Autumn Leaves - Sabrina Heilmann - E-Book
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Sabrina Heilmann

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Beschreibung

Eine bewegende Geschichte vom Überwinden der Vergangenheit und der gemeinsamen Liebe zum Sport »Wir sind alle kaputt, Autumn.« Die neunzehnjährige Leistungsschwimmerin Autumn flieht vor ihren Problemen nach Bridgeport, um Psychologie zu studieren und endlich ohne Ablenkung zu trainieren. Am Flughafen lernt sie den unnahbaren Grafikstudenten Bryan kennen – ihre Mitfahrgelegenheit und leider auch der Co-Trainer des Schwimmteams. Obwohl er sie bei jeder Begegnung unfair behandelt und von sich stößt, fühlt sie sich von ihm angezogen. Werden sie die Geheimnisse, die sie voreinander verbergen, näher zusammenbringen oder für immer voneinander trennen? »Autumn Leaves« ist der elfte Band der Sports-Romance Serie Read! Sport! Love! von Piper Gefühlvoll. Die Bände der Serie stammen von verschiedenen Autorinnen und hängen inhaltlich nicht zusammen, aber in jeder Geschichte stehen Sport und große Gefühle im Zentrum.»Einmal angefangen musste ich diese atemberaubende Geschichte unbedingt in einem Rutsch lesen. Brilliant vereint werden hier Romantik, Drama, Emotion, Spannung und Lebendigkeit miteinander.« ((Leserstimme auf Netgalley))»Ein gelungener Roman mit viel Tiefgang und Humor.  Dieses Buch ist der Grund, weshalb ich es liebe zu lesen. Eintauchen in eine fremde Welt und sich trotzdem zuhause fühlen. Eine ganz klare Empfehlung!« ((Leserstimme auf Netgalley))»Diese Reihe macht wirklich richtig Spaß. Im Gegensatz zu Anderen, ist hier wirklich Abwechslung angesagt und man hat jedes Mal andere spannende Sportler mit ihren Problemen vor sich. Das ist es, was diese Serie so besonders macht und es wird niemals langweilig.« ((Leserstimme auf Netgalley))»Ein gefühlvoller Roman, der dank der Tiefgründigkeit sehr realistisch wirkt und regelrecht unter die Haut geht. Eine absolute Leseempfehlung!« ((Leserstimme auf Netgalley))

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Inhalt

Cover & Impressum

Playlist

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Danksagung

Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.de

 

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© 2020 Piper Verlag GmbH, MünchenRedaktion: Cornelia FrankeCovergestaltung: Traumstoff Buchdesign traumstoff.atCovermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

 

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Playlist

Autumn leaves – Ed Sheeran

No light, no light – Florence + The Machine

Power over me – Dermot Kennedy

What the water gave me – Florence + The Machine

Hollow Crown – Ellie Goulding

Rival – Ruelle

Walk on Water (Acoustic) – Thirty Seconds to Mars

Six Feet Under – Billie Eilish

Hero – ADONA

Wolf at your door – Chloe x Halle

Arcade – Duncan Laurence

Dark Things – ADONA

Can you hear me – UNSECRET feat. Young Summer

Widmung

Für alle Herbstmädchen!

Kapitel 1

Ich atmete gleichmäßig, beugte mich nach vorn und senkte den Kopf, während meine Fingerspitzen vorsichtig die raue Beschichtung des Startblocks berührten. Konzentriert fixierte ich die kristallblaue Wasseroberfläche vor mir, bevor ich ein letztes Mal Luft in die Lungen sog und mich kraftvoll abstieß. Ich tauchte in das ruhige Wasser ein, glitt unter der Oberfläche entlang und bewegte die Arme mit kräftigen Schlägen, sobald ich auftauchte.

Das Wasser umhüllte meinen Körper, während meine Gedanken zu den Dingen abdrifteten, die in den letzten Monaten und Wochen schiefgelaufen waren. Ich dachte an das Verhalten meiner Mutter, an die verpassten Chancen und den Job in Camilas Café, den ich annehmen musste, weil Mom mich nicht unterstützte. Wut, Scham und Enttäuschung breiteten sich in meinen Gliedern aus und ich zog das Tempo an. Meine Arme und Beine bewegten sich schneller durch das Wasser, und ich wendete nach den ersten fünfzig Metern.

Hätte ich dich doch nur nicht auf die Welt gebracht.

Ich hörte Moms Worte, die sie mir ein paar Stunden zuvor an den Kopf geworfen hatte, und kämpfte gegen den Schmerz an. Tränen sammelten sich in meinen Augen und ich kniff sie fest zusammen. All die Emotionen wandelte ich in Kraft.

Ich schlug am Beckenrand an, riss mir Taucherbrille und Badekappe vom Kopf und schleuderte sie gemeinsam mit der Faust auf die Wasseroberfläche.

»Warum bist du diese Zeit nicht in der Wettkampfauswahl geschwommen?«

Hastig blinzelte ich die Tränen weg und sah nach oben. Meine Schwimmtrainerin Angela Cormack war zu mir an den Pool gekommen und musterte mich mit besorgtem Blick. Ihre eiskalten, blauen Augen ließen ihr Gesicht oft hart wirken, was die schulterlangen, schwarz gefärbten Haare noch einmal unterstrichen. Das jagte dem ein oder anderen neuen Teammitglied oft Angst ein. Aber ich kannte Angela lange genug, um zu wissen, dass sie trotz ihrer Strenge auch eine weiche Seite hatte.

»Ich weiß nicht … war nicht bei der Sache«, murmelte ich, legte Taucherbrille und Badekappe auf dem Beckenrand ab und drückte mich aus dem Wasser, um auf einem der Startblöcke Platz zu nehmen.

Angela setzte sich neben mich. »Ich hätte dich gern beim Wettkampf gesehen, Autumn. Die anderen vielversprechenden Talente im Team überholen dich langsam.«

Nachdenklich betrachtete ich den Außenpool des Phoenix Swim Clubs. Es war früh, erst neun Uhr morgens. Ende Juli waren die Temperaturen in der Hauptstadt des US-Bundesstaats Arizona bereits jetzt kaum zu ertragen. Das Thermometer zeigte über neunzig Grad Fahrenheit und würde die Hundert-Grad-Marke im Laufe des Tages mit Sicherheit erreichen.

»Das weiß ich«, flüsterte ich und kämpfte gegen die Enttäuschung, die in mir aufstieg.

Angela schwamm seit über dreißig Jahren aktiv, sie wurde Landes- und Weltmeisterin und nahm sogar an den Olympischen Spielen teil. Obwohl sie bei diesen ohne Medaille ausgegangen war, hatte sie zu den besten Schwimmerinnen Amerikas gehört.

»Wenn du mehr erreichen willst, Autumn, musst du noch härter an dir arbeiten«, sagte sie bestimmt. »Lass uns gemeinsam einen neuen Ernährungs- und Trainingsplan für dich erstellen. Und trenne deine privaten Probleme vom Schwimmen. Dann kannst du es bis ganz nach oben schaffen.« Sie meinte es nur gut. Trotzdem fühlte ich mich angegriffen. Angela kannte nur Bruchstücke von dem, womit ich neben dem Training zu kämpfen hatte. Immer wieder versuchte sie, mit mir darüber zu sprechen, aber ich blockte sie ab.

»Autumn, du kannst mir alles erzählen. Was hat deine Mutter schon wieder getan?« Angelas Blick brannte auf meiner Haut. »Autumn, bitte.«

»Es ist nichts passiert«, rückte ich mit der Sprache heraus. Ich knetete nervös meine Finger. Die Enttäuschung nach gestern saß tief. Nie zuvor hatte ich mich so maßlos über mich selbst geärgert. Die Chance, bei einem wichtigen Landeswettkampf starten zu können, war zum Greifen nah gewesen. Und ich hatte es verbockt, war lediglich Vorletzte geworden. »Es fühlt sich an, als würde ich mich blockieren und ich weiß nicht, was ich dagegen tun soll.«

Seufzend stand ich auf, wickelte mich in das Handtuch ein und hob meine Taucherbrille und die Badekappe auf. »Ich muss zur Arbeit«, murmelte ich mutlos und tauschte einen Blick mit Angela.

»Hast du schon einmal darüber nachgedacht, Phoenix zu verlassen? Der Stress mit deiner Mutter tut dir nicht gut. Du blockierst dich nicht selbst, Autumn, es ist dein Umfeld. Ein Neuanfang ist schwer, aber manchmal ist es der richtige Weg. Ich kann dir Empfehlungen für andere Schwimmclubs geben, wenn du mö…«

»Angela«, schnitt ich ihr das Wort ab und schüttelte den Kopf. »Wo soll ich denn hin?«

Die Frage stand mahnend im Raum. Als meine Trainerin mir keine Antwort geben konnte, verschwand ich missmutig in der Umkleidekabine und stellte mich vor den großen Spiegel, der an der Wand angebracht war. Stumm starrte ich mich an, blieb an den blassen Wangen hängen, den zusammengekniffenen Lippen. Ich ließ meinen Blick sinken und über meine Hüften gleiten.

Ich hatte nicht die typische Figur einer Schwimmerin. Mit einem Meter achtundsiebzig war ich zwar groß genug und meine Arme erreichten eine ausreichende Spannweite, doch mein Oberkörper war nicht muskulös und die Hüften waren weiblich. Ich trainierte so hart wie die anderen Mädchen, ging neben dem Schwimmtraining ständig ins Fitnessstudio. Aber all das reichte nicht aus, solange ich in meinem Kopf nicht endlich einen Schalter umlegen konnte.

 

Nach einer ausgiebigen Dusche schlüpfte ich in ein kurzes, blaues Sommerkleid und föhnte meine langen, dunkelblonden Haare in schwungvolle Locken. Diese würden zwar wegen meines feinen Haares höchstens eine Stunde halten, aber ich mochte diese Frisur an mir. Anschließend stellte ich mich vor den Spiegel, um mich für meine Schicht im Café zu schminken.

Für meine neunzehn Jahre hatte ich ein mädchenhaftes Gesicht mit großen, meerblauen Augen und vollen Lippen. Fernab des Schwimmens versuchte ich, meine kindlichen Gesichtszüge mit Make-up und auffälligen Lippenstiften zu kaschieren.

Die meisten meiner Schwimmkolleginnen kümmerten sich nicht um Äußerlichkeiten. Ihre Haare trugen sie oft zu einem unordentlichen Dutt nach oben gebunden. Sich vor dem Schwimmen abzuschminken und danach wieder anzumalen, war ihnen zu lästig.

Für mich war es keine Sache von Eitelkeit, sondern eine Maske, die mich schützen sollte. Ich versteckte, wie es tief in mir aussah und welche Lasten ich auf der Seele trug.

Ein letztes Mal betrachtete ich mein Spiegelbild, zupfte eine Haarsträhne zurecht und atmete tief durch, bevor ich den Umkleideraum verließ und zu dem einzigen Ort in Phoenix fuhr, an dem ich mich zuhause fühlte.

 

Das Café Cam war eine Kaffeelounge im Norden des Stadtbezirks South Mountain Village, nahe der University of Phoenix. Mit einem Lächeln auf den Lippen stieß ich die schwarze Flügeltür auf, die einen Kontrast zur weißen Außenfassade des Gebäudes bildete, und flötete ein fröhliches »Guten Morgen« durch die Lounge. Der herrliche Duft von frisch gemahlenem Kaffee und süßem Gebäck empfing mich, genauso wie die kühle Luft der Klimaanlage.

»Guten Morgen, Autumn«, grüßte meine Chefin Camila und reichte einem Gast seinen Coffee-to-go-Becher. Er bedankte sich und schlüpfte durch die Tür, die ich ihm freundlich aufhielt.

Ich sah mich in der Lounge um. Drei Studenten saßen in einer gemütlichen Couchecke und arbeiteten sich durch einen Berg Bücher und Unterlagen. Ein Mann schrieb an seinem Laptop und zwei ältere Damen tranken einen Tee.

Camila hatte sich bei der Gestaltung der Lounge viel Mühe gegeben. Die Wände waren in einem zarten Cremeweiß gestrichen und die schokobraunen, modernen Möbel rundeten gemeinsam mit liebevoll ausgewählter Deko das Bild ab. Seit fünf Jahren führte Camila das Café, zwei davon arbeitete ich für sie.

Nach dem Highschool-Abschluss war es mein Wunsch gewesen, Psychologie zu studieren. Ich hatte mich an unzähligen Universitäten beworben, die mindestens zweihundert Meilen von Phoenix entfernt lagen. Jedoch hatte ich weder Zu- noch Absagen erhalten, eine Sache, für die ich Mom die Schuld gab. Mittlerweile war ich mir sicher, sie hatte die Briefe heimlich verschwinden lassen, um mich in Phoenix zu halten. Mir war nichts anderes übrig geblieben, als mir einen Job zu suchen. Entmutigt hatte ich Angela bei einem Training davon erzählt und sie stellte den Kontakt zu Camila her. Es war nie mein Wunsch gewesen zu kellnern, aber das war immer noch besser als gar nichts. Das Thema Studium hatte ich daraufhin enttäuscht abgehakt.

»Hey, du siehst niedergeschlagen aus«, bemerkte Camila und legte mir eine Hand auf die Schulter. Meine Chefin war siebenunddreißig Jahre alt, trug ihr aschblondes Haar in Form eines frechen Pixiecuts und besaß ein aufgewecktes Strahlen in ihren grünen Augen. Sie war mehr wie eine Mutter für mich als die Frau, die es vorgab zu sein.

»Angela hat mich auf das verpatzte Auswahlschwimmen angesprochen. Ich bin einfach enttäuscht, dass ich meine Leistungen nicht abrufen konnte.«

»Jeder hat mal einen schlechten Tag, Kleines.«

Ich schüttelte den Kopf und seufzte. »Können wir bitte nicht darüber reden?« Mit gesenktem Blick marschierte ich in den Hinterraum und band meine Schürze um. Ich hatte schon als Kind Schwierigkeiten damit gehabt, mit Enttäuschungen umzugehen. Dafür war ich zu ehrgeizig, wollte immer mein Bestes geben und den anderen beweisen, was in mir steckte.

»Ist wieder etwas zwischen deiner Mutter und dir vorgefallen?«, fragte mich auch Camila.

»Nein«, erwiderte ich ehrlich und sie nickte.

Dankbar darüber, dass die beiden älteren Damen bezahlen wollten, machte ich mich an die Arbeit.

 

Die Zeit verging wie im Flug, meine trüben Gedanken aber blieben. Weil wenig Betrieb herrschte, hatte Camila sich in das Büro zurückgezogen, um sich um die Buchhaltung zu kümmern. Das Café hatte ohnehin nur noch zwei Stunden geöffnet.

»Autumn, Liebes, hast du kurz Zeit?«, rief Camila und ich stellte mich in den Türrahmen ihres Büros. Wie schaffte sie es, in diesem kleinen Schuhkarton so ordentlich und strukturiert zu arbeiten? Der Raum wurde von überladenen Regalen dominiert, Camilas Schreibtisch stand mittig und nahm den Rest des freien Platzes ein.

»Was gibt es denn?«, fragte ich und warf einen prüfenden Blick durch den Gastraum. Niemand der anwesenden Gäste schien einen Wunsch zu haben, neue hatten die Lounge nicht betreten.

»Holst du mir bitte die Post? Ich warte auf einen wichtigen Brief.«

Camila reichte mir den Schlüsselbund und ich verließ das Café durch die Hintertür. Der Briefkasten war auf der Rückseite des Gebäudes angebracht. Ich öffnete ihn und zog einen Stapel Briefe und Kataloge heraus. Wann hatte Camila den Briefkasten zuletzt geleert? Die Post konnte auf keinen Fall von nur einem Tag sein.

Ich kehrte ins Innere zurück und fand meine Chefin am Tresen. Sie nahm die Bestellung einer jungen Frau entgegen, die einen fettarmen Soja Latte bestellte, auf ihre Portion Sahne aber nicht verzichtete.

»Soll ich die Post auf den Schreibtisch legen?«, fragte ich. Camila schüttelte den Kopf.

»Nein, bring sie her.« Eine Sekunde lang betrachtete Camila den Stapel in meiner Hand und ein sanftes Lächeln erhellte ihre Gesichtszüge. Was das wieder zu bedeuten hatte, wollte ich lieber nicht wissen.

Cam schob den Soja Latte über den Tresen, verabschiedete die Kundin und nahm mir die Post ab. Sie blätterte alles durch und grinste plötzlich.

»Ich wusste es.« Sie hielt mir einen weißen Umschlag entgegen.

»Was ist das?«

Irritiert griff ich zu und betrachtete ihn. Als ich den Stempel in der oberen, rechten Ecke sah, setzte mein Herz einen Schlag aus.

University of Bridgeport.

»Das … aber …«, stammelte ich. »Wie ist …«

»Öffne ihn.«

Ich riss den Umschlag auf, der an das Café adressiert war, jedoch den Vermerk »zu Händen Autumn McAdams« enthielt. Stumm überflog ich das Schreiben.

Tränen verschleierten meinen Blick, während meine Chefin mich gespannt ansah. »Cam, was hat das zu bedeuten? Ich … ich habe mich nicht am College beworben. Wie ist das möglich?«

»Ich habe dich online registriert. Die Informationen konnte ich deinen Bewerbungsunterlagen entnehmen. Alles, was ich nicht wusste, habe ich von Angela erfahren. Sie hat außerdem ein Empfehlungsschreiben des Vereins für dich beigelegt. Denkst du, wir haben nicht gemerkt, wie unglücklich du hier in Phoenix bist?«

Blinzelnd sah ich Camila an und erinnerte mich an Angelas Worte.

Hast du schon einmal darüber nachgedacht, Phoenix zu verlassen? Ein Neuanfang ist schwer, aber manchmal ist es der richtige Weg.

In den vergangenen Jahren hatte ich mich oft gefragt, wann der Punkt in meinem Leben gekommen war, an dem ich mich mit der Tatsache abfand, Phoenix niemals zu verlassen. Es war ein schleichender Prozess gewesen, ein parasitärer Gedanke, der sich langsam eingenistet und meine Hoffnungen und Träume zerstört hatte.

Ich hatte das nicht bemerkt, im Gegensatz zu Angela und Camila. Was die beiden für mich getan hatten, würde ich ihnen nie nicht vergessen. Sie gaben mir damit nicht nur eine Chance, sie zeigten mir zudem, dass sie an mich glaubten. Etwas, das lange niemand mehr getan hatte.

»Du hast bei deinem Bewerbungsgespräch erwähnt, dass du Psychologie studieren wolltest. Ich habe alles organisiert und mich darüber hinaus um einen Platz im Studentenwohnheim gekümmert.« Camila zeigte mir die Zusage und die dazugehörige Infobroschüre. »Bridgeport hat ein ausgezeichnetes Programm für Schwimmer, dort wird man dich fördern, wie du es verdienst. Aber dazu kann Angela dir mehr erzählen. Außerdem liegt die Stadt knapp zweitausendfünfhundert Meilen von Phoenix entfernt. Das genügt, oder?«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und schaffte es nicht, die Freudentränen zurückzuhalten. Dennoch sah ich ein Problem. »Das ist unglaublich, Camila, aber wie soll ich das finanzieren? Ich bekomme kein Stipendium, Mom unterstützt mich nicht und ich habe nichts gespart. Es wird dauern, bis ich in Bridgeport einen Job finde …«

»Mach dir darüber bitte keine Gedanken«, unterbrach mich meine Chefin. »Angela und ich werden die Studienkosten ein halbes Jahr übernehmen, einschließlich des Zimmers und Verpflegungsgeldes, bis du dich in Bridgeport zurechtgefunden und eingelebt hast.«

»Das … das kann ich unmöglich annehmen. Ich …«

»Du kannst und du wirst, Autumn. Du arbeitest seit zwei Jahren für mich, ohne jemals einen Tag gefehlt zu haben. Du hast das Café selbstständig am Laufen gehalten und viel für mich getan. Du bist wie eine Tochter für mich, obwohl ich natürlich zu jung bin, um deine Mutter zu sein.«

Cam zwinkerte mir zu. Ich lachte auf, was seltsam klang, weil sich das Lachen mit einem Schluchzen vermischte.

»Autumn, du bist ein tolles Mädchen und du wirst mir schrecklich fehlen, aber du hast dein ganzes Leben noch vor dir. Die Studienzeit sind die schönsten Jahre und du solltest dir diese Erinnerungen nicht entgehen lassen, nur weil dich deine Mutter mit ihrem Selbstzerstörungstrip in den Abgrund reißen will. Es ist an der Zeit, dass du an dich denkst. In Phoenix hält dich nichts.«

»Du hältst mich«, schluchzte ich und fiel meiner Chefin dankbar in die Arme. »Und Angela und das Team.«

»Angela ist meiner Meinung. Bevor wir die Bewerbung für dich fertig gemacht haben, haben wir lange gesprochen. Du musst hier weg, Autumn, um deinetwillen.«

Mit dem Handrücken wischte ich mir dir Tränen von den Wangen und atmete tief durch, während meine Augen das Logo der University of Bridgeport fixierten.

Das war ein Traum, zu schön, um wahr zu sein. Es musste einfach einer sein.

»Danke für alles. Ich … ich muss Angela anrufen.«

»Nimm dir einen Moment Zeit«, lächelte meine Chefin mir zu, während ich in den Aufenthaltsraum ging und zu begreifen versuchte, was gerade geschehen war.

Kapitel 2

Knapp vier Wochen waren vergangen, seit Camila mich mit den Unterlagen überrascht hatte und in wenigen Stunden würde das Abenteuer Bridgeport beginnen.

Obwohl ich Zeit hatte, darüber nachzudenken, fühlte ich mich nicht bereit für diesen Schritt. Auf der einen Seite war ich gespannt und freute mich auf den Neuanfang, auf der anderen Seite griffen Selbstzweifel und Unsicherheit nach mir.

Wer garantierte mir, dass mein Leben in Connecticut besser wurde? Oder dass ich meine Vergangenheit verarbeitete, nur weil ich zweitausendfünfhundert Meilen weit wegzog? Gab es eine Garantie, dass Mom mich in Frieden ließ?

Sicher nicht, das wäre zu schön, um wahr zu sein.

»Wo bist du mit deinen Gedanken?« Die Stimme meiner Chefin drang zu mir durch und ich sah sie irritiert an.

»Was?«

»Ich habe dich gefragt, ob du alles vorbereitet hast?«

»Außer einem Koffer mit den wichtigsten Sachen kann ich nicht viel vorbereiten und nicht einmal das habe ich bisher. Mom würde es sofort bemerken.«

Nachdenklich starrte ich in die Auslage der Kuchentheke. Alle Unterlagen, die das Studium betrafen, hatte ich im Café gelassen. Auch wenn ich es nicht beweisen konnte, war ich sicher, dass meine Mutter mein Zimmer manchmal durchsuchte. In den letzten Wochen hatte ich akribisch darauf geachtet, sie nicht zu provozieren. In meiner Wut auf sie hätte ich ihr die Wahrheit an den Kopf geworfen und es bitter bereut.

»Ein paar Stunden noch, Autumn.« Camila legte eine Hand auf meine Schulter.

»Es kann noch alles schiefgehen. Wenn Mom heute einen schlechten Tag hat …« Ich schüttelte den Kopf, verdrängte den Gedanken jedoch nicht. »Cam, ich habe ein furchtbar schlechtes Gefühl.«

»Du wirst in Bridgeport studieren und wenn ich dich persönlich hinfahre. Ich werde wach bleiben, bis du mir geschrieben hast, dass du am Flughafen angekommen bist. Du kannst mich jederzeit anrufen.«

Camila wirkte entschlossen und ich wünschte, ich wäre in dieser Hinsicht von ebenso positiven Gedanken gesegnet. Erst wenn ich um zwei Uhr nachts im Flugzeug säße, das mich nach Connecticut bringen sollte, würde sich das Gefühl von Neuanfang bei mir einstellen.

»Autumn, hey, was soll der deprimierte Blick?«

Ich sog die Luft tief in die Lungen. Meine Augen wurden feucht und ich schluckte schwer. »Ich habe Angst.«

Ich war mit meinem Leben nicht glücklich, hatte mich damit aber arrangiert. Dass sich nun alles ändern sollte, bereitete mir Bauchschmerzen. Bei dem Gedanken, dass mein Leben ab morgen kopfstand, wurde mir speiübel. Ich würde in einer neuen Stadt leben, neue Menschen kennenlernen, studieren …

Wenn ich Filme sah oder Bücher las, die am College spielten, fiel es den handelnden Personen immer leicht, diesen Lebensabschnitt zu beginnen. Niemand schien sich zu fürchten. Niemand außer mir …

»Es gibt nichts, wovor du Angst haben müsstest. Sicher, am Anfang wird es ungewohnt und überwältigend sein. Aber du wirst dich zurechtfinden und spüren, wie die Last von deinen Schultern fällt. Ich hätte dich viel eher zu diesem Schritt drängen sollen.«

Camila schaute gedankenverloren aus dem Schaufenster. In ihren Augen glitzerten Tränen. Das war unser Abschiedsmoment. Jeden Augenblick würde sie mich gehen lassen, damit ich nach Hause fahren und die letzten Sachen vorbereiten konnte.

»Du wirst mir fehlen.« Mit dem Handrücken wischte Camila sich die Tränen aus den Augen und schloss mich fest in die Arme.

»Du hast versprochen, mich zu besuchen.«

»Und das werde ich.«

Sie löste sich leicht von mir und strich mir die blonden Haare über die Schultern, anschließend nahm sie mein Gesicht in die Hände. »Ich wollte dir so viel sagen, doch mir fällt nichts mehr ein.« Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.

»Dann machen wir es kurz und schmerzlos. Ich … ich hasse Abschiede«, stammelte ich und kämpfte gegen das Brennen in den Augen an.

Ein letztes Mal fiel ich Camila in die Arme, bevor ich die Schürze von den Hüften zog und sie an ihren Platz hing. Ich nahm meine Tasche, blieb im Gastraum stehen und ließ die Atmosphäre des Cafés auf mich wirken. Unglücklich senkte ich den Kopf. Das war der einzige Ort in Phoenix, an dem ich mich gewollt und akzeptiert gefühlt hatte, und jetzt musste ich ihn verlassen, um in eine ungewisse Zukunft zu starten.

»Danke, Cam.« Wir lächelten einander traurig an.

»Du wirst deinen Weg gehen, Kleines. Alles wird gut, vertrau mir.«

Ich nickte dankbar und zog die Tür hinter mir zu. Auf der Straße drehte ich mich erneut um und blickte durch die Glasfront ins Innere. Camila hob die Hand zum Abschied und ihre Mundwinkel zuckten. Dennoch fühlte ich, dass sie genauso traurig war wie ich.

 

Bevor ich nach Hause ging, fuhr ich in den Phoenix Swim Club. Heute wäre mein letztes offizielles Schwimmtraining gewesen, aber ich wollte mich nur schnell von allen verabschieden und mich noch einmal bei Angela bedanken.

Als ich das Freibad erreichte, hörte ich meine Trainerin strenge Anweisungen rufen. Ein Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus und ich beschleunigte meinen Schritt.

Es dauerte nicht lange, bis Angela mich entdeckte. Sie kam auf mich zu und schloss mich in die Arme. »Ich dachte schon, du machst dich aus dem Staub, ohne Tschüss zu sagen.«

»Wie könnte ich.« Sie legte einen Arm um meine Schultern und wir beobachteten einen Moment das Team, das die ersten Aufwärmübungen machte.

»Ich kann nicht glauben, dass ich dich nach neun Jahren einfach ziehen lassen soll. Du warst quasi noch ein Baby, als du zu deinem ersten Training gekommen bist.«

»Du wolltest mich loswerden«, scherzte ich und Angela lachte leise.

»Weil Bridgeport dir etwas bieten kann, was ich nicht habe. Freiheit. Das Schwimmprogramm ist ausgezeichnet und Jane Hamsworth ist eine Spitzentrainerin. Wir waren gemeinsam im Olympia-Kader. Versprich mir, dass du dich ihr vorstellst.«

»Versprochen.«

Nachdem das Team die Aufwärmübungen beendet hatte, rief Angela sie alle zusammen. Einigen meiner Teamkolleginnen hatte ich erzählt, dass ich wegziehen würde, andere waren völlig ahnungslos.

»Ihr Lieben, Autumn ist gekommen, um sich von uns zu verabschieden. Sie wird bald in Bridgeport studieren und dort hoffentlich weiterschwimmen.«

Ich schluckte schwer und kämpfte gegen die Tränen an. Auch wenn ich keines der Mädchen so nah an mich herangelassen hatte, dass eine Freundschaft entstehen konnte, waren wir doch so etwas wie eine kleine Familie.

»Ich möchte mich bei euch allen für die schönen Jahre bedanken. Die Zeit hier wird immer in meinem Herzen bleiben und ich hoffe, dass ihr weiterhin einen Sieg nach dem nächsten einfahrt. Vielleicht begegnen wir uns irgendwann wieder.«

Die Mädchen klatschen, kamen schließlich gesammelt auf mich zu und schlossen mich, nass wie sie waren, in die Arme. Wir lösten uns voneinander und ich wischte mir hastig die Tränen aus den Augen.

»Mach etwas draus, Autumn.« Lächelnd strich Angela mir eine blonde Haarsträhne hinter die Ohren und drückte mich wieder fest an sich. »Wir sehen uns beim Auswahlschwimmen für Olympia und dann will ich, dass du es jedem zeigst, verstanden? Du schaffst das, weil du den Willen hast.«

Ich nickte und löste mich. »Ich gebe mein Bestes. Danke.«

Langsam ging ich einige Schritte rückwärts, winkte den Mädchen und Angela noch einmal zu, bevor ich mich endgültig abwandte.

 

Ich schloss die Tür unseres Hauses auf, das seine besten Jahre hinter sich hatte. Die weiße Farbe bröckelte von der Holzverkleidung, auf dem Dach fehlten infolge des letzten Herbststurmes mehrere Ziegel. Die Grünanlagen vor dem Haus waren ungepflegt, die Pflanzen allesamt von der Sonne verbrannt.

Vor seinem Tod hatte Dad sich vorgenommen, unser Häuschen wieder auf Vordermann zu bringen, aber dazu war er nie gekommen.

Abgestandene, muffige Luft wehte mir entgegen und ich rümpfte die Nase. Aus dem Wohnzimmer drangen die Geräusche des Fernsehers in den Flur. Mom saß wahrscheinlich mit einer Flasche Wein auf der Couch und ließ sich vom Vorabendprogramm berieseln.

So leise wie möglich schloss ich die Tür und schlich in Richtung meines Zimmers, vorbei am Wohnzimmer.

Das gesamte Haus sah aus wie ein Schweinestall. Obwohl ich Mom oft hinterherputzte und die herumliegenden Sachen aufräumte, schaffte sie es, alles zunichtezumachen, während ich bei der Arbeit oder beim Training war.

Im Flur stolperte ich über ihre Klamotten, Schuhe, leeren Kartons und Tüten mit Essensresten. Es widerte mich an, aber meine Mutter störte sich daran nicht. Sie lag den ganzen Tag auf der Couch, starrte in den Fernseher und bewegte sich nur, wenn ihre Flasche leer war oder sie zur Toilette musste. Sie arbeitete seit dem Unfall meines Vaters nicht mehr. Die Witwenrente, die sie erhielt, reichte ihr zum Leben. Davon kaufte sie sich Billigwein, Schnaps und Fertigessen aus dem Supermarkt.

»Autumn, komm her!«, rief Mom, als ich glaubte, mich unbemerkt an ihr vorbeigeschlichen zu haben. Ich ließ die Tasche auf den Boden fallen, trat in das vermüllte Wohnzimmer und stellte mich mit verschränkten Armen neben die Couch.

Mom bot einen erbärmlichen Anblick. Ihr blondes Haar war fettig und ungekämmt, sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und ihr Gesicht war wie der Rest ihres Körpers von Alkohol und ungesundem Essen aufgedunsen. Sie trug eine ausgeblichene, blaue Jogginghose und ein fleckiges, graues Shirt. Sachen, die verbargen, dass sie seit Dads Tod fast zwanzig Kilo zugenommen hatte.

Manchmal, wenn ich alte Bilder von ihr sah, erschrak ich. Es gab eine Zeit, in der Mom sich gepflegt und um ihr Aussehen gekümmert hatte. Wir waren uns ähnlich gewesen. Groß, schlank und trotzdem mit wunderbar weiblichen Kurven gesegnet.

Doch von Mom war lediglich eine zerstörte Version ihres früheren Ich übrig geblieben.

»Was willst du?«, fragte ich und sie erhob sich von der Couch. Schwankend kam sie einen Schritt auf mich zu.

»Räum deinen Scheiß auf«, lallte sie und deutete in Richtung Flur. »Überall liegt dein Mist herum.«

Ich blieb ruhig, denn sie versuchte nur, mich zu provozieren. Im Normalfall wäre ich darauf angesprungen und hätte ihr die Meinung gegeigt. Seit meine Zeit in diesem Haus ein Ende hatte, hielt ich mich zurück.

Forschend betrachtete sie mich. »Warum sagst du nichts? Seit Wochen schweigst du!«, fauchte sie und ihre ekelhafte Alkoholfahne wehte mir entgegen. »Irgendetwas stimmt nicht.«

»Es ist alles in bester Ordnung, Mom«, erwiderte ich ruhig und wandte mich zum Gehen. Aber ich machte die Rechnung ohne meine Mutter. Ihre Hand schnellte nach vorn und umschloss mein Handgelenk wie eine eiskalte Klaue. Ich stoppte in der Bewegung.

»Du bleibst hier! Ich rede mit dir, verdammt!«, keifte sie und ich drehte mich langsam um.

»Wir haben nichts mehr zu reden«, antwortete ich mit eiskalter Stimme, schüttelte mein Handgelenk aus ihrem Griff und ließ sie stehen.

Ich setzte einen Fuß aus dem Raum, als etwas wenige Zentimeter an meinem Kopf vorbei flog. Ich spürte den Windhauch, hörte den ohrenbetäubenden Knall und sank erschrocken zu Boden. Zitternd kauerte ich im Türrahmen und Tränen stahlen sich aus meinen Augen.

Ängstlich drehte ich den Kopf zur Seite und betrachtete den blutroten Weinfleck an der Wand, den die Flasche hinterlassen hatte. Ich fand Moms Blick, der so kalt und unberechenbar war wie nie. Mein Herz schlug mir bis zum Hals.

»Du Miststück«, schrie sie und stürzte auf mich zu. Ich verlor das Gleichgewicht, rutschte rückwärts über den Boden, um von ihr wegzukommen. Kleine Glassplitter bohrten sich in meine Handflächen, doch ich ignorierte den Schmerz. Mit den Beinen trat ich in die Luft, um mich zu schützen.

»Lass mich in Ruhe«, schluchzte ich und presste meinen Körper an die Flurwand. Langsam zog ich mich am Schuhregal nach oben und tastete nach einem Gegenstand, mit dem ich sie auf Abstand halten konnte. Wo war der verdammte Schuhanzieher? Plötzlich entdeckte ich den kaputten Glasflaschenhals, der neben das Regal gerollt war, ergriff ihn und hielt ihn in Richtung meiner Mutter. Mit bedachten Schritten schob ich mich an der Wand entlang zu meiner Zimmertür, nahm meine Tasche vom Boden und sah Mom durch meinen tränenverschleierten Blick an. Wie eine angriffslustige Löwin stand sie vor mir, das Gesicht voller Abscheu, bereit, mich erneut anzugreifen, wenn ich einen Fehler beging.

»Das wirst du bereuen«, knurrte sie, während ich die Hand hinter dem Rücken ausstreckte und die Türklinke nach unten drückte. Meine Finger zitterten so sehr, dass ich sie im ersten Moment verfehlte. Als es mir gelang, verschwand ich in dem Raum und schlug die Tür zu.

Panisch schob ich eine Kommode vor die Tür, welche die Klinke notdürftig verkeilte. Meinen Schlüssel hatte sie mir schon vor Jahren weggenommen, aber üblicherweise brauchte ich ihn nicht.

Weinend rutschte ich auf den Boden, legte den Flaschenhals neben mich und stützte die Hände auf dem sauberen Teppich ab. Schwach sank mein Kopf nach vorn und die Angst und die Anspannung der letzten Minuten fielen von mir ab.

Mom hatte eine Weinflasche nach mir geworfen. Mir war nicht klar, ob sie mich absichtlich verfehlt oder ob sie wegen ihres Alkoholpegels nicht getroffen hatte.

Übelkeit breitete sich in mir aus und brennende Magensäure stieg meine Kehle nach oben. Ich rutschte über den Boden, zog den Mülleimer zu mir, weil ich es nicht ins Bad schaffte, und übergab mich. Tränen rannen meine Wangen hinab, während ich würgte und mich anschließend erschöpft auf den Teppich legte.

 

Nachdem mein Körper sich beruhigt hatte, stand ich auf und lauschte. Im Haus war es still. Ich ging zum Fenster, öffnete es und stellte den Mülleimer nach draußen. Im Kleiderschrank suchte ich frische Unterwäsche, ein Shirt und Shorts und legte die Sachen auf das Fensterbrett. Ich kletterte hinaus und dankte dem Schicksal im Stillen, dass wir in einem ebenerdigen Haus wohnten. Dieses Fenster hatte mich oft gerettet.

Ich schlich zur Mülltonne und warf den Eimer hinein, anschließend nahm ich die saubere Kleidung und steuerte das Badezimmerfenster an, welches sich von außen mit Leichtigkeit nach oben schieben ließ. Der Traum eines jeden Einbrechers – zumindest, wenn es bei uns mehr zu holen gäbe als leere Weinflaschen und Müll.

Vorsichtig spähte ich hindurch und entdeckte meine Mutter am Waschbecken. Sie starrte ihr Spiegelbild an und ließ sich kaltes Wasser über die Handgelenke laufen.

Ich presste mich dicht an die Hausfassade, während ich lauschte, wann sie den Raum verließ. Das Rauschen des Wassers verstummte, zwei Sekunden später fiel die Tür ins Schloss. Die Luft war rein, dennoch wartete ich eine weitere Minute, bis ich das Fenster nach oben schob und hineinkletterte. Blitzschnell verriegelte ich die Tür – das Badezimmer besaß als einziger Raum im Haus einen Schlüssel – und betrachtete mich im Spiegel. Meine Haare waren vom Wein verklebt und mein gelbes Kleid von roten Sprenkeln überzogen. Vom Weinen waren meine Augen gerötet und geschwollen.

Ich putzte die Zähne, weil ich einen furchtbaren Geschmack im Mund hatte, seit ich mich übergeben hatte, und kontrollierte ein weiteres Mal, ob die Tür verriegelt war. Wenn Mom mitbekam, dass ich mich im Badezimmer aufhielt, konnte alles passieren. Bevor ich mich meiner schmutzigen Kleidung entledigte, atmete ich tief durch und stieg unter die Dusche. Ich wusch mir die letzten eineinhalb Stunden akribisch vom Körper, schrubbte meine Haut mit einem Badeschwamm und schamponierte die Haare ein.

Immer wieder lauschte ich, ob Mom sich vor der Tür positionierte, aber es blieb still. Entweder ertränkte sie ihren Frust in einer neuen Flasche Wein, oder sie hatte sich schlafen gelegt. Was es auch war, ich traute dem Frieden nicht.

Ich stellte das Wasser ab und stieg aus der Dusche. Nachdem ich mich abgetrocknet hatte, zog ich mich an und wickelte meine nassen Haare in das Handtuch. Ich schloss die Tür leise auf und kletterte aus dem Fenster, um in meinem verbarrikadierten Zimmer zu verschwinden.

Plötzlich hörte ich, wie die Badezimmertür nebenan aufgeschlagen wurde und meine Mutter einen ohrenbetäubenden Fluch ausstieß.

»Du kleines Miststück!«

Sie kam zu meiner Tür und hämmerte gegen das Holz. Eilig ließ ich mich auf den Boden vor die Kommode sinken und wirkte als zusätzlicher Widerstand dagegen. Aggressiv drückte sie die Türklinke nach unten.

»Mach die verdammte Tür auf!«

Ich spürte, wie die Kommode zu rutschen begann. Der kleine Knauf der Schublade drängte sich schmerzhaft in meinen Rücken. Ich durfte jetzt nicht aufgeben. Sobald meine Mutter bemerkte, dass sie eine winzige Chance hatte, in dieses Zimmer zu kommen, hatte ich verloren.

Eines musste man Mom lassen, wenn es darum ging, mir zu schaden, hatte sie Kampfgeist.

Tränen rannen über meine Wangen und ich presste mich fester gegen die Kommode.

»Autumn, ich schwöre dir, ich bringe dich um, wenn du die verdammte Tür nicht öffnest!«

Ich schluchzte leise auf, während der Knauf wieder und wieder in meinen Rücken schlug.

»Versuch es!«, schrie ich herausfordernd.

Ich würde nicht aufhören zu kämpfen. Nicht jetzt, wo ich dieser Hölle bald entfliehen konnte.

Kapitel 3

Es fühlte sich unendlich lange an, bis meine Mutter sich beruhigt und von der Tür abgelassen hatte.

Nur noch ein paar Stunden!

Wie ein Mantra flüsterte ich diesen Satz, seit ich vom Boden aufgestanden war und die Türklinke zusätzlich mit Büchern verkeilt hatte.

Unter dem Bett zog ich meinen Koffer hervor und öffnete ihn. Im Vorfeld hatte ich die Kleidung sortiert, die ich mitnehmen wollte. Viele der ausrangierten Sachen waren mir zu klein oder dünn und löchrig, weil ich sie zu lange getragen hatte. Ich packte meine Trainingsbadeanzüge in die Tasche und wählte drei Paar Schuhe aus.

Prüfend blickte ich mich in dem acht Quadratmeter großen Zimmer um. Dieser Raum passte nicht zum Rest des Hauses, darauf achtete ich penibel. Während das Haus dreckig und dunkel war, strahlte mein Zimmer. Die Schränke, der Schreibtisch und mein Bett waren weiß. Überall hatte ich bunte, fröhliche Dekorationen verteilt. Kunstblumen, Laternen, Kerzen, bunte Lichterketten. Die meisten Dinge musste ich schweren Herzens zurücklassen. Ich legte fünf ungelesene Romane in den Koffer, Fotos vom Schwimmteam, mein Bullet Journal und leere Notizhefte, die ich zukünftig für Mitschriften nutzen würde. Aus dem Bücherregal nahm ich eine Delfinfigur, die Dad mir geschenkt hatte, kurz nachdem ich aktiv in den Schwimmverein eingetreten war. Ich hütete sie wie einen Schatz. Der Rest blieb zurück.

Innerhalb einer Stunde verpackte ich neunzehn Jahre meines Lebens in einem Koffer. Ich verschloss ihn, stellte ihn neben das Bett und setzte mich an den Schreibtisch. Der Blick auf die Uhr ließ mich lächeln.

Nur noch zwei Stunden.

Ich zog ein weißes Blatt aus einem Schreibtischfach und griff zu einem Kugelschreiber. Auch wenn meine Mutter nach ihrem Verhalten keinen Abschiedsbrief verdient hatte, würde ich nicht sang- und klanglos verschwinden. Sie sollte wenigstens wissen, dass mir nichts zugestoßen war und ich freiwillig aus Phoenix verschwand.

 

Hallo Mom,

wenn du diesen Brief findest, sitze ich hoffentlich im Flugzeug und begreife endlich, dass du nicht mehr über mein Leben bestimmst und mich kaputtmachst.

Ich habe dich nie wegen deiner Trauer um Dad verurteilt, anfangs wollte ich dich sogar verstehen. Aber was du mir in den letzten fünf Jahren angetan, wie du mich behandelt und was du mir an den Kopf geworfen hast … das war zu viel.

Ich schreibe dir diesen Brief nicht, um dir zu vergeben. Ich schreibe dir, damit du dir keine Sorgen machst, sollte in deinem eiskalten Herzen noch ein kleiner Funken Liebe für mich sein.

Ich verlasse Phoenix, um von dir loszukommen und um von vorn anzufangen. Ich wünschte, ich könnte dir für irgendetwas danken, aber das kann ich nicht.

Such nicht nach mir!

Autumn

 

Ich ließ den Brief liegen und setzte mich aufs Bett. Während ich meine Finger nervös knetete, lauschte ich, was im Haus passierte. Im Wohnzimmer lief der Fernseher, aber es war möglich, dass Mom davor eingeschlafen war.

Wenn dem so war, hatte ich leichtes Spiel. Ihr Schlaf war so fest, dass neben ihr eine Bombe hätte einschlagen können, ohne dass sie hochschrecken würde.

Trotzdem war mir flau im Magen. Schon den gesamten Tag über begleitete mich eine furchtbare Ahnung. Was, wenn alles schief gehen und Mom mich aufhalten würde? Die Angst, nicht vorsichtig genug gewesen zu sein, hing beharrlich über mir.

Ich zog mein Handy aus der Tasche und warf einen Blick darauf, um mich von dem nervösen Gefühl in meinem Inneren abzulenken.

Eine Nachricht von Camila und eine weitere von meiner zukünftigen Mitbewohnerin Lindy, die mich vor etwa einer Woche über mein Social Media-Profil kontaktiert hatte.

Camila: Ist alles in Ordnung? Macht deine Mutter Probleme?

Autumn: Wir hatten Streit, aber jetzt ist alles ruhig. Sobald sie schläft, verschwinde ich von hier.

Camila: Ich stehe dreiundzwanzig Uhr vor eurem Haus und hole dich ab. Keine Widerrede!

Autumn: Das ist nicht nötig. Wenn Mom schläft, bekommt sie nichts mit.

Camila: Keine Widerrede!

 

Ich dankte ihr in einer weiteren Nachricht und öffnete danach den Chat mit Lindy.

Lindy: Ich wünsche dir einen guten Flug. Ich freue mich auf morgen. xoxo

 

Lächelnd legte ich das Handy beiseite. Seit Lindy sich bei mir gemeldet hatte, schrieben wir regelmäßig. Wir hatten uns auf Anhieb verstanden und bereits die ersten Gemeinsamkeiten ausfindig gemacht. Da war nicht nur die Liebe für Nussschokolade, sondern auch die für Netflixserien und kitschige Deko.

In den letzten Jahren hatte ich meinem Umfeld nicht gezeigt, dass ich eigentlich ein offener Mensch war. Die Angst, die anderen könnten herausfinden, was bei mir zu Hause vor sich ging, hatte mich einsam gemacht. Ich wollte nicht, dass man im Team über mich redete, obwohl ich mich mit vielen Mädchen gut verstanden hatte.

In Bridgeport würde ich mich zum ersten Mal nicht gegen eine Freundschaft wehren müssen.

Vor ein paar Tagen hatte Lindy mir die ersten Bilder unseres Zimmers geschickt. Ein romantischer Mädchentraum mit Lichterketten, unzähligen Zierkissen, Kuscheldecken und Kerzen. Zugegeben, meine Zimmerseite war trostlos und leer, aber das würde ich bald ändern.

Und ich freute mich darauf.

 

Kurz vor dreiundzwanzig Uhr stand ich von meinem Bett auf und blickte aus dem Fenster. Ich sah die Scheinwerfer eines Autos, das langsamer wurde und einige Meter vor unserem Haus zum Stehen kam. Das musste Camila sein.

Ich atmete tief durch und hob meinen Koffer nach draußen. Dann lauschte ich. Der Fernseher lief nicht mehr, ein Zeichen dafür, dass Mom eingeschlafen war und das Gerät sich eigenständig ausgeschaltet hatte. Zumindest hoffte ich das.

Ich zog die Bücher unter der Türklinke weg. So hatte meine Mutter die Chance, die Kommode mit ein bisschen Kraft von der Tür wegzuschieben.

Ein letztes Mal betrachtete ich mein kleines Reich, atmete tief durch und stützte mich auf dem Fensterbrett ab, um hinauszuklettern.

Plötzlich gab es einen Knall im Wohnzimmer und ich zuckte erschrocken zusammen. Was war das?

Heraneilende Schritte holten mich in die Gegenwart zurück und ich rutschte vom Fensterbrett nach draußen. Erstarrt blickte ich auf meine Zimmertür, aber nichts passierte. Im Badezimmer wurde das Licht angeschaltet.

»Verdammt«, fluchte ich leise, bekam die Kontrolle über meinen Körper zurück und rannte mit dem Koffer in der Hand los.

»Autumn?«, hörte ich meine Mutter fragen. Sie klang überraschend nüchtern und trotzdem drehte ich mich nicht zu ihr um. Ich stolperte auf Camilas Wagen zu, riss die Tür auf und warf den Koffer auf die Rückbank.

»Starte den Motor«, flüsterte ich mit zitternder Stimme und Camila reagierte. Ich sprang auf den Beifahrersitz, mein Herz schlug mir bis zum Hals. Als wir am Haus vorbeifuhren, öffnete Mom gerade die Haustür. Wir tauschten einen Blick, dann sank mein Kopf schwach gegen die Fensterscheibe. Was wäre passiert, wäre Cam nicht da gewesen? Mein Herz sprang mir beinahe aus der Brust, mein gesamter Körper bebte.

»Aus diesem Grund wollte ich dich abholen«, flüsterte Camila.

»Sie hatte einen schlechten Tag, ich hatte es im Gefühl«, brachte ich angespannt hervor und atmete tief durch. »Danke, dass du hier bist.«

»Ich fahre erst wieder zurück, wenn ich diesem verdammten Flieger beim Starten zugesehen habe.«

Ich lächelte dankbar.

Nachdem wir die Unterlagen im Café Cam geholt hatten, fuhren wir zum Phoenix Sky Harbor, der wenige Autominuten von der Kaffeelounge entfernt lag.

Zum ersten Mal seit Jahren konnte ich wieder frei atmen, als Camila und ich das Flughafengebäude betraten. Ein letztes Mal predigte sie alle Anweisungen.

»Der Zwischenstopp in Charlotte dauert eineinhalb Stunden. Trink keinen Kaffee und versuch zu schlafen, dann machen dir die zwei Stunden Zeitverschiebung nichts aus. Deine Mitfahrgelegenheit wartet zwölf Uhr dreißig vor dem Haupteingang des Flughafens Westchester County auf dich. Es handelt sich ebenfalls um einen Studenten, ein netter junger Mann, wir haben telefoniert. Wenn er dir trotzdem komisch vorkommt, nimm den Bus. Hast du das verstanden?«, prasselten Camilas Worte auf mich ein, kurz bevor mir der Weg zum Check-in bevorstand.

»Wenn er ein Psychopath ist, weiß ich mich zu wehren«, scherzte ich und umarmte meine Chefin. »Ich kann dir nicht oft genug danken.«

Ich küsste Camila auf die Wange und nahm den Koffer.

»Das musst du nicht.«

»Doch.« Ich schenkte ihr ein letztes Lächeln. »Danke.«

 

Ich beherzigte Camilas Tipp und schlief den gesamten Flug über. Während des Zwischenstopps in Charlotte gönnte ich mir einen Schinken-Bagel und eine heiße Schokolade und nutzte die verbleibende Zeit zum Schlafen.

Nachdem ich mit dem Koffer in der Hand aus dem Flughafengebäude von Westchester County spazierte, begriff ich, dass mein neues Leben in diesem Augenblick begonnen hatte. Es fühlte sich noch immer wie ein Traum an.

Ich atmete tief durch und genoss das Gefühl der warmen, aber im Vergleich zu Phoenix viel kühleren Luft, und ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Es war ein bedeckter Tag und die Sonne versteckte sich, das änderte an dem Hochgefühl, das sich in meinem Inneren ausbreitete, glücklicherweise nichts.

»Bist du Autumn?«

Die tiefe und zugleich melodische Stimme ließ mich zusammenzucken und ich wandte meinen Kopf zur Seite. Ich schluckte schwer, als sich der tätowierte Typ mit verschränkten Armen vor mir aufbaute. Seine grauen Augen ruhten auf mir, während der Wind durch sein dunkelblondes Haar fuhr und eine perfekt gestylte Strähne seines Undercuts durcheinanderbrachte. Er spannte seine markanten Kieferknochen an, verzog die Lippen zu einem Strich und wartete ab.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, fixierte stattdessen das schwarze Shirt, das an seinen trainierten Oberarmen spannte und beeindruckende Bauchmuskeln erahnen ließ.

»Bist du stumm?«, fragte er und ich sah erschrocken auf. Der Blick, mit dem er mich bedachte, jagte einen Schauer durch mein Innerstes. »Taub?« Skeptisch zog er eine Augenbraue nach oben und kniff anschließend die Augen zusammen.

»Ich … nein … also«, stammelte ich. Meine Hand verkrampfte sich um den Griff des Koffers. »Ja, ich bin Autumn.«

»Dann beeil dich, ich habe heute noch andere Dinge zu erledigen«, wies er mich an und marschierte zu einem schwarzen BMW M3. Mir klappte der Mund auf.

Wie unverschämt.

Warum hatten diese gut aussehenden Typen allesamt kein Benehmen?

Mit schnellen Schritten folgte ich ihm und zog meinen Koffer hinterher. Hatte Cam nicht gesagt, er wäre nett? Ich war nicht auf den Mund gefallen, das hatte ich der Arbeit im Café zu verdanken. Aber aus irgendeinem Grund verunsicherte mich der Typ.

»Vielleicht stellst du dich erst einmal vor?«, erwiderte ich schnippisch und stemmte die Hände in die Hüften.

»Bryan. Und jetzt pack den Koffer auf die Rückbank und steig ein.«

Im ersten Moment wusste ich nicht, was ich sagen sollte, dazu hatte ich ohnehin keine Chance. Bryan saß bereits im Wagen und ließ den Motor an. Was zum Teufel stimmte mit dem nicht? Ein bisschen Freundlichkeit hatte noch niemandem geschadet.

»Autumn, ich meine es ernst. Ich fahre ohne dich, das ist kein Witz!«

Ich legte den Koffer auf die Rückbank und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Nachdem ich mich angeschnallt hatte, fuhr Bryan los.

Nervös knetete ich meine Finger. Wenn so eine Szene in einem Buch oder Film passiert war, hatte ich die Protagonistinnen nie verstanden. Ich war der festen Überzeugung gewesen, dass kein Mann mich je so vor den Kopf stoßen konnte. Bryan jedoch hatte die Macht dazu und das beängstigte mich. Verdammt, was war los mit mir?

Aus dem Augenwinkel beobachtete ich ihn. Er war höchstens Anfang zwanzig, sein Kinn zierte ein schwacher Bartschatten und seine Arme waren mit bunten Tattoos übersät. Die fein gearbeitete Rosenranke stach mir besonders ins Auge. Zarte, blutrote Blütenköpfe waren von grünen Blättern und spitzen Dornen umgeben. Das Tattoo bedeckte seinen gesamten, rechten Arm.

»Hast du keine Zeitschrift mit, die du anstarren kannst?«

Ertappt wandte ich den Blick von Bryan ab. Meine Wangen brannten vor Scham.

»So interessant bist du nicht«, murmelte ich und sog die Luft tief in die Lungen. Ich starrte aus dem Fenster, während die Landschaft rasend schnell an mir vorbeizog. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, obwohl Bryans direkte Art mich furchtbar störte. Was hatte ich dumme Kuh ihn auch angestarrt wie ein hormongesteuerter Teenager? Als hätte ich in meinem Leben noch nie einen attraktiven Typen gesehen.

Bryan schaltete das Radio ein und drehte es laut auf. Irgendeine Rockband, die ich nicht kannte, schrie mir unverständliche Worte ins Ohr.

War das jetzt sein Ernst? Das würde ich keine fünfundvierzig Minuten bis zum Wohnheim durchstehen. Besaß er insgeheim eine Liste mit Dingen, die ich hasste?

»Könntest du das leiser stellen?«, fragte ich und sah zur Seite. Bryan trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad und bewegte den Kopf zur Musik. Sein Haar wippte leicht, eine Strähne löste sich und fiel ihm in die Stirn. Ihm schien dieses Gegröle tatsächlich zu gefallen.

»Nein.« Er fuhr sich lässig durch die Haare. Wie konnte man dabei nur so gut aussehen? Verdammt!

»Nein?«, fragte ich perplex. Für einen kurzen Moment sah er mich mit seinen eiskalten, grauen Augen an. Ein Rucken ging durch mich hindurch und ich hielt erschrocken die Luft an. Das Kribbeln begann in meinem Magen und schoss innerhalb von Millisekunden durch den Rest meines Körpers. Ich fing jeden Zentimeter seines Gesichts ein – die ausdrucksstarken Augen, seine Lippen, die schönen Gesichtszüge – und verlor mich.

Er löste den Blick, während ich ihn weiter anstarrte. Ohne dass ich ein weiteres Wort sagen musste, drehte Bryan die Musik leiser und konzentrierte sich auf die Straße. Woher dieser plötzliche Sinneswandel kam, verstand ich nicht, aber ich hatte nicht vor, ihn zu hinterfragen.

»Danke«, brachte ich mühsam hervor und er nickte.

Die Stille, die daraufhin eintrat, war trotz der Musik kaum zu ertragen. Angespannt knetete ich meine Hände und schielte immer wieder in Bryans Richtung. Irgendetwas hatte er an sich, das mich faszinierte. Möglicherweise waren es seine Tattoos, oder die unnahbare Ausstrahlung, die ihn umgab.

Dabei gehörte ich nicht zu den Mädchen, die sich von Bad Boys in den Bann ziehen ließen. Wenn ich ehrlich war, schaffte das überhaupt kein Typ. Obwohl ich während der Highschool einige Angebote bekommen hatte, hielt ich mich von Männern fern. Nicht nur, weil mir das Schwimmen wichtiger war, sondern vor allem wegen meiner Mutter. Niemand sollte herausfinden, dass sie sich bis zur Besinnungslosigkeit betrank und manchmal sogar Schlimmeres. Es war eine Art von Selbstschutz gewesen. Jahrelang war ich überzeugt davon, dass es so besser für mich war. Mittlerweile war ich mir nicht mehr so sicher.

Als Bryan mich erneut dabei erwischte, wie ich ihn anstarrte, brach er sein Schweigen.