Killerfrauen - Stephan Harbort - E-Book

Killerfrauen E-Book

Stephan Harbort

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Beschreibung

Stephan Harbort erzählt packend beispielhafte Fälle von Serienmörderinnen, analysiert ihre Motive, Hintergründe und Persönlichkeitsprofile: Eine Krankenschwester, die im Namen Gottes Patienten ermordet. Zwei junge Frauen, die ihre Untergebenen in der Drückerkolonne mit Baseballschlägern prügeln und foltern. Eine Eis-Verkäuferin, die ihre Exmänner erschießt. Deutschlands führender Serienmordexperte gibt beklemmende Einblicke in die Abgründe der Seele. Denn Frauen töten anders.

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Stephan Harbort

Killerfrauen

Deutschlands bekanntester Serienmord-Experte klärt auf

Knaur e-books

Über dieses Buch

Stephan Harbort erzählt packend beispielhafte Fälle von Serienmörderinnen, analysiert ihre Motive, Hintergründe und Persönlichkeitsprofile: Eine Krankenschwester, die im Namen Gottes Patienten ermordet. Zwei junge Frauen, die ihre Untergebenen in der Drückerkolonne mit Baseballschlägern prügeln und foltern. Eine Eis-Verkäuferin, die ihre Exmänner erschießt.

Inhaltsübersicht

WidmungVorwortDie SchmetterlingsfrauGefangene PrinzessinDie VenusfalleGemeingefährlichInterview mit einer PatientenmörderinGeboren, um zu sterbenJutta zweiNachwortKriminologie der SerienmörderinLiteratur
[home]

 

 

 

Für Sabine Gantzek und Jochen Croonenbroeck.

Was ich an euch am meisten schätze?

Charakter!

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Vorwort

»Welche Gruft ist finsterer als das Herz!

Welches Gefängnis ist unerbittlicher

als das eigene Ich.«

»Dass es weibliche Serienmörder gibt,

das hat man nicht für möglich gehalten.

Der gefährliche Täter ist ein Mann.«

Schweizerischer Kriminalist

 

 

Todesengel«, »Gifthexe«, »Eismutter«, »Schwarze Witwe«. Diese und andere Spitznamen stehen stellvertretend für ein besonders seltenes, verstörendes, geheimnisumwittertes Phänomen der Kriminalgeschichte: Frauen, die nicht nur einmal töten, nicht zweimal, sondern immer wieder – Serienmörderinnen. Gerade diese Täterinnen unterlaufen tradierte Kriminalitätstheorien und sprengen gesellschaftliche Konventionen, weil sie Ausnahmeerscheinungen sind und ihre Taten auch erfahrene Kriminalexperten mitunter erstaunen.

Denn: Tötungsdelinquenz ist anerkanntermaßen eine Männerdomäne, es gibt beispielsweise keine bzw. kaum Amokläuferinnen, Sexual-, Raub- oder Massenmörderinnen. Die aktuelle »Polizeiliche Kriminalstatistik« des Bundeskriminalamts weist für »Mord und Totschlag« lediglich 12 Prozent »weibliche Tatverdächtige« aus. Und auch beim Serienmord ist das Geschlechterverhältnis nach meinen Untersuchungen unausgewogen – nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konnten hierzulande mindestens 212 Mordserien aufgeklärt werden, allerdings beträgt der Frauenanteil bei den Verurteilten nur 18 Prozent.

Der tödliche Gewalt in jedweder Form ausübende Mann erscheint ubiquitär etabliert und akzeptiert; selbst Mord und Totschlag werden zwar mit Strafe bedroht und entsprechend scharf sanktioniert, doch können wir solche Erscheinungsformen der männlichen Gewaltkriminalität zumindest aus kriminologischer bzw. kriminalpsychologischer Sicht einordnen und nachvollziehen, das ambivalente Verhältnis von Ursache und Wirkung verstehen. Frauen jedoch, die in Serie morden, passen nicht in diese Schablonen, weil sie sich von männlichen Tätern beispielsweise durch andere Motivationen und Tatverhaltensweisen gravierend unterscheiden. Einerseits. Andererseits lassen sich die Motive von Serienmörderinnen nicht ohne weiteres herleiten, weil die näheren Umstände der Taten allein häufig keine ausreichende Grundlage darstellen, um eine abschließende Bewertung vornehmen zu können.

Diese Erkenntnisse führen zwangsläufig zu einer Frage, die als erste gestellt werden muss, will man die nachfolgenden Betrachtungen seriös gestalten: Was ist überhaupt eine »Serienmörderin« (inhaltlich besteht kein Unterschied zum Terminus »Serienmörder«), wie wird dieser Begriff definiert? Seit Jahrzehnten diskutieren insbesondere Kriminalisten, Kriminologen, Psychiater, Psychologen und Soziologen international kontrovers darüber, welche Tatbestandsmerkmale herangezogen werden sollen.

Schon die Anzahl der Taten, die ein Serienmörder verüben muss, um als solcher gelten zu dürfen, ist uneinheitlich. Das Meinungsspektrum variiert von »mindestens zwei« bis »wenigstens zehn« Tötungsdelikte. Vornehmlich soll es sich um einen »Einzeltäter« handeln, gelegentlich wird auch »gemeinschaftliches Handeln« diskutiert. Uneinigkeit besteht ferner bezüglich der Örtlichkeiten, an denen die Verbrechen verübt werden. Mal sollen es in sämtlichen Fällen »unterschiedliche Tatorte« sein, mal sollen diese »innerhalb eines bestimmten bzw. bestimmbaren geographischen Terrains« liegen. Auch die Zeitspanne zwischen den Taten wird differierend definiert. Vorgeschlagen werden beispielsweise »einige Stunden«, »zwei Tage«, »mindestens 72 Stunden« oder »Tage, Wochen, Monate oder Jahre«. Gestritten wird ebenfalls über den motivationalen Hintergrund der Taten: Einerseits sollen sie »motivlos/irrational erscheinen«, andererseits werden »sexuell motivierte Taten« fokussiert. Eine dritte Variante will »politische/finanzielle Beweggründe« ausklammern. Gehäuft wird hingegen die Auffassung vertreten, dass zwischen Täter und Opfer »keine vordeliktische Beziehung« besteht und das Verhalten nach dem Tötungsakt von einer »emotionalen Abkühlungsperiode« geprägt wird.

Besonders relevant erscheint in diesem Kontext die jüngste Definition des Federal Bureau of Investigation (FBI), weil diese Behörde durch zahlreiche Ermittlungen gegen SerienmörderInnen über jahrzehntelange Erfahrung verfügt und auch eigene Forschungsprojekte realisiert. Die FBI-Definition für Serienmord lautet sinngemäß: gesetzwidrige Tötung von zwei oder mehr Opfern durch denselben (oder dieselben) Täter zu verschiedenen Gelegenheiten. Nur darf diese Begriffsbestimmung hierzulande keine Anwendung finden, weil sie nicht immer trennscharf genug ist (zum Beispiel: Wie verhält es sich bei schuldunfähigen Tätern? Wie sind zwei versuchte Tötungsdelikte zu beurteilen? Welche Straftatbestände sind gemeint?) und nicht unbesehen auf unser Justizsystem übertragen werden kann.

Aus diesen Gründen habe ich zu Beginn meiner Untersuchungen vor etwa 20 Jahren eine eigene Definition entwickelt und im Laufe der Zeit erfahrungsbedingt modifiziert. Demnach liegt ein Serienmord vor, wenn der/die voll oder vermindert schuldfähige TäterIn alleinverantwortlich oder gemeinschaftlich mindestens zwei versuchte bzw. vollendete Tötungsdelikte begeht (§§ 211 [Mord], 212 [Totschlag], 213 [minder schwerer Fall des Totschlags] StGB), die jeweils von einem neuen Tatentschluss getragen werden und in keinem inneren Zusammenhang stehen.

Erstmals habe ich das Thema Serientäterinnen in meinem Buch »Wenn Frauen morden« behandelt. »Killerfrauen« indes ist anders: neue Fälle, neue Erfahrungen, neue Zahlen, und auch neue Erkenntnisse – also kein alter Wein in neuen Schläuchen. Ich behandele im vorliegenden Buch nur solche Verbrechen, die sich in der jüngeren Vergangenheit im deutschsprachigen Raum ereignet haben und sämtliche Facetten dieses spektakulären und außergewöhnlichen Deliktsbereichs abbilden. Weil bisher zu Serienmörderinnen in Deutschland (zu) wenig geforscht wurde und die vorliegenden Untersuchungsergebnisse sich lediglich auf hochselektive Stichproben beschränken, habe ich alle Tötungen weiblicher Serientäter betrachtet, die sich hierzulande seit Ende des Zweiten Weltkriegs ereignet haben (Ergebnisse der Studie siehe Anhang »Kriminologie der Serienmörderin« und Nachwort).

Nur deshalb ist es mir gelungen, die wohl wichtigsten Fragen zu beantworten: Wie häufig passiert so etwas? Warum morden Frauen in Serie? Gibt es eine Art Täterinnenprofil? Wie lassen sich Serienmörderinnen typisieren und charakterisieren? Was unterscheidet weibliche von männlichen Serientätern? Unter welchen Umständen töten Frauen, und wie gehen sie dabei vor? Gibt es Tatmuster? Wer sind die Opfer? Und wie lässt sich dieses Gewaltphänomen erklären?

Gerne hätte ich mit sämtlichen Täterinnen, über die ich berichte, auch persönlich gesprochen. Leider war dies nicht immer möglich, weil von Seiten der Behörden Bedenken vorgetragen wurden. So schrieb mir beispielsweise das österreichische Bundesministerium für Justiz im Fall Maria Morata (Kapitel 2): »(…) Frau Morata drängt mittels unterschiedlicher Methoden immer wieder sehr heftig in die öffentlichen Medien und versucht offenbar, diese für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Darunter leidet das Klima der Justizanstalt laut Wahrnehmung der dortigen Anstaltsleitung erheblich. Auch kann nicht ausgeschlossen werden, dass die permanente Medienpräsenz von Frau Morata den therapeutischen Bemühungen zur Deliktbearbeitung entgegenstehen. Von einem möglicherweise wiederum durch Frau Morata medienwirksam verbreiteten Interview sollte daher derzeit Abstand genommen werden.«

Auch hielten Verantwortliche der Justizvollzugsanstalten es mitunter für nicht ratsam, auch nur ein informatorisches Vorgespräch mit der Gefangenen zu befürworten, weil es nach Jahren des therapeutischen Stillstands mittlerweile eine Zusammenarbeit gäbe, die man nicht »gefährden wolle«. Ob ich unter diesen Voraussetzungen bereit wäre, freiwillig auf einen Besuch zu verzichten? Und so kam es, dass Serienmörderinnen, die anfangs nach eigenem Bekunden sehr gerne mit mir gesprochen hätten, plötzlich wankelmütig wurden, sich Bedenkzeit ausbaten und auf weitere Nachfrage mitteilten, ein persönliches Interview auf unbestimmte Zeit verschieben zu wollen.

Aus diesen Gründen musste ich mich in den meisten Fällen auf einen brieflichen Kontakt beschränken. Trotzdem ist es mir durch Ausschöpfen aller sonstigen erreichbaren Quellen gelungen, mich den Täterinnen zu nähern und die angestrebte Erkenntnistiefe zu erlangen. Mit »Killerfrauen« möchte ich Sie nun daran teilhaben lassen.

 

Stephan Harbort

Düsseldorf, im Oktober 2016

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Die Schmetterlingsfrau

»Es wird mir alles zu viel.

Das ganze Leben wird mir zu viel.

Ich weiß nicht, wie mein Leben sein müsste,

dass es mir nicht mehr zu viel würde.

Ist überhaupt etwas in meinem Leben in Ordnung?«

»Wir haben das Bild gesehen.

Dieses frische, unbefangene Gesicht,

diesen vertrauensvollen Blick.

Man kann das, was passiert ist,

kaum für möglich halten.«

»Dieser Schmerz, der kommt jeden Tag.

Das hört nie auf.«

 

 

Ihr Zeigefinger wischt über das Smartphone. Entsperrt. Sie tippt auf die Facebook-App. Facebook ist immer ihre erste Anlaufadresse im Internet. Sie hat einen Account unter dem Namen »Betty Butterfly«. Bürgerlich heißt die junge Frau Jennifer Kramer. Sie ist 29 Jahre alt, geschieden und wohnt seit drei Monaten bei ihrem neuen Freund, einem 32-jährigen Gerüstbauer, den sie in einer Diskothek kennengelernt hat.

Es sind zwei neue Nachrichten eingegangen, aber nur die Nachricht von Roland Becht interessiert sie. Klick. »Hey, Betty, ich hätte diese Woche Zeit. Wollen wir uns treffen? Wann? Wo? Melde dich doch!« Sie kennt Roland nicht persönlich, hat nur einige Male mit ihm telefoniert; anscheinend ein interessanter, sympathischer Kerl, der gerade für sein erstes Buch recherchiert. Roland sucht nach Gesprächspartnern, die ihm in persönlichen Interviews erzählen, was sie offline mit Menschen erlebt haben, die online in ihr Leben getreten sind. Der Arbeitstitel des Buchprojektes lautet »Facebook live!«.

Jennifer hat einige Zeit überlegt, ob sie mit diesem Mann zusammenarbeiten möchte, der im Telefonat sehr umgänglich und charmant ist, über den sie aber sonst nur so viel weiß: 54 Jahre alt, verheiratet, eine 15-jährige Tochter, von Beruf Lektor in einem kleineren Schulbuch-Verlag. Roland passt zwar nicht in ihr Beuteschema, weil er zu alt ist, in einer festen Beziehung lebt und nicht an schnellem Sex interessiert erscheint, dafür hat er ihr aber für jedes Gespräch nicht nur einen Restaurantbesuch, sondern auch jeweils 50 Euro versprochen – Geld, das Jennifer, selbst ohne eigenes Einkommen, dringend benötigt. Also beantwortet sie Rolands Anfrage positiv und schlägt als Treffpunkt ein Chinarestaurant in der Stadtmitte vor.

Drei Tage später sitzt man sich dort gegenüber. Der angehende Buchautor, knapp zwei Meter groß, vollbärtig, durchtrainiert und sichtlich muskulös, beeindruckt Jennifer nicht nur mit seiner Körperlichkeit, er weiß sich auch zu benehmen, hört geduldig zu, unterbricht sie während der Unterhaltung nicht und macht einen bescheidenen Eindruck. Dieser Mann ist Jennifer so sympathisch und schon nach kurzer Zeit so vertraut, dass sie ihm spontan von mehreren Schicksalsschlägen erzählt, die ihr immer noch zu schaffen machen: Binnen nur zweieinhalb Jahren habe sie drei Kinder verloren, berichtet sie – Kevin, der Erstgeborene, sei als Zweijähriger an einem Herzfehler gestorben, Laura, ein Jahr jünger als ihr Bruder, am plötzlichen Kindstod; nur bei Luca, den sie vor sieben Monaten habe beerdigen müssen, sei die Todesursache ungeklärt geblieben. Jennifer klagt darüber, wie sehr sie unter diesen Ereignissen habe leiden müssen und wie unangemessen bzw. ungerecht sie von der Polizei behandelt worden sei.

Dem ersten Treffen folgen in jeweils kurzen Abständen weitere. Im Vordergrund stehen dabei anfangs Belange des von Roland beabsichtigten Buches, Jennifer schildert ihre diversen Facebook-Beziehungen zu Männern, mit denen sie nach kurzer Zeit, häufig schon beim ersten persönlichen Treffen, intim geworden sei; ihre Sexualpartner hätten sich jedoch bald darauf als unzuverlässig, gewalttätig oder pervers erwiesen: »Das waren echte Vollpfosten. Das glaubst du nicht!« Roland ist überrascht, weil Jennifer besonders die sexuelle Seite ihrer Beziehungen wortreich und detailliert herausstreicht, er lässt sich aber nichts anmerken.

Beide kennen sich etwa sechs Wochen, als sie Roland nach Hause einlädt, ihr Freund ist für mehrere Tage auf Montage und kehrt erst am Wochenende zurück. An diesem Nachmittag wird das erste Interview für Rolands Buch geführt und mit einem Diktaphon aufgezeichnet. Jennifer berichtet offenherzig über ihre Surfgewohnheiten im Internet, ihre Erfahrungen mit Singlebörsen, sie schildert aber auch verschiedene Streitigkeiten, die sich aus Online-Beziehungen entwickelt hätten, und sie gibt Roland einige Beispiele, wie schnell man sich im Internet mit einem Mann einig werden könne, wenn allein Sex im Vordergrund stehe und real ausgelebt werden soll. »Das ist so einfach. Voll geil!«

Übergangslos kommt Jennifer auf die Beziehung zu ihrem geschiedenen Mann zu sprechen; der sei wohl in seinem Beruf als Anstreicher sehr fleißig gewesen, dafür habe sie jedoch viel Zeit mit den Kindern verbringen müssen, und zwar allein. In diesem Zusammenhang macht Jennifer erneut das tragische Schicksal ihrer Kinder zum Thema. Besonders der Tod von Kevin sei nur schwer zu verkraften gewesen, sie habe zwar von seinem inoperablen Herzfehler gewusst und darum mit seinem frühen Versterben rechnen müssen, aber nachdem es schließlich passiert sei, habe sie unter schweren Depressionen gelitten und sei auf sich allein gestellt gewesen. Obwohl Roland gerne mehr über die Todesumstände von Kevin erfahren würde, stellt er keine Fragen. Dafür ist es noch zu früh, glaubt er.

Mit der Zeit entwickelt sich zwischen Jennifer und Roland ein Vertrauensverhältnis. Während er vornehmlich über die Probleme mit seiner pubertierenden Tochter und seiner kaufsüchtigen Frau spricht, kreisen Jennifers Erzählungen um ihre freudlose Kindheit, Jugendsünden, Schulversäumnisse, missglückte Männerbeziehungen. Sie schwadroniert über ihre sexuellen Neigungen und Abenteuer, aktuell sei sie online auf der Suche nach einer Frau, die Lust darauf habe, mit ihr und ihrem Mann intim zu werden: »Ein flotter Dreier, das macht mich richtig scharf!«

Während »Facebook live!« in den Gesprächen mehr und mehr in den Hintergrund tritt, beeindruckt Jennifer ihren väterlichen Freund mit neuen Leidensgeschichten: Sie sei als kleines Mädchen über mehrere Jahre hinweg von ihrem Onkel, der später wegen Mordes an einer jungen Frau verurteilt worden sei, sexuell missbraucht worden –»die verdammte Sau!«; ihr bester Freund, mit dem sie sieben Jahre gemeinsam zur Schule gegangen sei, habe sich vor einen Zug geworfen –»warum, hab ich nie kapiert!«; nicht zuletzt sei ihre beste Freundin, zu der sie schon im Kindergarten ein inniges Verhältnis hatte, bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen –»so ein liebes Mädchen!«.

Roland ist für Jennifer trotz seiner positiven Ausstrahlung und sexuellen Attraktivität kein Mann, mit dem sie intim werden möchte, ihr geht es in dieser Beziehung in erster Linie um gegenseitiges Vertrauen, Ehrlichkeit, Offenheit, Verständnis – beide verbindet nach ihrem Empfinden eben nicht nur eine Freundschaft, sondern so etwas wie eine Seelenverwandtschaft. Und darum hat sie auch keine Scheu, sich Roland in jeder Lebenslage zu offenbaren und Dinge anzusprechen, die sie sonst niemandem anvertrauen würde, selbst der eigenen Mutter nicht. Der plötzliche Tod ihrer Kinder ist so ein Thema, über das sie nur mit Roland spricht, besonders die aus ihrer Sicht überzogenen und haltlosen Verdächtigungen der Polizei empören sie noch immer.

Als sie anlässlich ihres 30. Geburtstags mittags in einem Biergarten zusammensitzen, spricht Jennifer aus, was sie so sehr frustriert. »Diese Fuzzis glauben doch immer noch, ich hätte nicht nur Luca umgebracht. Kevin und Laura auch!« Das sei aber nicht wahr, versichert sie, außerdem könne man ihr nichts beweisen, weil die Todesursachen doch feststehen würden, zumindest bei Kevin und Laura. Roland fragt nach. »Und wie war das bei Luca?« In diesem Fall, antwortet Jennifer, habe sie mittlerweile einen Verdacht, was und wie es passiert sein könnte: Der Junge habe wohl eine Tablette für erwachsene Herzpatienten eingenommen, wahrscheinlich versehentlich, jedenfalls sei ihr Schwiegervater zu dieser Zeit erkrankt gewesen und habe über entsprechende Medikamente verfügt; Luca müsse also, dahin geht ihre Vermutung, bei einem der häufigen Besuche des Großvaters eine dort auf den Fußboden heruntergefallene Tablette unbemerkt aufgenommen und geschluckt haben, nur so könne sie sich seinen Tod erklären.

Wenn Jennifer über das Schicksal ihrer Kinder spricht, vermittelt sie Roland nicht den Eindruck, emotional besonders betroffen zu sein, ihre Schilderungen sind meist kontrolliert, sachlich, neutral, eher abstrakt. Zumindest äußerlich gibt sich Jennifer unbeeindruckt, vielleicht ist sie zu Gefühlsregungen oder Trauer noch nicht bereit oder fähig, überlegt Roland; sie jetzt bedrängen oder in eine bestimmte Richtung lenken zu wollen, wäre aus seiner Sicht gewiss der falsche Weg. Es braucht seine Zeit.

Drei Monate später. Als sie nach einem Spaziergang noch die Gräber der Kinder besuchen, zeigt Jennifer unvermittelt jene Gefühle, die sie in Rolands Gegenwart bislang unterdrückt hat: Sie hockt sich neben das Grab von Laura, starrt minutenlang gedankenverloren auf die Blumen, die sie vor dem Grabstein abgelegt hat, und beginnt bitterlich zu weinen. Doch nur wenige Augenblicke später reibt sie sich die Tränen aus den Augen, richtet sich auf und flucht lauthals: »Diese Scheißbullen, die glauben doch heute noch, dass ich mit dem Tod meiner Kinder was zu tun habe. Mit dem Tod meiner eigenen Kinder! Ich könnte diesen Fuzzis stundenlang in die Fresse hauen!«

Während der nächsten Tage und Wochen beschränken sich die Gespräche zwischen Jennifer und Roland auf alltägliche Dinge und sein Buch. Erst ein konkreter Anlass rückt den Tod der Kinder wieder in den Vordergrund. Jennifer und Roland sitzen in einem Café, als sie ihm aufgekratzt berichtet, die Polizei habe den Mörder von Luca endlich gefasst! Und die Geschichte geht so: Der Junge sei am Todestag bei seinem Vater zu Besuch gewesen, später habe er, der Vater, ihn zu einem Bekannten mitgenommen. Und ebendieser Mann sei es gewesen, der Luca die tödlich wirkende Tablette verabreicht habe. Nachdem sie diese Informationen erst vor wenigen Wochen, nämlich nach ihrer letzten Begegnung mit Roland, von einem anderen Bekannten mitgeteilt bekommen habe, sei sie kurz entschlossen und wutentbrannt zur Wohnung des Täters gefahren und sofort mit einem Küchenmesser auf ihn losgegangen: »Die feige Ratte ist über die Terrasse abgehauen, die Bullen haben den Typen aber mit zwei Panzern und drei Autos gejagt und einkassiert!« Der Täter heiße Michael, habe sich widerstandslos abführen lassen und zugegeben, Luca getötet zu haben.

Roland bezweifelt zwar den Wahrheitsgehalt dieser bizarr anmutenden Schilderung, doch er gibt sich weiterhin gutgläubig und lässt Jennifer gewähren, wieder einmal; überhaupt beurteilt er die Sachlage eher positiv –»Jennifer, hör mir jetzt bitte genau zu!« –, denn nun müsse sie nicht länger befürchten, von der Polizei nochmals behelligt zu werden, weil der Mörder überführt sei und mit einer langen Haftstrafe zu rechnen habe. Rolands Schlussfolgerung zeigt Wirkung. Nach diesem Gespräch wird Jennifer ein Jahr lang ihre Kinder und die Umstände ihres Todes nicht mehr erwähnen. Die Ereignisse werden totgeschwiegen.

Dafür macht Roland über Monate hinweg gelegentlich Andeutungen, auch ihn quäle seit vielen Jahren die Erinnerung an eine Begebenheit, über die er sich noch mit keinem Menschen ausgetauscht habe. Niemand wisse von der Sache, aber nun sei es wohl an der Zeit, endlich reinen Tisch zu machen, er spiele mit dem Gedanken, sich der Polizei gegenüber zu offenbaren und die Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen.

Jedes Mal, wenn Roland auf dieses heikle Thema zu sprechen kommt, zeigt Jennifer sich sehr interessiert, sie stellt unverblümt unangenehme Fragen und bedrängt Roland, sich zu öffnen: »Du weißt, dass du mir vertrauen kannst. Komm schon, was ist passiert? Sag es mir!« Aber Roland will nicht, noch nicht, vielleicht überhaupt nicht, jedenfalls schweigt er lieber.

Erst nach anderthalb Jahren rückt Roland bei einem Abendessen schließlich doch mit der Wahrheit heraus. Er habe schon seit Kindertagen ein belastetes Verhältnis zu seiner zwei Jahre älteren Schwester gehabt, erzählt er sichtlich bewegt und mit belegter Stimme. Beinahe täglich sei es zu Auseinandersetzungen zwischen ihnen gekommen, manchmal habe er sie sogar geschlagen. Als er 21 gewesen sei, habe er mit seiner Schwester eine Radtour unternommen, weil sie sich zu dieser Zeit überraschend gut verstanden hätten.

Und dabei sei es passiert. Den Grund für ihren Streit wisse er heute nicht mehr, dafür würden ihm bestimmte Bilder nicht mehr aus dem Kopf gehen: wie er auf seine Schwester einprügelt, das Blut in ihrem Gesicht, wie er sie würgt, ihr verzweifelter Todeskampf, die gebrochenen Augen. Nach der Tat habe er die Leiche im Wald vergraben. Seitdem gelte seine Schwester als vermisst. Er sei von der Kripo zwar mehrmals befragt worden, allerdings habe man ihm nichts nachweisen können.

»Das ist ja der Hammer, alle Achtung!« Jennifer ist überrascht, und auch ein wenig verunsichert. Denn sie hat »Seele«, so nennt sie Roland seit einiger Zeit in E-Mails, SMS und Briefen, ganz anders eingeschätzt. Ein Teddybär-Typ. Harmlos. Nun kommen ihr doch Bedenken. Ein Hauch von Angst umschmeichelt sie. Fragen tun sich auf. Bin ich jetzt in Gefahr, weil ich sein Geheimnis kenne? Was macht der, falls wir uns mal streiten? Was will der wirklich von mir?

Jennifer zweifelt an der Seriosität, Integrität und Autorität ihres Freundes. In der nächsten Zeit hält sie sich merklich zurück und vermeidet sogar den persönlichen Kontakt. Funkstille. Doch schon nach wenigen Wochen intensiviert sie die Beziehung wieder, weil sie Rolands Geständnis letztlich als immensen Vertrauensbeweis bewertet hat. Deshalb wird bei ihrem nächsten Treffen die Tötung der Schwester zum zentralen Gesprächsthema; und wie sie so lebhaft über das Für und Wider eines Geständnisses diskutieren, deutet Jennifer spontan an, auch sie hüte ein dunkles Geheimnis: »Demnächst erzähle ich dir ein Ding, das haut dich aus den Socken!«

Es vergehen noch dreieinhalb Wochen, bis Jennifer ihr Versprechen einlöst. Sie erzählt Roland, ihre Tochter Laura sei entgegen ihrer bisherigen Aussagen Opfer eines Verbrechens geworden. Die anlässlich der Obduktion festgestellte Todesursache (»plötzlicher Kindstod«) sei unzutreffend, in Wahrheit habe ein Mann Laura getötet, der ihr, Jennifer, zwar nahestehe, von dem sie aber umgebracht werde, sollte sie ihn bei der Polizei verraten: »Und der Typ macht das, der ist total durchgeknallt. Das ist ein Wahnsinniger!«

»Um Himmels willen, Jennifer! Erzähl doch mal! Was genau ist passiert? Das muss für dich doch schrecklich gewesen sein!« Jemand habe Laura mit einem Kissen die Luft abgedrückt, antwortet Jennifer tonlos, wahrscheinlich deshalb, weil ihre Tochter wieder einmal geschrien habe und der Täter deswegen aufgebracht gewesen sei. Roland verdächtigt spontan den Vater des Kindes. Die Antwort darauf ist ein heftiges Kopfnicken.

Allerdings zeigt Jennifer für den Mörder ihrer Tochter durchaus Verständnis, weil Laura eben ein quirliges, lebendiges und auf den Vater fixiertes Kind gewesen sei: »Die saß stundenlang vor der Tür und hat so lange geheult, bis der Papa zurück war.« Laura habe sich auch sonst nicht still verhalten können, sie, Jennifer, habe sich während der Abwesenheit des Vaters ständig um ihre Tochter kümmern müssen, weil Laura beispielsweise Hunger gehabt habe, ihr der Schnuller aus dem Mund gefallen sei oder sie sich in die Hosen gemacht habe. »Irgendwas war immer. Nervig! Schrecklich!«

Lauras Mörder soll unbehelligt bleiben? Während Roland das angestrengte Mutter-Kind-Verhältnis unkommentiert lässt, versucht er Jennifer zu ermuntern, diese himmelschreiende Ungerechtigkeit dadurch aus der Welt zu schaffen, indem sie ihren Ex-Mann bei der Polizei anzeigt. Das sei keine gute Idee, entgegnet Jennifer entrüstet, denn einerseits müsse sie in diesem Fall lebenslang einen Racheakt befürchten, und andererseits könne sie aktuell nicht noch mehr Stress aushalten: »Langsam reicht es. Ich habe die Schnauze voll. Das ist doch kein Leben!«

Jennifer ist zornig und enttäuscht zugleich, sie empfindet Rolands Vorschlag als eklatanten Vertrauensbruch. Kurz darauf verlässt sie missmutig das Lokal, ohne sich vorher mit Roland ausgesprochen zu haben. Während der folgenden Tage und Wochen beschränkt sich der beiderseitige Kontakt auf belanglose E-Mails und halbherzige Telefonate.

Erst als Roland ihr signalisiert, sein Vorschlag müsse nicht zwingend realisiert werden, und er obendrein versichert, nichts ohne Jennifers Zustimmung unternehmen zu wollen, kehrt die ursprüngliche Vertrautheit wieder zurück. Nur einige Tage später schreibt Jennifer eine alarmierende SMS an Roland. »Ich muss dich morgen unbedingt treffen!«, heißt es darin. »Ich muss mit dir reden! Ich halte es sonst nicht mehr aus! Ich habe das Gefühl, sonst zu ersticken! Ich muss dir unbedingt etwas sagen!«

Man trifft sich in einem Biergarten. Nachdem sie längere Zeit lebhaft und kontrovers über ihr Dauerthema Vertrauen und Vertrauensmissbrauch diskutiert haben, fragt Jennifer ihren Freund »Seele« unvermittelt, ob sie ihm vertrauen könne –»Ich meine, so richtig!« Roland: »Das weißt du doch, mir kannst du alles sagen. Glaubst du denn im Ernst, ich hätte dir etwas vom Tod meiner Schwester erzählt, wenn ich dir nicht zu hundert Prozent vertrauen würde?« Ein kurzer Moment des Schweigens. Ihre Blicke treffen sich. Lautes Nachdenken.

»Ich habe nach unseren letzten Treffen viel überlegt und viel durchgemacht«, sagt Jennifer in die beklemmende Stille hinein, »weil ich meine Kinder verloren habe. Es ist verdammt hart, nichts von den Kindern zu haben!« Sie denke seit vier Jahren ohne Unterlass an Kevin, Laura und Luca und bedauere ihren Tod. Sehr belastend für sie sei auch, immer noch von der Polizei verdächtigt zu werden. Erst kürzlich habe sie eine Vorladung zur Vernehmung erhalten: »Mein Anwalt hat mir aber gesagt, ich müsste da nicht hingehen. Das hat mich wieder total genervt. Immer die Bullen an den Hacken, das macht keinen Spaß!«

Einige Herzschläge später konfrontiert Jennifer »Seele« überraschend mit einem Geständnis. Es geht um Kevin. Der Junge sei doch nicht an einem Herzfehler gestorben, sondern sie selbst habe ihn mit einem Kissen erstickt. »Ist mir nicht leichtgefallen, das musst du mir glauben. Aber es musste sein!« Allerdings habe sie mit der Tötung Kevins unvermeidliches Schicksal lediglich vorverlegt: »Der arme Kerl hatte wirklich einen Herzfehler. Der wäre daran sowieso gestorben. Ich habe ihn doch nur erlöst!«

Roland schaut Jennifer eine Zeitlang unschlüssig an. Erst danach findet er die richtigen Worte: »Ich kann dich verstehen, das muss dir unglaublich schwergefallen sein. Wenn ich mir vorstelle, ich müsste meine Tochter auf diese Weise von ihrem Leid befreien – Wahnsinn! Ich weiß nicht, ob ich damit leben könnte.« Jennifer schaut eine Weile an Roland vorbei, offenkundig fällt es ihr schwer, Details der Tötung preiszugeben, sich zu bekennen, reinen Tisch zu machen. »Wie ist das denn passiert?« Roland hat seine lange geübte Zurückhaltung nun aufgegeben.

Jennifer zögert einen Moment lang, bevor sie antwortet. »Der wäre doch sowieso nicht älter als zwei Jahre geworden«, sagt sie ungerührt, »und irgendwann habe ich gedacht, das muss jetzt ein Ende haben.« Die Tötung sei eben notwendig gewesen, denn sie habe nicht miterleben wollen, wie Kevin im Krankenhaus gestorben wäre. »Was ist denn normal daran, wenn man daneben sitzt und weiß, der stirbt jetzt jeden Moment, und man kann nichts machen? Das ist doch alles Scheiße!«

Während Jennifer beschreibt, wie sie in das Zimmer ihres Sohnes gegangen sei, ihm ein Kissen über das Gesicht gelegt, zugedrückt und nicht mehr losgelassen habe, bis erst nach mehreren Minuten der Tod eingetreten sei, wird sie immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelt. Jennifer räumt zwar ein, ihr Handeln sei in diesem Moment zweifellos egoistisch gewesen, allerdings habe sie sich dabei so geschickt angestellt, dass selbst die Ärzte und die Polizei angenommen hätten, Kevins Tod sei auf seinen Herzfehler zurückzuführen. »Aber ich hatte meine Finger im Spiel!«, bekennt sie süffisant. Obwohl Jennifer gerade zugegeben hat, ihren Sohn Kevin vorsätzlich getötet zu haben, nimmt Roland die Mörderin in den Arm und tröstet sie. Alles wird gut.

»Hallo, Seele, ich bin dir so dankbar«, schreibt Jennifer tags darauf in einer E-Mail, »dass du mir zugehört hast. Ich bin selbst erstaunt, dass ich dir die Sache erzählt habe. Besonders an den Geburtstagen und Todestagen der Kinder und zu Weihnachten kommt immer wieder alles hoch. Danke für dein Vertrauen! Es ist ein tolles Gefühl, zu wissen, dass da jemand ist ☺ ☺ ☺.« Roland antwortet sehr zeitnah und stellt nur eine Frage: »Was ist mit Luca? Warst du das auch?« Jennifers Antwort ist genauso kurz wie unmissverständlich: »NEIN!!!«

Das Wissen um den gewaltsamen Tod zweier Kinder belastet Roland zusehends. Er spielt ernsthaft mit dem Gedanken, die freundschaftliche Beziehung zu Jennifer abzubrechen. Nur lässt ihn das Schicksal der Kinder nicht mehr zur Ruhe kommen, er sieht sich ihnen mittlerweile verpflichtet, möchte mehr über die Umstände ihres Todes erfahren – die volle Wahrheit. Nachdem er während eines dreiwöchigen Italienurlaubs ein wenig Abstand gewonnen hat, verabredet er sich kurz nach seiner Rückkehr mit Jennifer. Es soll ihre letzte Begegnung werden.

Der Showdown findet in Jennifers Wohnung statt. Roland ist anfangs eher mussmutig und erzählt, während seines Urlaubs lange über die Tötung seiner Schwester nachgedacht zu haben, nun spiele er ernsthaft mit dem Gedanken, die Sache zu Ende zu bringen und sich der Polizei zu stellen. »Wie kannst du dir nur so sicher sein, dass die Bullen dir nichts werden nachweisen können?«, fragt er Jennifer schließlich.

Verwundert und auch ein wenig verärgert darüber, dass ihr Freund sich abermals so wankelmütig zeigt, antwortet sie entschlossen: »Ich werde den Teufel tun und zur Polizei gehen, denen sagen, dass ich es war. Das kommt gar nicht in die Tüte!« Sie sei zwar sehr davon überzeugt, ungeschoren davonzukommen, aber sie habe im umgekehrten Fall keine Angst: »Und wenn die Bullen meinen, mich noch 30 Jahre verfolgen zu müssen, dann sollen sie das doch tun, dann sollen sie mich halt irgendwann holen kommen! Ist mir scheißegal!«

Roland ist sprachlos: so viel Kaltschnäuzigkeit, so viel Kaltblütigkeit, so viel Kaltherzigkeit! Er fröstelt innerlich. Derweil redet Jennifer sich in Rage. »Die wissen doch genau, dass ich es war, aber die können mir nichts beweisen! Und das liegt daran, dass ich so clever war, dass ich so geschickt gewesen bin!« Ein Abgrund tut sich vor Roland auf. Nun spricht eine von sich überzeugte Serienmörderin zu ihm, die auch noch stolz auf ihre Untaten ist. Überhaupt wirkt Jennifer an diesem Tag besonders abstoßend auf ihn – wie ein Mensch, der keine Rücksicht nimmt, wie jemand, der nur sich selbst im Sinn hat: Ich bin die Welt! Roland ist fassungslos.

Doch es kommt noch schlimmer. Jennifer brüstet sich förmlich mit ihren Taten. »Die Bullen wissen schon, was los ist, die machen ihren Job lange genug, die haben einen Blick dafür, was falsch ist und was richtig.« Die Mordkommission habe die Wahrheit doch längst herausgefunden, ihr dies in verschiedenen Vernehmungen sogar auf den Kopf zugesagt, denn: »Die haben den doch richtig auseinandergenommen.« Jennifer meint damit die Obduktion eines ihrer Söhne, sie lässt aber offen, auf welches Kind sie sich bezieht.

»Die roten Pünktchen im Gesicht, die man auch in den Augen findet, wenn jemand erstickt wird!« Sie habe eben gewusst, erklärt Jennifer mit leuchtenden Augen, dass sie mit dem Kissen nicht zu lange habe zudrücken dürfen, um keinen Verdacht zu erregen. »Deshalb habe ich es auch nicht mit einem Handtuch oder mit den Händen gemacht. Die roten Pünktchen in den Augen haben gefehlt. Nur wenn ich viel länger zugedrückt hätte, wäre es gefährlich geworden, erst dann hätten die mir was gekonnt!« Roland hat genug gehört, er kann und will sich der widerwärtigen Selbstinszenierung dieser Frau nicht länger aussetzen, seine Leidensfähigkeit hat sich erschöpft. Der Vorhang fällt. Wortlos verabschiedet er sich von Jennifer.

Für Roland ist nun alles klar, es wird kein Wiedersehen mit Jennifer mehr geben.

 

Zwei Tage später bekommt Jennifer Kramer überraschend unliebsamen Besuch. Alte Bekannte klingeln und klopfen an ihrer Wohnungstür. Die Kriminalbeamten sind kurz angebunden und legen der jetzt des dreifachen Mordes Beschuldigten einen Haftbefehl vor, angeregt vom Leiter der Mordkommission, beantragt von einem Staatsanwalt, erlassen von einem Ermittlungsrichter.

Jennifer Kramer kann kaum glauben, was da geschrieben steht. Denn es geht nicht nur um sie und die ihr zur Last gelegten Verbrechen, sondern auch um Roland. Der soll nämlich gar kein Lektor sein, der für ein Buchprojekt recherchiert –»Roland« ist ein verdeckter Ermittler des Landeskriminalamts, der sie unter der Legende des vertrauenswürdigen Verlagsmitarbeiters, ambitionierten Autors und treusorgenden Familienvaters mit dunkler Vergangenheit ausspioniert, ausgetrickst und zu drei Mordgeständnissen verleitet hat, die während ihrer gemeinsamen Treffen heimlich aufgezeichnet worden sind.

Zwei Stunden nach ihrer Verhaftung sitzt Jennifer Kramer im Polizeipräsidium zwei Kriminalbeamten gegenüber. Die eher kleinwüchsige, pummelige, gedrungen wirkende Frau trägt ihre schulterlangen, blondgefärbten Haare glatt gekämmt, ihr pausbäckiges Gesicht verbirgt sie hinter fleischigen, auffällig tätowierten Händen. Die Beschuldigte schluchzt leise. Obwohl sie einen verzweifelten Eindruck macht, ist die Serienmord-Verdächtige erstaunlicherweise aussagewillig, auch ohne vorher mit ihrem Anwalt gesprochen zu haben oder auf dessen Anwesenheit zu bestehen.

»Ist es für Sie nicht eine Erleichterung, endlich über die Taten sprechen zu können?« Mit dieser Frage leitet einer der Kriminalbeamten die Vernehmung ein.

Jennifer Kramer schaut die Ermittler unverwandt an, sie tut unbeteiligt, antwortet nicht, sondern stellt ihrerseits eine Frage.

»Der Roland ist gar kein Lektor? Stimmt das?«

»Das stimmt so.«

»Und der arbeitet auch nicht bei einem Verlag?«

»Nein, das tut er nicht.«

»Also hat der mich von Anfang an verarscht?«

»Er hat seinen Job gemacht.«

»Ich möchte mit Roland sprechen!«

»Das geht nicht.«

»Warum nicht?«

»Das geht Sie nichts an.«

Jennifer Kramer realisiert erst jetzt, dass »Roland« tatsächlich nur Teil einer Inszenierung gewesen ist, den netten Kerl, an den sie sich angelehnt, dem sie sich anvertraut, den sie für einen väterlichen Freund gehalten hat, gar einen Seelenverwandten, den gibt es nicht. »Seele« ist ab sofort für sie nur noch Hauptdarsteller in einer alptraumhaften Erinnerung, die sie ihr Leben lang heimsuchen wird. Jennifer Kramer weint.

Nachdem man die Beschuldigte einige Augenblicke hat gewähren lassen, ist es schließlich der Leiter der Mordkommission, der damit beginnt, unbequeme Fragen zu stellen. Denn er ist es gewesen, der in all den Jahren des Misserfolgs nicht lockerließ, der seine Mitarbeiter immer wieder aufs Neue motivierte, der die brillante Idee entwickelte, auf Jennifer Kramer einen verdeckten Ermittler anzusetzen. Auch er hat gelitten.

»Hat es Ihnen Spaß gemacht, die Kinder umzubringen?«

Jennifer Kramer würdigt ihren Widersacher keines Blickes. Sie gibt auch keine Antwort. Eisiges Schweigen.

»Wie ist denn so ein Tötungsvorgang abgegangen?«

Jennifer Kramer wird es zu viel. »Mit Ihnen rede ich kein Wort!« Dabei bleibt sie.

Die Vernehmung wird daraufhin unterbrochen. Jennifer Kramer signalisiert erst wieder Gesprächsbereitschaft, nachdem der Leiter der Mordkommission den Vernehmungsraum verlassen hat und durch einen Kollegen ersetzt wird. Damit ist das Eis gebrochen. In den folgenden Stunden und Tagen gesteht Jennifer Kramer schließlich, ihre Kinder Kevin, Laura und Luca jeweils mit einem Kissen erstickt zu haben. Einen direkten Tötungsvorsatz bestreitet sie aber, vielmehr seien die äußeren Umstände ausschlaggebend gewesen: »Man kann sagen, dass mir alles zu viel geworden ist. Ich war ja auch so allein.«

Jennifer Kramers Geständnis, auch wenn es noch viele Fragen offen lässt, ist für die Kripo ein beachtlicher Erfolg, mehrere Jahre lang ist man der Frau auf der Spur gewesen, ohne ihr die Morde gerichtsfest nachweisen zu können. In der letzten Zeit musste sogar befürchtet werden, die Verdächtige könnte ungestraft davonkommen; eine kaltblütige, gewissenlose Serienmörderin auf freiem Fuß, die mit hoher Wahrscheinlichkeit sehenden Auges wieder töten würde, sollte sie es für geboten halten – ein kriminalistischer Alptraum.

Ein Alptraum, der knapp fünf Jahre zuvor seinen Anfang genommen hatte, als Kevin von seinem Vater frühmorgens leblos in seinem Bettchen gefunden wurde. Dem Notarzt gelang es zwar noch, den Jungen zu reanimieren, doch die anschließende intensivmedizinische Betreuung in einer Kinderklinik verlief letztlich erfolglos.

Die Kinderärzte nahmen an, Kevin sei am SIDS(Sudden infant death syndrome)