Ausgekocht - Marion Schmid - E-Book

Ausgekocht E-Book

Marion Schmid

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Beschreibung

Ein bissiger, witziger und makabrer Roman über eine kuriose Hausgemeinschaft, hinter deren kultureller und sozialer Fassade sich niedrigste Instinkte austoben. Paula, nach langer Zeit im Ausland zurück, pachtet einen Zeitungsladen in Berlin-Neukölln, der sich besonders bei den Bewohnern des Hauses großen Zuspruchs erfreut: zwei erfolglose Maler, ein Küchenphilosoph, eine vegane Hebamme, eine perfekte Witwe, ein Psalme rezitierender Trinker und Jolande, eine Metzgerstochter, die mit arbeitslosen Jugendlichen eine Suppenküche für Arme betreibt. Diese filmreife Idylle bricht zusammen, als eine blonde Spanierin tot unter der Feuerleiter im Hinterhof liegt. Kaum dass der ermittelnde Kommissar auftaucht, hagelt es von allen Seiten gegenseitige Verdächtigungen. Und als dann noch die schöne, taubstumme Polin, von allen Männern verehrt, plötzlich verschwunden ist, liegen die Nerven blank. Waren es Drogen? Oder Eifersucht? Fixolotl Killover, ein Jugendlicher aus der Suppenküche, kommt der Wahrheit gefährlich nahe…

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EPUB

Seitenzahl: 341

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©2019 by : TRANSIT Buchverlag

Postfach 121111 | 10605 Berlin

www.transit-verlag.de

Umschlaggestaltung und Layout: Gudrun FröbaDruck und Bindung: CPI Group, DeutschlandeISBN 978-3-88747-356-3

Marion Schmid

AUSGEKOCHT

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

1

Metzgerstöchter sind halt so. Wozu sollen die schön sein? An diesem Tag aber wollte sie es sein, mehr denn je. Dass er ihren Geburtstag vergessen hatte – geschenkt. Kleinlich war sie auf keinen Fall. Nur ein bisschen geliebt wollte sie werden, verdammt noch mal. Immerhin war es ihr Geburtstag.

Sie hatte geplant, ihn zu überraschen, mit einem von den Erzeugnissen der Schönheitsindustrie halbwegs geglätteten Körper, einem Teint, der mit etwas Glück wenigstens halb so makellos war, wie es der Hersteller versprach. Stundenlang arbeitete sie an sich. Und an einer kräftigenden Suppe, für den Fall, dass alles andere doch nicht half. Ihre Suppen aß er gern, darauf verstand sie sich wie keine zweite. Sowas können Metzgerstöchter.

Wie eine Geisha die Schälchen mit Tee trug sie die Suppe vor sich her. Der Kimono öffnete sich bei jedem Schritt. Vielleicht sah das alles in allem ja doch verführerisch aus?

Dann ein Seufzer. Nein, der kam nicht von ihr. Dazu war er zu lustvoll. Und die Tür zum Schlafzimmer war geschlossen. Ob er jetzt wirklich so weit ging? Sich mit seinen Gespielinnen dort zu vergnügen, wo doch eigentlich sie selbst liegen müsste? Nicht, dass so etwas zum ersten Mal geschah. Aber hier, in dem Haus, das sie mit ihm teilte, in dem Bett, das auch ihres war?

Die Tür aufreißen, mit den Suppenschälchen nach den beiden schmeißen, der Inhalt fast noch kochend heiß – nein, das nicht. Sie bückte sich, um die Schälchen abzustellen. Sah dabei ihre haarigen, stämmigen Beine, die breit getretenen Füße. Klar, eine Metzgerstochter.

Schamröte legte sich über ihr Gesicht. Dann brachte Wut einen helleren Schimmer auf ihre Haut. Jetzt reichte es. Was bildete der Kerl sich überhaupt ein? Metzgerstöchter können auch anders.

In Jeans, Jacke und Pullover stieg sie in den Wagen. Trübmatschiger Februar lag über den Straßen Neuköllns. Sie fuhr los, wusste nicht wohin, nicht ein noch aus. So viel Wut, so viel Scham.

Dann fiel ihr jemand ein, ein Freund des Hauses. Einer, der gerne redete, für alles Verständnis hatte. Und wer weiß, vielleicht wartete er nur darauf, verführt zu werden? Von ihr, ja, von ihr. Von der Metzgerstochter.

Er verließ gerade das Haus, als sie anhielt.

»Wolltest du zu mir? Na, da hast du aber Glück!« Er wedelte mit einem Briefumschlag. »Der muss zur Post, dringender Auftrag.«

Sie forderte ihn auf einzusteigen. Sie roch, dass er nicht nüchtern war. Konnte sich das gut oder schlecht auf ihre Pläne auswirken? Der Briefkasten war nicht weit. Als er sich wieder neben sie setzte, hatte sie den Motor ausgeschaltet. Ob ihr Augenaufschlag halbwegs verführerisch war?

Etwas schien er doch zu bemerken. »Wie guckst du denn?« Er lachte.

Sie nahm all ihren Mut zusammen und beugte sich zu ihm. »Küss mich doch mal, ich hab heut Geburtstag!«

Er roch nach Bier – und anscheinend auch gleich den Braten. »Klar, ein Küsschen unter Freunden!« Er schmatzte auf ihre Backe.

»Könnten wir zu dir gehen?«

Er sah sie fassungslos an. »Du und ich? Na, hör mal, wie kommst du denn auf so eine Schnapsidee!« Er rettete sich in Gelächter. »Lass uns lieber irgendwo noch was trinken. Auf dein Wohl natürlich.«

Gleich darauf schnurrte der Motor wieder, sie saß wie versteinert am Lenkrad. Wieder hochrot im Gesicht.

Er redete neben ihr, wortreich wie immer. Sie fuhr deutlich schneller als erlaubt. Sie sah sich selbst dabei – hässlich, zu stark behaart, nicht mehr die Jüngste. Eine, die keiner wollte. Wozu strengte sie sich eigentlich immer so an? Wenn sie doch keine Chance hatte? Wieso nicht einfach so sein, wie die anderen sie sahen? Plump, hässlich, dumm.

Nein – dumm, das nicht. Aber sollten sie das ruhig glauben. Und in Wirklichkeit – hässlich auch Innen, so richtig gemein, ein haariges, gerissenes Biest, das sich nichts mehr gefallen ließ. Ob das eine Lösung wäre?

»So langsam hab ich wirklich Durst«, machte er auf sich aufmerksam. »Fahr doch nach Kreuzberg rüber, da ist auch jetzt noch was los.«

Sie fuhr gerade an der Hasenheide vorbei, aus einer trüb beleuchteten Teestube quoll eine Männertraube. Ansonsten winterstarres Gebüsch und Reste von Schnee. Ein Schemen witschte von rechts aus dem Park, genau auf die Straße. Sie bremste, etwas schlug dumpf gegen den Wagen.

Noch lauter als der Motor tuckerte ihr Herz.

»Bestimmt ein Wildschwein«, meinte er mit schwerer Zunge. »Die sind ja in diesem Winter in der ganzen Stadt eine Plage. Oder so ein Köter, wie ihn die Drogenfuzzis immer bei sich haben. Komm, wir schauen nach. Und dann machst du einen Braten daraus!« Er kicherte, stieg gleichzeitig mit ihr aus. Weit kam er nicht. Er musste sich übergeben.

Und sie sah, was da auf der Straße lag. Ein Klumpen blutiges Fleisch. Zuckende Gliedmaßen. Und sie erkannte auch das Zeichen am Halsband. Das Vieh gehörte tatsächlich einem Drogenboss.

Entsetzen, Panik – dann rasche Entschlossenheit. Sie öffnete die Hecktür des Wagens.

»Brauchst du Hilfe?« Er kotzte noch immer.

Das blutende Fleisch war schwer. Aber irgendwie schaffte sie es, es lag auf der Ladefläche. Und lebte.

Er stieg wieder ein, grinsend. »So, jetzt geht es mir besser. War es denn nun ein Wildschein? Oder doch bloß ein Rottweiler? Na, wo trinken wir jetzt noch ein Gläschen?«

Sie fuhr ihn nach Hause, obwohl er protestierte.

»Sag bloß, du nimmst es mir krumm, dass ich nicht in die Kiste will mit dir?«

Sie sagte nichts, beugte sich an ihm vorbei und öffnete die Beifahrertür.

2

»Das hat es früher nicht gegeben!«

Ich hatte den Laden erst vor zwei Monaten gepachtet und war noch immer nicht an den Rhythmus gewöhnt, in dem meine Kunden völlig unvorhersehbar hereingeschwemmt wurden. Ich schloss die Broschüre, in der nachzulesen war, auf welch verschlungenen Pfaden man die deutsche Staatsbürgerschaft erlangt, und setzte die freundliche Miene auf, die Frau Petzke jetzt von mir erwartete, auch wenn sie mich gar nicht ansah.

»Das hat es früher wirklich nicht gegeben!«, wiederholte sie. Doch was weltweit als standardisierter Ausdruck von Missbilligung zu verstehen ist, verband sie mit einem Lächeln, das ihre vom grauen Star getrübten und von Natur aus blassen Augen aufleuchten ließ. Ein rascher Griff mit der knochigen Hand, und sie hielt sich die Zeitung mit den dicken Überschriften vor die Nase. »Mord im Altersheim«, las sie feierlich vor. »Führt die Spur in die Weichselstraße nach Neukölln?«

»Morde hat es doch immer gegeben«, bemerkte ich.

»Aber doch nicht in einem Altersheim!«, versetzte die alte Dame, die jetzt am späten Freitagvormittag ihre Wohnung so weit in Schuss hatte, dass ihr der Sinn danach stand, nicht nur auf ihren Kanarienvogel einzureden. So jedenfalls hatte sie mir ihren Tagesablauf erklärt, gleich beim ersten Mal, als sie zu mir in den Laden kam. »Das muss man sich mal vorstellen, nicht mal im Altersheim ist man heutzutage sicher!«

Ich verstand sie nicht gut, denn meine Stammkundin trug zwar schon den Ausgehhut, hatte aber vergessen, die untere Hälfte ihres Gebisses einzusetzen. »Nehmen Sie das mal nicht zu ernst«, schlug ich ihr vor. »Solange nur diese Zeitung darüber berichtet … Wahrscheinlich hat der Tote nur mal die Fenster in dem Heim geputzt, oder er ist gar nicht tot, sondern hat bloß von einem Bekannten erzählt, der einen Arbeitsunfall hatte und …«

»Sie gönnen mir aber auch gar keine Freude, junge Frau!«, unterbrach mich die Petzke gekränkt. »Es ist jedenfalls das erste Mal, dass unsere Straße in der Zeitung steht. Finden Sie nicht, das ist ein irgendwie erhebendes Gefühl?«

Ich beschäftigte mich damit, jene Zeitschriften in der Auslage unterzubringen, in denen heute schon zu lesen war, dass sich das Fernsehprogramm auch in den kommenden Wochen nicht ändern würde, und versuchte, die Begeisterung der Petzke zu verstehen. Zu einer Antwort kam ich nicht mehr, die nahm mir Kirschnick ab, der den Laden wie stets mit einem pompösen Spruch auf den Lippen betrat.

»Mein Leben ist des Unglücks Ziel!«

»Hä?« Frau Petzke drehte sich nach ihm um und vergaß dabei für einen Moment die skandalträchtige Schlagzeile. »Was wollen Sie denn damit sagen?«

»Kantate für den dritten Sonntag nach Epiphanias, falls Ihnen das was sagt, Gnädigste.«

»Kann ich nicht behaupten. Wissen Sie denn schon –«

»Zu Deutsch das Erscheinungsfest, der Sonntag der Heiligen drei Könige, und es gibt nun mal nichts Schöneres als so eine Kantate von unserem Bach. Auch wenn das jetzt schon wieder ’ne Weile her ist, das wollte ich doch mal gesagt haben.«

Da Kirschnick täglich Derartiges sagte, entschloss ich mich einzugreifen, bevor er sich in einem Vortrag verlor. »Zeitung und Flachmann wie immer?«

»Wie immer.« Der stämmige Mittvierziger mit den kleinen Kugelaugen, von dem niemand so genau wusste, was er eigentlich machte, nickte. »Und da wir schon mal beim Thema sind, der deutsche Protestantismus ist –«

»Ziemlich doppelt gemoppelt«, unterbrach ich grienend. »Was Deutscheres gibt’s ja wohl gar nicht.«

»Genau das will ich ja sagen, junge Frau, Sie haben es voll und ganz erfasst.« Er warf sich in die Brust und glaubte vermutlich, damit die passende Pose gefunden zu haben, um mich zu beeindrucken.

»Wir leben hier unter Mördern«, Petzke brachte sich wieder ins Gespräch, rollte dramatisch die Augen und machte Kirschnick auf die Schlagzeile aufmerksam. An ihrer Nasenspitze zitterte ein Tropfen. Ich stellte wieder einmal fest, dass es kaum Interessanteres gab als die von keinerlei Rücksichten mehr gezähmte Mimik alter Frauen.

»Ist ja auch ziemlich deutsch.« Das rutschte mir so heraus, bevor ich mir klarmachte, was ich mit dieser Bemerkung anrichten würde.

»Was haben Sie da gesagt?« Kirschnick reagierte wie auf Knopfdruck und vergaß umgehend, dass er eben noch mit mir hatte flirten wollen. Er begann, auf den Füßen zu wippen, vermutlich hielt er das für eine Drohgebärde. »Was nehmen Sie sich eigentlich heraus? So was ist kaum ein paar Tage hier und riskiert schon ’ne dicke Lippe! Dachte ich es mir doch gleich, du kommst aus dem Osten.« Das Du, dessen er sich so umstandslos bediente, sollte wohl seiner Verachtung Nachdruck verleihen.

»Wir sind hier im Südosten«, entgegnete ich knapp. »Jedenfalls nach den geographischen Regeln. Aber ich muss Sie enttäuschen, ich komme nicht von hier.«

»Also eine aus dem Westen«, folgerte Kirschnick prompt, der für jede Himmelsrichtung dieser Welt ein paar Ressentiments parat hatte. »Typisch Schnäppchenjägerin, kommt hierher, um die dicke Kohle zu machen! Alles reißen sich die aus dem Westen unter den Nagel, einfach alles!«

»Sie liegen schon wieder daneben, jedenfalls, was den Westen betrifft. Und da Sie gerade davon reden, von Ihnen bekomme ich noch –«

»Sie schreiben leider so wenig Genaues«, klagte nun Frau Petzke, deren Schwerhörigkeit sie daran hinderte, meinem Wortwechsel mit Kirschnick zu folgen.

»Auf Seite drei geht es weiter«, sagte ich.

»Ja, aber bestimmt so kleingedruckt, dass es keiner lesen kann«, schimpfte sie und legte die Zeitung wieder auf den Stapel. Gleich darauf ging sie, wie fast immer, ohne etwas gekauft zu haben.

Ich konnte von Glück reden, dass Schulkinder in den Laden stürmten und mich vor einer Fortsetzung des Dialogs mit Kirschnick bewahrten. Nicht anders als Kirschnick, der nun seinen Flachmann verstaute, brauchten auch die arabisch-, türkisch- und in einer Minderheit auch deutschstämmigen Knirpse ihre tägliche Dosis, zehncentweise erstanden sie den für ihr Alter zulässigen Suchtstoff in Form von Süßigkeiten. So harmlos die Zwerge auch aussahen, sie waren gewitzt, und ich wusste inzwischen, wie sie gleich versuchen würden, meine Aufmerksamkeit abzulenken, um sich mal eben gratis zu bedienen. Ich nahm es den lieben Kleinen nicht unbedingt übel, sondern als Beweis ihrer Eignung für dieses Gesellschaftssystem und gewissermaßen sportliche Herausforderung, eigene Fähigkeiten zu demonstrieren. »Die Lollies legt ihr bitte wieder in den Karton, und dann bekomme ich von jedem siebzig Cent.«

»Olle Ziege!«, zischte mir der Kleinste und Dunkelhäutigste der Horde zu. »Wozu brauchst du denn so viele Lollies?« Damit hatte er seine Kleinwüchsigkeit wohl ausreichend kompensiert, jedenfalls zahlte er genauso wie die anderen umstandslos.

Dann ging es auf Mittag zu und Schlag auf Schlag. Zeitungen, Bier, Heftpflaster, Briefmarken, Mehl, Zigaretten, Schreibhefte, Belege für Anteilscheine an der Lotterie, H-Milch, Hundefutter, alles reichte ich über den Tresen.

Als ich das Geschäft übernahm, hatte ich mich nicht schlecht gewundert, was alles zur Ausstattung eines Zeitungsladens in Berlin-Neukölln gehörte. Aber ich war anderswo schon an den Ansprüchen der Eingeborenen gescheitert und hütete mich, an den hiesigen Gewohnheiten etwas zu ändern. Seit kurzem führte ich sogar ein Sortiment an Backwaren, für alle, die es noch nicht verwunden hatten, dass im ganzen Viertel kein anständiger Bäcker mehr zu finden war. Oder denen es doch nicht so sehr wie behauptet auf Qualität ankam und die den Weg zum Maybachufer scheuten.

Bis eins brummte der Laden, als Gesprächspartnerin war ich um diese Stunde nie gefordert. Die Leute, die jetzt kamen, hatten entweder keine Zeit oder fanden ihre Zuhörer unter den Kunden. Ich bediente, kassierte und bangte um mein Wechselgeld. So gut wie jeder zahlte mit einem großen Schein.

Mein Leben ist des Unglücks Ziel, schraubte es sich bandwurmartig durch meinen Kopf, wie kam ich nur auf solchen Quatsch, und als mir einfiel, dass Kirschnick mit diesen Worten den Laden betreten hatte, ärgerte ich mich erst recht. Dazu roch es nun wieder durchdringend nach dem Dosenfutter, das im Stockwerk über mir als Mittagessen zubereitet wurde, und ein schlaksiger Typ, den alle Atze nannten, beklagte sich, weil der Karottensaft alle war. Er gab sich penibel wie ein Steuerfahnder, präsentierte dazu aber Ringe an so gut wie allen unbekleideten Stellen seines Körpers und vielleicht ja nicht nur da, trug eine Ganzkörpertätowierung zur Schau, zerrissene Hosen und gelbgrün karierte Haare, und weil seine Zungenspitze mit Glitzersteinen gepflastert war, lispelte er. Natürlich besaß er einen Hund.

Mit einiger Mühe schaffte ich es, ihn von den Vorzügen eines Multivitaminsafts zu überzeugen. Als er dann endlich abzog, stürmte ein Geschwader von Kopftuchfrauen den Laden. Bei den Älteren reichte die Bedeckung bis auf die Füße, die bei den Jüngeren in atemberaubend hohen Pumps steckten. Die Beine in grellfarbenen Leggins, darüber knallenge Jacken, genügten die kess über den üppig geschminkten Gesichtern gewundenen Tücher offenbar, um Allahs Benimmcode gerecht zu werden. Sie unterhielten sich laut in einer Mischung aus deutsch und arabisch, lachten viel und erstanden endlich eine »Men’s health«.

»Mein großer Bruder hat Geburtstag«, verriet mir eines der Mädchen. Ihre auffallend hübsche Nase zierte ein Ring. »Höchste Zeit, dass aus ihm ein Mann wird!«

Alle lachten, ich auch, und dann wollte ich mir eine Tasse Kaffee gönnen. Ich trat in einen der beiden hinteren Räume der Ladenwohnung, die außerdem noch über Bad und Küche verfügte und somit alles hergab, was ich brauchte. Warum auch sollte ich nicht hier wohnen – so viel, wie ich erwartet hatte, warf der Laden nicht ab, und wenn erst alles renoviert war, würde es hier schon auszuhalten sein. Vorläufig bemühte ich mich, die Farbeimer und Tapetenrollen möglichst zu übersehen. Der Kaffee hatte mal wieder viel zu lange auf der heißen Platte gestanden und zog mir säuerlich in die Nase, als ich mich auf die Sprosse einer Leiter setzte.

Das wird hier schon noch, redete ich mir zu und dachte an Australien. Das wenigstens hatte ich hinter mir, Australien. Aussteigen wollte ich damals, die neue Freiheit einer in der DDR Geborenen nützen. Die Mauer war kaum gefallen, ich gerade achtzehn, da wollte ich nichts wie weg. Wie sollte ich ahnen, was daraus werden würde. Australien war mir als hoffnungsvoll geschichtsloses Nichts erschienen, die Ureinwohner kamen zu der Zeit nur als Garanten von Traumzeiten vor.

»Ist denn hier keiner?«

Schon wieder Kundschaft. Ich ging nach vorn. Es war Kärrner, er wohnte gegenüber und arbeitete als Beamter im Innenministerium, war nicht mehr ganz jung, aber umso dynamischer, als wolle er seinen Beruf vergessen machen. Ich mochte ihn nicht unbedingt, aber wen mochte ich derzeit schon, und als Jurist konnte er vielleicht etwas für mich tun. »Bin schon da.« Ich lächelte.

Kärrner hatte bereits alle Zeitschriften gefunden, die er einmal die Woche kaufte – alle hatten mit Geldvermehrung zu tun. Wer in diesen Zeiten etwas darstellen wollte, musste einfach Geld dafür ausgeben, um wenigstens durch den Erwerb der passenden Lektüre als Aktionär zu gelten. Nun erwiderte er mein Lächeln.

»Tag, Frau Dahme.« Er sprach mich immer mit dem Namen an, eine Übung, hatte er mir mal erklärt, in seinem Beruf sei es wichtig, ein gutes Namensgedächtnis zu haben. »Ist ja so ruhig heute«, stellte er dann fest. »Da könnten Sie mir doch endlich mal erzählen, was Sie gemacht haben da unten.«

»Da unten?« Ich wusste, was er meinte, verspürte aber keine Neigung, seine Neugier zu befriedigen.

»In Australien. Der Kontinent meiner Träume, müssen Sie wissen. Da wollte ich immer schon hin, und eines Tages werde ich auch … Aber erzählen Sie doch, Frau Dahme. Paula war der Vorname, nicht wahr?«

»War nicht, ist es immer noch.«

Er ließ sich nicht ablenken. »Wie lebt es sich denn dort?«

»Wie überall.«

»Ja, ich verstehe, ein weitläufiges Land. Grenzenlose Weite, grenzenlose Freiheit. Ja, ich kann mir das sehr gut vorstellen.« Verzückt rückte er die Brille zurecht. »Und was haben Sie dort gemacht? Schafe gefüttert?« Das sollte ein Scherz sein, vorsichtshalber lachte er schon mal.

»Nein, verfüttert«, entgegnete ich und verzog keine Miene.

Er tat, als verstehe er, was ich meinte, und lachte noch ein paar Sekunden länger. Das klang wie Schafsblöken, und so ließ ich mich provozieren. »Erst habe ich gar nichts gemacht, und als das nicht mehr ging, ein Restaurant. Und das ging dann schief.«

»Wusste ich es doch, Sie sind eine Geschäftsfrau!« Er schien begeistert. »Sie haben so was Positives!«

»Es war ein heruntergekommener Schuppen und die dümmste Entscheidung meines Lebens.« Seine anscheinend durch nichts zu bremsende Euphorie ärgerte mich dermaßen, dass ich ihm mehr erzählte, als ich eigentlich wollte.

»Alles wird gut«, behauptete er da, »und Fehler sind dazu da, dass wir aus ihnen lernen.«

Ich sah ihn so mitleidig an, dass er verstummte. »Was ich schon immer mal fragen wollte, kennen Sie sich eigentlich mit dem hiesigen Einbürgerungsrecht aus?«

»Das ist fast mein Spezialgebiet«, prahlte er. »Fragen Sie mich, und ich antworte! Ich habe der halben Sonnenallee zu einem deutschen Pass verholfen. Natürlich nur indirekt, ich verfasse im Ministerium die entsprechenden Leitfäden. Es geht wohl um einen Freund von Ihnen?« Er zwinkerte mir vertraulich zu.

»Nein, um mich selbst.«

»Ach!« Ziemlich ungläubig starrte er mich an. »Aber Sie sind hier geboren?«

Ich nickte.

»Darf ich fragen, was für eine Staatsangehörigkeit Sie derzeit besitzen?«

»Die australische.«

»Oh!« Eine gewisse Bewunderung schwang in seiner Stimme mit. »Und die wollen Sie behalten?«

Ich schüttelte den Kopf. »Wenn’s nach mir ginge, würde ich gern auf jede Staatsangehörigkeit verzichten.«

»Wenn Sie nur den deutschen Pass haben wollen, müsste sich das machen lassen. Wenn Sie zwei Pässe haben wollen, ist das nämlich eine Ermessensfrage. So aber … Zuständig ist jedenfalls das Einbürgerungsamt in der Blaschkoallee. Sie haben doch hier in Neukölln Ihren Wohnsitz?«

Diesmal nickte ich.

Er runzelte die Stirn. »Und natürlich müssen Sie ein paar Dokumente vorlegen. Ihre Geburtsurkunde, die Ihrer Eltern, die Heiratsurkunde Ihrer Eltern, frühere deutsche Ausweise oder andere Dokumente, eine Urkunde über den Erwerb der australischen Staatsangehörigkeit …«

»Mehr nicht?«

Er begriff nicht, dass ich das ironisch gemeint hatte. »Im Einzelfall können selbstverständlich noch weitere Unterlagen erforderlich sein, zum Beispiel Geburtsurkunden und Heiratsurkunde der Großeltern.«

Auf der Straße hupte ein Auto.

»Na, bringen Sie mal zusammen, was Sie haben. Jetzt hab ich leider keine Zeit mehr«, sagte Kärrner. »Ich parke in der zweiten Reihe, und wer da so dämlich hupt, ist …« Er warf das Geld abgezählt auf den Tresen und verließ den Laden, sich innerlich wappnend für die Auseinandersetzung mit dem ganz sicher unverschämten Fahrer, der kein Verständnis dafür hatte, dass Kärrner seinen blitzblanken BMW nicht ganz vorschriftsmäßig geparkt hatte.

»Lackaffe«, murmelte ich und ging zu meinem Kaffee und der Leiter zurück. Ob ich mir doch besser jemand anderen suchte, der mir dabei half, wieder Deutsche zu werden?

Ich trat ans Fenster, das den Blick auf einen jedes Mal wieder unerwartet idyllischen Hinterhof freigab. Es war ein Blick in eine andere Welt, der Kontrast zur Weichselstraße vorn hätte nicht größer sein können. Selbst jetzt, Ende Februar, ließ sich erraten, welch kleines Paradies dieser Hof den Bewohnern des Hauses schon bald wieder bieten würde. Zur Rechten war er begrenzt von einer etwas baufälligen, aber gerade als Ruine höchst reizvollen Remise, an der sich einige Maurer zu schaffen machten, zur Linken von dem viergeschossigen Seitenflügel mit auffallend großen Fenstern, zwischen denen sich wilder Wein im Winterschlaf emporrankte. Haselnusssträucher, Heckenrosen, Holunder und sogar ein Walnussbaum sprossen in sorgfältig arrangierter Zufälligkeit.

»Und das mitten in Neukölln«, murmelte ich, wieder einmal beeindruckt und zugleich mit dem Misstrauen kämpfend, das mir Idyllen jeder Art unweigerlich verursachten. »Und bei einem Haus, das von der Straße so nichtssagend aussieht wie alle anderen auch!«

Die Fassade der rückwärtigen Front des Hauses und des Seitenflügels zeigten ein helles Blaugrau, das den Farbgeschmack eines Künstlers verriet. Hier und da zierten seltene Fliesen die Mauer, antike Werkzeuge standen so beiläufig auf dem gepflegten Kopfsteinpflaster, als wären sie eben noch in Gebrauch gewesen. Besonders verblüffend aber war eine Villa am Ende des Hofes, ein verschachtelter Neubau, der sich perfekt in das Gelände fügte, mit großzügigen Fenstern, bizarren Türmchen, und auch hier fiel die farbliche Gestaltung sofort ins Auge: Ockertöne, erdiges Rot und alle Nuancen von Blau.

Dort residierte Bartnik, der Besitzer des Hauses, direkt über seiner Agentur für Grafik und Design im Erdgeschoss der über einer ehemaligen Baracke erbauten Villa. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, wie es für die Mieter wohl war mit einem Hauswirt, der wie ein Feudalherr sein Palais im Hinterhof errichtet hatte. Ich selbst hatte bislang kaum Erfahrungen mit ihm, nur seine Unterschrift auf dem Mietvertrag.

Die Sonne stieß durch die Wolken. Ich öffnete das Fenster und schwang mich aufs Fensterbrett. Um diese Jahreszeit durfte man hierzulande keinen Sonnenstrahl verpassen. Erst spürte ich nur die Wärme, dann beschlich mich das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden. Ich ließ meinen Blick unauffällig an der Fassade des Seitenflügels in die Höhe schweifen, wandte den Kopf sogar nach oben. Aber auch über mir, an den in den Hof führenden Fenstern des Vorderhauses, war kein Mensch zu entdecken. Alles war still, bis auf die Maurer, die ihre Arbeiten an den Klinkermauern der Remise mit lautem Pfeifen begleiteten. Ohne es zu wollen, probierte ich aus, ob sich »Mein Leben ist des Unglücks Ziel« auf dieses Maurerpfeifen singen ließ.

3

Schon komisch, dass niemand sie vermisste. Na ja, komisch vielleicht nicht gerade. Eher noch ein Grund, um zu verzweifeln. Oder um das bisschen Wut am Kochen zu halten.

Noch immer lebte das blutige Fleisch, das sie mit so großer Mühe hierher geschleppt hatte. Auf den Fliesen des Bodens war das Blut rotbräunlich getrocknet, neues floss zum Glück nicht nach.

Ein Schwein, wusste sie, galt mit etwa hundert Kilo als schlachtreif. Wildschweine wurden bestimmt eher schwerer. Und ein Rottweiler, ein ausgewachsener Rüde? Fünfzig Kilo, schätzte sie.

Die ganze Nacht hatte sie reglos vor dem blutigen Fleischgezappel gesessen und nicht gewusst, was sie da tat. Sie wollte es lieber nicht wissen. Als ihr das Wort Fahrerflucht in den Sinn kam, sorgte es eine Zeit lang für Panik.

Panik, das beherrschende Gefühl ihrer Kindheit und Jugend. Panik vor dem, was die Eltern taten, um ihr Geld zu verdienen. Geld, von dem auch sie lebte. Sie hatte sich früh geweigert, Fleisch zu essen. Sie schrieb Gedichte und träumte davon, Klavier spielen zu können. Natürlich wurde sie ausgelacht. Vergaß sie denn, wer sie war?

Das angestochene Schwein im Schlachtraum ihres Vaters, sie sah es genau vor sich, hing kopfüber mit einem Bein an einer Stahlkette. So entwich das Blut nach und nach aus dem Körper, bis schließlich der Tod eintrat. Die meisten Schweine hierzulande werden auf diese Weise getötet: zuerst die Betäubung durch Gas oder Strom, dann wird die Halsschlagader aufgeschnitten, und das schlagende Herz transportiert das Blut aus der offenen Wunde nach draußen. Die Tiere sterben durch die Unterversorgung des Körpers mit dem lebenswichtigen Blut. Alles gesetzlich reguliert.

Sie hörte, wie ihr Vater es so dem Lehrling erklärte. Wie er darauf drängte, dass auch sie zu ihm in die Lehre ging. Wie er sie zwang, ihn in den Schlachthof zu begleiten. Wo sie nachzuvollziehen versuchte, was die Tiere empfanden, wenn ihre Artgenossen nacheinander betäubt, abgestochen und geschlachtet wurden. Sie erinnerte sich, wie sich die Tiere aneinander drängten. Bestimmt nahmen sie den Tod und das Sterben um sich herum wahr.

Sie war damals naiv genug gewesen, beim Abendessen mit den Eltern, vor den üppigen Platten mit Wurst, solche Überlegungen auszusprechen. Es gab heftigen Streit. Zur Strafe musste sie den Vater zur nächsten Hausschlachtung begleiten, das gab es damals noch, dort in der brandenburgischen Provinz.

Sie war einfach sitzen geblieben in dieser Nacht, hatte auf das blutig zuckende Fleisch gestarrt. So zart pulsierend, muskulös, seltsam schön trotz der Verletzungen sah es aus. Der Kopf war unter einer Blutkruste unkenntlich geworden. Zum Glück.

Sie blieb sitzen, wurde ganz ruhig, aber nicht müde. Die Nacht war vorüber, und als sie erkannte, was da vor ihr lag, war ihr Unglück perfekt. Rundum vollkommen. Gut war auch, dass Freitag war. Da war hier mit niemandem zu rechnen. Einfach sitzen bleiben, gar nichts mehr tun, endlich nachgeben, aufgeben.

»Hallo? Steckst du hier?«

Seine Stimme ging ihr durch Mark und Bein. War ihm endlich doch aufgefallen, dass sie verschwunden war? Schon stand sie auf den Beinen, öffnete die Tür zum Kühlraum. Erneut eine große, sehr große Anstrengung. Dann war das blutende Fleisch da drin, und sie griff nach dem Schlauch. Sie tat, als hätte sie ihn nicht gehört. Und so spülte der Wasserstrahl nicht nur die rostroten Flecken vom Fliesenboden, sondern auch einen Ausdruck großer Empörung in sein Gesicht, als das Wasser ihn traf.

»Was soll das!«, schimpfte er. »Findest du das komisch? Komm lieber mit, es ist etwas ziemlich Trauriges passiert.«

Sie drehte das Wasser ab. Etwas Trauriges? Fast hätte sie gelacht. Ihr Blick blieb an der Tür zum Kühlraum hängen. Wie lange dauerte es, bis die Kälte den Rest von Leben da drin erstickt hatte?

»Nun komm endlich!«, drängte er.

Sie folgte ihm zögernd. Denn plötzlich wusste sie, wer sie war. Nicht, dass sie es geplant hätte. Aber im Lauf eines Tages, einer Nacht und noch ein paar Stunden und nach ein paar Enttäuschungen zu viel war es tatsächlich passiert.

Sie war endlich jemand. Und zwar, was sie vermutlich immer schon hatte sein sollen. Eine Mörderin.

4

»Nein!«, gellte es genau in dem Moment über den Hof, als ich mich mal wieder mit einer Tasse Kaffee aufs Fensterbrett setzte. Ich wollte die Zeit nützen, bis der übliche Freitagnachmittagsansturm einsetzte und alle ihre Lottoscheine abgaben. Denn schon zum zweiten Mal an diesem Tag schien ganz überraschend die Sonne auf das Hinterhofidyll. Aber gleich darauf stürzte eine Frau aus der Eingangstür der Türmchenvilla, mit etwas schütteren, dennoch fliegenden Haaren, beide Arme in verzweifelter Klage zum jetzt schon wieder betongrauen Himmel erhoben.

»Jolande, beruhige dich doch!«, folgte ihr ein Mann, der aussah, als habe er sein Leben nicht in der Großstadt, sondern als Bauer auf einer griechischen Insel zugebracht. Das war Michael Bartnik. Die Frau schien entschlossen, sich ihre Seele aus dem Leib zu brüllen.

Soweit ich wusste, leitete sie die Suppenküche im Vorderhaus, ein soziales Projekt, das Bartnik ins Leben gerufen hatte. Dort sollten nicht nur Obdachlose ein warmes Essen erhalten, sondern kriminell gewordene Jugendliche durch Jolandes Anleitung den Weg ins normale Leben zurückfinden, indem sie Suppen kochten und an Bedürftige verteilten. Obdachlose und als schwierig bezeichnete Jugendliche, überwiegend »mit Migrationshintergrund«, gab es reichlich hier in Neukölln.

Die Frau machte einige hilflose Schritte, dann ließ sie sich auf einem Baumstumpf nieder, hemmungslos weinend. »Wer hat das getan!«, stieß sie hervor. »Gestern noch war mein Elias gesund und munter, und nun …«

Mehr und mehr hatte ich das Gefühl, völlig unzulässigerweise an einem privaten Drama teilzunehmen und überlegte, ob ich mich möglichst unauffällig zurückziehen sollte.

Aber nun hatte Bartnik mich entdeckt und kam mit einem zerknitterten Lächeln auf mich zu, als hörte er das Winseln nicht, mit dem Jolande ihrem Schmerz eine Stimme gab. »Na, hast du dich schon ein bisschen eingelebt?« Wieso fragte er mich so etwas, gerade jetzt, wo diese Frau ganz gewiss seines Trostes bedurfte. »Wir sollten uns endlich näher kennenlernen, ich lege Wert auf persönlichen Kontakt mit meinen Mietern. Ich will einfach wissen, mit wem ich unter einem Dach lebe.«

»Vielleicht sollten wir das verschieben«, entgegnete ich mit einem befremdeten Blick auf die noch immer schluchzende Frau. »Sie scheinen im Moment andere Sorgen zu haben.« Auch wenn er mich geduzt hatte, blieb ich lieber beim Sie.

»Wer weiß.« Bartnik wiegte bedenklich den Kopf. »Vielleicht hat Elias’ Tod auch damit zu tun.«

Ich verstand nicht, was er damit andeuten wollte, spürte aber, wie ich unter seinem eingefrorenen Lächeln zu einer Verdächtigen wurde. Für so etwas hatte ich eine Antenne. »Elias?« In impulsiver Abwehr fragte ich, was mich am wenigsten interessierte.

»Jolande hat ihn über alles geliebt, er war wie ein Kind für sie«, sagte Bartnik wie zu sich selbst. »Ach so, das weißt du ja wohl nicht … Jolande Hedin ist meine Lebensgefährtin. Und allem Anschein nach ist Elias nicht einfach so gestorben. Er war bis gestern noch völlig gesund. Dabei liegen unsere Nerven sowieso schon blank, wegen dieser Einbruchserie.«

Wieder sah er mich an, als müsste ich die Zusammenhänge kennen, dabei waren seine Worte für mich nur wirres Gerede.

»Du bist die einzige, bei der noch nicht eingebrochen wurde«, stellte Bartnik jetzt fest. »Seltsam, nicht wahr?«

»Geht es nun um Einbrüche oder um einen ungeklärten Todesfall?« Vermutlich verriet mein Ton, dass ich mit beidem nichts zu tun haben wollte. »Haben Sie schon die Polizei alarmiert?«

»Die Polizei?« Bartnik runzelte die Stirn. »Ich neige nicht zu Überreaktionen. Obwohl es eine ausgesprochene Gemeinheit ist, was Elias angetan wurde. Und Jolande …«

»Aber Herr Bartnik! Ich weiß nicht, wer dieser Elias war, doch wenn ich Sie richtig verstehe, haben Sie mir soeben erzählt, dass er eines nicht natürlichen Todes gestorben ist! So etwas bezeichnen Sie als … Gemeinheit?«

»Einige meiner Mieter haben nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass sie Jolandes Kater nicht mögen!« Mit gerunzelter Stirn betrachtete Bartnik die Fensterfront des Vorderhauses.

»Elias ist … war ein Kater?«

»Natürlich, was dachten Sie denn?«

Bartnik wandte sich von mir ab, als erinnere er sich eben erst wieder seiner verzweifelten Freundin. Auf dem Weg zu ihr bat er die Maurer, ihre Arbeit für heute einzustellen. Sein Unterkiefer arbeitete, als er zu Jolande trat und Anstalten machte, ihr über den Kopf zu streicheln, was sie aber mit einer unwirschen Geste abwehrte.

»Ich habe dir immer gesagt, dass es eines Tages so kommen würde!«, schrie sie ihn an. »Aber du verstehst mich eben nicht. Und Elias hast du auch nie verstanden. Und …« Der Rest ihrer Worte ging erneut in Tränen unter, und dann rannte sie schnell davon, in die offene Eingangstür zum Seitenflügel.

Bartnik schien nicht verwundert, noch einmal nickte er mit der Bedächtigkeit eines lebenserfahrenen Bauern. »Geh zu Liane«, hörte ich ihn. »Wein’ dich bei ihr aus und sprich mit ihr, das wird dir gut tun!« Dann kam er, mit plötzlich schwankenden Schritten, noch einmal zu mir ans Fenster. »Liane Riemann, Seitenflügel, erster Stock. Du wirst sie noch kennenlernen. Sie ist Hebamme und war schon bei der Geburt von Elias dabei. Sie wird Jolande trösten können.«

Trank er? Jedenfalls war sein Blick jetzt seltsam glasig, auch war ich mir nicht sicher, ob er wirklich mit mir sprach. Warum gab er mir diese Informationen, nachdem er mir kurz zuvor noch unterstellt hatte, etwas mit irgendwelchen Einbrüchen oder gar mit dem Tod dieses Katers zu tun zu haben? Dabei war ich nichts als eine Mieterin des Hauses, versuchte mich im Zeitungshandel … Woran mich eben jetzt die Ladenklingel erinnerte.

Mein Leben ist des Unglücks Ziel, brummte es in meinem Kopf, als ich nach vorn ging. Ich verfluchte diesen Kirschnick, der mir diese Worte ins Hirn gebrannt hatte. War es falsch gewesen, mich hier niederzulassen?

Stunden später, als so ziemlich die ganze Nachbarschaft unterschiedlichster Glaubensbekenntnisse ihre letzten Hartz 4-Reserven für das unwahrscheinliche Glück eines Lottogewinns verpulvert hatte, trat ich wieder ans Fenster zum Hinterhof. Es dämmerte bereits, deshalb glaubte ich zuerst an eine Täuschung. Aus allen Fenstern des Seitenflügels, auch des Vorderhauses hingen schwarze Fahnen, Fetzen und Lappen jeden Zuschnitts. Das Objekt der Trauer, der tote Kater Elias, lag aufgebahrt mitten im Hof, auf dunkelrote Rosen gebettet. Neben ihm kniete auf februarkaltem Boden Jolande Hedin, in Trauer erstarrt. Um sie herum standen Leute, ernste Mienen, gedämpfte Stimmen. So gut wie alle Bewohner des Hauses mussten da versammelt sein, zur Trauergemeinde vereint.

Bloß weg hier, dachte ich, hatte aber schon zu lange auf dieses seltsame Schauspiel gestarrt. Denn wie auf Kommando richtete die Hofgemeinschaft nun ihre Blicke auf mich, vorwurfsvoll, und ich verstand – man wollte mir zu verstehen geben, dass ich nicht wusste, was sich gehört. Genau das aber wollte ich nicht wissen, weder hier noch sonstwo auf der Welt.

Eine ältere Frau trat hinter Jolande und begann mit dünner Stimme zu singen. Sie kam jeden Tag in den Laden, ich wusste, dass sie Ines Gramlich-Liebig hieß. Ihre Nachbarn, auch das hatte ich schon mitbekommen, nannten sie, wenn sie nicht dabei war, die Witwe, eine Witwe für alle Fälle, erkannte ich, also auch jetzt für den Kater. Ich musste lachen, vorn im Laden rief man nach mir, die Witwe sang wirklich »Ich hatt’ einen Kameraden«.

»Wo bist du denn, Paula?«, rief jemand von vorn, die Hofgemeinschaft brummte das Kameradenlied mit, und ich wollte mich schon losreißen, als ich aus den Augenwinkeln etwas durch die Luft fliegen sah, an der Fassade des Seitenflügels entlang, ein dunkler Schatten, niemand außer mir schien ihn zu sehen, und was dann auf das gepflegte Pflaster klatschte, war eindeutig ein Mensch.

Die Hofgemeinschaft hatte sich zum Kreis geschlossen, Jolande schluchzte, die Witwe sang, und der Kater war tot.

5

Nichts Trostloseres als ein Februar in Berlin-Neukölln. Graue Suppe am Himmel, so gut wie rund um die Uhr. Und als wäre es aus diesem verzweifelten Grau geboren – das bläulichkalte Licht hier drin. Der Fußboden war makellos weiß, genau wie die Tür zum Kühlraum. Sie stellte sich die Kälte darin vor, die damit verbundene Sauberkeit, die Ruhe. Wie lange hielt ein verletztes Lebewesen bei acht Grad Celsius durch?

Übriggebliebene Borstenpartien werden mit einem Gasbrenner entfernt. Die Kehle wird entlang der Luftröhre aufgeschnitten. Aus der offenen Stelle am Hals baumelt die Zunge heraus. Das Tier wird an den Hinterbeinen auf Haken gespießt und aufgehängt. Restliches Blut tropft aus dem Körper.

»Am besten an den Hinterläufen recht und links«, war da plötzlich wieder die Stimme ihres Vaters. »Dadurch hängt das Fleisch nach unten und man kann die beiden Bugstücke besser abschneiden. Das geht am besten so, seht ihr?«

Gezwungenermaßen hatte sie neben dem Lehrling gestanden, nicht hinsehen wollen. Aber dann so ein Kribbeln in den Haarwurzeln, und dann etwas wie – ja, wie Faszination.

»Den Vorderlauf in die Hand nehmen«, erklärte ihr Vater weiter, was er tat, »und dann so weit es geht nach außen ziehen. So kann man schön unter den Bug schauen. Jetzt in der Mitte zwischen Bug und Brust einschneiden. Ihr kommt ganz automatisch auf eine Haut, immer an der entlang schneiden und schwupp! – ist der erste Bug auch schon ab. Das Gleiche machen wir jetzt auf der anderen Seite. Na, wer traut sich?«

Sie natürlich nicht. Aber der Lehrling. Er hatte aufgepasst, machte seine Sache gut und wurde gelobt.

»Als erstes lösen wir nun im Bauchraum die Lende aus.« Ihr Vater griff wieder zum Messer. »Das heißt, schaut euch an, wo die Lende beginnt und fahrt mit der Hand an der Lende entlang, so weit es geht nach oben. Dort macht ihr einen Querschnitt und beginnt die Lende langsam rauszuschneiden, auf beiden Seiten. Dort, wo die Lende anfängt, wird später auch die Keule abgeschnitten.«

Sie öffnete die Tür zum Kühlraum. Das Fleisch lag reglos, nichts zuckte mehr. Ihre Hand tastete nach dem Puls – nichts. Also ab damit, auf den Haken.

»Am Ende des Bauches verjüngt sich dieser«, ihr Vater keuchte etwas beim Reden, Fleisch zerlegen war ja ein Knochenjob. »Dort könnt ihr das Fleisch bis zum Knochen quer einschneiden und danach mit einer Eisensäge die Knochen bis nach unten durchschneiden. Wieder auf beiden Seiten. Die Bauchknochen könnt ihr später auslösen und den Bauch für einen Rollbraten oder für Gulasch verwenden.«

Wichtig bei all dem – ein gut geschärftes Messer. Und eine sichere Hand. Dann flutscht das durch die Muskeln, als wären sie Butter.

»Jetzt an der Stelle, wo die Lende anfängt, die Koteletts abschneiden.« Mit einer gewissen Eleganz hatte ihr Vater es vorgeführt. »Das könnt ihr auch von der Rückseite machen, dann geht es leichter, die Knochen zu durchtrennen. Am besten an einer Bandscheibe.«

Und außerdem waren da noch Leber, Lunge, Nieren und Herz. Dunkleres Rot, Konsistenz fast wie Seide.

»So, und jetzt noch die beiden Keulen abtrennen, und ihr habt es erst mal grob zerlegt.«

Danach trank ihr Vater immer gern einen Schnaps. Oder auch zwei.

Sie legte ihre Hand sacht um einen Muskelstrang. War das nicht beneidenswert? Ruhe, Sauberkeit, Kälte. Endlich Schluss mit dem ständigen, sinnlosen Bemühen um –

Ja, um was eigentlich?

In diesem Moment, blitzartig, erneut mit Erschrecken verbunden, eine Einsicht. Dieselbe wie einige Stunden zuvor, nur diesmal noch klarer. Und noch verlockender.

Sie sah die Hand, die sich um das tote Fleisch gelegt hatte. Ihre Hand. Die Haare darauf. Wucherte das nun überall, wie ein Fell? Sollte oder musste das nicht Konsequenzen haben? Von wegen auf den Zähnen, überall! Wie lange schon hatte sie es satt – ihr Leben lang immer dagegen anzukämpfen, was man über sie sagte, wie man sie haben wollte. Vielleicht gab sie endlich nach und war einfach so, wie es alle von ihr behaupteten?

Sie spürte abermals, wie groß die Verlockung war – nachgeben. So sein, wie man sie haben wollte. Die Übereinstimmung herstellen zwischen den Worten der anderen und sich selbst. Nichts mehr zu ändern. Nur konsequent sein, ein Schnitt nach dem anderen, sichere Handgriffe, gelernt ist gelernt. So war es eben einmal doch von Vorteil, dass sie eine Metzgerstochter war. Nichts als Routine. Das Kreischen der elektrischen Säge im Fleisch, in den Knochen. Ein sirrender, irgendwie sauberer Ton. Plackplack, fiel Stück für Stück vom Hackbrett, plackplack, alles sauber portioniert. Stücke, wie sie bequem in den großen Topf passten.

Immer wieder fand sie es erstaunlich, wie viel Fleisch ein Tier hergab, wenn man es zerteilte. Berge von Fleisch. Sie musste sich sputen. Also erst einmal ab damit in den Gefrierschrank. Später dann würde sie es verarbeiten. Dass sie kochen konnte, hatten immer alle an ihr geschätzt. Wenigstens das.

Sie würde allen schon etwas servieren. Etwas, das sie nie im Leben gegessen hatten.

6

Kurz nach acht am Freitagabend verließ ich das Haus, obwohl ich mir vorgenommen hatte, an diesem Abend endlich die Decke zu streichen. Doch im Hinterhof wuselte es von Polizei, außerdem drangen Trauergesänge zu mir, und so wuchsen bei jedem Pinselstrich meine Zweifel, ob ich hier auch nur für eine kurze Übergangszeit am richtigen Platz war. Hatte ich ursprünglich gedacht, einfach einen Laden samt Wohnung gemietet zu haben, war mir im Verlauf dieses Nachmittags klargeworden, dass man anderes von mir erwartete. Anschluss an die Hofgemeinschaft, andernfalls das bekannte Motto: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Und damit selber schuld.

Vielleicht war es besser, ich brach meine Zelte gleich wieder ab? Eine Frau war auf dem Hinterhof zu Tode gekommen, und meine Nachbarn trauerten um einen Kater.

In der Karl-Marx-Straße erledigten arabische und türkische Großfamilien noch ihre Wochenendeinkäufe. Ich nahm die nächstbeste U-Bahn. Ohne zu wissen weshalb, stieg ich am Mehringdamm um und an der Friedrichstraße endlich aus. Es war schon dunkel, was den überall herumstehenden, mit Lichterketten geschmückten Baukränen zu einem dramatischen Auftritt verhalf. Ich hatte vergessen, dass diese Gegend um diese Zeit den Hunden und Herrchen gehörte, und so wechselte ich vorsichtshalber jedesmal die Straßenseite, wann immer mir diese Hundherrkombination begegnete. Denn wie es die Natur der Hunde verlangte, sie von Freiheitsbeeinträchtigungen in Form einer Leine zu verschonen, so durfte man von der Herrchennatur nicht einmal rudimentäre Reste von zivilisiertem Benehmen erwarten. Dass Berlin die Hauptstadt der Hunde geworden ist, hatte ich schon in Australien in den Zeitungen gelesen. Dass aber an der Hundefrage die Rassendiskussion noch einmal neuen Stoff gefunden hat, wollte ich doch nicht glauben. Bis Martin mir kürzlich mal die Beweise präsentiert hatte, jede Menge Zeitungsausschnitte, erst ein paar Jahre war das her.