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Ist jede Adoption, früher oder später, ein Drama? Mit welchen Mustern bricht die Adoption? Warum überhaupt adoptieren? Bahini. Die kleine Schwester gibt keine Antworten auf diese Fragen, sondern erzählt die Geschichte einer Adoption in Nepal, kurz nach dem Bürgerkrieg. Ein Vater berichtet seiner Tochter, wie sie in ihre Familie gekommen ist. Es geht um Emotionen, zum Beispiel wie es ist, plötzlich ein fremdes Baby auf dem Arm zu halten, das ab sofort die eigene Tochter ist. Und es geht um das Verfahren, das der neue maoistische Minister Bishwakarma ausmisten will, wie einen Augiasstall. Wie nur soll ihm die Unfruchtbarkeit der Eltern bewiesen werden, nachdem diese bereits ein biologisch eigenes Kind haben? Bahini ist ein Kind des Friedens, denn während des Bürgerkrieges wäre ihre Adoption nicht passiert, zu düster, traurig und gefährlich war es damals in Nepal. Ferner gibt die Geschichte Stichproben aus dem Alltag von Frauen, wie Kumari, das Mädchen, das als Göttin verehrt in einem Tempel eingesperrt ist. Oder Tej Didi, die nach dem Jana Andolan, der Revolution lernen will, Fahrrad zu fahren. Und was ist aus der jungen Frau geworden, die mit einem Stock in der Hand auf der Barrikade die Gleichberechtigung aller Frauen im Leben einfordert? Die Adoption löst kein Problem, weder der Armut noch der Ungerechtigkeit, sie verbessert die Situation der nepalesischen Kinder nicht. Auch ist es für das Land, das Adoptionen inzwischen nicht mehr erlaubt, stets schwierig gewesen zu sehen, wie reiche Eltern aus dem Westen arme Kinder mit zu sich nach Hause nahmen, irgendwo auf der Welt. Und trotzdem, inzwischen reist Bahini, die ursprünglich als papier- und rechtloses Baby im Morgengrauen vor einer Ziegelsteinfabrik in Kathmandu gefunden wurde, mit einem Diplomatenpass durch die Welt, was die schönste, aber auch anspruchsvollste Geschichte im Leben ihrer Eltern ist.
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Seitenzahl: 161
Veröffentlichungsjahr: 2023
Die Geschichte einer Adoption in Nepal.
MARCEL VON ARX
DIE KLEINE SCHWESTER
© 2023 Marcel von Arx
Umschlag, Illustration: Erik Muffler
Weitere Mitwirkende: Lilian Bürgi von Arx
ISBN
Softcover:
978-3-347-85336-2
ISBN
E-Book:
978-3-347-85337-9
Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Prolog
Kapitel 1 – Dasain
Kapitel 2 – Gunsa
Kapitel 3 - Jana Andolan
Kapitel 4 - Matching
Kapitel 5 - Dhai
Kapitel 6 -Atemlos
Kapitel 7 - Didi
Kapitel 8 - Die Sanduhr
Kapitel 9 - Doramba
Kapitel 10 - Samsara
Kapitel 11 - Ambir
Kapitel 12 - Die Eule
Kapitel 12 - Pisco, 2003
Kapitel 14 - Im Liebefeld
Epilog
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Die Leserin und der Leser finden am Ende der Erzählung – auf Seite 185 -, ein Glossar mit den Bedeutungen der in diesem Buch benutzten nepalesischen Wörtern.
Prolog
Sofort erkenne ich dich. Du bist links abgebildet. Du bist die Kleinste. Du bist noch ein Baby. Das Mädchen neben dir, zirka fünfjährig, blickt ernst in die Kamera. Der Junge im karierten Hemd wirkt verloren. Einzig das vierte Kind lächelt, verhalten nur, auf der Schwarz-Weiss-Foto in der Kathmandu Post vom 17. November 2006.
Du trägst eine Mütze. Deine Augen sind geschlossen. Deine Nasenspitze leuchtet. Handelt es sich um einen Effekt der Kamera, des Blitzlichtes vielleicht? Du bist in ein Tuch gewickelt, wie das bei Babys in Nepal üblich ist. Nur dein Kopf ist sichtbar. Deine Mundwinkel sind nach unten gerichtet. Du bist gut genährt. Deine runden Wangen offenbaren es.
„Das ist die offizielle Anzeige“, sagt Santosh. Du warst von der Polizei gefunden worden, vor einer Ziegelsteinfabrik, Anfang November, beim Morgengrauen, im Kathmandu Tal - ausgesetzt.
Die Bekanntmachung mit den vier Fotos fordert die Leser auf, sich zu melden, falls dich jemand erkennt, spätestens in einundzwanzig Tagen. Weil sich niemand geäussert hat, sei es möglich, dich zu adoptieren. „Auch international“, beteuert Rina, Santosh’ Frau.
Adoptionen erlauben es, ein Kind anderer Eltern in die eigene Familie aufzunehmen. Genau deshalb sind wir im Heim. Plötzlich habe ich allerdings meine Zweifel. Mit knapp vier Wochen warst du aus deiner ursprünglichen Familie entfernt und hierhergebracht worden. Was war passiert?
Mit der Adoption ging es uns nicht darum, Gutes zu tun. Dafür ist sie zu persönlich, zu ernst und wir zu egoistisch. Für ein zweites, biologisch eigenes Kind fühlten Lilian und ich uns zwar durchaus fähig, allein schon reichlich alt, vierzig Jahre.
Weil wir mit Matia Sanjay bereits einen Sohn hatten, konnten wir laut dem Gesetz nur eine Tochter adoptieren, die jünger als er sein musste. Das ist kurios, aber ein Fakt, der in unseren Plan passte. Kurz, Lilian und ich wollten mit deiner Adoption unsere Familie vervollständigen, nicht mehr und nicht weniger.
Eine Tochter aus Nepal zu haben, konnten wir uns sehr gut vorstellen. Das Land mit dem Himalaja, mit seinen Tempeln, Stoffen, Farben und Gerüchen war uns zu einer zweiten Heimat geworden. Ferner war ich in Kathmandu vom ersten Tag an überzeugt gewesen, die nepalesischen Frauen seien die schönsten auf der ganzen Welt.
Manchmal nenne ich dich Bahini, was kleine Schwester heisst. Doch bist du meine Tochter. Gleichzeitig bist du das biologische Kind von Eltern aus Nepal. Und du bist die Schwester von Matia. So relativiert die Adoption das Leben, unsere Konzepte und Muster von Herkunft, Geburt und Familie. Bahini bringt, finde ich, die Adoption auf den Punkt.
Ich möchte dir erzählen, wie du in unsere Familie gekommen bist, Ellin Maya. Zum einen geht es um das Verfahren und die Gefühle. Dabei denke ich oft an deine leiblichen Eltern, von denen ich gar nichts weiss. Doch davon später. Zum anderen will ich dir dein Ursprungsland vorstellen. Vier Jahre, länger als du, hatten wir dort gelebt. Deshalb behaupte ich manchmal, mehr Nepalese zu sein als du.
Obschon Santosh und Rina uns gesagt hatten, eine Adoption in Nepal sei ein Kinderspiel, war es dann doch ganz anders. Wir sind, bis zum Äussersten gefordert, an unsere Grenzen gestossen. Wie sollten wir unsere Unfruchtbarkeit beweisen, nachdem Matia Sanjay am 12. Oktober 2005 geboren worden war? Wie würde sich die politische Situation entwickeln, kurz nach der Revolution, die einen Maoisten zum Minister gemacht hatte, der die Adoptionen neu ordnen wollte? Und schliesslich, würden wir im Lotto der Adoptionen mit dir wirklich ein gutes Los ziehen - und du mit uns?
Von all dem handelt Bahini, die kleine Schwester. Willst du unsere Geschichte hören? Dann, Ellin Maya, lese ich sie dir vor.
Kapitel 1 – Dasain
Dasain ist ein religiöses Erntedankfest. Der Mond bestimmt das exakte Datum, entweder im September oder im Oktober. Der Monsun ist vorbei, die Hügel sind grün, das Licht hell. In Kathmandu bleibt der Himalaja unsichtbar, der Luftverschmutzung wegen.
Eine Leichtigkeit, ein Aufbruch ist spürbar. Die Menschen reisen heim in ihre Dörfer, auch während dem Krieg und trotz der Armut. Farbige Tikas leuchten auf den Gesichtern. Düfte parfümieren die Luft um die Tempel. Mit dem Klang von Glocken werden der Tag und die Reise gesegnet, oft von Frauen, die rote Saris tragen.
Auch wir wandern, wenigstens im Kathmandu-Tal. Der Weg ist schmal, oft steil. Papier, Abfall und Dreck liegen herum. Die Fenster der Häuser aus Backstein sind klein und verriegelt, als ob die Sonne störte. Wir riechen Dal Bhat, Linsen und Reis, der an Dasain mit Fleisch, Ziege oder Lamm ergänzt wird. Auch uns ist das tägliche Essen inzwischen vertraut, ein Ritual.
Unterwegs fotografieren wir Kinder, die Drachen steigen lassen, bunte Punkte im Wind. Geübt ziehen sie an den Schnüren und versuchen, die Flugbahn ihres Gestells zu steuern. Sie jauchzen, wenn es nach oben getragen wird und im blauen Himmel, schier grenzenlos fliegt. Oder sie schimpfen und weinen, wenn es sich in einem Mast oder in den Ästen eines Baumes verfängt, das Papier zerreisst und der Drachen kaputt geht. Dabei bemerken wir, dass die Jungen und Mädchen das Spiel nie aufgeben, sondern es immer wieder aufs Neue probieren, als wollten sie ihr Schicksal herausfordern und in die eigenen Hände nehmen.
In Nagarkot, auf der Krete am Rand des Tals, sehen wir zwar nicht den Mount Everest, aber den Himalaja, schemenhaft, ruhig und majestätisch, wie ein Magnet, das uns anzieht. Dabei wird es uns mit Matia Sanjay im Babybjörn bewusst, dass Dasain vor allem auch ein Familienfest ist.
Kapitel 2 – Gunsa
Ein Waisenhaus ist zu wenig abenteuerlich. Anders als die meisten Adoptiveltern wollen wir nicht in einem Heim vorstellig werden, sondern ein Kind aus einem armen, entlegenen Dorf aufnehmen. Ob unsere Tochter vielleicht aus einem maoistisch kontrollierten Gebiet kommt, ist uns egal.
Zielstrebig bitten wir Sepp, ein Kind für uns zu finden. Immerhin hatte Lilian während einer gemeinsamen Reise nach Janakpur erstmals gespürt, mit Matia Sanjay schwanger zu sein. Das deuten wir als ein gutes Omen.
Die Emanzipation der Frau, der Kampf gegen die Korruption oder die Abschaffung der Kasten dauern Generationen. In seinem Projekt lässt Sepp Strassen in ferne Dörfer bauen, damit die Menschen Zugang zum Markt oder zu einem Arzt haben. Ferner unterrichtet er sie in Hygiene, fördert den Handel und achtet darauf, dass die Frauen auf den Baustellen denselben Lohn erhalten wie die Männer. Wie engmaschig sein Netz an Kontakten ist, wird offenkundig, als nach ein paar Tagen bereits unsere Tochter in Kathmandu auftaucht.
Drei Männer warten vor der Ekanta Kuna. Einer trägt ein Bündel auf dem Arm. Schwarzes, dichtes, strubbeliges Haar leuchtet in der Sonne. Ungeduldig fahre ich meinen Computer herunter und informiere Lilian über die Ankunft der vier Besucher, die eigentlich erst am Nachmittag im Büro hätten ankommen sollen.
Tara sieht aus wie eine Zigeunerin. Mit grossen, dunklen Augen schaut sie um sich. Ihre Hände und Füsschen sind schmutzig. Seit langem sind ihre Kleider nicht mehr gewaschen worden. Nicht das Tuch, sondern die Körperwärme des Mannes schützt sie vor der Kälte. Sie riecht nach Natur und Armut. Dringend bräuchte sie ein Taschentuch. Und sie ist aus einer Welt, in der es keine Windeln gibt.
Der Mann mit dem Kind auf dem Arm ist misstrauisch. Seinem spindeldürren Gefährten mit dem Topi auf dem Kopf ist der Stuhl unbequem. Nur der dritte lächelt; die Fahrt sei gut gegangen, teilt er mit.
Gunsa ist ein Punkt, eine Stecknadel in Sindhupalchok. Was auf der Karte zwei Finger von Kathmandu entfernt ist, bedeutete für die Expedition eine Wanderung und Busfahrt von siebzehn Stunden, eine Weltreise.
«Welcome», eröffnet Sepp die Sitzung, während eine Didi Tee serviert. «Ich freue mich, seid ihr alle hier, und bin froh, dass Sanguitta für uns übersetzt», präzisiert er, worauf diese endlos lang zu reden beginnt, was die Situation leicht entspannt.
Taras Mutter sei an Tihar gestorben. Vermutlich habe sie schlechten Alkohol getrunken. Weil ihr Vater noch in Trauer sei, sei er in Gunsa geblieben. Allerdings, meint Sanguitta, sei er mit der Adoption einverstanden.
«Sie sieht kerngesund aus», stellt Sepp zufrieden fest und holt ein Babykleid hervor, derweil die Dolmetscherin uns informiert, im Hotel Clock Tower ein Zimmer reserviert zu haben. Ob wir Zeit hätten, ins Patan-Spital zu kommen, will sie geschäftig wissen, heute um 14 Uhr.
Das Gespräch ist so sachlich, dass für Emotionen wenig Platz bleibt. Lilian hält Tara kurz auf dem Arm, während ich mit der Hand über ihre Stirn fahre und dabei nichts, gar nichts spüre ausser den fremden Geruch in meiner Nase. Bahadur steckt Sepps Kleid ein. Sanguitta zählt das Geld für Kost und Logis. Es ist vorgesehen, dass die drei Bauern spätestens am Donnerstag zurück nach Gunsa fahren, der Ernte wegen.
Prem ist Taras Onkel. Er hat eine enge Beziehung zu dem Baby, das er wie ein Vater behandelt. Sein Misstrauen mir gegenüber lässt mich frösteln. Nimmt er mich als Konkurrenten, ja Feind wahr? Die ganze Angelegenheit ist ihm unangenehm und entspricht nicht seinem Willen. Er ist, ahne ich, gegen die Adoption.
Zurück an meinem Computer, läuft ein Stummfilm vor mir ab. Tihar, das Fest des Lichtes, kurz nach Dasain. Die kranke, hustende Mutter. Der Geruch von Dal Bhat. Ein Schamane schaut vorbei. Der Vater ist auf dem Feld. Seine Frau bleibt appetitlos. Ein Nachbar eilt den Berg hinunter in die Apotheke. Niemand stillt Tara. Das Baby schreit. Die Mutter stirbt. Die Beerdigung – Trauer.
Ist der Witwer in der Lage, über eine Adoption zu entscheiden, darüber nur nachzudenken? Es muss schwierig für ihn sein, das Baby ohne die Mutter zu betreuen. Vermutlich ist sein Kind ihm finanziell eine Last. Trotzdem befürchte ich, dass wir eine lokale Tragödie für eine internationale, für unsere Adoption ausnutzen. Und überhaupt, berauben wir Prem und seine Familie nicht ihres wichtigsten Gutes, ihrer Würde?
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«Achtet darauf, dass sie auf keinen Fall aus der Flasche trinkt», warnt uns Doktor Steve. Die Menschen vom Land würden den Schoppen nicht kennen und die Hygiene missachten, was oft fatale Folgen habe. Es ist kurz nach 14 Uhr.
Er spricht so schnell, dass wir ihn kaum verstehen. Mit Tara allerdings ist er grossartig. Verspielt tastet und hört er sie ab und plaudert mit unserer Tochter, wie ich das gern täte. Welche Tests er machen solle, erkundigt er sich schliesslich.
Laut Gesetz muss ein Kind vor der Adoption auf HIV geprüft sein. Was sonst noch? Was wollen, müssen wir wissen? Sind wir bereit, ein krankes Kind in unserer Familie aufzunehmen? Auch ein todkrankes?
Obschon Prem im Patan-Spital ist, ziehen wir ihn nicht bei. Tatenlos sitzt der Onkel auf einem Stuhl, wie ein Lamm, das auf dem Adoptionsaltar geopfert wird.
Gereizt schaue ich Tara an und will sie liebhaben, das struppige Haar, die Rotznase und die kräftigen, braunen Beinchen. Allein, ich kann es nicht. Noch nie ist mir ein nepalesisches Kind so fremd vorgekommen wie jetzt meine eigene Tochter, als dieser ein weiterer Nadelstich in den Oberarm gemacht wird.
Tara ist gesund und munter. Quicklebendig strampelt sie, als sei es ein Vergnügen, auf Herz und Nieren geprüft zu werden, was in Gunsa unmöglich ist.
Nur flüchtig hatten wir uns überlegt, was tun, sollte unsere Adoptivtochter nicht gesund sein. Was lange nebensächlich und bei Matia Sanjay kein Thema war, ist jetzt existenziell. Schicken wir Tara bei einer Gelbsucht zurück? War ihre Mutter schizophren? Ihr Vater Alkoholiker? Hat sie einen Klumpfuss? Oder vielleicht Läuse?
«Nur das Minimum», bitten wir Doktor Steve.
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Vor der Apotheke habe ich den Eindruck, ganz Kathmandu sei krank. Patienten sitzen auf Plastikstühlen oder liegen auf dem Fussboden. Die Fenster sind schmutzig. Es riecht nach Dal Bhat. Ein Krankenpfleger eilt durch den Raum. Eine Zeichnung fordert die Leute auf, sich impfen zu lassen. Eine Sirene heult. Tara, realisiere ich, ist eine Bedrohung.
Eine Idee hat unvermittelt ein Gesicht. Siebzehn Mal hatte ich dieses bereits fotografiert und mir immer wieder eingeredet, Tara sei jetzt, und zwar ab sofort, meine Tochter. Elf Monate ist das Baby alt, allein ihr Leben ist mir unbekannt, ein blinder Fleck, ein schwarzes Loch nur.
Ungeduldig beobachte ich, wie der Apotheker Rezepte prüft, dann zwischen seinen Regalen verschwindet und den Patienten endlich Pillen oder eine Flasche aushändigt. Langsam rücke ich vor, möchte aber eigentlich nie an der Reihe sein.
Tara verletzt meine Intimität. Mit Matia Sanjay sind wir eine Familie. Von der Zeugung bis zur Geburt, von der Nabelschnur bis zu den Windeln, vom ersten Lachen bis zur Wahl des Namens. Gefällt mir Tara überhaupt?
Die Pflegerin sticht zu. Das Baby schreit. Prem leidet. Passt sie in unsere Familie? Kann ich es mir vorstellen, Tara meine Zeit, Fürsorge und Liebe zu schenken, wie Matia Sanjay?
Mit dem Hustenmittel in der Hand bahne ich mir den Weg durch die Menge und suche den Raum, wo die letzten Tests gemacht werden, orientierungs- und ratlos.
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Nach einer schlaflosen Nacht wissen wir nicht mehr, ob wir Tara adoptieren wollen. Ebenso wenig können wir es uns vorstellen, sie jetzt wie eine heisse Kartoffel fallen zu lassen. Reuig schlagen wir den Männern aus Gunsa vor, statt Tara zu adoptieren, ihre Gesundheit und Erziehung zu finanzieren, bis sie achtzehn Jahre alt ist. Das scheint uns das Minimum zu sein, nachdem sich unsere Lebenswege nun einmal gekreuzt haben. Sepp übermittelt das Angebot Sanguitta, die es Prem und seinen Gefährten übersetzt. Postwendend lehnen die drei es ab.
Bilden wir uns ein, wie auf einem Karussell das Pferdchen auswechseln zu können? Im Nu waren uns die Zügel entglitten. Tara, das Baby aus Gunsa. Der Tod der Mutter. Die Abwesenheit des Vaters. Die Nadelstiche im Patan-Spital. Der schlecht gelaunte Onkel. Mit wem haben wir es überhaupt zu tun?
Prem ist Tamang. Er hat seine eigene Kultur, Kleidung, Essen, Religion und Sprache. Wir wissen nicht, ob es das Wort Adoption überhaupt gibt und was es ihm bedeuten mag.
In der nepalesischen Hierarchie sind die Tamang ganz unten. Traditionell Bauern und Arbeiter, die in Fronarbeit die Strassen, Häuser und Paläste in Kathmandu hatten bauen müssen. Oft waren sie genötigt worden, ihre Kinder in Familien der hohen Kasten abzugeben, wo sie ausgenutzt und missbraucht wurden. Der Armut und des Krieges wegen wandern heute viele aus, allerdings nicht in die Schweiz, sondern nach Indien.
Der Graben, der uns trennt, ist unüberwindbar. Der junge Bauer, der vielleicht zum ersten Mal in Kathmandu ist, begegnet mir, dem Entwicklungshelfer, der es sich einbildet, jetzt einfach seine Nichte aus Gunsa mit in die Schweiz nehmen zu können. Sein Widerstand ist frustriert, aber still und wehrlos.
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Am Mittwochabend, zwei Tage später realisiere ich vor dem Hotel Clock Tower, Taras Familiennamen nicht zu kennen. Aus Vor- und Unsicherheit hatten wir sie nicht nach Hause genommen, sondern in der Obhut der drei Männer gelassen. Die Rezeptionistin mustert uns kurz und schickt uns in den dritten Stock. Im Lift lasse ich Matia Sanjay den Knopf drücken, suche im düsteren Korridor das Zimmer 304 und bin noch vor der Türe unschlüssig, ob wir anklopfen sollen.
Das TV-Volumen ist laut. Die drei Männer liegen im Doppelbett. Tara trinkt aus einem Schoppen. Prems Gummistiefel stinken. Eine Coca-Cola-Flasche steht auf dem Tisch. Das Licht blendet. Autos hupen. Ein Hund bellt.
«Morgen reisen wir ab», informiert Bahadur. Der Fernseher fasziniert Matia Sanjay. Kusum verschwindet im Badezimmer. Lilian wird der einzige Stuhl im Zimmer angeboten. Tara ist mit der Flasche fertig. Prem antwortet nicht, als ich wissen will, ob sie vielleicht einen Tag länger bleiben könnten, der Blutentnahme wegen.
Der spontane, unangekündigte Besuch soll einen Funken überspringen lassen, ein Neustart sein, ausserhalb des Ekanta Kuna Büros oder des Patan-Spitals, quasi auf neutralem Boden. Bahadur erzählt von einem Spaziergang im Ratna-Park. Kusum isst eine Momo. Lilian hält Tara auf dem Arm und stellt sie Matia Sanjay vor, der die TV-Sendung aufregender findet.
