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Janna trifft an der Uni auf Josh- den süßen Jungen aus ihrer alten Nachbarschaft, mit dem sie schon als Kind barfuß im Regen gespielt hat. Doch ihre Wiedersehensfreude hält sich in Grenzen. Jannas letzte Beziehung endete in einer Katastrophe und hinterließ bei ihr tiefe Wunden. Um Männer macht sie seitdem einen großen Bogen und konzentriert sich lieber auf ihr Studium. Daher kann sie es gar nicht brauchen, dass Josh sie mit seiner sorglosen Art und seinen sturmgrauen Augen immer wieder aus der Reserve locken will. Als die Umstände sie dazu bringen, mit Josh in eine WG zu ziehen, ist das Chaos perfekt. Vor allem, weil die Vergangenheit jeden Augenblick an die Tür klopfen könnte ... „Barfuß im Regen“ Ein Roman über die Liebe, den Schmerz und alles, was sonst noch dazu gehört. Alle Barfuß-Romane sind unabhängig voneinander lesbar. Es gibt jedoch wiederkehrende Figuren.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Copyright © 2024 by Hannah Siebern
Impressum
Hannah Siebern
Am Vogelbusch 18
48301 Nottuln
mail@hannahsiebern.de
ISBN: 9783819400384
Deutsche Erstausgabe 10/2014
Neuauflage 10/2024
Korrektorat: Corinna Rindlisbacher
Cover: JB Benitez
All rights reserved.
No part of this book may be reproduced in any form or by any electronic or mechanical means, including information storage and retrieval systems, without written permission from the author, except for the use of brief quotations in a book review.
Erstellt mit Vellum
Über die Autorin
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Epilog
Danksagung
Mehr Bücher der Autorin
Hannah Siebern wurde 1986 in Münster (NRW) geboren und studierte an der Uni Dortmund Erziehungswissenschaft. Geschichten schrieb sie schon als Kind leidenschaftlich gerne. Ihre ersten Werke handelten von fiktiven Abenteuern, die sie mit ihren Freundinnen erlebte. Jahre später entdeckte sie dann ihre Liebe zu Fantasyromanen und schrieb mit 23 ihr erstes komplettes Buch.
Sie lebt mit ihrer Familie im schönen Münsterland.
Foto: Guido Karp www.p41d.com
Besuchen Sie Hannah Sieberns Homepage unter
www.hannahsiebern.de
Für meine Familie
Danke, dass ihr immer für mich da seid.
Janna
Die Flecken an meinen Armen färbten sich langsam von blau zu grün. Die an meiner Brust waren schon ziemlich verblasst, aber die Kratzer an meinem Bauch waren nach wie vor deutlich zu erkennen. So viele blaue Flecken und Kratzer hatte ich nicht mehr gehabt, seitdem ich mich im Alter von sechs mit meiner Sandkastenliebe Joshua gestritten hatte.
Mit Tränen in den Augen betrachtete ich meinen Körper im Spiegel, während der CD-Player meine Lieblingslieder von den Beatles spielte. Ich schüttelte den Kopf. Wie hatte es bloß so weit kommen können?
Ich wandte mich von dem Spiegel ab und checkte ein weiteres Mal meinen Koffer. Noch drei Tage. Dann würde ich von Mexiko zurück nach Deutschland fliegen. Meine Mutter war krank und das kam mir gerade recht, um der Situation zu entfliehen, in die ich mich selber gebracht hatte. Ich musste hier weg. Es ging einfach nicht mehr anders. Ich hatte mir lange genug eingeredet, dass es besser werden würde. Aber das stimmte nicht. Ich brauchte Abstand zu diesem Land und den Menschen, die ich so sehr lieben gelernt hatte. Ich musste nach Hause, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
„Janna!“, rief in diesem Moment eine fröhliche Stimme und mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen.
Da war er. Rogelio Sanchez Alvaro. Mein Mann. Wir waren seit vier Jahren zusammen und seit sechs Monaten verheiratet. Obwohl ich ihn fast jeden Tag sah und auch seine hässlicheren Seiten kannte, fand ich ihn immer noch attraktiver als jeden anderen Mann, den ich bisher kennengelernt hatte. Er war zwar kaum größer als ich, aber dank regelmäßigem Training gut in Form, und er hatte einen athletischen Körper. Sein krauses, schwarzes Haar, die braunen, verführerischen Augen und seine dunkle Hautfarbe hatten es mir vom ersten Moment an angetan. Ich liebte seine Stimme, seinen Geruch und den Geschmack seiner Haut auf meinen Lippen.
Wir hatten so viel gemeinsam durchgemacht, so viele Hochs und Tiefs erlebt, und trotzdem machte sein Auftauchen mich jetzt nervös. Es war so viel passiert und ich wusste einfach nicht mehr, was ich denken oder glauben sollte.
Offenbar hatte Rogelio tatsächlich gute Laune, denn er kam lächelnd auf mich zu und schloss mich in die Arme. Sein vertrauter Geruch, mit dem ich so viele zärtliche Stunden in Verbindung brachte, stieg mir in die Nase und ich kämpfte wieder mit den Tränen. Warum nur war das alles passiert? An welcher Stelle hatte es begonnen schiefzulaufen? Und warum war ich jetzt hier? Mein Gott. Dabei hatte ich doch nie etwas anderes gewollt, als ihn zu lieben und zurückgeliebt zu werden.
„Leona? Que paso?“, fragte er mich und strich mir fürsorglich die Träne von der Wange. „Warum weinst du? Hast du … hast du Schmerzen? Zeig mal.“
Leona war ein Kosewort, das er für mich benutzte, weil meine Haare morgens wie eine Löwenmähne von meinem Kopf abstanden. Für gewöhnlich mochte ich dieses Wort, aber jetzt gerade erschien es mir wie Hohn. Rogelio zog mein T-Shirt nach oben und schnalzte mit der Zunge, als er meine blauen Flecke sah. Seine Hände ballten sich zu Fäusten.
„Das alles wäre nie so weit gekommen, wenn du einfach auf mich gehört hättest“, sagte er vorwurfsvoll auf spanisch. „Wenn diese Männer damals nicht … Ach, verdammt. Ich hätte sie einfach umbringen sollen.“
Ich erwiderte nichts. Es war mir egal, was er tat, solange er mich nur nicht daran hinderte, nach Deutschland zurückzukehren. Denn die Macht dazu hatte er. Das war mir klar. Ich hatte schon so oft Geschichten darüber gehört, wie Männer die Pässe ihrer Frauen versteckten oder sie in ihr Zimmer einsperrten, um sie am Gehen zu hindern. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal selbst in eine solche Lage kommen würde. Rogelio liebte mich. Das war mir klar. Aber gerade deswegen wollte er mich auf gar keinen Fall verlieren. Trotzdem konnte ich nicht bleiben. Nicht nach dem, was geschehen war. Nicht mehr.
„Ich … ich mache mir viel mehr Sorgen um meine Mutter“, schwindelte ich.
„Ach, Janna. Deine Mutter ist wie Unkraut. Die vergeht nicht. Sie hat nur eine kleine Operation am Knie. Ich kann ja verstehen, dass sie dich braucht, aber sobald sie wieder fit ist, kommst du zu mir zurück. Ganz einfach.“
Ich nickte. Ganz einfach. Nur dass es eben überhaupt nicht einfach war.
„Du wirst doch zu mir zurückkommen, oder?“, fragte er, obwohl ich ihm anmerkte, dass er die Frage nicht ernst meinte.
Wir waren verheiratet. Die Frage, ob ich zurückkommen würde, stellte sich für ihn überhaupt nicht. Es war selbstverständlich. Dennoch fühlte ich mich verpflichtet, ihm zu antworten.
„Natürlich komme ich zurück.“ Ich lächelte ihn so gut es ging an und er zog mich wieder in die Arme.
„Dann ist ja gut, Jannita, mi leona alemana. Ich werde dich vermissen.“
„Ich dich auch“, sagte ich und wusste im selben Moment, dass es der Wahrheit entsprach.
Trotz allem, was geschehen war, würde ich ihn vermissen. Seine Scherze, sein Lachen, wie er mir Lieder sang und Gedichte vortrug. Ich würde vermissen, wie er mich küsste und verwöhnte. Ich würde seinen Geruch vermissen, seine Stimme und seine Berührungen. Seine Art, mich zum Lachen zu bringen, und die Tatsache, dass er meinen Körper in- und auswendig kannte. Ich würde die stundenlangen Telefonate vermissen, während denen wir uns gegenseitig Zärtlichkeiten ins Ohr säuselten, und vieles, vieles mehr.
Trotzdem ging ich nicht davon aus, dass ich noch einmal zurückkommen würde. Zuviel war passiert. Zuviel war geschehen. Dieses Land, das ich stets stolz als meine zweite Heimat bezeichnet hatte, hatte mein Vertrauen in die Menschheit und auch mein Vertrauen in Rogelio zerstört.
Eine Träne lief mir über die Wange, als die CD ‚All you need is love‘ spielte. Alles, was du brauchst, ist Liebe? Ich wünschte, es wäre so. Aber manchmal brauchte es einfach mehr als das.
Janna
Die Dortmunder Universität war vor allem eins: zweckdienlich. Im Gegensatz zur Münsteraner Universität standen die Gebäude nicht so weit auseinander, dass man die Pausen vollständig dafür nutzen musste, von einer Vorlesung zur nächsten zu kommen. Stattdessen gab es einen Nord- und einen Südcampus. Die Fakultät für Lehramt befand sich auf dem Südcampus.
„Ich freue mich, dass Sie so zahlreich erschienen sind“, sagte Dr. Hart.
Er war der Dozent für das Seminar Wissenschaftsdidaktik, das ich belegte, um mehr über die wissenschaftliche Seite meiner Arbeit zu erfahren. Sein Name wollte jedoch nicht recht zu seinem Äußeren passen. Mit seinem runden Gesicht und dem dicken Bauch schien er alles andere als hart zu sein. Auch sein strahlendes Lächeln und seine hohe Stimme passten überhaupt nicht zu dem Namen.
Ich sah mich in dem Raum um. Wir waren vielleicht zwölf Personen und es hatten sicher nicht mehr als fünfzehn Leute Platz. Zahlreich war meiner Meinung nach etwas anderes. Ich war es gewohnt, Vorlesungen mit mehr als hundert Kommilitonen zu besuchen, offenbar war es im Master Erziehungswissenschaften aber normal, dass nur so wenige Personen anwesend waren.
„Fängt der Unterricht für gewöhnlich zur vollen Stunde an oder um Viertel nach?“, fragte Dr. Hart und blickte auf die Uhr. Es war kurz nach zehn.
„Um Viertel nach“, antwortete ein Junge, der wohl zu den Erziehungswissenschaftlern gehören musste.
„Na, dann kommen vielleicht ja noch ein paar“, sagte Dr. Hart lächelnd und trat zur Tafel. „Ich würde vorschlagen, dass wir schon Mal die Anwesenheit kontrollieren und jeder etwas zu seinen Erwartungen an dieses Seminar sagt. Ich fange an. Mein Name ist Dr. Michael Hart und ich unterrichte an der Fakultät zwölf im Bereich Schulentwicklungsforschung. Eigentlich wollte ich in die Sozialpädagogik, aber wie so viele andere bin ich in die Forschung einfach hineingerutscht.“
Ich lächelte. Dr. Hart war mir sympathisch, was nicht unbedingt selbstverständlich war. Es gab einige Dozenten, mit denen ich gar nichts anfangen konnte, aber im Allgemeinen waren die Gruppen ja auch so groß, dass es ohnehin egal war. Bei Dr. Hart hingegen vermutete ich, dass er die Namen der Studenten aus seiner Gruppe sehr bald kennen würde.
„Michaela Bach?“, fragte Dr. Hart und ein dünnes blondes Mädchen hob die Hand.
„Das bin ich“, sagte sie. „Ich studiere EW im Master und erhoffe mir von dem Seminar, meine Fertigkeiten in der Präsentation zu verbessern.“
Dr. Hart nickte. „Sehr gut“, sagte er und rief weitere Namen auf, bis ich an der Reihe war. „Janna Meyer Sansches.“
„Sanchez“, gab ich zurück. „Aber Meyer genügt.“
Dr. Hart nickte wieder und betrachtete mich abschätzend. „Sanchez?“, wiederholte er fragend. „Ist das was Spanisches?“
„Mexikanisch“, gab ich zurück und wurde rot. Er sollte bitte nicht weiter danach fragen. Wirklich nicht. Das wäre mir nur unangenehm.
Als hätte er meine Gedanken erraten, beließ er es dabei und lächelte mich stattdessen an. „Also, Frau Meyer“, sagte er. „Studieren Sie auch EW im Master?“
Alle, die vor mir dran gewesen waren, hatten so ziemlich dasselbe geantwortet, deshalb war er überrascht, als ich den Kopf schüttelte. „Nein“, erklärte ich. „Ich studiere Spanisch und Pädagogik auf Lehramt.“
„Ach. Und ist Wissenschaftsdidaktik dann eine Pflichtveranstaltung?“
„Nein. Eigentlich nicht. Die meisten haben etwas aus der praktischen Pädagogik gewählt, aber ich interessiere mich auch für die wissenschaftliche Seite des Berufsfeldes.“
„Sehr schön“, sagte Dr. Hart anerkennend. „So eine Einstellung lob ich mir. Mal sehen. Wer ist denn der Nächste? Ah ja. Christoph Ohlenberg.“
Nachdem die Vorstellung zu Ende war und zwei weitere Leute zu uns gestoßen waren, bat Dr. Hart uns Namensschilder zu machen, um sich unsere Namen leichter merken zu können. Ich tat ihm den Gefallen, verzichtete allerdings auf das Sanchez auf meinem Schild. Bis wir fertig waren, hatte Dr. Hart schon wieder eine neue Idee.
„Zum Kennenlernen habe ich mir gedacht, dass wir erstmal ein kleines Spiel machen.“
Ich hatte Mühe, nicht die Augen zu verdrehen. Dr. Hart schien ein sehr fröhlicher Zeitgenosse zu sein und wahrscheinlich sollte ich froh sein, dass sein Seminar nicht so trocken war wie die meisten anderen. Aber ein Spiel? Also bitte. Wie alt waren wir denn? Sechs?
„Also. Die Situation ist folgende: Eine alte Frau vergräbt in ihrem Garten eine rote Socke. Warum tut sie das? Finden Sie vierzig Gründe.“
Einen Moment war es völlig still. Dann hob Christoph eine Hand. Er schien ein junger Mann zu sein, der gern aus der Reihe tanzte. Er trug eine Glatze, eine Brille und komplett schwarze Kleidung. In gewisser Weise erinnerte er mich an Joker, den Hauptdarsteller aus dem Film ‚Full Metal Jacket‘, den Rogelio mir einmal vorgesetzt hatte. Von der Szene, wie der dicke Kerl sich in der Toilette die Rübe wegballert, hatte ich eine Woche lang Albträume gehabt.
„Sie hat in der Socke ihren Hamster vergraben“, schlug Joker vor und ich lächelte, als Dr. Hart einen Strich an die Tafel machte. So funktionierte das Spiel also.
„Sie brauchen sich nicht melden“, stellte Dr. Hart klar. „Rufen Sie einfach etwas rein. Ich kriege das schon hin.“
„Sie hat die zweite Socke verloren“, sagte ich laut und Dr. Hart machte den nächsten Strich.
Dann lief es erstmal flüssig.
„Sie ist geistig verwirrt und weiß nicht, was sie tut.“ Joker.
„Sie mag die Farbe Rot nicht.“ Michaela.
„Sie will die Socke für ihren Hund verstecken, damit der sie sucht.“ Joker.
So ging es weiter, bis wir circa fünfzehn Striche an der Tafel hatten. Dann kam der Fluss ins Stocken und selbst Joker, der bestimmt die Hälfte der Anregungen gegeben hatte, schien nicht mehr weiterzuwissen. Konzentriert starrten wir alle auf die Tafel, als könnte die uns zu einer neuen Idee inspirieren. Das war natürlich Unsinn, weil dort einfach nur die Striche standen, aber möglicherweise half das Starren ja trotzdem. Noch zwanzig Ideen? Wie sollte das denn bitte schön gehen?
„Kommen Sie schon, meine Lieben“, sagte Dr. Hart. „Denken Sie scharf nach. Welchen Grund könnte eine Frau haben, eine rote Socke im Garten zu vergaben? Da fällt Ihnen doch mit Sicherheit noch etwas ein, oder?“
„Sie will einen Sockenbaum pflanzen“, sagte in diesem Moment jemand von der Tür aus und alle drehten sich um.
Mir war gar nicht aufgefallen, dass jemand die Tür geöffnet hatte, aber dort stand mit einem breiten Grinsen ein weiterer Student. Er war groß, schlank, hatte dunkelblondes, verstrubbeltes Haar und sah verdammt gut aus. Ich wusste sofort, dass ich diesen Jungen kannte. Aber erst, als er grinste und sich dabei zwei Grübchen an seinen Wangen zeigten, wusste ich auch woher.
Vor mir stand Joshua Martin. Meine Sandkastenliebe aus Kindertagen.
* * *
Als ich Josh kennenlernte, war er vier Jahre alt und stand bei zwölf Grad Außentemperatur barfuß im Regen. Mit meinen fünf Jahren war ich beinahe einen Kopf größer als er und beobachtete interessiert, wie er draußen in der Pfütze herumspielte.
„Mama?“, fragte ich. „Was macht der Junge da draußen?“
Meine Mutter, die gerade dabei war, sich für die Frühschicht umzuziehen, strich mir über den Kopf und sah aus dem Fenster.
„Er spielt im Regen. Das siehst du doch.“
„Darf er das?“
„Hm. Das kann ich dir nicht so genau sagen, Spätzchen. Besonders gut ist es sicherlich nicht.“
„Warum nicht?“
„Weil ihm kalt sein muss und er krank wird.“
„Soll ich ihn reinholen, Mama?“
„Du kannst ihn nicht einfach mit reinnehmen, Janna, Schatz. Wir kennen ihn ja gar nicht. Nachher rufen seine Eltern die Polizei. Aber du kannst ihm sagen, dass er nach Hause gehen soll. Ich schätze, dass er zu der Familie gehört, die letzte Woche nebenan eingezogen ist. Zieh dir deine Regensachen und Stiefel an. Dann kannst du rausgehen mit ihm reden, ja?“
„Okay!“, rief ich und beeilte mich, der Aufforderung nachzukommen.
Draußen angekommen blieb ich einige Schritte von Josh entfernt stehen und beobachtete ihn fasziniert, wie er fröhlich in der Pfütze spielte. Er trug keinen Regenmantel und war schon völlig durchnässt. Bisher hatte er mich noch nicht bemerkt, sondern spielte ganz selbstverloren in der Pfütze. Es war, als würde er die Kälte des Regens überhaupt nicht wahrnehmen.
„Was machst du da?“, fragte ich und kam einen Schritt näher.
Sofort drehte sich der Junge zu mir um und lächelte mich an. Er hatte ein ansteckendes Lächeln und wunderschöne graue Augen.
„Ich übe schwimmen“, erklärte der Junge. „Willst du mitmachen?“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich kann schon schwimmen“, erklärte ich stolz. Trotzdem kam ich näher und hockte mich neben den Jungen auf den Boden. „Deine Augen sehen so aus wie Nebel“, stellte ich fest.
Das taten sie tatsächlich. Sie waren so grau und geheimnisvoll wie dichter Nebel. Eine wunderschöne Farbe in einem fröhlichen Gesicht.
„Nebel ist nass“, erklärte Josh ernst. „Genau wie Regen.“
„Ja. Und Regen ist kalt“, setzte ich hinzu. „Und wenn dir kalt ist, musst du nach Hause gehen. Das hat meine Mama gesagt.“
„Mir ist aber gar nicht kalt“, versicherte Josh mir. „Komm doch rein. Dann siehst du, dass es nicht kalt ist.“
Ich runzelte die Stirn und tat dann wie geheißen. Mit meinen gelben Gummistiefeln trat ich in die Pfütze. Doch Josh schüttelte sofort den Kopf. „Nein“, sagte er. „Mit Stiefeln macht das doch keinen Spaß. Du musst ohne Stiefel reinkommen.“
„Aber meine Mama …“
„Es ist nicht kalt. Wirklich nicht.“
Skeptisch sah ich ihn an und blickte mich dann nach meiner Mama um, konnte sie hinter dem Fenster aber nicht erkennen. Mir war klar, dass ich Ärger bekommen würde, wenn ich meine Stiefel auszog, aber ich wollte so gerne wissen, ob der Junge recht hatte. Er behauptete, es wäre nicht kalt, und das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.
Schließlich siegte die Neugier. Ich zog mir die Stiefel von den Füßen und stellte mich ins Wasser.
„Waaah“, sagte ich. „Das ist ja wohl kalt.“
„Du musst herumlaufen“, erklärte Josh. „Dann spürst du es nicht. Komm. Wir laufen zur nächsten Pfütze.“
Er rannte los und ich lief ihm so schnell wie möglich hinterher. Er spritzte mich nass, ich spritzte zurück und wir liefen immer weiter in die Felder hinein. Als unsere Eltern uns eine Stunde später fanden, waren wir völlig verdreckt und so durchgefroren, dass wir unsere Zehen und Finger kaum noch spürten. Am nächsten Tag hatte ich einen neuen Freund und noch dazu eine ordentliche Lungenentzündung.
Von meiner Mutter hatte ich später erfahren, dass Josh Wahrnehmungsstörungen hatte und daher die Kälte nicht so gut spüren konnte wie ich. Er merkte es auch häufig nicht, wenn er mir beim Spielen wehtat. Aber ich war hart im Nehmen, und da ich ein ganzes Stück größer war als er, konnte ich mich gut gegen ihn behaupten. In den nächsten Jahren waren Josh und ich die allerbesten Freunde geworden und zusammen zum Kindergarten und in die Grundschule gegangen. Mit der Naivität der Jugend hatte ich erwartet, dass es immer so weitergehen würde und unsere Freundschaft ewig halten könnte.
Aber wie es bei Kindheitsträumen meistens so ist, war dann alles ganz anders gekommen.
* * *
„Sehr gut“, sagte Dr. Hart begeistert zu Josh und machte einen weiteren Strich an die Tafel. „Fällt Ihnen noch etwas ein?“
Josh ging zu einem der Tische und setzte sich mir genau gegenüber hin. Er trug eine schicke Markenjeans und ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift: ‚This is a black T-shirt‘. Sehr philosophisch. Seine Haare standen in alle Richtungen ab und wirkten nicht, als hätte er sich lange damit beschäftigt.
„Sie hat jemanden umgebracht und die Socke steckt noch in dem dazugehörigen Schuh“, sagte er und handelte sich dadurch einen bösen Blick von Joker ein.
„Wunderbar!“, stieß Dr. Hart hervor und überschlug sich fast vor Begeisterung.
Ich verzog den Mund. Was dieser Kerl konnte, konnte ich schon lange.
„Es könnte doch auch sein, dass das Gegenteil der Fall ist und die Frau versucht, eine Stelle zu markieren“, bemerkte ich. „Also sozusagen eine Spur zu legen. Vielleicht hat sie darunter etwas vergraben, was von Bedeutung ist, und will die Stelle wiederfinden.“
Josh sah in meine Richtung, blickte dann auf mein Namensschild und lächelte breit. In gewisser Weise erinnerte er mich dabei an Heath Ledger, den Schauspieler aus meinem früheren Lieblingsfilm: ‚10 Dinge, die ich an dir hasse‘. Er hatte das gleiche spöttische Grinsen. Doch während ich es bei Heath Ledger immer niedlich fand, regte es mich jetzt schrecklich auf. Hatte er mich tatsächlich jetzt erst bemerkt? Mich vielleicht im ersten Moment noch nicht einmal erkannt? Das war doch wirklich die Höhe.
„Ja, ja“, sagte Dr. Hart. „Weiter so. Weiter.“
„Wie soll man denn etwas markieren, wenn die Socke vergraben ist?“, fragte Joker skeptisch und ich warf ihm einen bösen Blick zu, weil er mich aus meinen Gedanken gerissen hatte.
„Ganz einfach, indem man eine Spitze herausgucken lässt“, erklärte ich. „Lass dir doch lieber was Neues einfallen.“
„Hattet ihr schon den vergrabenen Hamster?“, fragte Josh und Dr. Hart nickte.
„Ja. Haben Sie das Spiel schon Mal gemacht?“
„Nicht genau das“, erklärte er und zuckte lässig mit den Schultern. „Aber ich weiß, dass die naheliegendsten Dinge immer als Erstes genannt werden.“
„Wie wäre es dann mit einem Hamsternest?“, fragte ich schnell, bevor jemand anders auf die Idee kommen konnte. „So als Höhle.“
„Wer baut denn für einen Hamster eine Höhle?“, fragte Joker ungläubig und ich schnaubte missbilligend.
Musste er denn jede meiner Ideen in Frage stellen?
„Na ja. Feldhamster sind vom Aussterben bedroht“, erklärte Josh in Jokers Richtung. „Angenommen, die alte Dame wäre Naturschützerin, könnte das Bauen einer Hamsterhöhle durchaus plausibel sein.“
Als er mir verschmitzt zuzwinkerte, wandte ich mich demonstrativ der Tafel zu. Was sollte das denn nun wieder? Ich war durchaus dazu imstande, mich selbst zu verteidigen. Versuchte er etwa mich anzubaggern? Das war doch wirklich nicht zu fassen.
„Vielleicht ist sie allergisch auf die Farbe Rot“, schlug Michaela vor und sorgte somit dafür, dass wir uns wieder auf die Tafel konzentrierten.
„Ja“, sagte Dr. Hart, der alle unsere bisherigen Vorschläge akzeptiert hatte. „Sehr gut. Noch drei.“
„Sie hat die Socke vom Nachbarn geklaut, weil sie ihn nicht leiden kann“, sagte Joker. „Und damit man sie nicht bei ihr findet, hat sie sie vergraben.“
Ich schnaubte. „Wie langweilig“, sagte ich. „Dann kannst du auch gleich sagen, sie ist eine Kindesentführerin und die Socke gehörte einem der Kinder. Das wäre zumindest dramatischer.“
„Lasse ich auch gelten“, erklärte Dr. Hart. „Eins noch.“
Alle wurden still und gingen in sich. Einige im Raum hatten in der gesamten Zeit nichts gesagt und würden vermutlich auch jetzt nichts sagen. Wer den letzten Vorschlag machen würde, lag wahrscheinlich jetzt zwischen Joker, Josh, Michaela und mir. Angestrengt dachte ich nach. Mir war klar, dass von diesem Spiel keine Note abhing, aber mein Ehrgeiz war geweckt und ich wollte wirklich gern diejenige sein, die den letzten Hinweis gab. In dem Moment öffnete Josh den Mund.
„Es ist ein Zeichen“, sagte er. „Aber kein Zeichen für ein Versteck, sondern eins an ihren Liebhaber. Sie ist verheiratet, und jedes Mal, wenn ihr Mann aus dem Haus ist, dann vergräbt sie die Socke im Garten, um ihrem Nachbarn dadurch ein Zeichen zu geben, dass er rüberkommen kann. So können sie sich problemlos treffen.“
Sprachlos starrte ich ihn an. Auf so etwas wäre ich nun wirklich nicht gekommen und einige im Raum begannen zu lachen. Dr. Hart hingegen war völlig aus dem Häuschen.
„Wunderbar!“, sagte er. „Ganz wunderbar. Es freut mich, dass Sie auch noch kommen konnten, Herr …“
„Ich stehe nicht auf Ihrer Liste“, antwortete Josh. „Ich bin ein Nachrücker und hoffe, dass in dem Kurs noch Platz ist.“
„Für jemanden wie Sie schaffe ich notfalls Platz. Und wenn ich ein paar Leute rauswerfen müsste.“ Er zwinkerte. „Das war natürlich nur ein Scherz. Hier wird überhaupt keiner rausgeworfen. Jeder, der freiwillig kommt, darf auch bleiben.“
Josh lächelte. „Mein Name ist Martin.“
„Ja? Und der Nachname?“, fragte Dr. Hart irritiert.
„Das ist mein Nachname. Ich heiße Joshua Martin“, erklärte er und sah mich an. „Aber Freunde nennen mich Josh.“
Ich schluckte. Na, das konnte ja noch lustig werden.
Josh
„Janna!“ Ich beeilte mich und versuchte das Mädchen einzuholen, mit dem ich als Kind so viel Zeit verbracht hatte. Nachdem das Seminar vorbei gewesen war, hatte sie sofort die Beine in die Hand genommen und war verschwunden, aber so einfach würde ich sie nicht davon kommen lassen. „Janna Meyer.“
Sie lief schneller und weigerte sich, sich nach mir umzusehen. Offenbar hatte sie keinerlei Interesse daran, unsere Bekanntschaft wieder aufzufrischen, aber so leicht ließ ich sie ganz sicher nicht entkommen.
„Janna. Nun bleib doch mal stehen“, wiederholte ich und packte sie am Arm.
Unwillig drehte sie sich zu mir um und sah mich an. Sie sah noch genau so aus wie früher und gleichzeitig völlig anders. Früher war ihr blondes Haar deutlich kürzer gewesen und sie hatte noch dazu eine Zahnspange getragen. Außerdem war der strenge Zug um ihren Mund neu. Sie wirkte viel ernster als sie es damals gewesen war und dennoch erkannte ich in ihr das Mädchen, mit dem ich quasi alles zusammen gemacht hatte. Sie hatte auf mich aufgepasst und regelmäßig mit mir geschimpft, wenn ich im Winter nur im T-Shirt nach draußen gegangen war, weil ich die Kälte nicht ansatzweise so sehr spürte wie sie. Außerdem hatte sie mir beigebracht wie angenehm es sein konnte, wenn jemand einem einfach nur über den nackten Rücken streichelte. Ich wiederum hatte sie dazu überredet mit mir auf dem Dach unseres Hauses herumzuklettern, was dazu geführt hatte, dass meine Mutter mir zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben den Hintern versohlt hatte. Solche Dinge vergaß man nicht, ganz egal wie viel Zeit vergangen war.
„Du bist es tatsächlich“, stellte ich fest und zog Janna in eine spontane Umarmung.
Sofort versteifte sie sich, doch davon ließ ich mich nicht abhalten.
„Wie lange ist das jetzt her?“, fragte ich grinsend. „Bestimmt schon zehn Jahre, oder?“
„Keine Ahnung“, sagte sie reserviert. „Das müsstest du doch besser wissen. Du bist immerhin damals weggezogen.“
Ich runzelte die Stirn und versuchte ihre Stimmung einzuschätzen. War sie etwa sauer auf mich?
„Hey“, sagte ich entschuldigend. „Das war doch nicht meine Schuld damals. Meine Mutter ist nach Kanada gezogen und ich musste mitkommen. Es ist ja nicht so, als hätte ich die Wahl gehabt.“
„Nein. Daran hattest du keine Schuld. Aber daran ist ja auch nicht unsere Freundschaft zerbrochen, oder?“
Ich sah sie abschätzend an. „Du meinst die Sache mit dem Tagebuch? Bist du deswegen immer noch sauer? Mann. Wir waren noch Kinder. Ich habe damals schon versucht, mich dafür zu entschuldigen. Ich konnte schließlich nicht wissen, was da drin steht. Für mich war das nur eine Mutprobe, die es zu bewältigen galt.“
Sie antwortete nicht, sondern starrte mich einfach nur böse an. Als wir noch Teenager waren, hatte ich in einem Anflug von Dummheit Jannas Tagebuch geklaut, um damit vor meinen Freunden zu prahlen. Allerdings hatte ich nicht wissen können, dass die anderen Jungs den Inhalt vor der gesamten Klasse vorlesen würden, und auch nicht, dass ihr Tagebuch überfüllt gewesen war mit kleinen Liebesbriefchen an mich. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass sie in mich verknallt gewesen war. Sonst hätte ich ihr das nie im Leben angetan.
„In meinem ganzen Leben habe ich noch nie etwas Peinlicheres erlebt als an diesem Tag“, erklärte Janna. „Ich habe mir damals vorgenommen, dir das nie zu verzeihen.“
„Wenn ich gewusst hätte, was in dem Tagebuch steht, dann hätte ich es nicht genommen. Mensch, Janna. Ich war damals noch ein kleiner Junge. Das ist doch ewig her.“
Janna atmete einmal tief durch und versuchte offenbar, sich zu beruhigen. Sie war als Kind schon leicht reizbar gewesen, aber inzwischen schien das erheblich schlimmer geworden zu sein. Ich fragte mich, woran das wohl lag.
Janna sah mich an und wirkte dabei einen Augenblick so verletzlich, dass ich trotz ihrer abwehrenden Haltung eine Welle der Zuneigung zu ihr verspürte. Was war ihr wohl wiederfahren in den letzten Jahren? Es war verrückt. Ein Teil von mir hatte zwar gehofft, dass wir uns irgendwann wiedersehen würden, aber nie hätte ich erwartet, dass es uns an dieselbe Uni verschlagen würde und dann auch noch in denselben Kurs. Das musste eindeutig Schicksal sein.
„Du hast recht“, sagte Janna schließlich. „Es ist lange her. Ich verstehe trotzdem nicht, was du überhaupt hier machst. Lebst du nicht mehr in Kanada?“
„Doch. Ich mache nur gerade ein Auslandssemester und wohne solange bei meiner Großmutter.“
Kurz nach unserem Streit wegen des Tagebuchs war mein Vater gestorben und ich war mit meiner Mutter zurück nach Nordamerika gezogen. Sie stammte aus Kanada und war nur meinem Vater zuliebe nach Deutschland gekommen. Seit damals war der Kontakt zu Janna und meinen anderen Freunden in Deutschland komplett abgebrochen und ich hatte keine Ahnung, was aus ihnen geworden war.
„Die Schäferhundeoma?“, fragte Janna und ich musste lachen.
„Ja. Genau die“, bestätigte ich. „Eigentlich heißt sie Annerose. Aber inzwischen hat sie keinen Hund mehr. Ihr letzter ist vor drei Jahren gestorben und sie traut sich einfach nicht, mit einem Welpen noch mal von vorne anzufangen. Wir nennen sie inzwischen alle Granny.“
„Granny?“
„Ja. Die Kurzform von Grandmother. Meine Geschwister sprechen kaum Deutsch, deswegen Granny.“
Meine Großmutter hatte immer in der Wohnung über unserer gewohnt und Janna und ich hatten häufig mit ihrem Hund im Garten gespielt. Meine eigene Mutter hatte nie einen Hund haben wollen, daher war das ein guter Ersatz für mich gewesen.
„Und du?“, fragte ich. „Mann. Das letzte Mal, als wir uns gesehen haben, warst du noch größer als ich. Und jetzt …“
Janna verzog den Mund. Offenbar wurde ihr mit einem Mal bewusst, dass ich recht hatte. Janna war unsere gesamte Kindheit einen halben Kopf größer gewesen als ich, aber offenbar hatte sie irgendwann aufgehört zu wachsen, wohingegen ich sie inzwischen um mindestens zehn Zentimeter überragte.
Hinzu kam, dass ich erheblich kräftiger geworden war. Früher hatte sie mich problemlos abwehren können, wenn wir uns wegen irgendetwas gestritten hatten. Inzwischen käme sie vermutlich nicht mehr so leicht gegen mich an. Als wäre ihr das auch gerade klargeworden, machte sie einen Schritt zurück. Schnell wechselte ich das Thema, um sie nicht weiter zu verunsichern.
„Wohnt deine Familie denn noch in Dortmund?“, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf.
„Nein“, antwortete sie. „Wir sind schon vor Jahren umgezogen. Nach Dülmen, wenn du es genau wissen willst. Ich pendele.“
Ich nickte lächelnd.
„Mein Gott. Meine Mutter wird ausflippen, wenn ich ihr erzähle, dass wir einen Kurs zusammen haben. Das ist ja wirklich der Hammer. Sie und deine Mutter haben ab und zu noch Kontakt. Wusstest du das?“
„Nein. Allerdings muss ich zugeben, dass ich mich nicht sonderlich für die Freundschaften meiner Mutter interessiere.“
„Ich eigentlich auch nicht, aber hin und wieder schnappt man schon was auf. Ich hab gehört, du warst in Mexiko. Stimmt das? Hablas español?“
Sofort versteifte Janna sich wieder und ich bereute bereits, überhaupt damit angefangen zu haben.
„Ja. Ich war in Mexiko“, gab sie knapp zurück. „Und ja. Spanisch lernt man da automatisch, wenn man mehr als ein paar Monate dort ist.“
Ich nickte und verstand gar nicht, warum sie so abweisend reagierte. Ich versuchte immerhin nur etwas Konversation zu machen.
„Das stimmt. Ich musste auch fließend Englisch und Französisch lernen, als ich nach Kanada gekommen bin“, sagte ich.
Janna runzelte die Stirn. „Spricht man in Kanada nicht überall Englisch?“
„Na ja. Die meisten können natürlich Englisch, aber es gibt auch ein paar Gebiete, in denen hauptsächlich Französisch gesprochen wird. Meine Familie wohnt in einem Grenzgebiet. Ich spreche zwar viel besser Englisch, aber ich verstehe beides.“
„Dazu noch fließend Deutsch. Respekt.“
Ich zuckte mit den Schultern und lächelte sie wieder an. Zögerlich erwiderte Janna es und legte den Kopf schief.
„Rennst du eigentlich immer noch im Winter nackt durch den Regen?“, fragte sie aus dem Nichts heraus.
Als ich grinste, wurde ihr offenbar klar, dass das eine sehr verfängliche Frage gewesen war, und sie wurde rot im Gesicht.
„Das willst du wohl gerne wissen, was?“, fragte ich neckend. „Wie wäre es, wenn du mich mal in Kanada besuchen kommst? Dann findest du es heraus.“
Janna schluckte sichtlich und wirkte erneut, als wollte sie gleich die Flucht ergreifen. Offenbar schaffte ich es immer wieder, genau das Falsche zu sagen. Ratlos kratzte ich mir den Kopf.
„Tja. Also … Ich muss dann jetzt auch mal los, in die nächste Vorlesung. Gibt zwar keine Anwesenheitspflicht, aber wenn man am ersten Tag nicht da ist, wird man nicht in die Liste aufgenommen. Ich denke, wir sehen uns ja dann noch.“
Janna nickte. „Klar. Wir haben ja denselben Kurs.“
„Okay. Dann sag ich mal: bis nächste Woche. See you.“
„Ja. Bis dann. Mach’s gut.“
„Du auch. Und, Janna …“
„Hm.“
„Hat mich gefreut, dich mal wiederzusehen.“
„Mich auch“, murmelte Janna und ich hatte keine Ahnung, ob sie das ernst meinte.
Ich für meinen Teil war froh, sie wieder getroffen zu haben und hoffte, dass wir uns in Zukunft regelmäßig an der Uni über den Weg laufen würden.
Janna
Zuhause angekommen hängte ich meinen Schlüssel an einen der dafür vorgesehenen Haken und rief laut: „Bin da! Wer noch?“
Statt einer Antwort watschelte mir sofort meine alte Retrieverhündin entgegen und ich beugte mich automatisch zu ihr hinunter, um sie zu herzen und zu streicheln.
„Cindy!“, rief ich. „Da bist du ja, mein Liebling. Mein Schätzchen, mein allerliebster, bester Hund aller Zeiten. Wie geht es dir?“
„Wenn du noch weiter so an ihrem Hals hängst, kriegt sie gleich keine Luft mehr und es geht ihr ganz und gar nicht mehr gut“, feixte meine jüngere Schwester Luisa, die gerade aus der Küche kam, und ich verdrehte die Augen.
Luisa war das komplette Gegenteil von mir. Während ich immer der natürliche Typ gewesen war und mich in allen Dingen eher zurückgehalten hatte, war Luisa mit ihren sechzehn Jahren eine kleine Diva, die niemals ungeschminkt das Haus verließ und stets im Mittelpunkt stehen musste.
„Dein alter Hund hat heute Morgen übrigens wieder in den Flur gepinkelt und ich musste es wegmachen“, sagte Luisa vorwurfsvoll. „Ganz ehrlich. Das ist echt nervig.“
„Sie ist inkontinent“, erinnerte ich meine Schwester. „Sie ist immerhin zwölf Jahre alt. Umgerechnet wären das vierundachtzig Menschenjahre. Komm du erstmal in das Alter. Dann reden wir weiter.“
Luisa warf mir einen bösen Blick zu und lächelte dann gehässig. „Na. Es ist zumindest eine Beruhigung, dass du vor mir in das Alter kommen wirst.“
Ich überlegte, etwas zu erwidern, ließ es dann aber bleiben. Luisa und ich waren nie ein Herz und eine Seele gewesen. Dafür war unser Altersunterschied einfach zu groß. Acht Jahre waren für Luisa wie eine ganze Ewigkeit und ich erschien ihr mit meinen vierundzwanzig Jahren unwahrscheinlich alt. Im Nachhinein kam es mir aber auch unglaublich vor, dass ich ungefähr in ihrem Alter gewesen war, als mein ganzes Mexiko-Abenteuer begonnen hatte. Luisa kam mir noch so unreif vor und der Gedanke, ihr könnte ähnliches widerfahren wie mir, weckte gleich meinen Beschützerinstinkt.
„Zankt ihr euch schon wieder?“, rief meine Mutter aus der Küche und streckte ihren Kopf um die Ecke.
Sie trug eine Kochschürze um die breiten Hüften und hatte ihr mittellanges Haar nach hinten gesteckt, damit es sie nicht störte.
„Nein. Ich habe ihr nur gesagt, dass Cindy total undicht ist“, erklärte Luisa und ich blähte die Backen.
Nur weil Luisa sich nicht für Tiere interessierte, war das noch lange kein Grund, meinen Liebling so herunterzumachen. Cindy war nun einmal alt. Daran konnte man nichts machen. Ich wünschte mir auch, dass es anders wäre, aber die Zeit konnte man nicht zurückdrehen. Und selbst wenn … hätte ich wahrscheinlich noch mal genau dieselben Fehler gemacht.
„Ruft doch mal Max runter“, bat meine Mutter. „Das Essen ist fertig.“
„Machst du?“, fragte ich Luisa und diese schüttelte den Kopf.
„Nee“, sagte sie. „Mach du mal. Auf mich hört er eh nicht.“
Ich schnaubte und drückte meiner Hündin noch einen Luftkuss aufs Fell, ohne sie dabei wirklich zu berühren. Dann stieg ich die Treppe nach oben, um das jüngste Familienmitglied aus dem Zimmer zu zerren.
Max, eigentlich Maximilian, war gerade in der ‚Mein Leben ist nur echt, wenn ich online bin‘-Phase. Dementsprechend schwer war es, ihn von seinem Computer wegzukriegen. Er war zwölf und spielte mit Vorliebe World of Warcraft. Offenbar war er darin sogar ziemlich gut, denn er hatte tatsächlich schon echtes Geld verdient, indem er fertig ausgebildete Charaktere verkaufte. Ich hatte zwar keine Ahnung, wie das funktionierte, aber solange Max es wusste, war ja alles gut.
Ich ging an meinem Zimmer vorbei und klopfte an der nächsten Tür, mit der Aufschrift: ‚Eltern verboten – Süßigkeiten, Geld und Bier bitte auf der Fußmatte ablegen‘. Natürlich war er mit seinen zwölf Jahren viel zu jung, um tatsächlich Alkohol zu trinken, aber der Rest des Spruches passte ganz gut.
„Max?“, rief ich.
Keine Antwort.
Ich klopfte noch einmal.
„Max?“
Als ich wieder nichts hörte, öffnete ich einfach die Tür und sofort kam mir ein Schwall stickiger Luft entgegen. Obwohl es mitten am Tag war, hatte Max die Fenster verdunkelt und hockte mit Kopfhörern vor seinem Bildschirm. Ich ging kurzerhand zu ihm und hob den Kopfhörer an.
„Max“, sagte ich und er zuckte zusammen.
„Janna. Wie kannst du mich nur so erschrecken?“, fragte er. „Na toll. Jetzt hat der Kobold mir den Kopf abgehackt.“
„Tut mir leid. Das wollte ich nicht“, sagte ich reumütig.
„Ach, nicht so schlimm. Der Charakter war eh Mist. Ich bau mir die Tage einen neuen auf. Was’n los? Hab nicht viel Zeit. Gleich findet eine Schlacht statt.“
„Es gibt Essen, Brüderchen. Und wenn du nicht willst, dass Mama Stunk macht, solltest du dringend nach unten kommen und deine Schlacht auf später verschieben.“
Max schüttelte den Kopf. „Du hast wirklich gar keine Ahnung von Online-Spielen, oder, Janna?“, tadelte er. „Eine Schlacht kann man nicht einfach verschieben. Da stecke nicht nur ich mit drin, sondern auch noch zehn weitere Player. Und wenn ich die hängen lasse, habe ich ein echtes Problem. Dann helfen die mir nie wieder. Nee, nee. Das kann ich nicht verschieben. Verklicker Mama das bitte mal. Und sag ihr, wenn sie wieder den Stecker zieht, dann lerne ich heute Nacht nicht für den Mathetest.“
Erstaunt sah ich ihn an. Eigentlich war Max immer ein liebes Kind gewesen, aber in letzter Zeit hatte sein Computerkonsum bedenkliche Ausmaße angenommen. Da ich aber tatsächlich keine Ahnung von World of Warcraft hatte, beschloss ich, ihn gewähren zu lassen, und ging lieber nach unten zu meiner Mutter. Luisa und unser Vater saßen bereits am Tisch.
„Kein Erfolg?“, fragte mein Vater.
Ich schüttelte den Kopf.
„Hat er gesagt, warum er nicht runterkommen will?“, fragte meine Mutter.
„Ja. Er muss eine Schlacht führen. Gegen Trolle oder Kobolde oder irgendetwas in der Art.“
Luisa trommelte mit ihren frisch manikürten Nägeln auf die Tischplatte und sah uns ungeduldig an. „Können wir jetzt vielleicht essen? Ich habe Hunger und dann will ich los.“
„Los? Wo willst du denn hin?“
Luisa zuckte mit den Schultern. „Noch ein paar Freunde treffen. Keine Sorge, ich bin um zehn wieder zu Hause.“
„Du hast morgen Schule, junge Dame“, erinnerte meine Mutter sie und Luisa nickte.
„Ich werd schon nicht verschlafen. Jetzt chill mal, Mama. Alles easy.“
„Ich zeig dir gleich, was easy ist“, grummelte meine Mutter und setzte sich zu uns an den Tisch.
Da ich so viel in der Uni zu tun hatte, kam ich häufig erst spät nach Hause und musste alleine essen. Leider war die Uni fast eine Stunde mit dem Zug von meinem Heimatort Dülmen entfernt und es lohnte sich für mich nicht, zwischen den Vorlesungen nach Hause zu kommen. Zu meiner Enttäuschung musste ich feststellen, dass es Fisch gab. So etwas kochte meine Mutter zwar selten, aber offensichtlich hatte ich heute genau den falschen Tag erwischt, um pünktlich zum Essen zu Hause zu sein.
„Gibt es noch etwas anderes?“, fragte ich vorsichtig.
Offenbar hatte das nun das Fass zum Überlaufen gebracht.
„Weißt du was, Janna?“, fragte sie. „Koch beim nächsten Mal doch einfach selber. Oder noch besser: Such dir endlich eine eigene Bude und zieh aus. Und nimm deinen alten, undichten Köter gleich mit. Ich habe jetzt endgültig die Nase voll von euch allen.“
„Aber …“
„Nichts aber. Wirklich. Du weißt doch genau, dass es uns im Moment finanziell nicht so gut geht, Janna. An der Schule wurden Lehrerstellen gekürzt und euer Vater hat in den letzten zwei Jahren nichts Neues gefunden. Ich mache fast jeden Tag Nachtschichten im Krankenhaus, damit wir über die Runden kommen. Trotzdem nehme ich mir jeden Abend die Zeit, um euch Essen zu machen. Aber wird das irgendwie gewürdigt? Nein. Natürlich nicht. Stattdessen bekomme ich zu hören: Ich kann nicht essen, ich muss Computer spielen. Oder: Mach schnell. Ich hab Hunger und will zu meinen Freunden. Oder: Gibt es nichts anderes? Das mag ich nicht.“
Sofort bekam ich ein schlechtes Gewissen. Es stimmte schon. Meine Eltern machten eine schwierige finanzielle Phase durch und taten alles, um uns Kinder das nicht merken zu lassen, sondern uns den gleichen Lebensstandard zu erhalten wie bisher. Es tat mir auch wirklich leid, dass ich sie nicht entlasten konnte. Aber das Studium war mir wichtig und ich wollte es auf keinen Fall abbrechen. Nachdem ich so viel anderes hatte aufgeben müssen, wollte ich wenigstens daran weiter festhalten.
Um die schlechte Laune meiner Mutter nicht noch weiter anzufachen, begnügte ich mich mit Kartoffeln und Salat, mein Vater lobte das gute Essen und Luisa aß schweigend.
„Du errätst nie, wen ich heute getroffen habe“, sagte ich schließlich, um die Stimmung wieder etwas zu bessern. „Joshua Martin.“
Meine Mutter sah auf. „Birgits Sohn?“, fragte sie überrascht. „Ich dachte, die wären in Kanada.“
Meine Mutter und Birgit waren früher einmal gute Freundinnen gewesen, aber so eng, wie Josh es dargestellt hatte, schien der Kontakt wohl doch nicht mehr zu sein.
„Das dachte ich auch. Aber Josh macht wohl gerade ein Austauschsemester in Dortmund.“
„Josh?“, fragte mein Vater. „War das nicht der Junge, der in der Schule durch die Scheibe gerannt ist?“
Meine Mutter nickte. „Ja. Genau der. Es war ein Wunder, dass dabei nichts Schlimmeres passiert ist. Er hatte bloß ein paar Kratzer. Janna und er waren damals ein Herz und eine Seele.“
„Ein Herz und eine Seele?“ Mein Vater lachte. „War das nicht der Junge, mit dem sie sich ständig geprügelt hat? Sie hatte doch jedes Mal, nachdem sie bei ihm war, blaue Flecken und Kratzer.“
Meine Mutter verzog das Gesicht. „Trotzdem wollte sie jedes Mal wieder zu ihm“, erinnerte sie sich. „Du warst ganz vernarrt in diesen Jungen. Ihr seid sogar barfuß durch den Regen gelaufen und habt euch einmal nackt im Schnee gewälzt. Ich habe fast einen Herzinfarkt bekommen, weil ich Angst hatte, dass ihr krank werdet. Josh war ein tolles Kind. Er wusste nur leider nicht, wann er dir wehtat.“
Ich schwieg und steckte mir eine Kartoffel in den Mund. Diese Erlebnisse hatte ich fast verdrängt. Es stimmte. Josh hatte mir tatsächlich häufig wehgetan als Kind. Trotzdem war mir das nicht negativ in Erinnerung geblieben. Viel eher erinnerte ich mich daran, dass wir stundenlang Tischfußball gespielt hatten und auf Bäumen herumgeklettert waren. Wir hatten uns auch häufig gerauft, aber ich hatte ihm das nie übel nehmen können. Wie eine Verrückte hatte ich ihm jedes Mal verziehen und war wieder zu ihm gelaufen, sobald er mit mir spielen wollte. Ob dieses Verhalten von mir damals schon richtungsweisend gewesen war? Werden Menschen vielleicht als Opfer geboren? Der Gedanke gefiel mir ganz und gar nicht.
„Das letzte Mal, als ich mit Birgit geschrieben habe, sagte sie mir, Josh hätte sich sehr verändert seit damals“, sprach meine Mutter weiter. „Angeblich ist er überhaupt nicht mehr aggressiv, sondern geht jeder Konfrontation konsequent aus dem Weg. Ist vielleicht auch besser so.“
Ich nickte und stocherte in meinem Essen. Plötzlich war mir der Appetit vergangen. Nun, wo meine Mutter mich an all diese kleinen Details erinnert hatte, verspürte ich erst recht keine Lust, Josh wiederzusehen. Ich hatte in meinem Leben genug Gewalt erlebt. Ich hatte es zwar erfolgreich geschafft, die Details meiner Trennung vor meiner Familie geheim zu halten, aber sie hatten genug mitbekommen, um sich ihren Teil zu denken.
Direkt nach dem Essen stand Luisa auf, stellte ihren Teller auf die Anrichte und war schneller verschwunden, als man gucken konnte. Ich schüttelte den Kopf und stellte ihren Teller mit meinem zusammen in die Spülmaschine. Das alte Ding stammte aus einer Zeit, als uns noch keine finanziellen Probleme geplagt hatten, aber das schien bereits eine ganze Weile her zu sein.
„Janna“, sagte mein Vater, als meine Mutter außer Hörweite war. „Hättest du vielleicht einen Moment Zeit für mich? Es gibt da etwas, worüber ich gerne mit dir sprechen würde.“
Ich nickte. „Natürlich, Papa. Was ist denn los?“
Mein Vater bedeutete mir, ihm ins Wohnzimmer zu folgen, und ich kam seiner stummen Bitte ohne zu zögern nach. Er war ein eher schweigsamer Mann und ich konnte mich kaum daran erinnern, wann wir das letzte Mal ein richtiges Vater-Tochter-Gespräch gehabt hatten. Sicherlich war es länger her, als gut für uns sein konnte.
Als wir beide auf der Couch saßen, sah mein Vater mich besorgt an.
„Janna“, begann er. „Wie viele Schulden hast du noch?“
Überrascht sah ich ihn an. Meine Schulden und mein Bedürfnis nach Geborgenheit waren der einzige Grund gewesen, warum ich nach meiner Zeit in Mexiko nicht sofort in ein Studentenwohnheim gegangen war. Ich hatte Zeit gebraucht, um mich wieder zu fangen. Und ich hatte das Geld, das ich beim Kellnern verdiente, gebraucht, um einen Kredit abzubezahlen, den ich damals für mich und Rogelio aufgenommen hatte.
„Ich habe vor einem halben Jahr die letzte Rate bezahlt“, sagte ich wahrheitsgemäß. Es war ein erhebendes Gefühl, endlich schuldenfrei zu sein, und aus Gewohnheit hatte ich das Geld einfach weiter zur Seite gelegt. Lieber etwas auf der hohen Kante haben, als mich wieder zu verschulden. Es würde wohl eine Weile dauern, bis ich mich daran gewöhnt hatte, nicht mehr jeden Cent umdrehen zu müssen.
„Gut“, sagte mein Vater. „Das ist gut. Sehr gut sogar.“
Er schwieg, als wüsste er nicht, wie er fortfahren sollte, und ich ergriff seine Hand.
„Papa“, sagte ich. „Was ist los? Was willst du mir sagen?“
„Nun ja. Janna. Deine Mutter und ich. Wir … wir haben uns überlegt, ob es nicht doch langsam an der Zeit für dich wäre auszuziehen. Ich meine … du bist vierundzwanzig und die meisten deiner Studienkollegen stehen doch auf eigenen Beinen, oder?“
Ich schluckte. Sie wollten mich rauswerfen? Damit hatte ich nicht gerechnet. Meine Mutter hatte zwar in den letzten Monaten immer mal wieder Andeutungen in diese Richtung gemacht, aber ich hatte es, um ehrlich zu sein, nicht ernst genommen.
„Ich …“, begann ich und brach wieder ab.
Mein Elternhaus wieder zu verlassen, war auf Dauer unausweichlich. Das war mir durchaus bewusst, und mir war klar, dass es nur vernünftig war. Aber es machte mir auch Sorgen. Es war ein großer Schritt zurück in Richtung Selbstständigkeit. Eine Selbstständigkeit, vor der ich die letzten Jahre konsequent geflohen war. Es gab jedoch auch ein sehr viel praktischeres Problem.
„Papa. Ich würde ja gerne ausziehen. Aber das kann ich mir überhaupt nicht leisten. Selbst eine Studentenwohnung kostet mindestens dreihundert Euro im Monat. Und dann kommen noch die Lebensmittelkosten und so weiter dazu. Das geht überhaupt nicht. So viel verdiene ich nie im Leben als Kellnerin.“
Mein Vater schüttelte den Kopf. „Das weiß ich doch, Schätzchen. Aber die Tatsache, dass wir eine andauernde finanzielle Flaute haben, hat auch einen entscheidenden Vorteil. Als du mit dem Studium angefangen hast, habe ich noch zu viel verdient, aber inzwischen bin ich seit zwei Jahren auf einer halben Stelle als Lehrer angestellt. Das bedeutet, dir steht BAföG zu.“
Überrascht sah ich ihn an. Natürlich. Das BAföG-Amt interessierte sich immer nur für die Zahlen von vor zwei Jahren. Dieses System erschien mir zwar unlogisch und ungerecht, aber es war nun einmal so. Das bedeutete aber auch, dass ich inzwischen ein Anrecht darauf hatte und es mit Sicherheit für die nächsten zwei Jahre in Anspruch nehmen konnte.
Langsam nickte ich. „Das wäre natürlich super“, sagte ich und fühlte eine nervöse Freude in mir aufsteigen.
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