesen, dann wäre ich auf dem Laufenden. Was ich in der nächsten halben Stunde erfuhr, überraschte und schockierte mich gleichermaßen – eine schier unglaubliche Geschichte, die mich sofort in ihren Bann zog.

Am 28. März kommt Jonas Brückner ins Präsidium, um seinen Stiefvater als vermisst zu melden. Dabei äußert er die Sorge, der alte Mann könnte sich das Leben genommen haben. Der 29-jährige Maurer gibt an, Hans-Martin Gross zuletzt in den späten Nachmittagsstunden des Vortages gesehen zu haben, als der 71-Jährige mit seinem Volvo 360 weggefahren sei, angeblich um ein Blumengebinde auf das Grab seiner Frau zu legen, die kürzlich an einem Herzinfarkt gestorben sei.

Erste Nachforschungen der Todesermittler ergeben jedoch, dass Hans-Martin Gross trotz des Trauerfalls auf nahe Verwandte, Freunde und Bekannte einen gefassten und keinesfalls deprimierten Eindruck gemacht habe, zumal er sich auf den Tod seiner Frau habe einstellen können. Überhaupt sei der rüstige Rentner ein optimistischer und lebensbejahender Mensch, dem ein Selbstmord nicht zuzutrauen sei.

Jonas Brückner wird als letzte Kontaktperson des Vermissten ausführlich und intensiv vernommen. Die Geschehnisse der vergangenen achtundvierzig Stunden sollen möglichst lückenlos rekonstruiert werden. In der Vernehmung behauptet Jonas Brückner unter anderem, das besagte Blumengebinde habe schon am Vormittag des 27. März im Wagen seines Stiefvaters gelegen. Er selbst habe nämlich den Volvo 360 durch eine Waschstraße gefahren, dabei seien ihm die Blumen aufgefallen.

Meine Kollegen werden misstrauisch, als sich wenig später herausstellt, dass die Blumen erst in den Abendstunden in den Wagen gelegt worden sind, und zwar nachweislich vom Vermissten selbst. Demzufolge muss die Fahrzeugreinigung an einem anderen Tag stattgefunden haben. Und Jonas Brückner hat zumindest in diesem Punkt gelogen.

Bald darauf kommt heraus, dass es im Umfeld von Jonas Brückner in der jüngeren Vergangenheit zwei weitere Vermisstenfälle gegeben hat: Am 30. September 1991 ist von dem Geographie-Studenten Peter Gundlach bei der Kripo in Bad Ems seine 28-jährige Frau Regina vermisst gemeldet worden. Deren entkleidete und augenscheinlich missbrauchte Leiche fand ein Pilzsammler schließlich am 14. November 1991 in einem Waldgebiet in der Nähe von Koblenz. Pikant daran ist, dass es sich bei Regina Gundlach um Jonas Brückners Stiefschwester handelt, mit der er jahrelang im selben Haus gewohnt hat. Und schließlich wird bereits seit dem 21. Juli 1991 erfolglos nach Bärbel Böttcher aus Oberhausen gefahndet, die 23-jährige Angestellte ist spurlos verschwunden. Das Besondere an diesem Fall: Die Vermisste zählt zu Jonas Brückners Ex-Freundinnen.

Am 5. April entdecken Schutzpolizisten das Auto von Hans-Martin Gross am Duisburger Hauptbahnhof. Die Blumen liegen noch auf dem Rücksitz des Wagens. Spuren, die auf ein Verbrechen hindeuten, sind zwar nicht festzustellen, doch erscheinen die Aussagen von Jonas Brückner jetzt noch dubioser. Meine Kollegen gehen nun fest davon aus, dass Hans-Martin Gross getötet wurde und sein Stiefsohn der Hauptverdächtige ist. Nur ein Motiv für die Tat lässt sich bislang nicht herleiten.

Zwei Tage nach der Sicherstellung des Fahrzeugs nehmen die Ermittlungen eine unerwartet dramatische Wendung, als eine 34-jährige Industriekauffrau den Kontakt zu meinen Kollegen sucht und sich als Lebensgefährtin von Jonas Brückner vorstellt. Was Claudia Frommelt aussagt, passt ins Bild: Bereits seit geraumer Zeit hegte sie den Verdacht, ihr Freund könnte etwas mit dem Mord an Regina Gundlach und dem Verschwinden von Bärbel Böttcher zu tun haben. Im Anschluss an die Todesnachricht wirkte er auf sie verändert und wich ihren ausgesprochen hartnäckigen Nachfragen stets aus.

Dann, vor zwei Tagen, ist sie mit Jonas Brückner mehrere Stunden spazieren gewesen – und unterwegs erzählte er ihr plötzlich, dass er gemeinsam mit einem Freund Hans-Martin Gross, Regina Gundlach und Bärbel Böttcher umgebracht habe. Einzelheiten der Taten verriet er ihr nicht, allerdings betonte er noch, die Leichen von Hans-Martin Gross und Bärbel Böttcher könnten nicht mehr gefunden werden. Auch sein Motiv hat er ihr genannt: Jonas Brückner habe durch die Morde an das Erbe seines vermögenden Stiefvaters gelangen und seinen Freund später entsprechend auszahlen wollen.

Bei dem mutmaßlichen Mittäter handelt es sich um Jürgen Broschat, einen 27-jährigen berufslosen Gelegenheitsarbeiter aus Gelsenkirchen, nicht unerheblich vorbestraft, unter anderem wegen Betruges und Körperverletzung. Sein derzeitiger Aufenthaltsort ist unbekannt, nach dem Mann wird bundesweit gefahndet.

Nachdem Claudia Frommelt ihre Aussage unterschrieben hat, wird Jonas Brückner festgenommen und mit den Tatvorwürfen konfrontiert. Es dauert nicht lange, bis der des Serienmordes Verdächtige auch meinen Kollegen gegenüber ein Geständnis ablegt. Das Geständnis ist glaubhaft, weil er darin Wissen offenbart, über das nur ein Täter verfügen kann.

Mord Nummer eins:

Jonas Brückner und sein Freund erzählen ab Mitte August 1991 Familienangehörigen und Freunden, dass sie Ende des Monats gemeinsam zwei Wochen Urlaub in Italien machen wollen. Doch stattdessen nutzen sie die Zeit ihrer angeblichen Abwesenheit, um die Lebensumstände des späteren Opfers auszuspionieren. Am 30. September wird Regina Gundlach von Jonas Brückner am Bahnhof in Bad Ems abgepasst, nachdem sie das Fahrrad dort wie üblich abgestellt hat. Er bittet sie darum, sich in ihrer Wohnung kurz duschen zu dürfen. Regina Gundlach hat nichts dagegen und geht mit ihrem Freund zu dem Wagen, an dessen Steuer Jürgen Broschat sitzt. Sie selbst setzt sich auf den Beifahrersitz. Während der Fahrt legt Jonas Brückner dem Opfer von hinten ein Springseil um den Hals und erdrosselt sie, anschließend legt er die Leiche in einem Waldgebiet ab. Dort entkleidet er die Tote und fügt ihr Verletzungen im Genitalbereich zu, um ein Sexualdelikt vorzutäuschen.

Mord Nummer zwei:

Bärbel Böttcher muss sterben, da sie für die Täter ein Sicherheitsrisiko darstellt. Die Frau hat nämlich für Jürgen Broschat einen gestohlenen Pkw mit gefälschten Papieren beim Straßenverkehrsamt angemeldet. Womöglich hat sie den eigentlichen Plan, das Auto für die Tötung von Hans-Martin Gross zu verwenden, durchschaut und gefährdet so die weiteren Mordpläne.

Am 21. Juli 1991 holt Jonas Brückner seine Ex-Freundin am Bochumer Hauptbahnhof ab und fährt mit ihr zu einem Rastplatz in der Nähe von Paderborn. Dort wartet bereits Jürgen Broschat in einem anderen Wagen. Der hat Bärbel Böttcher zuvor zu einer vermeintlichen Spritztour in dessen Wagen, einem geliehenen Mercedes Cabrio, eingeladen. Da Jonas Brückner nicht mitfährt, kann er zu der kurz darauf erfolgten Tötung des Opfers keine näheren Angaben machen. Auch weiß er nicht, wo sein Freund die Leiche anschließend versteckt hat.

Mord Nummer drei:

In den Abendstunden des 27. März 1992 ruft Jürgen Broschat – wie zuvor abgesprochen – Jonas Brückner an, der daraufhin seinem Stiefvater gegenüber behauptet, ein Freund sei in der Nähe von Moers mit dem Wagen liegengeblieben und benötige Hilfe. Zudem spielt er ihm vor, er wäre vom Tod der Stiefmutter noch zu betroffen, um sich selbst ans Steuer setzen zu können.

Auf einer Landstraße an der Peripherie von Moers wartet Jürgen Broschat mit seinem Pkw, auf der Heckscheibe prangt ein Aufkleber, auf dem »Polizei« steht. Nach einem Überholmanöver wird Hans-Martin Gross durch Jürgen Broschat, der augenscheinlich eine Polizeilederjacke trägt, mit einer Kelle, eigentlich ein Fahrradabstandhalter, zum Anhalten aufgefordert. Es soll eine Verkehrskontrolle vorgetäuscht werden. Aus diesem Grund hat Jonas Brückner einige Stunden zuvor den TÜV-Stempel des Autokennzeichens mit einem Messer unkenntlich gemacht, damit seinem Stiefvater dieser vermeintliche Verkehrsverstoß vorgehalten werden kann. Der weitere Tatplan sieht vor, Hans-Martin Gross durch Schläge zu betäuben, ihn anschließend auf nahegelegene Bahngleise zu legen und von einem Zug überrollen zu lassen, um damit einen Suizid vorzutäuschen.

Es gelingt zwar tatsächlich, dem Stiefvater eine Verkehrskontrolle vorzugaukeln, doch schafft Jürgen Broschat es nicht, ihn bewusstlos zu schlagen. Deshalb greift Jürgen Broschat entgegen dem ursprünglichen Plan zur Pistole und erschießt ihn. Anschließend legt er das Opfer in dessen Wagen ab. Auch in diesem Fall lässt Jonas Brückner sich von seinem Freund nicht darüber informieren, wo er den Leichnam entsorgt hat. Er selbst reinigt am Morgen nach der Tat das Opferfahrzeug und stellt es anschließend an einem belebten Ort ab. Kurz darauf fährt er ins Präsidium, um seinen Stiefvater als vermisst zu melden.

Als ich mit dem Aktenstudium fertig war, fehlten mir die Worte. Ich war regelrecht fassungslos. Zwei junge Männer hatten drei Menschen ermordet, um, wie Jonas Brückner es merkwürdig distanziert ausgedrückt hatte, »forciert erben« zu können. Was sind das bloß für Menschen, fragte ich mich. Wie wird man so?

Wenig später erklärte mir Karl-Josef Röttgen meine Aufgabe in dieser Mordkommission. Weil Jürgen Broschat nicht auffindbar war, wurden eine ganze Reihe von Telefonanschlüssen abgehört, um seinen Unterschlupf ausfindig machen zu können. Zu dem überwachten Personenkreis aus seinem sozialen Umfeld zählte auch die Großmutter des Flüchtigen.

Ich würde also fortan live mitanhören, mit wem die Dame worüber sprach, und Wortprotokolle darüber anfertigen. Eine staubtrockene Tätigkeit, die mich nicht unbedingt begeisterte. Bei meiner großen Erwartungshaltung hatte ich mir eigentlich etwas Spannenderes gewünscht.

Meine Gedanken kreisten derweil um die beiden Täter. Ich konnte einfach nicht begreifen, wie man zu derart grausigen Verbrechen fähig sein kann, kaltblütig verübt an dem nächsten Angehörigen und an Frauen, mit denen man das Bett geteilt hat. Einerseits verabscheute ich die beiden Männer, andererseits machten sie mich unendlich neugierig.

Deshalb versuchte ich mich der Sache anzunähern, indem ich die Vernehmungsprotokolle von Jonas Brückner durchlas. Und die lebhaften Schilderungen der Kollegen, die mit dem Serienmörder sprachen, sog ich auf wie ein Schwamm. Besonders irritiert zeigten sich die Vernehmungsbeamten davon, dass Jonas Brückner so nüchtern und ausdruckslos von den Taten berichtete, als hätte er jeweils nur als Unbeteiligter danebengestanden und zugeschaut. Nach anderthalb Tagen mussten die vernehmenden Kollegen ausgetauscht werden, weil es ihnen zu viel geworden war – es gibt eben Grenzen der eigenen Leistungs- und Leidensfähigkeit, die man besser akzeptiert und danach handelt.

Da ich Jonas Brückner selbst leider nicht zu Gesicht bekam, schlich ich mich an das Büro heran, in dem er vernommen wurde, und lauschte an der Tür. Als ich seine schnarrende monotone Stimme zum ersten Mal hörte, bekam ich eine Gänsehaut. Nun konnte ich noch besser verstehen, warum meine Kollegen, die zuvor mit dem Mann gesprochen hatten, irgendwann ausgestiegen waren. Er verhielt sich auch jetzt genau so, wie es in den Kommissionsbesprechungen vorgetragen worden war: Jonas Brückner ließ bei seinen Schilderungen keinerlei Gefühlsregungen erkennen. Jetzt, da ich seinen Tonfall mit eigenen Ohren hörte, entstand bei mir spontan der Eindruck, dass er auch kaum zu Gefühlsregungen fähig war.

Erst eine Viertelstunde später zog ich mich wieder zurück. Ich hatte genug gehört. Mehr hätte ich wohl auch nur schwer ertragen können.

In den folgenden Tagen musste ich die nicht enden wollenden Gespräche mithören, die Jürgen Broschats Großmutter überwiegend mit einer Freundin führte. Es ging um Befindlichkeiten, das Wetter und andere für unsere Ermittlungen bedeutungslose Dinge. Ein Hinweis auf den Aufenthaltsort des Gesuchten ergab sich nicht.

Der Kommission gelang es trotz intensiver Bemühungen auch nach einer Woche nicht, Jürgen Broschat aufzustöbern. Weil es an erfolgversprechenden Ermittlungsansätzen mangelte, kehrten alle Kollegen, die nicht zum 1. Kriminalkommissariat gehörten, an ihren Arbeitsplatz zurück, weshalb dieser außergewöhnliche Fall nun auch für mich endete. Erst anderthalb Jahre später würde die spanische Polizei den Gesuchten in Almería verhaften.

Zum ersten Mal in meiner noch kurzen Karriere bei der Kripo hatte ich es mit einem Serienmord-Fall zu tun bekommen. Die dabei gewonnenen Eindrücke irritierten und inspirierten mich gleichermaßen. Und genau diese Widersprüchlichkeit befeuerte mein Verlangen, mich diesem Abgrund zu nähern, hinabzuschauen ins Herz der Finsternis und zu verstehen, was mir bis dahin unbegreiflich erschien. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich nicht, dass die Erforschung dieser außergewöhnlichen und Angst einflößenden Form der Tötungskriminalität in den kommenden Jahrzehnten auch mein Privatleben prägen würde. Doch schon damals spürte ich, dass ein langer und beschwerlicher Weg vor mir lag, den ich aber unbedingt gehen wollte. Ich konnte gar nicht mehr anders. Bevor ich jedoch begann, meinen beruflichen Fokus auf Serienmorde und ihren Hintergrund zu lenken, schloss ich erst einmal mein Studium ab.

In diesem Buch berichte ich über Fälle, die mich persönlich besonders berührt haben und auf dem Weg zu mehr Erfahrung und Erkenntnis quasi zu Meilensteinen geworden sind. Allerdings haben sie mich auch an meine geistigen und psychischen Grenzen geführt – manchmal sogar darüber hinaus. Und im Kern geht es dabei stets um diese eine entscheidende Frage, die mich jeden Tag aufs Neue herausfordert und zur Triebfeder meines Forschens geworden ist:

Was passiert, wenn ein Täter nicht nur ein Mal tötet, nicht zwei Mal – sondern immer wieder? Was macht Menschen zu Serienmördern?

Black Box

Der Himmel hängt voller grauer Wolken, die Luft ist feucht, hin und wieder hat es kurz geregnet. Dieser ausklingende 5. Mai des Jahres 2007 ist kein typischer Frühlingstag. Konrad Fricke stört das triste Wetter nicht. Der 52-Jährige fährt nach einem Besuch seiner Eltern in Hildesheim mit dem Wagen den letzten Teil der Wegstrecke über Land zurück in Richtung Bad Wildungen. Die Blase drückt, deshalb steuert er sein Auto kurzentschlossen auf den malerisch gelegenen Parkplatz »Grüner See« im gleichnamigen Naturschutzgebiet an der L 3228 kurz hinter Eiterhagen, einem Ortsteil der beschaulichen Gemeinde Söhrewald im Landkreis Kassel. Als der Mann das Toilettenhäuschen aufsuchen will, bemerkt er einen blauen Opel Corsa. Merkwürdig kommt ihm dabei vor, dass die Fahrertür sperrangelweit offen steht, die Scheibe heruntergekurbelt ist und sich die Person hinter dem Lenkrad nicht bewegt. Konrad Fricke tritt an den Wagen heran – und erstarrt: Auf dem Fahrersitz befindet sich ein Mann, blutverschmiert, wohl am Kopf schwer verletzt, leise röchelnd, nicht ansprechbar.

Um 23.29 Uhr alarmiert Konrad Fricke die Polizei. Eine Viertelstunde später versucht ein Notarzt, das Leben des Corsa-Fahrers zu retten, doch es ist zu spät. Alle Wiederbelebungsmaßnahmen schlagen fehl. Der Unbekannte stirbt noch auf dem Parkplatz.

Eine kurz nach dem Notarzt eingetroffene Streifenwagenbesatzung verschafft sich einen ersten Überblick und gelangt zu dem Schluss, dass es sich nicht um einen Fund- oder Unglücksort handelt, sondern um einen Tatort. Denn das Opfer weist oberhalb des linken Ohres eine Schussverletzung auf, die dem Mann sehr wahrscheinlich aus nächster Nähe beigebracht worden ist. Auch bemerken die Beamten Raucherutensilien im Frontbereich des Wagens. Das Opfer war wohl im Begriff, sich eine Zigarette zu drehen, als der tödliche Schuss fiel. Dass der Mann Suizid begangen haben könnte, bezweifeln die Polizisten, weil weder im Auto noch in der näheren Umgebung eine Waffe zu finden ist. Demnach spricht alles für ein Tötungsdelikt.

Genauso sehen es die Kriminalbeamten der Polizeidirektion Kassel, die nach Mitternacht mit der Tatortaufnahme beginnen und erste Spuren am Wagen und am Opfer selbst sichern. Fündig werden die Spezialisten, als sie nur wenige Meter vom Auto entfernt eine Patronenhülse entdecken. Zu denken gibt ihnen, dass es sich bei dem Tatort um einen überregional bekannten Treff für Homosexuelle handelt. Aber ob dieser Aspekt tatrelevant ist, bleibt zunächst ungewiss.

Nachdem die unaufschiebbare erste Spurensicherung abgeschlossen und der Wagen des Opfers sichergestellt ist, werden alle weiteren Untersuchungen wegen der fortgeschrittenen Zeit und der widrigen Sichtverhältnisse auf den nächsten Tag verschoben.

Allerdings ist bereits eine Großfahndung für den Landkreis Kassel eingeleitet worden. Innerhalb dieser Maßnahme wird gegen 0.20 Uhr etwa einen Kilometer vom Tatort entfernt ein schwarzer Mercedes mit auffällig abgedunkelten Scheiben kontrolliert. Aus dem Führerschein des Fahrers ergeben sich folgende Personalien: Justus Kramer, 41 Jahre alt, wohnhaft in Eiterhagen, einer kleinen Gemeinde etwa fünfzehn Kilometer von Kassel entfernt. Der Mann kann zwar nicht schlüssig erklären, warum er nachts unterwegs ist und wo er hinwill, doch die Beamten lassen ihn schließlich weiterfahren, weil sich in seinem Wagen keine verdächtigen Gegenstände finden und er auch nicht gesucht wird.

Zur Klärung des mysteriösen Verbrechens auf dem Parkplatz setzt die Kripo Kassel eine Mordkommission mit 24 Beamten ein, die am Sonntag ihre Arbeit aufnimmt. Etwa drei Dutzend Schutzmänner der Bereitschaftspolizei suchen das Gelände rund um den Tatort nach Spuren ab. Auch ein Polizeihubschrauber mit einer Wärmebildkamera überfliegt das Gelände am Parkplatz und den nahegelegenen See. Gefunden wird jedoch nichts.

Die Identifizierung des Opfers anhand seines Führerscheins und die Erhellung seiner Lebensumstände gelingen schnell. Bei dem Toten handelt es sich um Harald Huber, einen 43-jährigen Ingenieur, wohnhaft gewesen in Söhrewald. Der Mann hinterlässt eine Ehefrau und zwei Töchter, sieben und neun Jahre alt. Erste Ermittlungen im sozialen Umfeld des Opfers ergeben, dass Harald Huber nur wenige soziale Kontakte pflegte. Bis 2005 war er zwölf Jahre lang regelmäßig im Ausland tätig gewesen, letztmals in Indonesien. Dort hatte er die Instandsetzung von Gebäuden betreut, die durch den Tsunami beschädigt worden waren. Nach seinem krankheitsbedingten Ausscheiden aus der Firma war er arbeitslos. Das Auto, mit dem er zur Tatzeit unterwegs war, hatte er sich von einem Bekannten geliehen, weil sein eigenes in der Werkstatt war.

Nach dem vorläufigen Ergebnis der Obduktion muss davon ausgegangen werden, dass Harald Huber den Folgen der Schussverletzung erlag. In seinem Gehirn haben die Rechtsmediziner ein Projektil vom Kaliber 7,62 gefunden.

Aufgrund der Erkenntnisse von Spurensuche und Obduktion lässt sich der Tathergang grob rekonstruieren: Das Opfer saß im Wagen und ist vom Täter von links angesprochen worden. Als Harald Huber daraufhin die Scheibe herunterkurbelte oder die Fahrertür öffnete, traf ihn die Kugel, die außerhalb des Wagens aus Nahdistanz abgefeuert wurde, an der linken Schläfe knapp über dem Ohr und verletzte ihn tödlich. Der Täter kann demnach nicht auf dem Beifahrersitz gesessen haben. Harald Huber muss arglos gewesen sein, denn er starb, während er sich in aller Ruhe eine Zigarette drehte hat. Wie es dem Täter gelungen ist, das Opfer zu überraschen, bleibt indes unklar.

Den Ermittlern erscheint es unwahrscheinlich, dass es auf dem einsam gelegenen Parkplatz zu vorgerückter Stunde eine zufällige Begegnung zwischen Täter und Opfer gegeben haben könnte, die dann binnen kürzester Zeit einen tödlichen Verlauf genommen hat. Sie vermuten vielmehr, dass Harald Huber in eine Falle gelockt worden ist. Demzufolge gehen sie von einer Beziehungstat aus und konzentrieren ihre Ermittlungen zunächst auf das Umfeld des Getöteten.

In einem späteren Interview sagte die Ehefrau des Täters über ihren Mann: »Ich habe meinen Mann kennengelernt, als mich mein damaliger Freund versetzt hat. Als ich mich nach meinem Freund umgesehen habe, habe ich meinen späteren Mann aus Versehen angerempelt. Da hat er spontan zu mir gesagt: ›Das ist Liebe auf den ersten Blick.‹ Anfangs wollte ich mit ihm gar nichts zu tun haben, er war gar nicht mein Typ. Aber er hat nicht lockergelassen, hat sich bei meiner Freundin meine Adresse und Telefonnummer besorgt und hat immer wieder angerufen. Seine höfliche und charmante Art hat mir aber schon gefallen. Weil ich schlecht allein sein kann, habe ich mich dann doch mit ihm getroffen. Später habe ich mich in ihn verliebt.

Die erste Zeit mit ihm war sehr schwierig, weil er sofort bei mir eingezogen ist, nur mit ein paar Hemden und ein paar Klamotten, sonst nichts. Es ging etwa ein Jahr lang so, dass er auch immer mal einfach weggeblieben ist. Einen Tag, zwei Tage oder auch drei Tage. Da wusste ich nicht, wo er war. Zu der Zeit war ich aber auch schon irgendwie abhängig von ihm und bin, wenn er nicht nach Hause gekommen ist, durch die Straßen gelaufen und hab nach seinem Auto gesucht. Dafür habe ich mich selbst gehasst, aber ich habe es gemacht. Gefunden habe ich ihn bei meinen Suchaktionen nie. Und nach zwei oder drei Tagen tauchte er plötzlich wieder auf und tat so, als ob nichts gewesen wäre. Letztlich war ich aber froh, dass er wieder da war. Hinterfragt habe ich seine Abwesenheiten meistens nicht.

Wenn ich aber mal nachgefragt habe, hat er nichts dazu gesagt, warum er weg gewesen ist. Gar nichts. Er hat auch nicht von früher gesprochen, von seiner ersten Ehe oder von seiner Kindheit oder von seiner Familie. Ich habe ihn aber auch nicht danach gefragt, weil ich damals schon gemerkt habe, dass er es nicht mag, wenn man ihn zu sehr bedrängt. Dann hat er zugemacht und ist ärgerlich geworden. Also habe ich meinen Mund gehalten und bin froh gewesen, dass er wieder zurückgekommen ist.«

Aus den Vernehmungen der Verwandten, Bekannten und Arbeitskollegen des Opfers ergibt sich, dass Harald Huber durchaus beliebt war. Keiner von ihnen kann sich vorstellen, dass der Getötete Beziehungen zu kriminellen Kreisen in Kassel unterhalten haben könnte. Von einer möglichen bisexuellen Neigung hat insbesondere seine Frau nichts bemerkt. Die 39-jährige Sekretärin hat vielmehr betont, es habe keine sexuellen Auffälligkeiten während ihrer Ehe gegeben, und ihr Mann sei auch ein guter Vater gewesen.

Allerdings hat er laut ihrer Aussage nach seinem letzten Auslandsaufenthalt häufig einen deprimierten Eindruck gemacht. Nach dem Ausbruch seiner Krebserkrankung im Jahr 2006 sei er oft mit ihrem Auto ganze Nachmittage und Abende unterwegs gewesen. Wohin, wusste sie nie, weil er nicht darüber sprach. Auch Harald Hubers Vater gibt an, in den letzten Monaten bei seinem Sohn eine Veränderung festgestellt zu haben: »Auf mich wirkte er sehr bekümmert und merkwürdig distanziert.«

Den Tatzeitraum können die Ermittler inzwischen auf knapp zwei Stunden eingrenzen. Der tödliche Schuss muss nach 21.30 Uhr gefallen sein, denn Harald Huber hat zu dieser Zeit noch kurz mit einem Bekannten telefoniert, das letzte Lebenszeichen. Die Schusswaffe wurde auch nach eingehender Suche weder am Tatort noch in der näheren Umgebung gefunden. Entweder besitzt der Täter sie noch, oder er hat sie andernorts entsorgt. Deshalb lässt sich abgesehen vom Kaliber nichts Näheres über die Art der Schusswaffe sagen.

Vor allem aber ist auch weiterhin unklar, warum das Opfer sterben musste. Deshalb untersuchen die Ermittler auch den Computer des Getöteten, in der Hoffnung, dort auf weitere soziale Kontakte zu stoßen.

»Vor zwei Jahren hatte mein Mann so eine Phase, da saß er ständig am Computer, manchmal die ganze Nacht. Und da habe ich mal beim Saubermachen so Zettelchen gefunden, auf denen er sich notiert hatte, wo er mit wem gechattet hat. Zum Beispiel mit einer Frau, der hatte er geschrieben: ›Hab keine Angst vor meinen Gefühlen, ich liebe dich, möchte dich kennenlernen und mit dir Sex haben.‹ Dadurch hab ich mitbekommen, dass er in der Richtung sehr rege war. Ich wusste zwar nicht, ob er sich mal mit jemand getroffen hatte, aber das war mir dann doch zu viel. Das mache ich nicht mit, habe ich gedroht. Und er hat mir dann versprochen, er würde es nicht wieder machen, er liebe mich doch so sehr. Da bin ich wieder weich geworden. Er hat sich aber nicht dran gehalten und war bald wieder im Internet.«

Zweifelsfrei ist Harald Huber kurz vor der Tat aus Richtung Kassel gekommen und auf dem Heimweg gewesen. Unerklärlich bleibt jedoch, warum der Mann nur knapp einen Kilometer vor dem Ortseingang von Söhrewald, seinem Wohnort, noch einmal einen Stopp eingelegt hat. Diesen Umstand halten die Ermittler für tatrelevant.

Doch auch ein Fahndungsaufruf in den Medien bringt die Ermittler nicht weiter. Alle 27 Hinweise führen ins Nichts. Und die große Leerstelle in diesem Fall bleibt weiterhin der Täter.

»Mein Mann ist ein Kavalier der alten Schule, hilft einem in den Mantel, macht einem die Autotür auf und lauter solche Sachen. Das ist bei uns bis zum Schluss so gewesen, da hat er sich auch nicht geändert. Er war immer lieb zu mir. Er hat mir praktisch jeden Wunsch von den Augen abgelesen und jeden Tag tausendmal gesagt, wie sehr er mich liebt und braucht. Er war aber auch oft launisch und humorlos. Das hat mich gestört, weil ich eigentlich ein sehr humorvoller Mensch bin. Er war wenig kontaktfreudig, aber zuverlässig, was mich angeht. Sehr großzügig war er, ab und zu jähzornig; meistens in Situationen, wenn er sich irgendwie in die Enge getrieben fühlte, wenn er gemerkt hat, hoppla, die fragt mich jetzt zu viel nach Dingen, zu denen ich gar nichts sagen will. Dann konnte er auch sehr laut werden, und es flog öfter mal was durch die Luft. Aber das war in den neunzehn Jahren unserer Beziehung nicht mehr als fünfmal der Fall.

Gehasst habe ich es, wenn er gelogen hat; besonders wenn ich das gemerkt habe, und er hat es nicht zugegeben. Und er hat häufig gelogen. Ein Beispiel: Er war immer sehr braun, weil er regelmäßig ins Solarium gegangen ist. Und wenn ich ihn darauf angesprochen habe, hat er gesagt: ›Ich war noch nie in einem Solarium. Meine Haut ist eben so.‹ Das hat mich richtig auf die Palme gebracht.

Meines Erachtens war er auch kaufsüchtig. Er hat immer zu viel von allem gekauft. Zum Schluss besaß er etwa 160 Oberhemden. Und ich weiß nicht, wie viel Paar Jeans. Obwohl ich Jeans überhaupt nicht an ihm mochte, weil er dafür nicht die richtige Figur hatte. Und er trug so viel Schmuck und Kettchen, überall, das war unmöglich.«

Am 17. Mai wird Harald Huber zu Grabe getragen. Der Gemeindepfarrer hält die Trauerrede und spendet den Angehörigen, Freunden und Bekannten des Opfers Trost. Etwa zweihundert Trauergäste sind erschienen, um der Zeremonie beizuwohnen und Abschied zu nehmen. »Wenn die schreckliche Tat aufgeklärt wird, ist das für alle von uns im Ort sehr wichtig«, spricht der Pfarrer vielen aus der Seele. Alle hoffen, dass der Mörder bald dingfest gemacht wird. Denn für sie steht fest: Er ist ein kaltblütiger Killer, dem jede Form von Mitgefühl abgeht.

»Mein Mann wusste ganz genau, dass ich Blumen über alles liebe. Und wenn er mir einen Strauß mitgebracht hat, machte er mir eine große Freude damit. Aber er hat auch immer übertrieben. Er hat dann nicht nur einen Strauß gebracht, er brachte zehn. Er hat mir auch sonst viel geschenkt, teuren Schmuck, aber es war ja meistens von meinem Geld. Als Werbefachfrau habe ich sehr gut verdient, manchmal 10 000 Mark im Monat.

Das Leben mit ihm war größtenteils schön. Es hat mich schon gefreut, wenn wir draußen spazieren gelaufen sind, fast jeden Tag. Wir haben immer Händchen gehalten und wurden von anderen beneidet, vor allen Dingen von Frauen. ›Mensch, hast du einen tollen Mann, der liebt dich ja wirklich, und ihr seid wie frisch verliebt‹, haben viele gesagt. Und dieses Gefühl des Geliebtwerdens, das war wie ein warmer Mantel, in den ich mich einhüllen konnte. Geborgenheit eben, das hat er mir vermittelt; geliebt zu werden. Sonst hatte ich ja niemand, der mich liebhatte. Er war der Einzige, und das war für mich sehr wertvoll.«

Die Mordkommission sucht weiter nach Kontaktpersonen, die Auskunft darüber geben können, mit wem sich Harald Huber zuletzt getroffen und warum er sich am Parkplatz »Grüner See« aufgehalten hat.

Genau um diese zentrale Frage drehen sich die Ermittlungen. Was wollte der Getötete an jenem dunklen Ort, an dem der Mörder wahrscheinlich auf das ahnungslose Opfer gewartet und es kurzerhand erschossen hat? Nach tagelangen Erörterungen und nach Auswertung aller vorhandenen Spuren sehen sich die Kriminalisten in ihrer ersten Annahme bestätigt: Täter und Opfer dürften sich gekannt haben. Dennoch will die Kripo nicht ausschließen, dass der Mord auch von einem Psychopathen verübt worden sein könnte, der die günstige Gelegenheit genutzt und einfach abgedrückt hat. Aus purer Mordlust.

»Im Gegensatz zu mir guckte er sich gerne Gewaltfilme an. Wir haben ja auch zwei Fernseher. Er hat sich die Filme oft im Schlafzimmer angeschaut. Das waren so Sachen, wo wirklich Gewalt vorkam. Es ging ums Töten. Wenn ich mal einen Krimi geguckt hab, dann musste das einen psychologischen Hintergrund haben. Ich habe mir lieber mal Problemfilme oder Liebesfilme angesehen. Aber er schaute liebend gerne harte Thriller an, wo es richtig zur Sache ging.

Er fand das wirklich gut, wenn sehr viele Leute umgebracht wurden, erschossen, erstochen, egal, Hauptsache, es ging blutig zu. Er hat sich auch gerne Horrorfilme angesehen oder so Sachen, wo ständig Leute miteinander kämpfen. Das hasse ich, aber er mochte es. Und wenn dann noch möglichst viel Gewalt oder Brutalität dazukam, war es für ihn besonders schön.«

Knapp zwei Wochen nach der Tat verhaftet die Polizei Justus Kramer, den Mann, dessen schwarzer Mercedes mit den stark getönten Scheiben bereits in der Tatnacht kontrolliert wurde. Denn inzwischen sprechen mehrere Indizien dafür, dass der 41-Jährige Harald Huber ermordet hat: Er konnte in der Tatnacht keinen plausiblen Grund für sein nächtliches Herumstromern nennen; er fährt einen dunklen Wagen, wie ihn mehrere Zeugen – die sich erst viel später bei der Polizei meldeten – kurz nach der Tat in der Nähe des Tatorts gesehen haben; wie ein Abgleich mit der Datenbank des BKA ergab, weisen mehrere auf dem Parkplatz gefundene Zigarettenkippen und ein Papiertaschentuch DNA-Spuren von ihm auf.

Während seiner Vernehmung verstrickt Justus Kramer sich zunehmend in Widersprüche, indem er wiederholt Dinge behauptet, die er kurz darauf zurücknehmen oder anders darstellen muss. Dennoch will er mit der Tat nichts zu tun haben. Vielmehr behauptet der gelernte Fliesenleger, nach einem Streit mit seiner Frau ziellos herumgefahren zu sein und an verschiedenen Stellen geraucht zu haben, so auch am 5. Mai in den späten Abendstunden auf dem Parkplatz »Grüner See«; wann genau er sich dort aufgehalten hat, daran kann er sich angeblich nicht erinnern. Und er behauptet zunächst, nicht zu wissen, dass der Parkplatz ein beliebter Treffpunkt für Homosexuelle ist. Schließlich gibt er jedoch zu, sehr wohl über diesen Umstand informiert gewesen zu sein.