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Ayahuasca und Tabak – zwei schamanische Lehrerpflanzen vom Amazonas – gehören zur indigenen psychedelischen Kultur Südamerikas wie kaum ein anderes Gewächs. Der visionäre DMT-haltige Dschungeltrank Ayahuasca (Yagé) stellt die Grundlage für entheogene, spirituelle und heilkräftige Rituale amazonischer Schamanen dar, bei denen der Tabak (Nicotiana) eine ebenso große Rolle spielt. Der Kulturanthropologe und Schamanismus-Forscher Jeremy Narby porträtiert in diesem Band zusammen mit einem echten Ayahuasquero die beiden wichtigen Meisterpflanzen amazonischer Indianer. Ein lange erwartetes neues Werk des Erfolgsautors Jeremy Narby, der mit dem Buch Die kosmische Schlange weit über die Fachkreise ein großes Ansehen erlangt hat.
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Seitenzahl: 171
Veröffentlichungsjahr: 2021
Jeremy NarbyRafael Chanchan Pizuri
Meisterpflanzen vom Amazonas
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Herstellung:Bookwire GmbHKaiserstraße 5660329 Frankfurt am MainDeutschland
Verlag:Nachtschatten Verlag AGKronengasse 114500 SolothurnSchweiz
Jeremy Narby, Rafael Chanchari Pizuri
Ayahuasca und Tabak: Meisterpflanzen vom Amazonas
Nachtschatten Verlag AG
Kronengasse 11
CH-4502 Solothurn
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Titel der Originalausgabe: Deux Plantes enseignantes – Le Tabac & l’Ayahuasca; erschienen 2021 im Verlag Mama Éditions, Paris
Übersetzung: Chris Heidrich, Solothurn
Fachlektorat: Markus Berger, Felsberg Lektorat: Inez Ulrich, Ortenburg
Korrektorat: Jutta Berger, Felsberg; Caro Lynn von Ow, Dublin
Umschlaggestaltung: Nina Seiler, Zürich
Layout: Nina Seiler, Zürich, Mitarbeit: Silvia Aeschbach, Bern
ISBN: 978-3-03788-473-7
eISBN: 978-3-03788-492-8
Alle Rechte der Verbreitung durch Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, elektronische digitale Medien und auszugsweiser Nachdruck sind nur mit Genehmigung des Verlags erlaubt.
Einleitung
Kapitel 1
Medizin und Bosheit
Kapitel 2
Heilmittel und Gift
Kapitel 3
Reinigung mit zwei Seiten
Kapitel 4
Verwirrender therapeutischer Cocktail
Epilog
Anhang
Vape, Schnupftabak, Rapé und Snus
Dank
Bibliographie
Über die Autoren
Bildnachweis
Index
Jeremy Narby
Meine erste Begegnung mit Tabak fand 1985 statt, als ich in einer Gemeinschaft der Asháninka im peruanischen Amazonasgebiet lebte. Diese Menschen glaubten, dass Pflanzen wie Tabak und Ayahuasca denjenigen, die sie konsumierten, Wissen vermitteln können; und in ihren Augen war Tabak die Nummer eins unter den Meisterpflanzen. Wenn die Asháninka ein Problem oder eine Krankheit hatten, wandten sie sich an den seripiari, was in ihrer Sprache »Tabakschamane« bedeutet.
Ich für meinen Teil hatte keine besondere Affinität zu Zigaretten oder Zigarren, auch glaubte ich nicht, dass man durch das Rauchen von Zigaretten viel lernen könne. Ich wuchs mit einem Vater auf, der als ehemaliger Kettenraucher zum eifrigen Antiraucher wurde, und mit einer Mutter, die nur im Freien rauchte, als würde sie sich verstecken, sodass ich das Rauchen von Tabak als eine ungesunde Zeitverschwendung ansah. Als junger Anthropologe war ich daran interessiert, die Ansichten der indigenen Amazonasvölker zu verstehen. Und um ehrlich zu sein, ich kam frisch von der Universität.
Im Laufe der Monate in dieser indigenen Gemeinschaft wurde ein Mann namens Carlos Perez Shuma zu meinem wichtigsten Gesprächspartner. Er war 45 Jahre alt und – wie es der Zufall wollte – Tabakschamane. Wir unterhielten uns stundenlang auf Spanisch, und er erzählte Geschichten aus seinem Leben, von denen viele mit Tabak zu tun hatten: wie sein Onkel ihm den Tabakgebrauch beigebracht hatte, als er noch klein war; wie der Tabak ihn vor Gefahren und Feinden aller Art schützte und wie er die maninkari anlockte, unsichtbare Geister, die alle Lebewesen belebten. Eines Tages wurde ich Zeuge, wie Carlos Perez Tabakrauch über einen kranken Säugling blies, den jemand zu einer Heilbehandlung mitgebracht hatte. Ich fragte ihn, wie Tabak in solchen Fällen helfen könne.
Er antwortete: »Ich sage immer, Tabak hat die Eigenschaft, dass er mir die Realität der Dinge zeigt. Ich kann die Dinge sehen, wie sie sind. Und er vertreibt alle Schmerzen.«
Einige der Geschichten, die Carlos Perez über Tabak erzählte, widersprachen meinem Verständnis von Realität – aber ich dachte mir, dass es in meiner Arbeit als Anthropologe darum ginge, keine Skepsis zu äußern, sondern die Sichtweise der jeweiligen Person in ihren eigenen Worten wiederzugeben und Fragen zu stellen, wenn ich etwas nicht verstand. Bei einer Gelegenheit begann er mir vom Ableben seines Schwiegervaters zu erzählen, der ein bekannter Tabakschamane gewesen war: »Er pflegte seinen Tabak zu trinken, als sei er Wasser; er nahm ihn in die Hand und trank ihn so, als sei es nichts. Und dann konnte er machen, was er wollte, ja, er verwandelte sich sogar vor den Augen aller in einen Jaguar.«
»Wirklich?«, fragte ich.
»Deshalb haben sie ihn umgebracht, weil er sich oft in einen Jaguar verwandelte und Rinder angriff«, fuhr er fort.
»Er griff Rinder an?«, fragte ich, unsicher, ob ich richtig verstanden hatte.
»Er griff Rinder an«, wiederholte er.
»Wessen Rinder?«
»Die der Kolonisten.«
»Warum griff er ihre Rinder an?«
»Weil er mit ihnen bumsen wollte. Also töteten sie den Jaguar, nahmen ihm das Herz heraus und kochten es mit Asche, Harz und scharfem Paprika; und als seine Seele aus ihm herausgetreten war, bekam er einen Schock, deshalb starb er. Er starb nicht, weil er krank war, sondern er starb um seiner Seele willen.«
»Die Kolonisten haben ihn also umgebracht?«
»Nein, den Kolonisten gehörten die Rinder, aber sie heuerten einige Asháninka an, um den Jaguar zu töten. Denn wenn dort ein echter Jaguar Rinder angreift, kann man ihn erschießen und töten. Trägt er aber die Seele eines Tabakschamanen in sich, kann man ihn aus nächster Nähe erschießen, und er kann trotzdem noch springen; sogar, wenn man von dort drüben auf ihn schießt, kann man ihn nicht töten, weil er ein Mensch ist (porque es gente).«
»Und wie haben sie es geschafft, die Seele deines Schwiegervaters zu töten?«
»Sie haben ihn verraten. Er selbst erzählte uns, als es passierte, sei er dreimal entflohen, und meinte: ›Ich weiss nicht, wie ich sterben werde, denn viele Leute wollen mich töten, aber sie werden es nicht schaffen.‹ Vielleicht kam der Zeitpunkt, in dem er nicht länger ausweichen konnte, vielleicht benutzten sie etwas Geheimes, er gab seinen Körper auf, und sie saugten seine Seele aus. So ist er gestorben. Denn er starb rund und gesund.«
»Gesund?«, fragte ich.
»Gesund. Und im Moment seines Todes gab es einen brennenden Geruch nach Schießpulver. Deshalb sagte er: ›Jetzt haben sie mich gefickt. Also kann ich nicht weiterleben, weil sie in Wahrheit mein Herz gekocht haben, sodass kein Leben mehr in mir ist.‹ Denn bei seinem Tod tropfte er, als hätten sie ihn mit Wasser getränkt, ihm floss der Schweiß, weil sie sein Herz ins Feuer gelegt hatten. Deshalb verbrannte er. Und so war es dann auch.«
Als Carlos Perez mir diese Geschichte erzählte, merkte ich, dass ich die Ereignisse, von denen er erzählte, nicht für möglich hielt. Als Kind des Rationalismus und Materialismus glaubte ich nicht, dass die Seele eines Menschen, angetrieben durch eine starke Dosis Tabak, aus dem Körper fliegen, sich in einem lebendigen Jaguar einnisten und dort so lange festsitzen kann, bis sie dann den Tod des Menschen verursacht, nachdem das Herz des physischen Jaguars herausgeschnitten und in Chilischoten gekocht worden war. Ich wusste auch nicht wirklich, was ich mit einer solchen Geschichte anfangen sollte.
Nachdem ich ein Jahr lang in dieser Asháninka-Gemeinschaft gelebt hatte, begleitete ich Carlos Perez zu einem Besuch bei seinem alten Tabakschamanenlehrer, der oben in den Hügeln lebte, etwa eine Stunde Fußmarsch entfernt. Der Mann schien mindestens 80 Jahre alt zu sein, denn er war von Falten übersät. Carlos Perez erzählte mir, dass niemand sein genaues Alter kannte, da er geboren wurde, bevor die Asháninka anfingen, die Jahre zu zählen. Er saß auf einer Matte, trug ein Baumwollhemd und aß Tabakpaste von einem kleinen Stab, der in einem Kürbis steckte. Als ich ihm vorgestellt wurde, sah er mich mit spitzbübisch blitzenden Augen an und fragte, ob ich sein Schwiegervater sei.
Ich war zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal ein Drittel so alt wie er, also war das eindeutig ein Scherz. Ich beschloss, mitzuspielen, und bejahte die Frage. Er lachte und fragte mich erneut: »Konki?« (Schwiegervater?). »Ja«, antwortete ich. Er stellte mir die gleiche Frage ungefähr zwanzig Mal hintereinander, und jedes Mal, wenn ich mit »Ja« antwortete, wurde sein Lachen noch ein bisschen breiter. (Später an diesem Tag erfuhr ich von Carlos Perez, dass die Frage auch bedeutete: »Kann ich mit deinen Töchtern schlafen?« – der Witz ging also auf meine Kosten.) Ich beendete unseren Austausch und fragte, ob ich etwas von seiner Tabakpaste probieren dürfe. Er reichte mir den Kürbis, ich schob mir eine beträchtliche Menge zwischen die Lippen und setzte mich dann etwas abseits, damit die beiden Männer ihre Geschäfte besprechen konnten. Nach einer kurzen Weile, in der ich so dasaß, ohne über etwas Bestimmtes nachzudenken, fuhr ich mit meiner Zunge die Unterseite meiner Vorderzähne entlang, und sie schienen überaus lang und scharf zu sein. Außerdem schienen Katzenschnurrhaare seitlich aus meinem Gesicht zu wachsen, mit denen ich meine Umgebung noch schärfer wahrnehmen konnte. Mein Mund schmeckte nach Blut, und obwohl ich Veganer war, genoss ich den Geschmack. Meine Sinne sagten mir, dass ich mich in eine Katze verwandelte. So etwas hatte ich nicht für möglich gehalten, aber es fühlte sich echt an. Dieses katzenartige Gefühl machte, dass ich mich warm, kraftvoll und weise fühlte. Ich beäugte ein paar Hühner, die in der Nähe herumgackerten, und entschied wie ein wohlwollender Jaguar, mich nicht auf sie zu stürzen. Ich erinnere mich noch, dass ich mir sagte: »Du weißt, dass die Tabakpaste wirklich stark ist, wenn der Anthropologe anfängt, Hühner anzugreifen!«
Dieser katzenartige und raubtierhafte Eindruck war so lebendig, dass er mir bis heute im Gedächtnis geblieben ist. Aber es dauerte lange, bis ich mich in der Lage fühlte, öffentlich darüber zu sprechen.
Die Jahre nach diesem Erlebnis vergingen, und ich hielt mich weiterhin von Tabak fern. Er war keine Pflanze, die mich rief – zum Glück, denn ich wusste, dass ihr regelmäßiger Gebrauch der Gesundheit schaden konnte.
Trotzdem respektierte ich die Pflanze, weil die indigenen Amazonasvölker auf ihrer zentralen Rolle beharrten und weil ich meine kurze Begegnung mit ihr schätzte. Mit meinem Körper zu spüren, wie es sich anfühlen könnte, ein Jaguar zu sein, war eine Erfahrung, für die ich dankbar war – aber keine, die ich unbedingt wiederholen wollte.
Ich glaubte nicht, dass ich mich wirklich in einer messbaren Weise in einen Jaguar verwandelt hatte. Vielmehr hatte ich eine intensive körpereigene Erinnerung an den Eindruck, eine Katze zu sein, die ich willentlich anzapfen und als Quelle der Kraft und des Mutes nutzen konnte.
Aber ich lernte, mit Menschen aus dem Westen nicht darüber zu sprechen, denn bei dem Thema schienen sich die Leute unwohl zu fühlen. Selbst eine einfache Diskussion über die Sichtweise der Amazonasvölker zu Tabak rief eher Unverständnis hervor. Die Leute erinnerten mich daran, dass der Tabakkonsum jedes Jahr bei Millionen von Rauchern zum frühzeitigen Tod führte und internationale Gesundheitsbehörden ihn als »die heute vermeidbarste Todesursache der Welt« bezeichneten – wie konnte also jemand die Pflanze als Quelle des Wissens und der Heilung ansehen?
Es schien mir klar zu sein, dass diese Ansicht auf dem Verständnis der Wirkungen vorgefertigter Zigaretten beruhte, die eine verfälschte Version der Pflanze anboten und meistens mit industriellen Chemikalien versetzt waren. Es schien auch klar zu sein, dass die indigenen Amazonasvölker über ein Wissen über Tabak verfügten, das vielleicht für die Raucher in der ganzen Welt und für Menschen, die diese mächtige Pflanze verstehen wollen, nützlich sein könnte. Aber zwischen diesen beiden Welten lag eine Kluft, die schwer zu überbrücken blieb.
Die Jahre zogen ins Land. Im Jahr 2010 starb Carlos Perez Shuma. Eine ganze Zeit lang danach konnte ich die Abschriften der Interviews, die ich mit ihm geführt hatte, kaum ansehen. Er war ein kluger Mensch und ein meisterhafter Geschichtenerzähler, und ich vermisste ihn sehr.
33 Jahre nach meiner ersten Begegnung mit dem Amazonastabak spürte ich einen Ruf, wieder zu diesem Thema zurückzukehren. Es war kein bestimmtes Ereignis, das dies auslöste; es war eher wie bei einer reifen Frucht, die vom Baum fällt. Plötzlich wusste ich, dass ich mich mit der Sichtweise der indigenen Völker des Amazonas auf den Tabak beschäftigen wollte.
Ich kontaktierte Rafael Chanchari Pizuri, einen indigenen Experten auf diesem Gebiet und Ältesten des Shawi-Volkes. Er arbeitet in der Nähe von Iquitos im peruanischen Amazonasgebiet, wo er junge, angehende indigene Lehrer unterrichtet. Er bezeichnet sich selbst auch als médico, ein spanischer Begriff, der dort für Spezialisten verwendet wird, die Menschen mit Volksmedizin heilen. Tabak spielt in seiner Praxis eine wichtige Rolle.
Ich erzählte Rafael Chanchari, dass ich daran interessiert war, die richtige Art und Weise der Annäherung an diesen mächtigen Pflanzenlehrer darzustellen. Ich hatte ihn schon mehrere Male interviewt, und er erklärte sich bereit, sein Wissen zu teilen: »Tabak ist eine wichtige Heilpflanze, und seine tiefere Bedeutung hängt davon ab, wie man ihn verwendet.«
Wir trafen uns in Iquitos, und unser anschließendes Gespräch über Tabak ist das Thema des ersten Kapitels.
Einige Monate später begann ich mich mit der neueren Forschung zu Tabak auseinanderzusetzen. Die Wissenschaft in die Diskussion einzubringen, sollte nicht das Wissen der Amazonasbewohner bestätigen oder entkräften, sondern die beiden Sichtweisen einander gegenüberstellen. Ich wollte sehen, wie sie im direkten Vergleich abschnitten. Ich begann die wissenschaftliche Literatur zu den verschiedenen von Rafael Chanchari genannten Punkten zu untersuchen – und fand zu meinem Erstaunen beachtliche Übereinstimmungen zwischen dem indigenen Wissen und der zeitgenössischen Wissenschaft. Dies ist das Thema des zweiten Kapitels.
An diesem Punkt wurde mir klar, dass Rafael Chanchari und ich es mit einem im Entstehen begriffenen Forschungsprojekt zu tun hatten, das zwei Arten des Wissens miteinander verband und ein umfassenderes Verständnis einer mächtigen und oft gefährlichen Pflanze ermöglichte. Ich schlug vor, dass wir die gleiche Vorgehensweise anwenden und uns auch einer anderen psychoaktiven Pflanze aus Südamerika zuwenden sollten, der Ayahuasca-Liane. Diese Pflanze hatte erst kürzlich allgemeine Bekanntheit erlangt, im guten wie im schlechten Sinne. Sie bildet die Grundlage eines Pflanzengebräus, das ihren Namen trägt und das von einigen als potentes Heilmittel bei Depression, Trauma, Angst und Suchtverhalten sowie als Werkzeug der Selbsterforschung und des inneren Wachstums angesehen wird – und das wiederum andere als gefährliches Halluzinogen betrachten.
Rafael Chanchari verfügt über reichlich Erfahrung im Umgang mit Ayahuasca, das er neben Tabak in seiner Praxis als médico einsetzt. Fast ein Jahr nach unserem ersten Gespräch trafen wir uns erneut, und dieses Mal wollten wir über Ayahuasca sprechen. Unser Austausch ist das Thema des dritten Kapitels.
Nach diesen Gesprächen über Tabak und Ayahuasca kamen Rafael Chanchari und ich überein, gemeinsam ein kleines Buch herauszugeben, das sowohl den indigenen als auch den wissenschaftlichen Blickwinkel auf die beiden Pflanzen aufzeigen sollte.
Noch einmal erforschte ich, Rafael Chancharis Behauptungen folgend, die jüngste wissenschaftliche Literatur zu Ayahuasca und fand heraus, dass die Sichtweise der Amazonas-Völker dabei half, einem neuen Bereich der wissenschaftlichen Forschung Sinn zu geben. Darum geht es im vierten Kapitel.
Als Co-Autoren sind wir beide der Meinung, dass sich Wissenschaft und indigenes Wissen ergänzen, obwohl es gewisse Unterschiede gibt. Indem wir sie zusammenbringen, ist unser erstes Ziel, sie nebeneinander bestehen zu lassen. Auf diese Weise können die Leser beide betrachten und ihre eigenen Schlüsse daraus ziehen.
Dieses Buch hat zwei Autoren, es handelt von zwei Pflanzen und bringt zwei Wissenssysteme zusammen. Wir hoffen, dass es Ihnen gefällt.
Eines späten Morgens trafen Rafael Chanchari und ich uns in der Schule, in der er unterrichtet. Er ist ein relativ kleiner Mann mit einer freundlichen Ausstrahlung. Wir saßen in einem ruhigen Raum, und ich schaltete das Aufnahmegerät ein.
Die Menschen im Amazonasgebiet sprechen oft von der »Besitzerin« oder »Mutter« einer Pflanze oder eines Tieres – so etwas wie eine Persönlichkeit, die einer Spezies zu eigen ist – und so begann ich das Gespräch, indem ich Rafael Chanchari fragte, ob das Volk der Shawi von einer »Besitzerin« des Tabaks spricht.
»Ja, wir Shawi-Leute sagen pinshi wa’yan, das ist die Seele oder der Geist des Tabaks, und pinshi a’shin, das ist die Mutter des Tabaks, diejenige, die ihn entdeckt oder erfunden hat, die ihn zum ersten Mal gesät hat. Das ist der Raupenmann, kuntan, wie wir sagen. Diese Raupe hat einen wissenschaftlichen Namen, das habe ich im Internet gesehen. Also das ist die Mutter, gemäß unserer Kultur.«
Er sprach mit sanfter Stimme und sprach jedes Wort deutlich aus. »Die Mutter ist ein Mann?«, fragte ich.
»Ein Mann«, antwortete er zustimmend. »Aber verwandelt. Es ist eine ganze Geschichte. Der Tabak hat eine Seele, er hat einen Geist, der von zweierlei Art ist, Medizin und Bosheit (maldad), oder was wir auf Spanisch Zauberei (brujería) nennen. Er hat zwei Geister.«
»Haben alle Pflanzen zwei Geister, oder nur der Tabak?«
»Vor allem die Pflanzen, die Macht haben, mit anderen Worten die Meisterpflanzen, Ayahuasca, Tabak, toé, catahua, die Chambira-Palme … alle Pflanzen, die machtvoll sind, haben zwei Geister oder Seelen. Die Person, die mit diesen Pflanzen arbeitet, muss sich also entscheiden, ob sie Medizin oder Bosheit lernen will. Und die Geister dieser Pflanzen bieten dir das an, denn sie sind nicht kleinlich. Manchmal wollen sie dich beides lehren. Doch es ist die Person, die wählt.«
Um ein besseres Verständnis für die »Mutter« des Tabaks zu bekommen, fragte ich Rafael Chanchari, ob er diese Wesenheit während seiner Arbeit mit den Meisterpflanzen jemals gesehen habe.
»Ja«, gab er zurück, »aber ich habe nicht die Mutter gesehen, sondern ihre Seele.«
»Aber was ist der Unterschied zwischen der Seele, dem Geist und der Mutter einer Pflanze?«, fragte ich.
»In der Sprache der Shawi haben alle Wesen wie Bäume, Fische, Vögel, Säugetiere und Reptilien eine Seele oder Mutter. Aber im Spanischen gibt es einen Unterschied zwischen ›Seele‹ (alma) und ›Geist‹ (espíritu). Sie sagen, dass Menschen Seelen haben, während Pflanzen und Tiere Geister haben. Darum verwende ich manchmal das Wort ›Geist‹, wenn ich mich auf die Seelen der Pflanzen beziehe. Die Seele oder der Geist einer Pflanze ist eine für die jeweilige Pflanze spezifische Wesenheit, während die Mutter einer Pflanze spezifisch für ihre Art ist.«
Als zweisprachiger Mensch dachte Rafael Chanchari in seiner Muttersprache Shawi über die Welt nach, und wenn er sich in seiner zweiten Sprache, Spanisch, ausdrückte, nahm er sich bei ihr gewisse Freiheiten heraus. Obwohl er wusste, dass im Spanischen das Wort Seele nur für Menschen vorgesehen ist, benutzte er es trotzdem, um sich auf Pflanzen und Tiere zu beziehen, weil er keinen grundlegenden Unterschied zwischen den Seelen der Menschen und denen anderer Arten sah. Er war das, was Anthropologen einen Animisten nennen.
Er fuhr fort und erklärte, dass es zwei Haupttypen des Tabaks gab, einen mit dicken, doppelten Blättern, den anderen mit kleinen, dünnen Blättern; und man konnte beide verwenden, um mapachooder Schamanentabak herzustellen. »Der stärkste ist der mit den doppelten Blättern. Man nimmt an, dass er eine größere Menge natürlicher chemischer Substanz zum Sehen von Visionen enthält.«
Das veranlasste mich zu der Frage, ob es seiner Meinung nach eine Verbindung zwischen Nikotin und der Mutter des Tabaks gebe.
»Offensichtlich ist es das Nikotin, das unsere Neuronen in einer Weise aktiviert, die es uns erlaubt, das Unwahrnehmbare in unseren Visionen und Träumen wahrzunehmen«, antwortete er. »So können wir erkennen, dass Pflanzen einen Geist haben. Der Geist ist das Abbild der Pflanze in der Welt der Visionen. Die Mutter ist ein Wesen, das sowohl physisch als auch geistig ist. Raupen sind die Mutter des Tabaks, und sie haben einen Geist, der dich lehren kann.«
Rafael Chanchari sah keinen Widerspruch zwischen Pflanzenmüttern und Pflanzengeistern auf der einen Seite und Neuronen und Molekülen auf der anderen. Um die Mutter des Tabaks wahrzunehmen, brauchte man seiner Meinung nach Nikotin und Neuronen. Sein Ansatz schloss die Wissenschaft mit ein, was unseren Dialog begünstigte.
Nicotiana-rustica-Blütenknospe
»Und arbeitest du mit Tabak?«, fragte ich.
»Ja, ich rauche.«
»Wenn du also die Seele dieser Pflanze siehst, wie sieht sie aus?«
»Schau, diese beiden Tabaksorten, von denen ich dir erzählt habe – wenn du sie zubereitest, indem du eine gewisse Menge an Zutaten anderer Kraftpflanzen des Waldes hinzufügst, wird der Tabak machtvoll, und er lehrt dich Medizin, oder er lehrt dich Zauberei. Und zu seiner Seele – ich habe sie gesehen, sie ist gigantisch und männlich, ein großer brauner Mann in der Farbe des Tabaks. Das ist die Seele des Tabaks, die dich lehrt.«
»Und wenn du diesen großen braunen Mann siehst, macht dir diese Wesenheit Angst? Oder ist sie angenehm oder verzaubert sie dich? Wie ist die Persönlichkeit des Tabaks?«
»Als Wesen vermittelt er kein Gefühl der Angst, man kann in seiner Gegenwart sein. Er macht nur Angst, weil er Bosheit lehrt, das ist seine Ausrichtung, das ist die Ausrichtung des präparierten Tabaks.«
Dann erklärte er, wie man »präparierten Tabak« herstellt. Zunächst muss man die junge Tabakpflanze vor der grünen Raupe schützen, die sie als Nahrung aussucht.
»Ist das die gleiche Raupe wie die Mutter der Pflanze?«, fragte ich.