Barfuß auf Wolken - Hannah Siebern - E-Book
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Hannah Siebern

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Beschreibung

Timo ist ein arroganter, unterkühlter Mistkerl – aber leider auch der Bruder von Saskias großer Liebe Matze. Daher erfüllt sie eher widerwillig die Bitte ihres Freundes, einen gemeinsamen Kletterausflug in die Berge zu unternehmen, auf dem sie und Timo endlich ihr Kriegsbeil begraben sollen. Doch alles kommt anders als geplant: Ein Antrag, ein Unfall und nichts ist mehr wie es war. Saskias Leben steht plötzlich Kopf, und auf einmal braucht sie ausgerechnet Timo mehr, als sie es je für möglich gehalten hätte …

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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BARFUSS AUF WOLKEN

HANNAH SIEBERN

Copyright © 2016 by Hannah Siebern

Impressum

Hannah Siebern

Am Vogelbusch 18

48301 Nottuln

Deutsche Erstausgabe 12/2016

ISBN: 9783819426759

Lektorat: Sarah Wedler und Nadine d’Arachart

Cover: Casandra Krammer

Coverschrift: Claudia Kolb

All rights reserved.

No part of this book may be reproduced in any form or by any electronic or mechanical means, including information storage and retrieval systems, without written permission from the author, except for the use of brief quotations in a book review.

Formatiert mit Vellum

Dieses ist Buch ist für all die lieben Menschen in meinem Leben. Danke, dass es euch gibt.

INHALT

Über den Autor

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Aufwachen

Wie geht es weiter?

Danksagung

Was bisher geschah …

ÜBER DEN AUTOR

Hannah Siebern wurde 1986 in Münster (NRW) geboren und studierte an der Uni Dortmund Erziehungswissenschaft. Geschichten schrieb sie schon als Kind leidenschaftlich gerne. Ihre ersten Werke handelten von fiktiven Abenteuern, die sie mit ihren Freundinnen erlebte. Jahre später entdeckte sie dann ihre Liebe zu Fantasyromanen und schrieb mit 23 ihr erstes komplettes Buch.

Inzwischen lebt sie mit ihrem Freund, und ihrem Hund in Coesfeld (NRW).

www.hannahsiebern.de

[email protected]

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KAPITEL1

Saskia

„Führerschein und Fahrzeugpapiere, bitte.“

Ich seufzte und kramte nach meinem Führerschein, während Matze neben mir es kaum schaffte, ein Lachen zu unterdrücken. Sein Blick sagte so deutlich Ich hab's dir ja gesagt, dass ich am liebsten nach ihm geschlagen hätte.

„Die Papiere sind hier oben drin, Schatz“, sagte er, als ich auch nach längerem Wühlen in der Mittelkonsole den Fahrzeugschein nicht fand.

Mit geübtem Griff zog er den gesuchten Schein hervor und drückte ihn mir in die Hand. Ich überreichte alles der Polizistin.

„Sie wissen schon, warum ich Sie angehalten habe?“, fragte sie mit deutlich bayrischem Akzent.

Ich nickte. Seitdem ich zurückdenken konnte, stand ich schon mit der Polizei auf Kriegsfuß. Angefangen hatte das schon vor meiner Geburt. Mein Vater war damals auf dem Weg zum Krankenhaus angehalten worden, nachdem er mit meiner in den Wehen liegenden Mutter über Rot gefahren war. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis der Polizist verstanden hatte, dass die Frau auf der Rückbank tatsächlich kurz vor der Niederkunft stand. Aber statt meinem Vater dann vorauszufahren und mit Blaulicht den Weg freizumachen, hatte der Polizist ihm eine Verwarnung ausgestellt und ihn alleine weiterfahren lassen. Sie hatten es noch gerade ins Krankenhaus geschafft, in dem ich nur eine halbe Stunde später das Licht der Welt erblickte.

Im Alter von sechs hatte ich dann die nächste unschöne Begegnung mit einem Polizisten gehabt, weil ich ein paar Süßigkeiten gemopst hatte und dem Ladenbesitzer nicht sagen wollte, wer meine Eltern waren und wo ich wohnte. Beim Anblick des bedrohlichen Polizisten, der daraufhin in den Laden gekommen war, war ich allerdings schnell gesprächig geworden und hatte geschworen, mich nie wieder irgendwo zu bedienen.

Natürlich war das aber nicht die letzte Begegnung mit der Polizei gewesen, denn sobald ich Fahrradfahren gelernt hatte, war es mir immer wieder gelungen, Verkehrsregeln zu brechen und dabei auch noch erwischt zu werden. In meiner Jugendphase hatte ich die meisten Konflikte mit dem Gesetz gehabt, aber darüber wollte ich jetzt gar nicht nachdenken.

Denn seit ich meinen Führerschein besaß, machte ich ohnehin regelmäßig die Bekanntschaft mit neuen Polizisten. Es war ein Wunder, dass ich den Wisch überhaupt noch hatte.

„Sie waren 20 km/h zu schnell“, fuhr die Dame in Grün fort. „Ich stelle Ihnen ein Bußgeld aus, das Sie mit Karte bezahlen müssen.“

„Ähm …“, begann ich und verstummte dann. Ich hatte leider keine EC-Karte dabei. Es war ein Wunder, dass ich überhaupt meinen Führerschein bei mir trug, aber nachdem ich ihn die letzten Male vergessen hatte, hatte Matze ihn mir in das Täschchen an meinem Autoschlüssel getan. So war es mir unmöglich loszufahren, ohne das Ding dabei zu haben. Mein Portemonnaie ließ ich trotzdem regelmäßig zu Hause liegen.

„Ich habe leider keine Karte dabei“, sagte ich bedauernd.

Ich hätte ja fragen können, ob Barzahlung möglich wäre, aber aus Erfahrung wusste ich, dass Polizisten kein Bargeld annehmen durften. Offenbar war die Gefahr zu groß, dass sie sich das Geld in die eigene Tasche steckten, obwohl ich mir das bei der strengen Dame, die jetzt vor mir stand, nur schwer vorstellen konnte. Bevor diese Frau sich bestechen ließ, fror vermutlich die Hölle zu.

„Nehmen Sie meine“, mischte Matze sich ein und reichte der Frau die Bankkarte. Er war so groß, dass ich mich weit zurücklehnen musste, um nicht von ihm zerquetscht zu werden.

Die Polizistin runzelte die Stirn, als würde sie überlegen, wie Matze und ich wohl zueinander standen, und nahm dann die Karte entgegen.

„Danke“, sagte sie, tippte etwas ein und reichte meinem Freund das Gerät, damit er seine Geheimzahl eingeben konnte.

Ein Bon kam heraus und die Frau drückte mir den Beleg und Matzes Karte in die Hand. „Fahren Sie von nun an bitte langsamer und einen schönen Tag noch“, sagte sie, nickte uns zu und ging dann zurück zu ihrem Auto.

Ich wartete noch, bis sie losgefahren war, bevor ich den Wagen wieder startete und ebenfalls losfuhr.

„Sag nichts“, grummelte ich, als Matze zum Sprechen anhob und ich sah, wie er amüsiert den Kopf schüttelte.

„Ich sag doch gar nichts.“

„Nein. Aber du wolltest es.“

„Ich? Nein. Nie.“

Ich atmete tief durch, um mir einen bissigen Kommentar zu verkneifen und schaute dann wieder auf die Straße. Wir waren schon kurz vorm Ziel. Nur noch fünf Minuten Fahrt und wir würden Erding erreichen. Eine süße kleine Stadt in der Nähe von München.

„Beim nächsten Mal fährst du einfach die ganze Strecke“, patzte ich, als ich in die Straße von Matzes Eltern einbog.

Er lachte. „Ich habe gesagt, dass ich noch fahren kann. Dir ist schlecht geworden. Deswegen haben wir getauscht. Weißt du noch?“

Ich umfasste das Lenkrad härter und starrte geradeaus. Natürlich hatte Matze recht. Ich hatte immer wieder Probleme mit Reiseübelkeit. Das hatte schon angefangen, als ich noch klein gewesen war, aber im Laufe der Zeit war es immer schlimmer geworden. Für gewöhnlich hatte ich keine Probleme, wenn ich vorne auf dem Beifahrersitz saß, aber an manchen Tagen reichte selbst das nicht und die einzige Möglichkeit, meine Reiseübelkeit zu bekämpfen, lag darin, Tabletten zu nehmen oder selber zu fahren. Da die Reisetabletten mich aber unnötig müde machten, war es mir in der Regel lieber, mich selbst ans Steuer zu setzen.

Ich parkte vor dem kleinen Häuschen meiner Schwiegereltern in spe und schaltete den Motor ab.

Matze stieg sofort aus, holte die Topfblume für seine Mutter aus dem Auto und legte mir einen Arm um die Schulter, als wir auf das Haus zugingen.

„Vielleicht solltest du nächstes Mal doch eine Tablette nehmen“, schlug er vor. „Müde bist du so oder so. Und ich bin das viele Fahren ja gewohnt.“

Ich seufzte leise, legte einen Arm um seine Hüfte und lehnte meinen Kopf an seine breite Brust. Matze zog mich eng an sich und gab mir einen Kuss auf die Schläfe. Seine Nähe tat mir gut. Egal, wie erschöpft oder frustriert ich war – sobald Matze mich in den Arm nahm und ich seinen vertrauten Geruch einatmete, fühlte ich mich gleich viel besser.

„Na, komm schon, Süße“, sagte er aufmunternd und drückte mich noch einmal. „Meine Eltern warten sicher schon.“

Ich nickte und gemeinsam gingen wir zur Haustür. Matze klingelte, aber statt einfach zu warten, stellte er schnell die Orchidee vor der Tür ab und zog mich um die Hausecke.

Ich lachte leise und verdrehte die Augen. „Du spinnst“, warf ich ihm vor, während wir den kleinen Weg entlang Richtung Garten schlichen. Matze hatte immer schon einen Heidenspaß daran gehabt, Freunde und Familie zu foppen, und das obwohl er bereits sechsundzwanzig war. Mit seinem Zweitschlüssel öffnete er das Gartentor und legte einen Finger auf seinen Mund, um mir zu bedeuten, ganz still zu sein, als vorne die Stimme seiner Mutter erklang.

„Was ist das denn?“, fragte sie laut und ich musste ein Lachen unterdrücken.

Gemeinsam schlichen wir durch den Garten bis zum Hintereingang. Doch bevor wir dazu kamen, die Tür aufzuschließen, wurde sie von innen aufgestoßen und wäre mir fast gegen die Stirn geknallt.

„Aha. Aha. Wen haben wir denn da?“, fragte eine junge männliche Stimme und obwohl mich die Tür verfehlt hatte, fühlte ich mich plötzlich wie vor den Kopf gestoßen. Denn vor uns stand Timotheus. Matzes Bruder.

* * *

Ich vermutete, dass es auf der ganzen Welt kaum Brüder gab, die so unterschiedlich waren wie Matze und Timo. Beide sahen gut aus, aber auf komplett unterschiedliche Weise. Matze war blauäugig, groß, blond und brachte eindeutig ein paar Kilo zu viel auf die Waage. Timo hingegen war sportlich gebaut, überragte mich kaum und hatte außerdem dunkles Haar und braune Augen, die er hinter einer Brille versteckte.

Timo hatte sein Abitur mit Bravour abgeschlossen und studierte Pharmazie. Seine Hobbys waren klassische Musik und Literatur. Matze hingegen hatte nur knapp seinen Schulabschluss geschafft und arbeitete seit dem Ende seiner Ausbildung als Mechaniker. Seine große Leidenschaft galt dem Angeln sowie der Reparatur von allem, was ihm zwischen die Finger kam.

Der entscheidendste Unterschied lag allerdings darin, dass ich Matze von Herzen liebte, wohingegen ich Timo auf den Tod nicht ausstehen konnte. Und das, obwohl ich Matze ohne Timo nie kennengelernt hätte.

Ich hatte Matze das erste Mal getroffen, als ich vor der Haustür seiner Eltern gestanden hatte, um mich bei Timo dafür zu entschuldigen, dass ich ihm in der Schule die Nase gebrochen hatte. Wir waren seit der Mittelstufe immer in einer Klasse gewesen und der Auslöser für meinen Angriff war gewesen, dass Timo meiner kleinen Schwester an die Wäsche gegangen war. Leider hatte meine Entschuldigung nicht verhindert, dass ich von der Schule geflogen war.

„Timo, altes Haus“, sagte Matze überschwänglich und umarmte seinen Bruder. „Was für eine Überraschung.“

Timo keuchte, als Matze ihm fast die Luft abdrückte. Sobald er ihn wieder losgelassen hatte, rückte Timo seine Brille zurecht und räusperte sich. „Ja. Ich habe überstundenfrei bekommen“, erklärte er. „Also habe ich mir gedacht, ich überrasche euch einfach.“

„Na. Das ist dir gelungen.“ Erfreut klopfte Matze seinem Bruder auf die Schulter, sodass dieser fast nach vorne stolperte.

Erst danach wandte er seine Aufmerksamkeit mir zu.

„Saskia. Schön, dich zu sehen“, sagte er, ohne Anstalten zu machen, mich zu berühren.

Ich atmete einmal tief durch, riss mich aber dann zusammen und umarmte Timo von meiner Seite aus. Zaghaft erwiderte er die Umarmung und ich hätte ihm am liebsten wieder eins auf die Nase gehauen, damit er endlich mal den Stock aus seinem Arsch bekam.

Ich hatte seine Abneigung gegenüber Umarmungen noch nie verstanden und auch wenn ich ihn nicht leiden konnte, fand ich es lächerlich, dass er sich so gegen diesen Brauch unter Freunden und Familie sträubte. In manchen Ländern gab man sich Küsschen und hierzulande umarmte man sich halt. Das gehörte sich so, wenn man sich nahestand und ob es mir passte oder nicht, als Matzes Bruder stand er mir nahe.

„Also. Mit dir hatten wir heute wirklich nicht gerechnet“, sagte ich, sobald ich ihn wieder losgelassen hatte.

Es war komisch, aber nach all der Zeit löste seine Nähe immer noch ein nervöses Ziehen in meinem Magen aus. Keine Schmetterlinge, sondern eher so etwas wie ein Magengeschwür, das sich unangenehm bemerkbar machte. Dieses Gefühl hatte so viele Gründe, dass ich sie schon gar nicht mehr alle zählen konnte.

„Es war auch eher eine spontane Entscheidung“, gab Timo zu.

Wir gingen in Richtung Wohnzimmer, wo Matzes Vater Hans-Peter am Esstisch saß, während seine Mutter gerade vom Flur wieder hereinkam. Sie trug die Orchidee in der Hand, aber hätte diese fast fallengelassen, als Matze von der Seite auf sie zugesprungen kam und laut Buh! rief.

„Ach du heilige Mutter Gottes“, sagte Marianne und schlug mit der einen Hand scherzhaft nach ihrem Sohn, der laut lachte. „Matthias Johannes Euler. Was ist nur in dich gefahren, mich an meinem Geburtstag so zu erschrecken? Du bist doch keine acht Jahre mehr alt. Ich hätte nicht gedacht, dass du als Erwachsener immer noch so einen Blödsinn machen würdest.“

„Ach, Mama. Der Tag, an dem ich aufhöre Blödsinn zu machen, ist der Tag, an dem ich sterbe. Und vielleicht schaffe ich es sogar noch auf dem Sterbebett, dich zum Lachen zu bringen.“

„Untersteh dich“, zischte Marianne und nahm die Umarmung ihres Sohnes gerne entgegen. „Du wirst es auf gar keinen Fall wagen, vor mir zu sterben, du dummer Junge.“

„Naaaaa. Bei der Verkehrslage auf den Straßen …“ Matze zwinkerte seiner Mutter zu und ließ sie dann wieder los.

Matze war jeden Tag auf den Straßen unterwegs. Als Mechaniker und passionierter Autofahrer fuhr er unglaublich viel und war tatsächlich schon zweimal in kleinere Unfälle verwickelt gewesen. Trotzdem war mir klar, dass seine Worte nur halb ernst gemeint waren. Ich kannte kaum einen Menschen, der so lebensbejahend war wie Matze und ich vergötterte ihn für seine positive Einstellung.

„Hallo, Marianne“, sagte ich, sobald Matze zu seinem Vater hinüber gegangen war, und umarmte sie. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.“

„Danke, Saskia. Schön, dass ihr da seid.“ Sie drückte mich eng an ihren dicken Busen und gab mir einen Kuss auf die Wange. „Wie kommt es denn, dass ihr so spät dran seid? Hattet ihr Stau?“

„Sozusagen“, sagte ich ausweichend.

„Direkt vor uns ist jemand durch die Absperrung in eine Baustelle gerast“, erklärte Matze und setzte sich bequem auf einen Stuhl neben seinen Vater. „Die Autos rechts haben ihn nicht reingelassen und er hatte zu viel Speed drauf.“

„Ja“, bestätigte ich und setzte mich mit Marianne an den Tisch. „Und du kennst ja deinen Sohn. Es war offensichtlich, dass keiner verletzt war, aber Matze musste natürlich trotzdem anhalten, um zu sehen, ob es allen gutgeht.“

„Hey. Man weiß ja nie. Hätte ja auch sein können, dass jemand unter Schock steht“, verteidigte Matze sich. „Sobald ich sicher war, dass die Leute selber klarkommen, sind wir ja auch weitergefahren.“

„Gut gemacht, mein Sohn“, lobte sein Vater. „Ich finde es sehr löblich, dass du angehalten hast. Besser einmal zu viel als einmal zu wenig.“

„Mit dieser Einstellung stehst du ziemlich alleine da, Pa“, sagte Timo beiläufig und alle sahen ihn an. „Es wurden mal Experimente gemacht, bei denen ein Unfall nachgestellt worden ist. Die ersten 20 Minuten hat niemand angehalten. Danach war es höchstens die Hälfte. Ich denke, dass die meisten Menschen einfach viel zu egoistisch sind.“

War dieser Vorwurf etwa an mich gerichtet? Oder generell an alle Menschen, die nicht angehalten hatten? „Wir hatten es eilig, weil wir sowieso schon spät dran waren“, verteidigte ich mich. „Sobald wir weiter konnten, habe ich versucht die Zeit wieder reinzuholen, aber das war gar nicht so einfach.“

„Ja.“ Matze lachte leise. „Das kommt davon, wenn man in einer Baustelle 80 statt 60 fährt. Wir sind von der Polizei angehalten worden.“

„Oh nein. Wie ärgerlich“, sagte Marianne. „Dein Führerschein ist doch hoffentlich nicht weg.“

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich glaube nicht, sonst hätte die Polizistin ihn doch sicher direkt an sich genommen.“

Ich hatte keine Ahnung, wie viele Punkte in Flensburg ich schon gesammelt hatte und hoffte einfach mal, dass es noch nicht so weit war. In der Regel bekam ich ja nur Knöllchen wegen Falschparkens. Andererseits hatte ich vor einiger Zeit auch eine rote Ampel überfahren, die gerade umgeschaltet hatte. Zum Glück hatte ich dabei niemanden in Gefahr gebracht. Mit der Geschwindigkeit nahm ich es jedoch grundsätzlich nicht so genau.

„Da würde ich mich nicht drauf verlassen“, sagte Timo ernst. „Du kannst froh sein, dass du nicht in der Schweiz erwischt wurdest. Wenn man dort drei km/h zu schnell fährt, kostet das schon einen Batzen Geld.“

„Gibt es da keine Toleranz?“

„Doch. Ich meine abzüglich der Toleranz. In Zürich sind die Polizisten wirklich streng.“

Timo lebte seit über einem Jahr in Innsbruck, reiste aber auch häufig in die Schweiz, weil er dort Bekannte hatte, mit denen er gerne wandern ging. Ich hasste es, wenn er raushängen ließ, dass er sich ja ach so gut auskannte.

„Kinder. Nun streitet euch doch nicht“, sagte Marianne und stand auf. „Hans-Peter. Würdest du mir wohl beim Essen helfen, damit wir endlich anfangen können? Sonst wird es wirklich etwas spät.“

„Aber natürlich, mein Herz“, sagte Matzes Vater und erhob sich ebenfalls.

Er war ein herzensguter Mann, der seiner Frau nichts abschlagen konnte und ich vermutete, dass Matze diesen Charakterzug von ihm geerbt hatte. Sobald die beiden das Zimmer verlassen hatten, warf ich Timo einen möglichst beiläufigen Blick zu. Warum war er ohne Vorankündigung hier? Er kam doch sonst nicht zu jeder Familienfeier. Warum tat er uns beiden das an? Ihm musste doch klar gewesen sein, dass ich mit Matze herkommen würde.

Doch meinen Freund schien die peinlich berührte Stimmung überhaupt nicht zu stören.

„Jetzt erzähl doch mal, Brüderchen. Wie läuft es denn so in Innsbruck?“

„Ach. Das Übliche“, gab Timo einsilbig zurück. „Jede Menge Arbeit bei uns an der Uni. Sture Menschen, die keine Ahnung von dem haben, was sie tun und nicht tun wollen, was ich ihnen sage.“

Matze lachte. „Ja. Das kenne ich. In der Werkstatt gibt es auch immer wieder so welche. Am besten sind die polnischen Gastarbeiter, die dann vor einem stehen und nur sagen Ich nix verstehen.“

„Nicht alle Polen sind so“, wandte ich ein.

„Nein. Natürlich nicht. Aber anstrengend ist das trotzdem“, beharrte Matze. „Gut, dass ich mit solchen Dilettanten nichts zu tun habe“, sagte Timo und winkte ab. „Es können zwar nicht alle Deutsch, aber Englisch ist bei uns Pflicht. Diese Sprache muss heutzutage einfach jeder beherrschen. Ich sehe inzwischen auch alle Serien nur noch auf Englisch.“

Mit großen Augen sah ich Timo an. Was für ein Blödmann. Matze sprach nicht gut Englisch und meine Schwester auch nicht. Das bedeutete aber noch lange nicht, dass sie dumm waren. Manchen Leuten fiel das Sprachenlernen einfach nur schwerer.

„Na ja. Lassen wir die Arbeit mal Arbeit sein“, sagte Matze. „Was machst du sonst so? Und erzähl mir jetzt nicht, dass du den ganzen Tag nur zu Hause an deiner Doktorarbeit sitzt.“

„Nein. Ich lebe mich langsam ein. Ich habe angefangen Klavierunterricht zu nehmen und besuche einen Schauspielkurs. Außerdem war ich erst letzte Woche auf einem klassischen Konzert und habe für nächste Woche Karten für die Oper.“

„Kommst du dann überhaupt noch zum Lesen?“, fragte ich sarkastisch, weil ich genau wusste, wie gerne Timo seine Nase in Bücher steckte.

„Aber sicher doch. Im Moment lese ich einen Gedichtband von Goethe beim Frühstück und aufgrund meiner Recherchen für die Doktorarbeit muss ich ja ohnehin viel lesen.“

Goethe zum Frühstück? Das war so typisch.

Ich verdrehte die Augen.

„Ich meinte eigentlich, ob du etwas Unterhaltsames liest. Oder mal ins Kino gehst.“

„Aber natürlich. Erst letztens habe ich im Kino eine Reportage von Welt der Wunder gesehen. Auf einer riesigen Leinwand wirkt das gleich doppelt so imposant.“

„Wir haben letztens ‚Pets’ gesehen“, sagte Matze grinsend. „Der war auch ziemlich imposant. Vor allem die dicke Katze.“

Unbewusst ergriff ich Matzes Hand und drückte sie. Ich war so froh, dass er nicht so ein Snob war wie sein Bruder. Ich hielt mich selber nicht für blöd, aber wenn ich Timo so reden hörte, kam ich mir vollkommen minderbemittelt vor.

„Den habe ich tatsächlich auch gesehen. Léa wollte da unbedingt rein, also habe ich mich gefügt.“

„Léa?“, hakte Matze nach. „Hast du nicht letztes Mal von einer Anna gesprochen?“

Timo zuckte mit den Schultern. „Mit Anna gehe ich auch noch aus.“

„Moment, Moment“, mischte ich mich ein. „Das heißt, du hast zwei Frauen gleichzeitig am Start? Wissen die beiden voneinander?“

„Das ist doch wohl eine selten dämliche Frage. Oder würdest du bei Matze bleiben, wenn du genau wüsstest, dass er eine andere hat?“

Schnell schüttelte ich den Kopf und errötete leicht. Ich hasste es, wenn Timo mir das Gefühl gab, etwas Dummes gesagt zu haben. Wie schaffte er es nur immer wieder, dass ich mich minderwertig fühlte? Dabei war er es doch, der gerade zugegeben hatte, dass er ganz großen Mist baute.

„Zwei Frauen?“, hakte Matze nach. „Das stelle ich mir unglaublich anstrengend vor.“

Timo zuckte beiläufig mit den Schultern. „Die beiden sind eigentlich ganz umgänglich. Léa studiert Medizin und ist deswegen die meiste Zeit eh nicht da und Anna ist in einer festen Beziehung und schätzt es sehr, dass ich nicht an etwas Festem interessiert bin.“

Mistkerl. Soweit ich wusste, hatte Timo noch nie eine ernsthafte Beziehung gehabt und mit seiner Einstellung würde er vermutlich auch niemals eine finden.

So zuckersüß wie möglich lächelte ich ihn an und sagte: „Ich finde es ja immer wieder faszinierend, dass jemand, der so intelligent ist wie du, so viel Bullshit labern kann.“

Timos Augen weiteten sich und ich sah ihm an, dass er mir am liebsten eine scharfe Antwort entgegengeschleudert hätte, aber genau in dem Moment kamen seine Eltern wieder zur Tür herein und stellten das Essen auf dem Tisch ab.

„Ente mit Orangensauce“, verkündete Marianne mit fröhlicher Miene. „Ich wünsche euch einen guten Appetit.“

KAPITEL2

Matze

„Ihr seid also immer noch zusammen“, sagte Timo und obwohl es keine Frage war, nickte ich.

Wir saßen gemeinsam im Garten und tranken ein Bier, während die Frauen den Tisch abräumten und unser Vater nach einem CD-Player suchte, um draußen Musik anzumachen. Ich hatte meine Hilfe beim Abräumen angeboten, aber meine Mutter hatte klargestellt, dass es wenig sinnvoll wäre, zu dritt in der Küche zu stehen. Dafür war sie einfach zu klein.

„Wie man sieht“, gab ich zurück. „Ich habe ja immer Angst, dass sie eines Morgens aufwacht, feststellt, was für ein Idiot ich bin, und einfach wegläuft, aber bisher ist das nicht geschehen.“

„Sie wäre selbst eine Idiotin, wenn sie dich verlassen würde“, konterte Timo. „Was Besseres als ein Euler könnte ihr doch gar nicht passieren.“

„Das sagst du so. Aber ob sie das auch so sieht?“

Timo runzelte die Stirn. „Woher kommen diese Zweifel? Du bist doch schon seit Ewigkeiten mit Saskia zusammen. Wie lange war das nochmal?“

„Sieben Jahre.“

„Na, siehst du.“

Timo hatte natürlich recht. Es gab keinen Grund, mir Sorgen zu machen oder an Saskia zu zweifeln. Wir waren schon ewig ein Paar und es lief gut. Es war nur so, dass ich darüber nachdachte, in unserer Beziehung den nächsten Schritt zu wagen und ich war alles andere als sicher, ob Saskia dazu auch bereit war.

„Die Sache ist die: Ich überlege, Saskia zu fragen, ob sie auch Teil der Familie Euler werden will.“

Timo machte ein überraschtes Gesicht und nahm einen großen Schluck von seinem Bier.

„Du willst ihr einen Antrag machen?“

„Pssst. Leise. Nachher hört sie dich noch.“

„Ist … das nicht etwas übereilt?“

Ich runzelte die Stirn. „Übereilt? Wir sind seit sieben Jahren zusammen und leben seit drei Jahren in einer gemeinsamen Wohnung. Was soll daran übereilt sein?“

„Na ja. Ihr seid immer noch verdammt jung und …“

Er verstummte und ich hätte alles dafür gegeben zu erfahren, was gerade in ihm vorging. Ich wusste, dass Timo und Saskia einander nicht ausstehen konnten und ich hatte das nie hinterfragt. Einige von Saskias Gründen kannte ich und mir war klar, dass sie eine Mitschuld daran trug, dass ich schon lange keinen engen Kontakt mehr zu meinem Bruder pflegte. Und genau das wollte ich gerne ändern.

„Ich fände es toll, wenn du und Saskia … wenn ihr euch wieder ein bisschen annähern würdet“, sagte ich zögerlich und trank selbst noch einen Schluck Bier. „Ich weiß ja, dass ihr nicht auf einer Wellenlänge seid, aber … könnt ihr nicht wenigstens versuchen, miteinander auszukommen?“

Timo versteifte sich. „Dass wir uns nicht verstehen, ist ganz sicher nicht meine Schuld. Sie hatte schon in der Schule ein Problem mit meinem überragenden Intellekt.“

Ich lachte. „Ich glaube nicht, dass sie ein Problem mit deiner Intelligenz hat, Brüderchen, sondern vielmehr damit, dass du sie ständig heraushängen lässt. Wenn du einfach so tun würdest, als wärst du wie alle anderen, würdet ihr beide sicherlich gut miteinander auskommen.“

Timos Mundwinkel zuckten, was einem Lächeln bei ihm schon verdammt nahe kam. Er war nicht unbedingt der humorvolle Typ. Er war auch nicht gerade gesellig oder umgänglich. Aber er war mein Bruder. Der einzige, den ich hatte. Daher war es mir wichtig, dass er mit meiner zukünftigen Frau zurechtkam.

„Meinst du, du könntest dich in Zukunft ein bisschen mehr am Riemen reißen in ihrer Gegenwart?“, fragte ich. „Rede nicht immer über so Dinge wie Shakespeare oder diese komischen Dichter wenn sie dabei ist, sondern sprich lieber über was Lustiges.“

„Über was denn zum Beispiel?“

„Keine Ahnung. Vielleicht darüber, was du so machst, wenn du deine Nase nicht in deine Bücher steckst. Rede übers Wandern. Ich schätze, das ist unverfänglich.“

„Ich denke kaum, dass Saskia etwas davon versteht. Wer es nie erlebt hat, auf dem Gipfel eines gigantischen Berges zu stehen und zu wissen, dass man selbst es war, der diesen Felsen bezwungen hat, der wird nie nachvollziehen können, wovon ich rede.“

Ich seufzte und verkniff es mir zu sagen, dass genau diese überhebliche Art der eigentliche Grund war, warum Saskia nicht mit ihm klarkam. Saskia war auch belesen. Ganz im Gegensatz zu mir. Doch während ich das vollkommen gelassen sah, ließ sie sich von Timos unbedachten Kommentaren provozieren. Und das, obwohl ich mir sehr sicher war, dass mein Bruder so etwas gar nicht böse meinte. Er machte sich einfach nicht genug Gedanken darüber, dass seine Kommentare jemanden verletzen könnten. So als wäre man selber schuld, wenn man nicht so klug war wie er. Natürlich hätte ich mich darüber aufregen können, aber was hätte mir das gebracht? Gar nichts. Also ließ ich es einfach sein.

„Wenn du glaubst, wir könnten das nicht nachvollziehen, dann nimm uns doch einfach mal mit“, schlug ich vor.

Timo verschluckte sich an seinem Bier und hustete lange. „Bitte was?“, fragte er.

„Na ja. Wir könnten dich ja mal besuchen kommen. Vielleicht bringt euch zwei das einander näher. Man sagt doch, dass einen nichts so sehr verbindet wie gemeinsame Erlebnisse.“

Timo sagte nichts und betrachtete mich eine lange Weile.

„Es ist dir wirklich ernst, nicht wahr?“, fragte er dann.

„Ja, sicher. Ich will, dass ihr euch besser versteht.“

„Das meinte ich nicht. Ich meinte … Du willst sie wirklich heiraten.“

Ich zuckte mit den Schultern. „Ich liebe sie und wir überlegen, ein Haus zu kaufen. Da ist das doch der nächste logische Schritt.“

Timo erwiderte nichts, sondern widmete sich weiter seinem Bier. Ich wusste, dass ich ihn jetzt nicht drängen durfte. Timo musste selbst entscheiden, ob er eine gemeinsame Wandertour für eine gute Idee hielt.

„Ihr könnt meinetwegen kommen, sobald die Semesterferien anfangen“, lenkte er ein. „Da habe ich eine Woche Zeit. Ich bezweifle allerdings, dass ein paar Tage wandern Saskias Meinung von mir in irgendeiner Art und Weise verändern werden.“

Das bezweifelte ich zwar auch, aber es war immerhin einen Versuch wert. Irgendwie mussten die beiden sich ja vertragen. So schlimm konnte Saskias Meinung von meinem Bruder schließlich gar nicht sein.

KAPITEL3

Saskia

„Dein Bruder ist wirklich der blödeste, arroganteste und snobistischste Hornochse, den ich je gesehen habe“, schimpfte ich, als wir nach einem langen Abend auf dem Rückweg nach Hause waren. „Stört es dich gar nicht, dass er so überheblich ist?“

„Natürlich stört mich das“, sagte Matze und steuerte dabei weiter das Auto. „Aber was soll ich denn bitte schön machen? Er ist nun mal mein Bruder und er war schon immer so. Solange ich mich zurückerinnern kann, hat er mir unter die Nase gerieben, dass er es aufs Gymnasium geschafft hatte, während ich nur auf der Hauptschule gewesen bin. Er ist verdammt stolz darauf, dass er studiert, während ich nur eine Ausbildung gemacht habe. Ich mag größer und älter sein als er, aber er wollte immer besser sein als ich. Aber weißt du was? Da steh ich drüber. Er ist trotzdem mein Bruder, also wäre es mir sehr lieb, wenn wir das Thema wechseln könnten.“

„Aber …“

„Saskia. Es bringt nichts, darüber zu diskutieren. Oder beschwere ich mich jedes Mal über deine Mutter?“

Nein. Das tat er nicht. Und das, obwohl meine Mutter mindestens genauso gut wie Timo darin war, Matze spüren zu lassen, dass er angeblich nicht gut genug für mich war. Für sie war jeder, der nicht studiert hatte, ein Holzkopf. Eine Einstellung, unter der auch meine jüngere Schwester Chrissie lange Zeit zu leiden gehabt hatte. Erst als sie es im letzten Jahr geschafft hatte, ihr Abitur nachzumachen, war sie in der Achtung meiner Mutter gestiegen. Dabei sollte es doch eigentlich die Aufgabe einer Mutter sein, ihre Kinder zu lieben. Ganz gleich, für welchen Bildungsweg sie sich entschieden und ob ihnen alles gelang.

Ich studierte zwar auch, aber ich tat das aus Überzeugung und nicht, weil ich meiner Mutter etwas beweisen wollte. Ganz bestimmt nicht. Wäre es darum gegangen, dann hätte ich sicher nicht soziale Arbeit als Studienfach gewählt.

„Ich weiß, dass meine Mutter nicht viel besser ist“, gab ich zu. „Aber dein Bruder ist in unserem Alter. Da sollte er es eigentlich besser wissen und mit seinen Vorurteilen vorsichtiger sein.“

Matze fuhr von der Autobahn ab, zu einer Tankstelle, und blieb neben der Zapfsäule stehen. „Süße. Nobody is perfect“, sagte er, gab mir einen Kuss und stieg aus, um zu tanken.

Er war noch nicht ganz fertig, als eine hübsche Blondine reich bepackt mit allerlei Süßigkeiten aus dem Laden kam und an unserem Auto vorbei zu ihrem eigenen Wagen ging. Sie kramte nach ihrem Schlüssel, verlor dabei das Gleichgewicht und die Hälfte ihrer Tütchen landete auf dem Boden.

„Warten Sie. Ich helfe Ihnen“, sagte Matze sofort, beugte sich herunter und fing an, die Sachen mit aufzusammeln.

„Oh. Das ist aber nett von Ihnen“, sagte sie und lächelte ihn an. „Danke.“

Wäre Matze nicht Matze gewesen, dann hätte diese Geste mich vermutlich eifersüchtig gemacht, aber ich wusste, dass Matze der Frau auch geholfen hätte, wenn sie alt und hässlich gewesen wäre. Dann vermutlich erst recht.

Matze war immer nett. Es kam so selten vor, dass er mal unfreundlich oder wütend war, dass ich mich schon kaum noch an das letzte Mal erinnern konnte. Seine Herzlichkeit gehörte einfach zu seinem Wesen. Also wunderte ich mich kein bisschen, als er der Frau noch half, die Sachen bis zum Auto zu bringen. Ich stieg aus, um fertig zu tanken und zu bezahlen.

Als ich wiederkam, saß er bereits im Auto und tippte etwas in sein Handy. Ich stellte mit einem gewissen Gefühl der Genugtuung fest, dass er den Zettel mit der Telefonnummer der Blondine, zerrissen und achtlos in die Mittelkonsole geworfen hatte.

„Da bin ich wieder“, sagte ich. „Meinetwegen können wir.“

Matze nickte, legte das Handy zur Seite und startete dann den Wagen.

„Hör mal“, sagte er, nachdem wir eine Weile geschwiegen hatten. „Timo hat gerade geschrieben.“

Überrascht sah ich ihn an. „Aber … wir haben ihn doch vorhin erst noch gesehen.“

Matze nickte. „Er hat mich daran erinnert, dir zu sagen, dass er uns einladen möchte.“

„Einladen? Wohin denn?“

„Zu sich nach Hause. Wir waren noch keinmal bei ihm, seit er in Österreich wohnt.“

„Ach. Und das wundert ihn?“, fragte ich patzig und verschränkte die Arme vor der Brust.

Seit ich Timo im Alter von siebzehn Jahren die Nase gebrochen hatte, waren wir beide nun einmal nicht mehr besonders gut aufeinander zu sprechen. Von allem, was sonst noch so passiert war, ganz zu schweigen.

„Eigentlich war es sogar meine Idee, dass wir mal vorbeikommen“, gab Matze zu. „Ich finde es schrecklich, dass ihr zwei euch jedes Mal angiftet, wenn ihr euch seht.“

Das fand ich auch schrecklich, deswegen ging ich Timo ja aus dem Weg. Ich verstand wirklich nicht, inwiefern ein Besuch da helfen sollte.

„Man sagt doch, dass gemeinsame Erlebnisse verbinden. Deswegen werden wir drei zusammen wandern gehen.“

Wandern? Ausgerechnet ich. Dabei war ich so unsportlich, dass es manchmal fast schon peinlich war. Der Grund, warum ich zu Hause Katzen hatte und keinen Hund, war vor allem, dass ich keine Lust hatte, regelmäßig spazieren zu gehen. Hinzu kam, dass man Hunde schlecht den ganzen Tag allein lassen konnte und ich war so viel in der Uni und bei der Arbeit, dass ich solch einem Tier sicher nicht gerecht geworden wäre.

„Ich glaube wirklich nicht, dass das so eine gute Idee ist“, gab ich zu.

„Versprichst du, darüber wenigstens nachzudenken?“

Ich sah Matze an und nickte dann zögerlich. Die Sache war ihm offenbar wichtig. Er wollte, dass ich mich mit seinem Bruder gut verstand. Meiner Meinung nach konnte man das zwar nicht erzwingen, aber ich war es ihm wohl schuldig, es wenigstens zu versuchen. Er musste sich immer wieder meiner Mutter aussetzen. Da war es wohl nur fair, wenn ich ein verlängertes Wochenende mit ihm bei seinem Bruder verbrachte.

„Also fein“, sagte ich und lehnte mich an Matzes Arm. „Ich denke darüber nach, aber ich kann wirklich keine Garantie dafür übernehmen, dass Timo dieses Wochenende überleben wird.“

Matze lachte. „Keine Sorge. Timo ist härter im Nehmen, als du denkst.“

Das wusste ich. Ich kannte Timo erheblich besser, als Matze klar war und mit Sicherheit besser, als ihm lieb sein konnte. Aber davon durfte er auf gar keinen Fall etwas erfahren. Das alles war zwar gewesen, bevor ich Matze überhaupt kennengelernt hatte, aber ich wollte ihn trotzdem nicht damit belasten. Ich konnte nur hoffen, dass Timo dazu imstande war, genauso dicht zu halten wie ich. Aber wenn er in den letzten sieben Jahren nichts gesagt hatte, dann gab es doch nun wirklich keinen Grund, das plötzlich zu ändern. Hoffte ich zumindest. Denn ich wollte Matze um keinen Preis verlieren.

KAPITEL4

Saskia

Am nächsten Tag hatte ich keine Uni, aber dafür Jaqueline-Dienst. So nannte ich es scherzhaft, weil mein Nebenjob seit einiger Zeit darin bestand, einer störrischen Jugendlichen Lebenshilfe zu geben, die beim besten Willen nicht zur Schule gehen wollte.

Man hatte mir das fünfzehnjährige Mädchen zugeteilt, weil sie ein hoffnungsloser Fall war. Mit ihren zerfransten Dreadlocks und der zerrissenen Kleidung war sie ein typisches Straßenkind. Und das vollkommen freiwillig. Es war nicht so, dass sie keinen Ort gehabt hätte, an den sie hätte gehen können, sondern sie hatte einfach für sich beschlossen, dass sie auf ein richtiges Zuhause keinen Bock hatte.

„Hey, Sas“, sagte Jacky, als sie mit einer Viertelstunde Verspätung zu dem Café kam, in dem wir verabredet waren.

Sie rauchte eine Zigarette und kaute dabei Kaugummi, was ich mir ziemlich eklig vorstellte. Sie trug eine dreckige Latzhose und kaputte Sneakers. Ihre Augen waren verhältnismäßig klar, aber ich war mir sicher, dass sie immer noch nicht ganz von den Drogen runter war.

„Hey, Jacky. Du bist spät dran“, stellte ich fest und gab mir Mühe, keinen Vorwurf in meinen Worten mitklingen zu lassen.

Jaqueline war wie ein Vogel. Wenn man versuchte sie einzufangen, dann flog sie davon. Aber wenn man sie anfütterte und nett zu ihr war, dann kam sie immer wieder zu einem zurück.

Um ihren Hals hingen Kopfhörer, aus denen bis zu mir die Klänge von irgendeinem Rapper schallten. Als sie sich zu mir setzte, schnipste sie die Zigarette weg, weil sie genau wusste, dass ich sonst nicht mit ihr sprach. Sie lehnte sich gemütlich zurück und legte beide Hände über ihren Bauch. Sie war weder dick noch dünn, doch als ich ihr meinen Kuchen rüberschob, zögerte sie keine Sekunde, sondern fing sofort an zu essen. Ein deutliches Zeichen dafür, dass sie in letzter Zeit nicht genug Nahrung zu sich genommen hatte.

„Ey sorry, Sas“, sagte sie zwischen zwei Bissen. „Ich wurde aufgehalten. Die Bullen wollten mich wieder mal zur Schule bringen, aber ich bin ihnen entwischt.“

Ich nickte verstehend und erkannte unfreiwillig mich selber in Jacky wieder. Mit fünfzehn hatte ich auf die Welt auch keinen Bock gehabt. Meine Eltern hatten sich scheiden lassen, meine Mum hatte keine Zeit für mich gehabt und mein Dad so getan, als würden wir nicht existieren. Der einzige Grund für mich, zu Hause zu bleiben und weiter zur Schule zu gehen, waren meine beiden jüngeren Schwestern gewesen.

Schade, dass Jacky so etwas nicht hatte. Sie hatte zwar einen kleinen Babybruder, aber der wurde von ihrer Mutter gut versorgt, sodass es keinen Grund für Jacky gab, ihn zu bemuttern. Im Gegenteil. Ich vermutete sogar, dass Jacky einen Großteil von dem, was sie tat, nur machte, weil sie die Aufmerksamkeit ihrer Mutter zurückwollte. Doch diese war mit ihrer pubertierenden Tochter und dem kleinen Baby so heillos überfordert, dass sie einfach nicht mehr wusste, was sie machen sollte.

„Heißt das, du bist vor der Polizei weggelaufen?“, fragte ich und sah mich suchend um, weil ich fürchtete, es könnte jeden Moment ein Polizist um die Ecke kommen und uns beide mitnehmen.

Ich hatte mit dem Jugendamt die Vereinbarung, dass meine Beziehung zu Jacky völlig frei von gesetzlichen Regelungen bleiben sollte. Jacky war schulpflichtig. Klar. Aber sie war bereits so oft aus Jugendhilfeeinrichtungen abgehauen, dass das Jugendamt vor allem froh war, wenn sie sich überhaupt jemandem anvertraute, und dieser Jemand war ich.

Mit meinen schwarz gefärbten Haaren und den Tattoos war mir deutlich anzusehen, dass ich auch eine wilde Jugend hinter mir hatte und in gewisser Weise hatte ich daher Verständnis für Jackys Eskapaden. Sie wusste, dass sie mich jederzeit anrufen konnte und dass ich ihr helfen würde, in was für Problemen sie auch immer stecken mochte. Ein- bis zweimal in der Woche trafen wir uns, um etwas zu unternehmen. Wir gingen essen, ins Kino oder auf den Jahrmarkt, was immer uns gerade einfiel, und gaukelten uns dadurch eine gewisse Normalität vor, die eigentlich gar nicht existierte.

Jacky befand sich auf dem absteigenden Ast. Das wussten wir beide, aber im Gegensatz zu ihr hatte ich mich damit noch nicht abgefunden.

„Jacky. Wann hast du dich eigentlich das letzte Mal geduscht?“, fragte ich, als ich ihre dreckigen Klamotten scannte.

Sie zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Stink ich?“

Ich schnaubte. „Vor allem nach Rauch. Du weißt, dass du gerne zu mir kommen kannst, um meine Dusche zu benutzen. Matze hat sicher nichts dagegen.“

„Danke, Sas. Aber ist schon okay. Ich kann nachher bei meinem Freund duschen.“

„Ach. Wieder derselbe wie letztes Mal?“

Jacky nickte. Sie hatte eine On-Off-Beziehung mit einem 20-Jährigen Kerl. Jedes Mal, wenn ich den Typen sah, musste ich mich zusammenreißen, um ihm nicht eine zu scheuern. Was tat ein Kerl in seinem Alter mit einem Mädchen wie Jacky? War er zu blöd, um eine Frau in seinem Alter abzukriegen? Oder stand er einfach auf Kinder? Denn Jacky war in meinen Augen definitiv noch ein Kind. Sie war zwar erstaunlich groß und robust für ihr Alter, aber wenn ich daran zurückdachte, wie süß und unreif meine kleine Schwester Mel in dem Alter gewesen war, wurde mir ganz schlecht.

Wenn der Typ nur etwas älter gewesen wäre, dann hätte ich ihn anzeigen können. Dann wäre es strafbar gewesen. Aber was hätte das schon gebracht? Jacky tat ja doch, was sie wollte und wenn ihr Macker meinetwegen in den Knast wanderte, hatte ich mit Sicherheit ihr Vertrauen verspielt. Es war ein einziger Teufelskreis, aus dem ich einfach keinen Ausweg wusste.

„Ja. Es geht immer noch um Kenny“, bestätigte sie meine Befürchtung. „Apropos. Hast du mitgebracht, worum ich dich gebeten habe?“

Ich nickte und zog eine große Packung Kondome aus meiner Handtasche, die ich in eine schwarze Tüte gepackt hatte, damit nicht jeder gleich sah, worum es sich dabei handelte.

„Cool“, sagte Jacky und nahm die Packung entgegen. „Danke. Diese Rauszieh-Methode ist mir auf die Dauer echt zu riskant.“

Entsetzt sah ich sie an. „Du hast … bitte sag mir nicht, dass du auf diese Weise verhütet hast.“

Jacky lachte und zeigte dabei einen abgebrochenen Schneidezahn, mit dem sie dringend mal zum Zahnarzt gehen sollte. „Entspann dich, Sas. Das war ein Scherz. Ich wollte dich nur ärgern.“

Unsicher sah ich sie an. Bei Jacky war ich mir nie ganz sicher, wann sie etwas ernst meinte und wann nicht. Sie war wie ein Überraschungspaket und ich fragte mich häufig, ob das, was ich hier tat, überhaupt irgendeine Wirkung zeigte.

War es nicht eher so, dass ich ihr einen zusätzlichen Freifahrtschein gab, dass sie machen konnte was sie wollte? Wäre es nicht besser gewesen, sie in irgendeinen Jugendknast zu stecken, damit sie endlich von den Drogen wegkam?

„Sag mal. Was hast du eigentlich am letzten Wochenende nächsten Monats vor?“, fragte ich aus einer Laune heraus.

„Hm? Och. Nichts Besonderes. Rumhängen, Party machen. Das Übliche halt.“

„Was hältst du dann davon, mich und Matze auf einen Ausflug zu begleiten?“

Skeptisch sah sie mich an. „Wohin denn? Ist doch bestimmt wieder total öde.“

„Lass dich überraschen. Wir haben schon lange keinen Ausflug mehr gemacht. Ich wette, es wird dir gefallen.“

Eigentlich war ich mir da alles andere als sicher. Wandern war in der Regel nicht unbedingt der Traum einer pubertierenden Jugendlichen. Aber ich hatte das Gefühl, es könnte ihr gut tun und spekulierte darauf, dass ich es schaffte, sie neugierig zu machen.

„Ich weiß nicht“, sagte sie ausweichend.

„Komm schon, Jacky. Gib dir einen Ruck. Du weißt, was die Tante vom Jugendamt gesagt hat.“

Jacky verdrehte die Augen. „Ach. Frau Braun kann mich mal. Die will doch nur, dass ich wieder zur Schule gehe. Aber was bringt das schon? Da lernen wir eh nur Mist und ich komm doch auch so wunderbar zurecht.“

Frau Braun war Jackys Betreuerin beim Jugendamt und gleichzeitig meine Auftraggeberin. Sie hatte mit Jacky die Abmachung, dass man sie nicht in eine psychiatrische Anstalt stecken würde, wenn sie regelmäßig mit mir in Kontakt blieb und ab und zu mal etwas mit mir unternahm. Ganz logisch erschien mir das nicht. Ich hatte das Gefühl, dass dieses Mädchen auch noch für ihre Schulschwänzerei belohnt wurde, indem man mich dafür bezahlte, dass ich schöne Sachen mit ihr unternahm.

„Muss es denn das ganze Wochenende sein?“, fragte sie mürrisch.

Ich nickte. „Nur ein Tag lohnt sich nicht. Glaub mir. Komm schon. Das wird toll.“

„Und hat Matze nichts dagegen, wenn ich mitkomme?“

Ich winkte ab. „Aber nicht doch. Er freut sich bestimmt.“

Das war glatt gelogen. Ich hatte keine Ahnung, was er dazu sagen würde und Timo hatte ich ja auch noch nicht gefragt, aber es war sicherlich nicht hilfreich, wenn ich jetzt Unsicherheit zeigte. Ich wollte, dass Jacky mitkam. Das wurde mir jetzt immer bewusster. Ich wollte, dass sie mal wieder was anderes sah als ihre bekifften Freunde und diese bescheuerten Partys. Sie sollte mal raus aus diesem ganzen Mist, und da war ein Wochenende in den Bergen mit Sicherheit genau das Richtige. Außerdem würde ihre Anwesenheit mich von Timo ablenken und davon, dass ich ihm am liebsten den Kopf abreißen wollte. Allein deswegen würde es sich schon lohnen, Jacky mitzunehmen.

„Also. Was meinst du?“, hakte ich noch einmal nach.

Jacky aß das letzte Stück meines Kuchens und stand dann auf. „Ich denk drüber nach“, versprach sie, setzte ihre Kopfhörer auf und verschwand ohne ein Wort des Abschieds.

* * *

„Ernsthaft? Du willst Jacky mitnehmen?“, fragte meine Schwester Chrissie, als ich ein paar Tage später überraschend bei ihr zum Abendessen eingeladen war.

„Warum denn nicht?“, fragte ich. „Ich wüsste wirklich nicht, was dagegen spricht.“

Chrissie lachte und tippte sich dann mit einem ihrer kunstvoll lackierten Nägel an den Mund. Es war faszinierend. Die tollen Nägel waren wohl das Einzige, was von ihrem alten Ich noch übrig war. Vor drei Jahren war meine Schwester eine blondierte Tussi mit viel zu viel Schminke im Gesicht gewesen, die sich nie im Leben getraut hätte, mit flachen Schuhen aus dem Haus zu gehen. Jetzt hingegen trug sie einen feschen Kurzhaarschnitt in ihrer natürlichen braunen Haarfarbe, ihre Kleidung war leger und sie kümmerte sich mehr um ihr Studium als um ihr Make-up.

Außerdem hatte sie immer noch eine gesunde Bräune aus ihrem letzten Besuch in Namibia.

„Hat Matze denn nichts dagegen?“, fragte meine jüngere Schwester Mel und setzte sich neben mich. Von uns dreien war sie seit jeher die mit dem sonnigsten Gemüt gewesen. Sie war sehr natürlich, lebenslustig und immer zu Späßen aufgelegt. Uns gegenüber saß Janna, eine gute Freundin von Chrissie, die extra übers Wochenende zu Besuch gekommen war.

„Ach was. Matze fand die Idee sogar gut, weil ich so Arbeit und Vergnügen kombinieren kann.“ Ich zwinkerte. Das stimmte so eigentlich nicht. Ich hatte noch gar nicht mit Matze darüber gesprochen, aber ich hatte gerade wirklich keine Lust dazu, das Thema hier auszubreiten.

„Oh, Schwesterchen. Du kannst so froh sein, dass Matze dir nichts abschlagen kann“, sagte Chrissie. „Er ist bestimmt einfach nur froh, wenn er dich bei sich hat. Ich kenne kaum eine Frau, die so häufig ohne ihren Freund wegfährt wie du. Und das, obwohl ihr zusammenlebt.“

Das stimmte leider. Vor vier Jahren war ich mehrere Wochen mit Chrissie auf Mallorca gewesen, weil sie dringend mal wieder Urlaub gebraucht hatte und nicht alleine fliegen wollte. Vor zwei Jahren hatte ich mich fast drei Monate in Namibia aufgehalten, um Children of Namibia zu unterstützen und im letzten Jahr war ich zu einem sozialen Projekt in Südamerika geflogen. Hinzu kam, dass ich eine grottenschlechte Hausfrau war. Ein Mann, der mich nicht liebte, hätte so etwas niemals mitgemacht.

„Es wundert mich ja wirklich, dass Matze dir noch keinen Heiratsantrag gemacht hat“, bemerkte Chrissie beiläufig.

Ich zuckte mit den Schultern. „Wir haben es nicht eilig. Ich bin fünfundzwanzig. Nicht fünfunddreißig. Vergiss das nicht.“

Chrissie errötete leicht und ich sah das Glitzern in ihren Augen. „Das heißt doch nichts“, sagte sie und hielt demonstrativ ihre Hand hoch, an der ein wunderschöner Goldring steckte.

Meine Augen weiteten sich und ich griff überstürzt nach ihrer Hand.

„Nein!“, rief ich. „Das ist doch nicht … das ist nicht wirklich …“

„Doch! Adam hat mich gefragt, ob ich ihn heiraten will und ich habe Ja gesagt.“

„Oh mein Gott, ist das aufregend!“, rief Mel und schmiss sich Chrissie an den Hals. „Herzlichen Glückwunsch, Schwesterchen. Zeig mal her.“ Sie riss mir Chrissies Hand weg und nahm den Ring ganz genau unter die Lupe. „Wow. Der war doch sicher teuer.“

„Ich hoffe nicht. Denn falls doch, bekommt Adam mit mir gehörigen Ärger. Wir haben kein Geld für teuren Schmuck. Das soll er dann lieber für den nächsten Flug sparen.“

„Du bist wirklich verlobt?“, hakte ich nach. „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“

Ich raufte mir die Haare und starrte Chrissie ungläubig an. Das war doch verrückt. Meine kleine Schwester wollte heiraten? Wie hatte das nur passieren können? Wann war sie so erwachsen geworden?

„Sag doch einfach, dass du dich für mich freust“, forderte Chrissie mich auf und sah überglücklich aus.

Ich drückte ihre Hand und sah sie eindringlich an. „Das tue ich ja auch, aber … hast du dir das wirklich gut überlegt? Ich meine … Du und Adam. Ihr habt doch bisher gar nicht richtig zusammengelebt.“

Chrissie seufzte. „Natürlich haben wir das. Ich war ein Jahr in Namibia und da haben wir in seinem Haus gewohnt. Keine Sorge, Sis. Ich habe mir das wirklich gut überlegt. Ich habe das Ganze auch schon mit Janna durchgekaut.“

Mit Janna? Ich sah zu der ernsten jungen Frau und spürte einen Stich, weil Chrissie zuerst mit ihr und nicht mit mir darüber geredet hatte. Andererseits war es verständlich. Wenn jemand Ahnung von einer internationalen Ehe hatte, dann war es wohl Janna. Sie und Chrissie kannten sich aus einem Praktikum in Namibia und sie hatte bereits ihre erste Ehe hinter sich. Sie war mit einem Mexikaner verheiratet gewesen, der sie misshandelt hatte und war inzwischen mit einem Mann zusammen, der mindestens genauso ein toller Kerl war wie Matze.

„Und, was meinst du?“, fragte ich in Jannas Richtung. „Findest du, sie sollte es machen?“

Ich kannte Janna kaum. Als ich damals nach Namibia gekommen war, hatte sie gerade abreisen müssen, weil ihre Mutter schwerkrank geworden war. Insofern wusste ich das meiste nur aus Erzählungen. Aber soweit ich es verstanden hatte, hatte sie schon so einiges mitgemacht.

Sicher hatte sie Chrissie von der Hochzeit abgeraten. Immerhin hatte ihre eigene Ehe sie viel Geld, Energie und Kraft gekostet. Ich bezweifelte sehr, dass sie jemandem zu so etwas raten würde.

„Ja. Ich finde, sie sollte es machen“, sagte Janna ernst.

Ungläubig sah ich sie an. „Was?“

„Sie sollte es tun“, wiederholte Janna. „Ich habe damals geheiratet, weil ich mich sonst immer gefragt hätte, was gewesen wäre, wenn. Und genauso wird es bei Chrissie und Adam auch sein. Adam kann erst dann längere Zeit in Deutschland bleiben und hier arbeiten, wenn die beiden verheiratet sind. Warum es also nicht einfach tun? Eine Fernbeziehung ist die Pest. Das weiß ich aus Erfahrung. Es gibt nichts Schlimmeres, als einen Partner zu vermissen, der auf der anderen Seite der Welt ist. Auch so wird es sicher nicht einfach, aber man bereut im Leben meist die Sachen, die man nicht gemacht hat und ich bin mir sicher, dass Chrissie es bereuen würde, wenn sie Adam verliert, nur weil sie sich noch zu jung zum Heiraten gefühlt hat.“

„Aber …“, stotterte ich. „Ihr seid doch erst seit zwei Jahren zusammen. Wenn ich jetzt Matze heiraten würde, dann wäre das was anderes. Wir kennen uns seit ich siebzehn bin und leben schon jahrelang zusammen. Aber ihr …“

„Jetzt freu dich doch einfach für sie“, schalt Mel mich und gab mir einen Stoß gegen den Oberarm. „Du hast Janna doch gehört. Sie hat es nicht bereut. Und das, obwohl ihr Mann sich als Arschloch entpuppt hat.“

„Es gibt heutzutage keine Garantie“, bekräftigte Chrissie. „Ich weiß, dass wir es vielleicht nicht schaffen, für den Rest unseres Lebens glücklich zu sein. Aber wir sind jetzt glücklich und wir wollen heiraten. Warum soll ich mir jetzt schon Sorgen darüber machen, was in zwanzig Jahren ist?“

Sie lächelte mich an und plötzlich kam ich mir mies vor. Meine kleine Schwester, die jahrelang für ein gesundes Selbstbewusstsein und etwas Zuversicht in ihrem Leben hatte kämpfen müssen, war glücklich. Einfach nur glücklich. Sie strahlte über das ganze Gesicht und schien sich offensichtlich auf alles zu freuen, was vor ihr lag. Sie liebte Adam. Da war ich mir sicher.

Die Wochen, in denen ich die beiden in Namibia zusammen erlebt hatte, hatten mich davon überzeugt, dass auch er sie liebte. Adam mochte schroff und unhöflich sein, aber er vergötterte meine Schwester. Und das war doch die Hauptsache. Ich gab mir einen Stoß, beugte mich zu Chrissie hinüber und zog sie an mich.

„Herzlichen Glückwunsch“, sagte ich von Herzen. „Wann wirst du es Mama erzählen?“

Chrissie verdrehte die Augen. „Keine Ahnung. Wenn möglich, würde ich es ihr ganz vorenthalten. Du weißt ja, dass sie nicht unbedingt viel von Adam hält.“

Ich nickte wissend. Im Gegensatz zu unserem Stiefvater, der sich blendend mit Adam verstand, war unsere Mutter Gabriele nicht besonders erpicht darauf, einen schwarzen Schwiegersohn zu bekommen. Nicht, dass sie generelle Vorurteile hätte. Wie käme sie denn dazu? Sie hatte nichts gegen Afrikaner. Zumindest nicht, solange diese nicht versuchten, in ihre Familie einzuheiraten.

„Ach. Das wird schon“, sagte Mel optimistisch. „Mama wird sich damit arrangieren müssen. Immerhin ist es dein Leben.“

„Das stimmt. Und solange ihr nicht sofort mit Kindern loslegt, bleibt ihr ja immer noch die Hoffnung, dass ihr euch in zwei Jahren wieder scheiden lasst“, sagte ich scherzhaft. „Ihr wollt doch nicht sofort Kinder, oder?“

„Nein“, lachte Chrissie. „Keine Sorge. Ich will in den ersten Jahren einfach nur die Zeit mit Adam genießen. Was dann kommt, weiß der Himmel. Mit Enkeln für Mama bist doch eigentlich du als Erste dran.“ Sie zwinkerte mir zu, aber ich verdrehte die Augen.

„Von wegen. Ich bin noch nicht einmal mit meinem Studium fertig. Da werde ich einen Teufel tun und mich schwängern lassen. Ich glaube, dass Matze auch alles andere als begeistert davon wäre.“

„Warum denn? Matze kann doch gut mit Kindern.“

„Ja, schon. Aber mit Babys nicht. Er sagt, wenn wir mal Kinder haben sollten, dann müssten die am besten sofort vier Jahre alt sein. Mit Säuglingen kann er einfach nichts anfangen.“

„Na, dann musst du das Baby einfach die ersten vier Jahre zu seiner Mutter geben“, schlug Mel vor. „Marianne liebt doch Babys.“

Ich lachte. „Ja. Das wäre durchaus eine Option. Aber ich hoffe einfach mal, dass es in nächster Zeit nicht dazu kommt.“

KAPITEL5

Saskia

Die nächsten Wochen vergingen wie im Flug. Ich traf mich ab und zu mit Jacky, lernte für meine Prüfungen und schrieb an meinen Hausarbeiten. Gleichzeitig versuchte ich immer wieder Zeit für Matze aufzubringen, der meistens genau dann zu Hause war, wenn ich arbeitete. Ich hatte mir vorgenommen, im nächsten Jahr ein weiteres Praktikum im Ausland zu machen, auch wenn mir Chrissies Worte ein bisschen zu denken gaben.

Ließ ich Matze und unsere Katzen wirklich zu viel allein?

„Sag mal, Liebling“, begann ich, als ich eines Abends mit Matze am Küchentisch saß und für uns Gemüse schnippelte. „Stört es dich eigentlich, dass ich so viel unterwegs bin?“

Matze sah mich schief an. „Ach, was. Je mehr du unterwegs bist, desto mehr Zeit habe ich für meine eigenen Hobbys.“ Er zwinkerte mir zu und ich lächelte.

„Oh ja. Deine Autos würden dich sicher vermissen, wenn ich dich ständig vereinnahmen würde. Und denk nur an all die Fische, die weiterleben müssten, wenn du sie nicht angeln würdest.“

„Lach nur. Du profitierst doch auch davon, wenn ich mit ein paar Forellen nach Hause komme.“

---ENDE DER LESEPROBE---