Bächle, Gässle, Rache - Ute Wehrle - E-Book

Bächle, Gässle, Rache E-Book

Ute Wehrle

0,0
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Ausnahmezustand in Freiburg! Ein Panther treibt in einem Maisfeld sein Unwesen, ein Hund wird entführt, eine Horde Affen macht die Stadt unsicher. Und als wäre das nicht genug, werden im Mooswald gleich zwei Leichen gefunden. Journalistin Katharina Müller und Hauptkommissar Jürgen Weber suchen vergeblich nach einer Verbindung zwischen den Ereignissen – bis ein dritter Toter im Seepark auftaucht. Humorvoll, spannend, unverwechselbar badisch – »Bächle, Gässle, Rache« verspricht Krimivergnügen pur. Tauchen Sie ein, folgen Sie den Spuren und lassen Sie sich bis zur letzten Seite überraschen!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 379

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

Ute Wehrle ist gebürtige Freiburgerin und studierte Touristik-Betriebswirtschaft in Heilbronn. Sie arbeitet als freie Autorin und Journalistin.

 

 

 

 

 

 

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

 

© Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, 50667 Köln

[email protected]

www.emons-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: adobe.stock.com/christiane65

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept

von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

E-Book-Erstellung: Geethik Technologies Pvt Ltd

Lektorat: Julia Lorenzer

ISBN 978-3-98707-313-7

Originalausgabe

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen

insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß

§ 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

 

Mensch: das einzige Lebewesen,das erröten kann.Es ist aber auch das einzige,was Grund dazu hat.

Mark Twain

Prolog

Es war wahrlich kein schöner Anblick, der sich den Männern in der Garage bot. Wunden und Kratzer überzogen die nackten Arme der jungen Frau, die in verschmutzten Jeans und lila Tanktop auf dem Boden lag. Vor allem die Verletzung am Kopf sah übel aus. Sie atmete nur noch schwach, und ihre Augen waren geschlossen, ihre hellbraunen Locken blutverklebt.

»Fuck, das wollte ich nicht, ich schwör’s.« Der Typ im schwarzen Shirt, auf dem unverkennbar der Sith-Lord Darth Vader prangte, versuchte vergeblich, das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken. »Was machen wir denn jetzt?« Aufgeregt raufte er sich seine Bürstenhaare.

»Was heißt ›wir‹? Du hast das verbockt, du ganz allein. Hättest du wie abgesprochen heute Abend geliefert, wäre der ganze Schlamassel erst gar nicht passiert«, regte sich der andere auf. »Im Ernst, wie kann man nur so bescheuert sein? Aber vermutlich hattest du ja was Besseres zu tun, als deine Arbeit zu erledigen.«

Darth Vader zog den Kopf ein. »Mann, ich habe es dir doch schon erklärt. Momentan bin ich einfach völlig neben der Spur, ich mach nachts schon seit Tagen kein Auge mehr zu, deswegen habe ich den Termin völlig verpennt, weil ich so fertig war. Du hast keine Ahnung, wie beschissen es mir geht. Seit der Geschichte mit …«

Der andere schnaubte verächtlich. »Verdammt, reiß dich zusammen, deine Probleme sind mir so was von egal. Vielmehr interessiert mich, wie die uns überhaupt gefunden hat. Hast du sie vorher schon mal gesehen?«

Darth Vader zuckte ratlos die Achseln. »Nicht dass ich wüsste, aber sicher bin ich mir nicht. Ich habe ein verdammt schlechtes Personengedächtnis, ich verwechsle oft Menschen.«

»Leider nicht nur die«, ätzte der andere vielsagend.

»Bestimmt ist sie rein zufällig vorbeigekommen«, mutmaßte Darth Vader, ohne auf den Kommentar des anderen einzugehen.

»Zufällig vorbeigekommen? Mitten in der Nacht? Mit einem Bolzenschneider in der Tasche? Das glaubst du ja wohl selbst nicht. Die wusste ganz genau, was sie hier will, darauf gehe ich jede Wette ein«, widersprach der andere. Er geriet immer mehr in Rage. »Hast du dir mal überlegt, was das für ein Nachspiel hat? Oder überfordert das dein Spatzenhirn?«

Auf der Stirn von Darth Vader machten sich Schweißperlen breit. »Komm, hör auf. Wenn ich sie nicht aufgehalten hätte, wäre das Chaos noch viel größer. Sei lieber froh, dass ich noch mal nach dem Rechten geschaut habe. Zum Glück hatte ich so ein ungutes Gefühl.«

»Deine Gefühle in allen Ehren, aber für meinen Geschmack reicht das Chaos völlig aus«, fuhr ihm der andere in die Parade. Seine Stimme wurde lauter. »Wenn ich nur an die Kohle denke, die uns jetzt durch die Lappen geht. Und als wäre das nicht schon schlimm genug …« Er deutete anklagend mit dem Finger auf die am Boden liegende Frau. »Du hast mehr Glück als Verstand, dass davon niemand etwas mitgekriegt hat.«

Was daran lag, dass sich weit nach Mitternacht kaum jemand ins Gewerbegebiet Freiburg-Haid verirrte und sowohl die Mitarbeiter der Kfz-Werkstatt als auch die der Schreinerei neben der unscheinbaren Garage, in der die Männer standen, am Sonntagabend nicht arbeiteten und vermutlich längst in ihren Betten lagen.

»Wie oft soll ich es dir noch sagen? Es war ein Unfall. Die ist auf mich losgegangen wie eine Furie. Ich musste mich wehren, sonst hätte sie mir die Augen ausgekratzt. Es war nur ein kleiner, harmloser Schlag, ehrlich«, verteidigte sich Darth Vader, der zunehmend in sich zusammensank.

Der andere lachte bitter auf. »Schon klar, ein kleiner, harmloser Schlag mit einem Baseballschläger direkt auf den Kopf. Das kauft dir doch kein Mensch ab. Überhaupt, was macht der Knüppel hier?«

»Den habe ich mir besorgt. Und zwar aus gutem Grund. Ich zeige dir gern die Narben, wenn du mir nicht glaubst«, begehrte Darth Vader auf. »Bei dem Job kann man nicht vorsichtig genug sein.«

»Spar dir dein Gejammer. Und damit das klar ist – mit der Geschichte will ich nichts zu tun haben. Also schau zu, wie du hier Ordnung schaffst, bevor noch jemand Wind von der Sache kriegt.«

Das Gesicht von Darth Vader bekam unvermittelt einen listigen Ausdruck, und er richtete sich auf. »Von wegen. Ich mache das nicht allein. Du wirst mir dabei helfen, ob es dir passt oder nicht.«

»Und warum sollte ich?«, gab der andere kühl zurück.

»Weil du da genauso mit drinhängst wie ich, schließlich sind wir Partner. Außerdem kenne ich dein kleines Geheimnis. Und du willst doch bestimmt nicht, dass jemand davon erfährt, oder? Gerade jetzt.« Darth Vader gewann zunehmend an Selbstsicherheit zurück.

Die Frau am Boden gab ein leises Wimmern von sich, doch keiner der Männer reagierte darauf. Genauso wenig wie auf das kehlige Kreischen, das die Stille der Nacht durchbrach.

»Glaub bloß nicht, dass du mir drohen kannst.« Die Augenlider des anderen flatterten. »Ohne mich wärst du ein Nichts.«

»Ach nein? An deiner Stelle würde ich es nicht darauf ankommen lassen.«

Die Sekunden verstrichen.

»Also gut, allein kriegst du das sowieso nicht auf die Reihe«, gab der andere widerwillig nach. Er dachte kurz nach. »Am besten, wir legen sie auf einem Parkplatz ab. Irgendjemand wird sie da schon finden und sich um sie kümmern.«

Darth Vader lachte verächtlich auf. »Grandiose Idee, wirklich. Wenn sie redet, sind wir geliefert, und darauf habe ich genauso wenig Bock wie du. Nein, wir brauchen eine andere Lösung.«

Sein vielsagender Blick wanderte zwischen dem am Boden liegenden Baseballschläger und seinem unfreiwilligen Komplizen hin und her.

»Bist du irre?« Der andere wurde kreidebleich, als ihm klar wurde, was von ihm erwartet wurde. »Vergiss es. Das kann ich nicht. Das mach ich auf keinen Fall.« Abwehrend verschränkte er die Arme vor der Brust.

»Ihr verfluchten Schweine«, flüsterte die junge Frau plötzlich kaum vernehmbar. Aus ihrem Gesicht war sämtliche Farbe entwichen. »Euch mach ich fertig.« Ihr Körper zuckte noch einmal, dann war sie still.

Darth Vader schnappte hörbar nach Luft. Dann beugte er sich zu ihr hinunter und tastete nach ihrem Puls. »Unser Problem hat sich erledigt. Die verpfeift uns nicht mehr«, stellte er fest, seine Aufregung nur mühsam unterdrückend. Er richtete sich auf. »Aber wir müssen sie verschwinden lassen, und zwar möglichst schnell.«

Der andere brauchte eine Weile, bis er seine Sprache wiedergefunden hatte. »Und wie stellst du dir das vor? Sollen wir sie vergraben? Es hat wochenlang nicht mehr geregnet, und der Boden ist steinhart.« Ihm war deutlich anzusehen, dass er sich meilenweit wegwünschte.

»Spinnst du? Natürlich vergraben wir sie nicht, das macht viel zu viel Arbeit. Du hilfst mir jetzt, sie in den Transporter zu laden, und dann nichts wie weg«, befahl Darth Vader.

Der andere ballte zornig die Fäuste. »Nur damit das klar ist: Wenn das hier erledigt ist, herrscht zwischen uns erst mal Funkstille. Und nachher nehme ich alles mit, was noch da ist.«

»Wird vermutlich das Beste sein«, pflichtete ihm Darth Vader gleichgültig bei. »Vorausgesetzt, du gibst mir eine kleine Überbrückungshilfe, bis die Geschäfte wieder laufen. Das ist ja wohl das Mindeste. Zumal du ja demnächst wieder zu Geld kommst.« Er lachte hämisch.

Bevor der andere protestieren konnte, ertönte wie aus dem Nichts die Stimme von George Ezra, dem eine gewisse »Tiger Lily« den Kopf verdreht hatte, gefolgt von heiserem Geschrei. Im ersten Moment standen die Männer wie erstarrt da.

»Be your light, be your light.« George Ezra sang ungerührt weiter.

»Fuck!« Darth Vader fischte aus dem Jutebeutel, den die Tote bei sich hatte, ein Smartphone heraus, legte es auf den Boden, holte kräftig mit dem Baseballschläger aus und zerschmetterte es mit einem Schlag. Anschließend sammelte er die Reste sorgfältig ein, steckte sie in den Beutel zurück und nahm ihn an sich. Der hasserfüllte Blick des anderen bohrte sich in seinen Rücken.

»Und jetzt pack endlich mit an, oder willst du hier Wurzeln schlagen?« Darth Vader hatte nun eindeutig das Kommando übernommen. Gemeinsam schleppten sie die Tote zu einem weißen Transporter, der am Straßenrand stand, und hievten sie in den Laderaum. Das Fahrrad, mit dem die Frau gekommen war, luden sie ebenfalls auf. Nachdem alles erledigt war, knallte Darth Vader schwungvoll die Heckklappe zu.

»Geht’s vielleicht noch lauter?«, schnauzte ihn der andere an, bevor er auf dem Beifahrersitz Platz nahm.

»Reg dich ab, hier ist kein Mensch.« Darth Vader zündete sich eine Zigarette an, bevor er das Gaspedal durchdrückte. Unter den Rädern spritzte der Kies, als er davonbrauste.

Weder ihm noch dem anderen war der silbergraue Mercedes aufgefallen, der etwa fünfzig Meter entfernt an der Straße stand und in dem bis vor ein paar Minuten ein Liebespaar leidenschaftlich herumgeknutscht hatte.

»Mist, was machen die denn da? Hoffentlich haben die uns nicht gesehen.« Die Frau im Mercedes, deren Haar so zerzaust war, als wäre sie in einen Orkan geraten, hatte sich abrupt aus der Umarmung ihres Begleiters gelöst und starrte dem Transporter durch die beschlagene Windschutzscheibe hinterher.

»Wie denn? Hier ist es stockdunkel«, meinte der Mann schwer atmend und streichelte ihr beruhigend den Arm, bevor er seine Lippen auf ihren Hals drückte.

Dennoch verharrte die Frau wie erstarrt in ihrer aufrechten Position, bis die Rücklichter des Transporters verschwunden waren, erst dann überließ sie sich wieder seinen Zärtlichkeiten.

1

Es war der typische Soundtrack eines Bilderbuch-Sommerabends in Freiburg: Durch das geöffnete Fenster drang das penetrante Gurren einer Stadttaube, die es seit Stunden darauf anlegte, die Nerven ihrer unfreiwilligen Zuhörer zu strapazieren. Sie wiederholte ihr monotones »Ruh-Ruh« so beharrlich, als wäre sie in einer Zeitschleife gefangen. Dazwischen mischte sich das fröhliche Kreischen zweier Mädchen, die auf einem Trampolin im Garten herumhüpften und jeden Sprung lautstark bejubelten. Einen Garten weiter hechelte ein halbwüchsiger Golden Retriever laut bellend den Wasserstrahlen eines Rasensprengers hinterher, während sich sein Frauchen im Liegestuhl die Fingernägel blutrot lackierte. Nebenan stießen vier braun gebrannte Rentner in Bermuda-Shorts und mit freiem Oberkörper Bierflaschen aneinander, bevor sie sich ihrem Kartenspiel widmeten. Kurzum, jeder ließ den bislang heißesten Tag in diesem Jahr auf seine Weise entspannt ausklingen.

Die Stimmung in Katharinas Küche indes war schon besser gewesen. Im übervollen Aschenbecher auf dem Tisch glomm bereits wieder eine Zigarette vor sich hin, deren Rauch spiralförmig an die Decke stieg.

Katharina guckte dem blauen Wölkchen trübselig nach, bevor sie sich erneut aus der Rioja-Flasche nachschenkte.

»Denkst du nicht, du hast allmählich genug? Der Abend ist noch jung.« Hauptkommissar Jürgen Weber blickte vielsagend auf das Weinglas. »Ich verstehe ja, dass du niedergeschmettert bist, aber das ist noch lange kein Grund, sich schon vor dem Essen derart die Kante zu geben. Außerdem solltest du dich für ihn freuen, anstatt ständig herumzujammern.«

Empört schlug Katharina mit der Faust auf ihren Küchentisch. »Wie bitte? Ich soll mich freuen, wenn Anton Gutmann in Vorruhestand geht?«, schnaubte sie. »Das ist ein bisschen viel verlangt, findest du nicht? Zumal er erst dreiundsechzig ist.«

Hauptkommissar Weber sah sie mit gerunzelter Stirn an. »Jetzt mach mal einen Punkt, du würdest es doch auch nicht anders machen. Er hat lange genug gearbeitet. Also warum sollte er nicht so bald wie möglich seine Rente genießen? Ich jedenfalls beneide ihn glühend und gönne es ihm von Herzen. Wenn ich daran denke, dass ich morgen wieder ins Kommissariat muss …« Er seufzte zum Steinerweichen.

Erst gestern war er nach einem dreiwöchigen Urlaub auf Sizilien zurückgekehrt, wo seine Frau Simone seit Jahren im Sommer Malkurse für mehr oder weniger talentierte Touristen anbot, und es war ihm deutlich anzusehen, dass er lieber in Taormina geblieben wäre, hätte er denn die Wahl gehabt.

»Du hast ja recht«, schniefte Katharina. »Aber was wird aus uns, wenn er nicht mehr da ist? Wer weiß, wer seine Nachfolge antritt. Bestimmt wieder so eine boshafte Hexe wie meine ehemalige Ressortleiterin, darauf könnte ich wetten.« Katharinas Erfahrungen mit Frauen als Vorgesetzten waren nicht die besten, egal, was andere behaupteten. Seit sie vor etlichen Jahren das Pech gehabt hatte, unter einer Chefin arbeiten zu müssen, deren Bosheit nur noch von ihrer Inkompetenz übertroffen wurde, hielt sie die Einschätzung, Frauen seien die besseren Führungskräfte, schlicht für ausgemachten Aberglauben.

»Ich bitte dich, es soll ja auch nette Vorgesetzte geben. Wer weiß, vielleicht hast du ja Glück, und es kommt jemand, mit dem du dich genauso gut verstehst wie mit Gutmann«, versuchte Weber, sie zu beruhigen. »Aber abgesehen davon: Warum bewirbst du dich nicht als seine Nachfolgerin? Du hättest bestimmt gute Chancen, den Job zu kriegen. Schließlich bist du lang genug im Geschäft und kennst dich bestens aus.«

Katharina überlegte keine Sekunde. »Vorher gehe ich putzen. Ich habe keine Lust, unserem Verleger ständig Rechenschaft über sinkende Auflagezahlen des ›Regio-Kuriers‹ abzulegen. Kein Mensch will doch heutzutage noch Zeitung lesen, geschweige denn, dafür bezahlen, wo doch alles kostenlos im Internet steht, egal, ob es stimmt oder nicht.« Sie geriet zunehmend mehr in Fahrt. »Und dann der ganze Zauber mit den sozialen Medien. Ich kann mir wahrlich etwas Schöneres vorstellen, als am laufenden Band irgendwelche Nachrichten zu posten, ob auf Instagram, Facebook oder Tic Tac.«

»Tok. Es heißt TikTok«, wurde sie prompt von Weber korrigiert. »Und meines Wissens wird das Portal hauptsächlich von Jugendlichen genutzt, also nicht so wirklich eure Zielgruppe.«

Katharina winkte ab. »Ist doch wurscht. Ach, am besten, wir lassen dieses Thema, sonst werde ich noch frustrierter, als ich sowieso schon bin.« Sie drückte energisch die Zigarette im Aschenbecher aus, nur um sich sofort eine neue anzuzünden. »Vielleicht mach ich beruflich einfach noch mal was völlig anderes«, meinte sie dann nachdenklich. »Mir müsste nur etwas Vernünftiges einfallen.«

»Das mit der Putzstelle würde ich mir an deiner Stelle aber gründlich überlegen, wenn ich mir deine Küchenfenster so anschaue. Haben die schon jemals Wasser gesehen?« Weber grinste unverhohlen.

Katharina zuckte ungerührt mit den Achseln. »Keine Ahnung, was du hast, man sieht doch noch problemlos durch. Wozu also die Mühe? Die werden eh nur wieder dreckig, wenn der nächste Saharastaub runterkommt. Und ich lege es in keinster Weise darauf an, zur Hausfrau des Jahres gekürt zu werden.«

»Die Gefahr sehe ich nun wirklich nicht. Aber apropos Hausfrau. Hat Arno nicht versprochen, heute Abend für uns zu kochen?«, erkundigte sich Weber. »So allmählich knurrt mir der Magen, ich habe seit heute Morgen nichts Vernünftiges mehr gegessen.«

»Tja, dazu müsste er erst mal da sein. Aber wenn du Hunger hast, könnte ich zur Not …«, bot sie halbherzig an.

»Bloß nicht«, wehrte Weber ab, der Katharinas Kochkünste hinlänglich kannte, die immer noch nicht über Spaghetti mit Fertigpesto aus dem Glas hinausreichten. Ihr erster und letzter Versuch, für ihn einen Spinat-Hackfleisch-Kartoffelauflauf zu kreieren, weckte immer noch unschöne Erinnerungen. Dieses Geschmackserlebnis der besonderen Art hatte bei ihm noch einen Tag später für Übelkeit gesorgt. »Arno wird ja hoffentlich bald auftauchen. Wo steckt er denn eigentlich?«

»Er wollte seine Schwester besuchen. Du weißt doch, die ist vor vier Monaten mit ihrer Familie von Berlin nach Freiburg gezogen, weil ihr Mann dort einen Buchladen übernommen hat.«

»Von der Hauptstadt in die Provinz. Das muss ein echter Kulturschock sein«, befand Weber, während er die Weinflasche unauffällig außerhalb Katharinas Reichweite platzierte.

»Ganz im Gegenteil, die haben sich wunderbar eingelebt. Sogar die beiden Töchter. Marie macht nächstes Jahr ihr Abi auf dem Auffenberg-Gymnasium und will anschließend Betriebswirtschaft studieren. Und Penelope hat sich um ein Praktikum beim ›Regio-Kurier‹ beworben, die möchte unbedingt Redakteurin werden. Obwohl ich mein Bestes versucht habe, ihr das auszureden. Jetzt schauen wir halt mal, wie sie sich so anstellt. Wobei ich den Verdacht nicht loswerde, dass sie völlig falsche Vorstellungen von dem Job hat. Die meint, Journalisten seien die ganze Zeit hautnah bei spannenden Polizeieinsätzen dabei, wenn sie nicht gerade Promis interviewen. Als hätten wir nichts anderes zu tun. Keine Ahnung, wer ihr den Floh ins Ohr gesetzt hat.«

»Nur gut, dass dir das völlig fremd ist, dich in polizeiliche Angelegenheiten zu mischen«, erwiderte Weber trocken.

Katharina ließ seine Bemerkung unkommentiert im Raum stehen. »Unter uns: Mir wäre ihre kleine Schwester als Praktikantin lieber gewesen. Marie ist ein helles Köpfchen und die Beste in ihrer Klasse. Mich irritiert nur, dass sie so furchtbar brav ist. Ständig am Lernen, kein Alkohol, und mit Jungs hat sie schon gar nichts am Hut. Dabei ist sie schon siebzehn. Und dann noch diese schwarzen Klamotten, die sie ständig anhat. Als ginge sie auf eine Beerdigung.«

»Soso, Arnos Nichte ist dir zu brav, und deswegen würdest du sie gern unter deine Fuchtel nehmen. Das birgt eine gewisse Logik, denn wenn jemand prädestiniert dafür ist, andere vom Pfad der Tugend abzubringen, dann du!«, konstatierte Weber ironisch.

»Sehr witzig!« Katharina beugte sich über den Küchentisch, eroberte sich entschlossen ihr Glas zurück und nahm einen kräftigen Schluck, bevor sie sich erneut nachschenkte.

»Tu, was du nicht lassen kannst.« Weber kapitulierte angesichts so viel Unvernunft. »Aber beklage dich nicht, wenn du morgen einen gewaltigen Kater hast.«

Die Türklinke wurde unsanft heruntergedrückt, und Katharinas Kopf flog herum. »Herrschaftszeiten! Musst du mich so erschrecken?« Sie funkelte ihren Lebensgefährten sauer an, der mit puterrotem Kopf hereinstürmte. »Was ist denn in dich gefahren?«

»Wirklich, mich bringt ja normalerweise nichts so schnell aus der Ruhe, glaubt mir«, legte Arno los.

»Das glaube ich dir aufs Wort. Sonst wärst du ja nicht mit Katharina zusammen«, unterbrach ihn Weber. Ein süffisantes Lächeln umspielte seine Lippen.

»Aber was zu viel ist, ist zu viel«, schimpfte Arno weiter, ohne auf die Bemerkung des Hauptkommissars einzugehen. »So etwas habe ich noch nie erlebt.«

»Worüber regst du dich eigentlich so fürchterlich auf? Und warum kommst du erst jetzt? Du wolltest doch für uns kochen. Ich bin schon völlig ausgehungert.« Der vorwurfsvolle Unterton in Katharinas Stimme war nicht zu überhören.

»Entschuldige, dass ich meinen häuslichen Pflichten noch nicht nachgekommen bin.« Arno ließ sich auf den nächstbesten Stuhl fallen. »Und bevor du weitermeckerst: Für meine Verspätung kannst du dich bei Magdalena und Claudia bedanken.«

»Ach, Arno. Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du denen aus dem Weg gehen sollst, wenn du es eilig hast. Aber lass mich raten: Sie haben dir einen ausgedehnten Vortrag über ungesunde Essgewohnheiten gehalten.« Aus leidvoller Erfahrung wusste Katharina genau, wovon sie sprach, da sie vor zwei Tagen selbst in die Fänge ihrer überspannten Nachbarin Magdalena Schulze-Kerkeling nebst ihrer besten Freundin Claudia Huber geraten war. Beide hatten die Gelegenheit genutzt, um Katharina ausgiebig über die Vorteile sattvischer Ernährung zu informieren, die angeblich zu Harmonie, Gleichgewicht und Freude verhalf. Zumindest hatten sie ihr das in allen Einzelheiten vorgeschwärmt.

»Seit wann finden die Arnos Essen ungesund?«, zeigte sich Weber verblüfft, der die Kochkünste von Katharinas Freund sehr zu schätzen wusste.

»Seit die Damen nur noch Mungobohnen, Nüsse und Obst zu sich nehmen, um ihre spirituelle Entwicklung zu fördern«, klärte ihn Katharina naserümpfend auf.

Die Stadttaube hatte genau wie die hüpfenden Mädchen eine Pause eingelegt, dafür wurde in nächster Nähe ein Rasenmäher zum Leben erweckt. Und zwar einer der besonders lauten Sorte.

»Das ist ja nicht zum Aushalten.« Katharina sprang auf und schmetterte das Fenster zu. »Dabei ist heute Sonntag, und der Spießer hat erst gestern gemäht. Irgendwann schneide ich dem das Kabel durch.«

»Das kannst du dir sparen, der Rasenmäher läuft mit Akku. Aber wenn du schon über Gewaltexzesse nachdenkst, könntest du bei der Taube anfangen, die nervt schon seit Tagen«, meinte Arno gallig. »Das Mistvieh hat mich heute Morgen um fünf Uhr geweckt.«

»Darf ich dich daran erinnern, dass es verboten ist, Tauben zu töten?«, machte ihn Weber, ganz Hüter des Gesetzes, mit erhobenem Zeigefinger aufmerksam.

Als hätte der Vogel vernommen, dass er unter Polizeischutz stand, legte er wieder los.

»Aber jetzt erzähl schon, warum du von Magdalena und Claudia ausgebremst wurdest. Habt ihr wirklich Rezepte ausgetauscht?« Webers Frage, der sich in Gedanken vermutlich schon vor einem Teller voll mit Körnern sitzen sah, hörte sich höchst besorgt an.

Genervt winkte Arno ab. »Ach was, kein Mensch hat von Rezepten geredet. Dafür hatten die doch gar keine Zeit. Die waren viel zu sehr damit beschäftigt, die Schwarzwaldstraße zu blockieren. Übrigens hätte ich Magdalena fast gar nicht erkannt, die war von Kopf bis Fuß als Karotte kostümiert. Und Claudia war als Brokkoli oder Rosenkohl unterwegs, so genau kann ich das nicht sagen. Nur nebenbei: Ein paar Selleriestangen und Salatköpfe waren ebenfalls zugange. Der Stau, den die verursacht haben, hat mich fast eine Stunde gekostet. Und das bei der Affenhitze.«

»Das musst du uns jetzt aber näher erläutern«, forderte Katharina ihn auf.

»Sehr gern. Das Gemüse auf zwei Beinen hat vereint gegen das neue Steakhaus Fleischeslust am Alten Wiehrebahnhof protestiert, wenn ihr es genau wissen wollt.«

»Ein Grund mehr, dort essen zu gehen«, bemerkte Katharina spitz. »Soweit ich weiß, sollen speziell die Wildschweinburger eine Wucht sein.«

»Ist Magdalenas Freund nicht Metzger?«, warf Weber ein.

Arno nickte. »Versteh’s, wer’s will. Aber du weißt ja: Wo die Liebe hinfällt. Jedenfalls musste das Grünzeug von der Polizei erst abserviert werden, bevor es endlich weiterging. Und jetzt gehe ich unter die Dusche und ziehe mich um, wenn es recht ist, ich bin total durchgeschwitzt. So lange werdet ihr es hoffentlich noch aushalten, ohne zu verhungern.« Sein Blick fiel auf die halb leere Flasche Rioja. »Ach, und es wäre schön, wenn du mir noch etwas übrig lassen könntest, liebe Katharina. Zumal du dich ja schon ordentlich bedient hast, wie es scheint.«

»Aber sicher doch, mein Herz.« Katharina schenkte sich schleunigst nach. »Falls es dich beruhigt, ich habe noch zwei volle Flaschen in Reserve.«

»Dann beeile ich mich besser mal, bevor die auch noch leer sind. Ich würde nur ungern auf den fertigen Glühwein zurückgreifen, der bei dir seit Weihnachten im Küchenschrank herumgammelt. Und jetzt ab auf den Balkon mit euch, hier nervt ihr mich eh nur beim Kochen.«

Weber stand auf und schnappte sich seine Bierflasche. »Was gibt es eigentlich?«

»Lammkotelett mit Pistazienkruste«, antwortete Arno.

Weber leckte sich die Lippen.

»Bist du sicher, dass das das Richtige ist?«, fragte Katharina mit gespieltem Ernst. »Ich befürchte, diese Art von Nahrung öffnet weder unseren Geist noch befreit sie uns von negativen Emotionen.«

»Falls du gesundheitliche Bedenken bezüglich des Abendessens haben solltest, darfst du dich stattdessen gern am Trockenfutter deines Hasen bedienen«, erwiderte Arno, dann verschwand er kopfschüttelnd Richtung Badezimmer.

2

Die emotionale Verfassung im Klassenzimmer des Auffenberg-Gymnasiums entsprach ungefähr der von Dschungelcamp-Teilnehmern, die soeben erfahren haben, dass sie sich gemeinsam mit putzmunteren Kakerlaken in einen Sarg begeben müssen. Simon stöhnte, als würde ihm bei lebendigem Leib die Haut abgezogen, während Franzi, eine hübsche Blondine mit Stupsnase, und ihre beste Freundin Merle seit einer halben Stunde zutiefst deprimiert Löcher in die Wand starrten. Und wenn Julian so weitermachte, würde es nicht mehr lange dauern, bis er seinen teuren Füllfederhalter zerlegt hätte, so angestrengt, wie er darauf herumkaute. Auch der Rest der Klasse schwankte zwischen nackter Verzweiflung und tiefster Resignation, wie Marie mit einer gewissen Genugtuung feststellte.

Gelangweilt schaute sie zum Fenster hinaus und beobachtete einen jungen Mann, der mit seinem Aufsitzrasenmäher einen Kavaliersstart Richtung Zaun hinlegte, der das schmale Rasengrundstück der Schule von den dahinterliegenden Maisfeldern abgrenzte.

Du liebe Zeit, jetzt hätte er beinahe einen Busch umgefahren. Nur mit Mühe konnte sich Marie ein Grinsen verkneifen. Felipe Gomez war zwar ein cooler Typ, aber von Gartenarbeit hatte er genauso wenig Ahnung wie ihre Mitschüler von quadratischen Gleichungen. Was vermutlich daran lag, dass er sich als angehender Musikstudent um einiges besser mit Harmonielehre als mit fahrbaren Rasenmähern auskannte.

Kurzum, als Aushilfshausmeister eines Gymnasiums war Felipe eine absolute Fehlbesetzung. Genau genommen bereitete ihm schon das Auswechseln einer Leuchtröhre Probleme, weswegen der Abstellraum, in dem die Theater-AG ihre Requisiten aufbewahrte, schon seit Wochen nur noch spärlich beleuchtet war. Aber wenn man ihn schon einmal Klavier spielen gehört hatte, sah man ihm das nach. Trotzdem wurde es höchste Zeit, dass sich Hausmeister Schulze von seinem Bandscheibenvorfall erholte und seine Arbeit wieder aufnahm, bevor die Lichter an der Schule endgültig ausgingen.

Oh Mann, konnte der Typ nicht endlich mal die Klappe halten? Marie verdrehte genervt die Augen, als sich Simons Stöhnen erneut in das Brummen des Rasenmähers mischte, das selbst durch die geschlossenen Fenster drang.

Seit einer halben Stunde war die Klasse jetzt schon damit beschäftigt, die letzte Mathearbeit vor den großen Ferien hinter sich zu bringen, argwöhnisch beäugt von Herrn Sauer, einem humorlosen Glatzkopf mit Hornbrille, der sich aufrichtig Mühe gegeben hatte, den Schülern den sonnigen Morgen zu vermiesen, sonst hätte er die Aufgaben wohl kaum mit mathematischen Gemeinheiten aller Art versehen, die die Klasse restlos überforderten. Bis auf Marie, die schon längst mit der Arbeit fertig war. Kunststück, ihr war es noch nie schwergefallen, logisch zu denken. Und Mathematik war nun mal ihr Lieblingsfach, da machte ihr keiner etwas vor, nicht einmal der Glatzkopf mit der Hornbrille, der die Klasse nicht aus den Augen ließ.

Obwohl sie die Gleichungen längst gelöst hatte, beugte sie ihren Kopf so tief über das Aufgabenblatt, dass ihr Gesicht von den halblangen schwarzen Haaren nahezu verdeckt wurde. Als »die Neue aus Berlin« und mit ihren sechzehn Jahren die Jüngste in der 11a hatte sie sowieso einen schweren Stand. Und das Letzte, was sie wollte, war, schon wieder ihrem Ruf als Streberin gerecht zu werden, wenn sie den Test vorzeitig ablieferte. Unwillkürlich verzog sie das Gesicht. Als wäre es ihre Schuld, dass sie vieles besser wusste als die anderen. Beliebt machte sie das allerdings nicht. Das war schon an ihrer ehemaligen Schule so gewesen, der sie keine Träne nachweinte, seit sie mit ihren Eltern nach Freiburg gezogen war. Aber Freunde würde sie hier genauso wenig finden wie in Berlin, das war ihr schnell klar geworden. Immerhin wohnten ihr Onkel Arno und seine Lebensgefährtin Katharina in Freiburg, das war wenigstens ein kleiner Lichtblick.

Überhaupt, Freundschaften wurden allgemein überschätzt, sie beschäftigte sich sowieso viel lieber mit Lesen, Musikhören und ihrem Laptop, und dazu brauchte sie niemanden. Schon gar nicht ihre Mitschüler, die jeden für einen Nerd hielten, der eins und eins fehlerfrei zusammenrechnen konnte.

Trotzdem baute sie kurz entschlossen einen kleinen Fehler in einen Lösungsweg ein, um nicht schon wieder eine glatte Eins zu schreiben. Auf die dummen Kommentare, die sie in dem Fall von ihren Klassenkameraden zu hören bekommen würde, konnte sie getrost verzichten.

Ihr Blick schweifte erneut durch den Raum und blieb an Julian hängen, der in der Bank neben ihr saß und immer verzweifelter an seinem Füllfederhalter kaute. Himmel, dieses Elend war ja nicht mit anzusehen. Konnten sich seine Eltern keine Nachhilfe für ihn leisten? Die hatten doch Geld genug, um ihren Sohn zu pampern.

Aber vermutlich hatte er Besseres zu tun, als zu büffeln. Surfen, golfen oder was man sonst als Sohn reicher Eltern so trieb.

Plötzlich richteten sich Julians Augen flehentlich auf sie. Sein Mund formte ein lautloses »Hilfe«.

Bitte? Was sollte das jetzt? War das etwa ihr Problem, dass Julian in Mathe eine Niete war? Dennoch gab sich Marie einen Ruck. Das war die Gelegenheit, um zu zeigen, dass sie kein Unmensch war, Risiko hin oder her, von Sauer erwischt zu werden. Außerdem war Julian immer nett zu ihr gewesen, auch wenn seine Schuhe vermutlich mehr kosteten, als ihr Vater in einer Woche mit dem Verkauf von Büchern verdiente.

Eilig kritzelte Marie die Lösungen auf ein Stück Papier. Jetzt musste sie nur noch warten, bis Sauer abgelenkt war, damit er sie nicht beim Schummeln erwischte. Das konnte allerdings dauern.

»Hatschi!« Der Mathelehrer nieste so heftig, dass sein Kinn an der Brust anschlug und Merle vor Schreck fast vom Stuhl gefallen wäre.

Super, das war die Gelegenheit. Als der Mathelehrer ein Taschentuch aus der Hosentasche zog und sich kräftig schnäuzte, ließ Marie das Blatt mit den Lösungen fallen und schob es Julian blitzschnell mit dem Fuß hinüber. Julian bückte sich und hob es auf, nicht ohne Marie ein dankbares Lächeln zuzuwerfen, bevor er damit begann, in Windeseile die Lösungen auf sein eigenes Aufgabenblatt zu übertragen.

Marie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Felipe zu, dem es auf wundersame Weise gelungen war, mit seinem Rasenmäher einem frisch gepflanzten Baum auszuweichen. Stattdessen steuerte er direkt auf eine Handvoll Schüler zu, die sich mit Chips, Energydrinks und Zigaretten hinter das Schulgebäude verzogen hatten, obwohl das streng verboten war. Natürlich, wie konnte es anders sein? Es waren die Jungs der 10b, die allem Anschein nach eine Freistunde hatten. Das kam öfters vor, seit die neue Französischlehrerin, Frau Jenne, ihren Schuldienst angetreten hatte. Offensichtlich erfreute die sich nicht gerade bester Gesundheit. Mit viel Glück würde auch ihre Klasse eine Stunde früher nach Hause gehen dürfen, falls der Rektor keine Vertretung aufgetrieben hatte, freute sich Marie. Angesichts der dünnen Personaldecke im Lehrerkollegium standen die Chancen nicht schlecht, dass der Schultag früher als gedacht enden würde. Nun, ihr sollte es recht sein, Französisch zählte nicht zu ihren Lieblingsfächern, obwohl sie die Sprache gut beherrschte. Aber die chaotische junge Lehrerin war absolut nicht Maries Fall. Was weniger an deren ständig schief kopierten Vorlagen, sondern hauptsächlich daran lag, dass Frau Jenne Felipe vor einigen Wochen öffentlich beschuldigt hatte, Schülern Drogen zu verticken. Was völliger Blödsinn war, wie sich rasch herausstellte: Felipe hatte der Neuntklässlerin verstohlen Pfefferminzbonbons in die Hand gedrückt, weil sie heimlich geraucht hatte und das keiner riechen sollte. Aber Frau Jenne war vermutlich der Ansicht gewesen, jeder junge Mann mit kolumbianischen Wurzeln gehöre automatisch einem Drogenkartell an, sonst wäre sie wegen der Sache bestimmt nicht gleich zu Schulleiter Tanner gerannt. Der hatte allerdings – ohne zu zögern – Felipes Version geglaubt, woraufhin sich die Französischlehrerin kleinlaut bei ihm entschuldigen musste.

Ach ja, Tanner. Sein Biologie-Unterricht war zwar sterbenslangweilig, aber nicht nur Marie wusste zu schätzen, dass er Schüler und Mitarbeiter stets fair und freundlich behandelte. Was sie von Sauer, der bereits wieder mit Argusaugen am Pult saß, nicht gerade behaupten konnte. Dem schien es regelrecht Spaß zu machen, andere zu schikanieren.

Genau genommen fand nur ein einziger Lehrer vor Maries Augen uneingeschränkt Gnade, und das war Herr Lieb, ihr Deutschlehrer, der auch die Theater-AG leitete. Der verstand es einfach, Schüler für sich einzunehmen, egal, ob es gerade um adverbiale Bestimmungen oder Goethes »Faust« ging. Ansonsten wäre es ihm wohl kaum gelungen, Marie dazu zu überreden, als Mephisto bei der »Faust«-Aufführung einzuspringen, weil sich Fabian, der ursprünglich für die Rolle vorgesehen war, beim Beachvolleyball den Knöchel gebrochen hatte. Wieso hatte sie sich nur darauf eingelassen? Schon allein bei dem Gedanken, vor Publikum auf einer Bühne zu stehen, wurde ihr angst und bang.

Gedankenverloren beobachtete Marie, wie die Jungs der 10b die Flucht antraten, um nicht versehentlich unter die Räder von Felipes Rasenmäher zu kommen, dann ließ sie wieder ihren Kugelschreiber zwischen den Fingern hin und her wandern. Hoffentlich war die Stunde bald zu Ende, die Luft im Klassenzimmer wurde immer stickiger.

Plötzlich schnellte ihr Kopf in die Höhe, als der Rasenmäher zornig aufheulte. Ein ohrenbetäubender Knall ertönte, dann herrschte Stille.

»Leute, da ballert einer in der Gegend herum. Wir werden beschossen«, grölte Simon und rannte zum Fenster. Wie auf Kommando sprangen auch die anderen auf, um nachzuschauen, was passiert war. Nur Julian ließ sich nicht beirren und schrieb hektisch weiter den Spickzettel ab.

Marie verdrehte die Augen. Selbst Simon müsste eigentlich klar sein, dass es sich schlicht um eine Fehlzündung gehandelt hatte. Wozu also die ganze Aufregung? Oder hoffte er allen Ernstes, Sauer würde die Arbeit verschieben? So wie sie den Mathelehrer einschätzte, würde der nicht einmal dann Erbarmen zeigen, wenn eine Armee von Außerirdischen ein Kreuzfeuer auf das Schulgebäude eröffnet hätte.

Da sie nichts Besseres zu tun hatte, gesellte sie sich zu den anderen und schaute hinaus. Was war das? Irgendetwas ging im Dickicht des Maisfelds vor sich, denn einige der trockenen Stängel bewegten sich so heftig, als würde jemand kräftig an ihnen schütteln. Seltsam, wunderte sich Marie, eine Böe konnte es nicht gewesen sein, es war seit Tagen schwül, und nicht der kleinste Windhauch sorgte für Abkühlung. Oder trieb sich dort jemand herum, der von der Fehlzündung des Rasenmähers aufgeschreckt worden war? Womöglich die Jungs der 10b? Doch sosehr sie sich bemühte, sie konnte nichts erkennen.

»Also, jetzt reicht’s.« Sauer scheuchte die Schüler beiseite, riss das Fenster auf und formte seine Hände zu einem Trichter. »Könnten Sie freundlicherweise nach dem Unterricht mit Ihrer Arbeit fortfahren? Sie haben doch bestimmt noch etwas anderes zu tun. Beispielsweise die Kartons mit dem Papier in den Kopierraum zu bringen, oder soll ich das etwa machen?«, brüllte er Felipe zu, der seinen Rasentraktor ratlos anstarrte, dann knallte Sauer demonstrativ das Fenster zu. »Und ihr setzt euch gefälligst wieder hin und macht weiter, hier gibt es nichts zu sehen«, wandte er sich an seine Schüler, die der Aufforderung nur widerwillig Folge leisteten.

»Wie soll man sich bei dem Lärm denn konzentrieren? Das ist eine Zumutung«, beschwerte sich Simon, doch Sauer ignorierte ihn.

»Depp«, murmelte Marie vor sich hin. Simon würde auch dann keine Gleichung korrekt lösen, wenn man im Klassenzimmer eine Stecknadel fallen hören könnte. Sie schaute erneut zum Maisfeld hinüber, die Stauden ragten wieder regungslos in die Höhe, als wäre nichts gewesen.

»Herrschaften, kommt zum Ende. Ihr habt noch zehn Minuten«, mahnte Sauer.

»Echt jetzt? Das reicht mir nie im Leben.« Simon ächzte wie ein morscher Baum im Sturm.

Marie hingegen nahm Sauers Ankündigung mit Erleichterung zur Kenntnis. Das wurde aber auch höchste Eisenbahn, sie hatte schon genug Zeit verschwendet. Sie ging nach vorne, um ihre Arbeit abzugeben. Dann setzte sie sich wieder hin und schaute Felipe mitleidig nach, der mit gesenktem Kopf davonschlich. Nur der Rasenmäher blieb einsam und verlassen zurück.

3

Die Kaffeemaschine in der Redaktionsküche des »Regio-Kuriers« röchelte schlimmer als ein Gladiator im Todeskampf, während die schwarze Brühe im Zeitlupentempo durch den Filter tropfte. Eigentlich hätte sie schon längst entkalkt werden müssen, doch niemand fühlte sich für ihr Wohlergehen verantwortlich.

»Schon irre, auf was für Ideen manche kommen, um anderen ihre Weltanschauung aufzudrücken. Mir wäre das viel zu anstrengend«, sinnierte Katharinas junger Kollege Dominik vor sich hin, während er darauf wartete, dass der Kaffee endlich durchlief.

»Hm«, gab Katharina von sich. Ihr konnte die Welt heute gestohlen bleiben, sie hatte genug mit sich selbst zu tun.

Dominik musterte sie mit schief gelegtem Kopf. »Sag mal, was ist denn mit dir los? Gegen dich wirkt jeder Zombie wie das blühende Leben.«

»Spar dir bitte deine Kommentare«, erwiderte Katharina mit krächzender Stimme. »Und über das protestierende Gemüse und den Stau in der Dreisamstraße bin ich bereits bestens informiert. Meine Nachbarinnen waren mit von der Partie.«

Mist, ihr Mund fühlte sich wie Sandpappe an. Vielleicht hätte sie sich gestern beim Rioja doch etwas zurückhalten sollen. Aber jetzt war es für Reue zu spät, ihr Schädel brummte gewaltig. Anders gesagt: Sie hatte einen Riesenkater – ganz so, wie es ihr Weber prophezeit hatte. Deswegen hatte sie heute Morgen auch den Wecker nicht gehört und die Redaktionskonferenz verpasst, was sonst gar nicht ihre Art war. Es grenzte fast an ein Wunder, dass sie es überhaupt ins Büro geschafft hatte. Stöhnend griff sie in ihre Handtasche, holte eine Kopfwehtablette heraus und spülte sie mit einem Glas Wasser hinunter.

»Kann es sein, dass deine Nacht etwas kurz war?«, bemerkte Dominik süffisant.

»Frag lieber nicht.« Katharina rieb sich die Schläfen.

»Verstehe.« Dominiks Grinsen wurde noch breiter. »Aber zurück zum Thema. Ich rede nicht von der Gemüse-Demo, sondern von den ›Bösen Bambis‹, die zugeschlagen haben.«

»›Böse Bambis‹? Noch nie gehört. Ist das eine Kindergartengruppe?«, wunderte sich Katharina.

»Die heißen eher ›Kuckucksnest‹ oder ›Mäusebande‹«, wurde sie prompt von Dominik korrigiert. »Nein, hinter dem infantilen Namen verbirgt sich eine Gruppe, die in letzter Zeit Freiburgs Jägern das Leben schwer macht.«

»Keine Ahnung, wovon du redest. Aber ich bin ganz Ohr«, heuchelte Katharina Interesse. Mit letzter Kraft zündete sie sich eine Zigarette an, um sie nur einen Zug später angewidert im Aschenbecher auszudrücken. Verdammt, ihr war speiübel.

»Die ›Bösen Bambis‹ haben am Wochenende einen Hochsitz im Mooswald angesägt«, erklärte ihr Dominik.

»Wieso sägen die Hochsitze an?« Katharinas Gesicht war ein einziges Fragezeichen.

»Vermutlich waren sie vorher im Baumarkt und verspürten den Wunsch, ihr neues Werkzeug umgehend auszuprobieren.« Dominik schnalzte missbilligend mit der Zunge angesichts ihrer Begriffsstutzigkeit. »Jetzt denk doch mal nach. Hochsitz. Fröhlich springende Rehlein. Plötzlich Peng, Rehlein tot, ermordet von des Jägers Büchse. Das gefällt nicht jedem.«

Es dauerte ein paar Sekunden, doch dann dämmerte Katharina, worauf Dominik hinauswollte. »Ach so, jetzt verstehe ich. Du denkst, die Aktion hat sich gegen die Jagd gerichtet.«

»Glückwunsch. Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen«, erwiderte Dominik. »Wenn du mich fragst, engagieren sich die ›Bösen Bambis‹ für den Tierschutz. Egal, mit welchen Mitteln. Und Jäger gehören nun mal zu jener Personengruppe, die auf wehrlose Waldtiere schießen, damit sie anschließend auf einem Teller landen.«

Konnte es sein, dass Magdalena und Claudia Hand an den Hochsitz gelegt hatten, schoss es Katharina spontan durch den Kopf. Schließlich waren die ja auch gegen das Steakhaus Fleischeslust auf die Straße gegangen. Sie verwarf den Gedanken wieder. Zwar traute sie ihren Nachbarinnen viel zu, aber ein Sabotageakt gehörte nicht dazu. »Schon. Aber trotzdem müssen nicht zwingend militante Tierschützer dahinterstecken. Idioten, die fremdes Eigentum zerstören, gibt es auch so genug«, gab sie zu bedenken. »Oder muss ich dich an die unzähligen Polizeimeldungen erinnern, die wir wegen Vandalismus kriegen?«

Dominik schüttelte den Kopf. »Das ist zwar korrekt, aber dennoch läuft alles auf diese ›Bösen Bambis‹ als Täter hinaus. Behauptet zumindest Carsten Hauser von der Jägervereinigung Freiburg, der hat gestern gegen Abend in der Redaktion angerufen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie wütend der war. Der hätte wegen der Geschichte am liebsten gleich noch am Sonntagabend eine Pressekonferenz im Wald einberufen. Trotzdem schien mir dieser – ich zitiere – ›unerhörte Akt von Zerstörungswut‹ dann doch nicht brisant genug, dass ich dafür Überstunden schiebe.«

»Stimmt, du hattest ja gestern Dienst«, erinnerte sich Katharina.

»So ist es. Ich hätte mir bei dem schönen Wetter auch was Besseres vorstellen können, als im Büro zu sitzen.« Dominik warf Katharina einen mitleidheischenden Blick zu, doch sie reagierte nicht. Er hüstelte, bevor er weitersprach. »Aber noch mal zurück zu besagtem Hochsitz, über den Hauser in seinem Revier gestolpert ist. Der war mit ›BB‹ signiert. Klingelt da was?«

»›BB‹ wie ›Böse Bambis‹?«, mutmaßte Katharina. Ganz allmählich begann ihr Gehirn wieder zu funktionieren, wenn auch nur mit halber Kraft.

»Wenn es nicht Brigitte Bardot oder Benjamin Blümchen waren, liegt das nahe, denkst du nicht? Obwohl sich die Bardot sehr für Tierschutz engagiert«, erwiderte Dominik.

»Woher kennst du Jungspund die eigentlich?«, zeigte sich Katharina verblüfft.

»Von meinem Opa. Er war einer ihrer größten Fans. Du glaubst gar nicht, wie oft ich als Kind mit ihm ›Viva Maria‹ angeschaut habe.«

»Also daher rührt deine Schwäche für Blondinen.« Katharina grinste schwach.

Es blubberte laut. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Kaffee endlich durchgelaufen war. Dominik schenkte sich und Katharina ein. »Übrigens ist es nicht das erste Mal, dass die Jägervereinigung Ärger mit den Aktivisten hat. Kurz zuvor wurde Hausers Jagdhund entführt. Unter dem Futternapf lag ein Zettel mit der Aufschrift ›Die Rache der Bösen Bambis‹. Und auf die Hundehütte wurde mit roter Farbe ›BB‹ gesprüht. Nur nebenbei: Der Hund stand drei Tage später wieder quietschfidel vor der Tür. Und irgendwas haben sie noch mit dem Auto eines Kollegen angestellt, das wollte er mir aber noch genauer erzählen.«

»Da kann man nur hoffen, dass die nicht auf die Idee kommen, einen Jäger zu erschießen«, seufzte Katharina. »So was könnte ich jetzt gar nicht gebrauchen.«

»Und das aus deinem Munde. Wo du doch sonst so auf Verbrechen aller Art stehst. Dir muss es heute wirklich schlecht gehen«, stellte Dominik irritiert fest.

Katharina winkte müde ab. »Keine Sorge, das wird schon wieder.«

»Das hoffe ich doch sehr. Ich muss dich und deinen Kater nämlich gleich allein lassen, ich treffe mich in einer halben Stunde mit Hauser auf einem Waldparkplatz, um den Tatort zu fotografieren.« Allzu begeistert sah er bei der Vorstellung nicht aus. »Ehrlich, ich habe so gar keinen Bock, durch den Wald zu latschen. Heute soll es wieder ganz schön heiß werden.«

»Na, dann wünsche ich dir Waidmannsheil. Ich halte hier solange die Stellung«, erwiderte Katharina, mehr als dankbar, dass sie ihren Kollegen nicht begleiten musste. »Und pass auf, dass du keinem vor die Flinte gerätst.«

»Waidmannsdank, ich weiß deine Fürsorge zu schätzen«, antwortete Dominik gallig, stellte die Tasse auf der Spüle ab und machte sich von dannen.

Wenigstens ließ das verfluchte Kopfweh endlich nach. Katharina hatte die Füße auf den Schreibtisch gelegt und starrte die Wand an, während sie sich die Aktion der »Bösen Bambis« durch den Kopf gehen ließ. Wenn sie ehrlich war, konnte sie durchaus nachvollziehen, dass Jäger nicht bei jedem ganz oben auf der Beliebtheitsskala standen. Seit sie als Sechsjährige unfreiwillig mitbekommen hatte, wie ihr Onkel, ein begeisterter Grünrock, genussvoll ein erjagtes Reh an einen Haken gehängt hatte, um es ausbluten zu lassen, war ihr Verhältnis zur Jagd ebenfalls eher gespalten. Sie hatte damals wochenlang Alpträume gehabt und war ihrem Onkel – so gut es ging – aus dem Weg gegangen.

Trotzdem, wie kam man nur auf eine so schwachsinnige Idee, einen Hochsitz anzusägen? Das hätte bös ins Auge gehen können, wenn der Schaden nicht frühzeitig bemerkt worden wäre. Dagegen mutete die Entführung des Jagdhunds fast schon harmlos an, zumal er ja wieder zurückgebracht wurde.

Ihre Bürotür öffnete sich. »Stör ich?« Anton Gutmann ließ sich ihr gegenüber an Dominiks Schreibtisch nieder. Die Winkekatze neben Dominiks PC strahlte ihn erfreut an.

»Überhaupt nicht. Ich denke gerade über die ›Bösen Bambis‹ nach.« Sie stellte ihre Füße wieder auf den Boden und richtete sich auf. »Willst du mir jetzt eine Moralpredigt halten, weil ich heute Morgen die Konferenz verpasst habe?«, fragte sie alarmiert.

Gutmann zwinkerte ihr zu. »Quatsch. Du bist schon gestraft genug, so erbärmlich, wie du aussiehst. Nein, ich möchte etwas völlig anderes mit dir besprechen.« Er räusperte sich. »Kannst du dir vorstellen, dich als Redaktionsleiterin zu bewerben? Meinen Segen hättest du jedenfalls. Und unser Verleger hätte bestimmt auch nichts dagegen einzuwenden.«

Katharina verdrehte die Augen. »Um Himmels willen, du bist jetzt schon der Zweite, der mir damit kommt. Nein, ich möchte mich definitiv nicht bewerben. Selbst auf die Gefahr hin, dass deine Nachfolgerin ganz furchtbar wird. Aber dann kann ich immer noch kündigen.«

»Wieso Nachfolgerin?«, wunderte sich Gutmann. »Weißt du etwa mehr als ich? Soweit mir bekannt ist, ist meine Stelle noch nicht einmal ausgeschrieben.«

»Ich bitte dich, natürlich wird es eine Frau, egal, ob sie qualifiziert ist oder nicht«, regte sich Katharina auf. »Wo doch jetzt alle auf diesem Gleichstellungstrip sind. Ich sage nur ›Frauenquote‹.«

»So gesehen hättest du doch die besten Chancen, den Job zu bekommen«, machte sie Gutmann aufmerksam.

»Mag sein, aber ich will wirklich nicht«, bockte Katharina. »Mir geht der Ärger mit unseren Lesern sowieso immer mehr auf den Wecker. Ständig dieses Gemecker. Du kommst damit viel besser zurecht als ich, du hast diesbezüglich einfach das dickere Fell.« Sie schaute Gutmann fast schon flehend an. »Könntest du nicht einfach noch ein paar Jährchen weitermachen? Du bist doch erst dreiundsechzig, topfit, magst deine Arbeit, und zu Hause fällt dir sowieso nur die Decke auf den Kopf. Dir wird es ganz schnell langweilig werden, da bin ich mir sicher. Oder willst du dich in die Rosenzucht verabschieden?«

»Wieso sollte ich Rosen züchten?«, fragte Gutmann verdattert. »Wenn ich meiner Frau mal welche schenke, pflege ich in einen Blumenladen zu gehen.«

»Oder gedenkst du Briefmarken zu sammeln, um dir die Zeit zu vertreiben? Oder wie wäre es mit einem Senioren-Tanzkurs? Mit lauter alten Leuten.« Katharina gab sich redlich Mühe, ihrem Vorgesetzten den Ruhestand in den schrecklichsten Farben auszumalen.

»Eigentlich habe ich mehr an Bingo gedacht«, antwortete Gutmann mit unbewegter Miene. »Zahlen fand ich schon immer aufregend. Aber vielleicht mache ich auch endlich mal eine Kaffeefahrt ins Blaue. Rheumadecken kann man nie genug haben.«

Katharina schaute ihn mit offenem Mund an. Erst als er in schallendes Gelächter ausbrach, registrierte sie, dass er sie auf den Arm nahm. Indigniert griff sie nach der Häschentasse auf ihrem Schreibtisch, um ihren Frust mit einem Schluck Kaffee hinunterzuspülen, doch dann verzog sie das Gesicht. Dominik hatte es mit der Dosierung des Pulvers heute Morgen gewaltig übertrieben, das Gebräu schmeckte wie Teer. Ächzend erhob sie sich und leerte ihren Becher im Topf des Gummibaums aus, der in ihrem Büro sein Dasein fristete.

»Du wirst ihn noch umbringen«, bemerkte Gutmann schmunzelnd.

»Ach was, der ist zäh. So schnell macht der nicht schlapp.« Tatsächlich hätte Katharina selbst einen Plastikkaktus zum Eingehen gebracht, aber zum allgemeinen Erstaunen der Kollegen hielt es der Gummibaum schon seit Jahren bei ihr aus. »Und du kennst ja den Spruch: Totgesagte leben länger.« Sie drehte die leere Kaffeetasse in ihren Händen.

»Katharina, versteh doch, dass es in meinem Leben noch mehr als nur den ›Regio-Kurier‹ gibt. Wenn ich in Rente bin, kann ich endlich meine Terrasse genießen. Und allein die vielen Bücher, die ich noch lesen möchte.« Gutmanns Blick wurde verträumt.

»Immer vorausgesetzt, deine Nachbarn haben keinen Rasenmäher«, unterbrach ihn Katharina giftig. »Dann ist es mit der Ruhe und dem Genuss schlagartig vorbei.«

Gutmann ignorierte ihren Einwand. »Und meine Frau und ich werden endlich Zeit für unseren USA-Trip haben«, zählte er weiter auf. »Und ich kann unter der Woche Freunde treffen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass am nächsten Tag die Arbeit ruft. Ich kann bis in die Puppen Musik hören und fernsehen, wenn mir danach ist, ich kann …«