4,99 €
Chrissie will einfach nur weg. Weg aus Deutschland, weg von ihren Problemen und weg von dem Wahnsinn, der ihr Leben sein soll. Daher kommt ihr ein Praktikum in Namibia gerade recht. Sonne, Palmen und Strand, so hat Chrissie sich ihren Aufenthalt dort vorgestellt. Stattdessen landet sie mitten in den Slums von Namibia, wo Chrissies komplettes Weltbild auf den Kopf gestellt wird. Am liebsten würde sie sofort wieder zurückfliegen. Doch dann trifft sie auf den Projektmitarbeiter Adam. Der unnahbare Mann kann mit Chrissie nichts anfangen, aber übt trotzdem eine große Faszination auf sie aus. Trotz aller Widrigkeiten kommen die beiden einander näher, aber gibt es für sie überhaupt eine Zukunft? Immerhin hat Chrissie nicht vor für immer in Namibia zu bleiben ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Impressum
Copyright © 2016 by Hannah Siebern
Am Vogelbusch 18
48301 Nottuln
Deutsche Erstausgabe 04/2016
ISBN: 9783819404092
Lektorat: Nadine D’Arachart und Sarah Wedler
Cover: Casandra Krammer
Coverschrift: Claudia Kolb
All rights reserved.
No part of this book may be reproduced in any form or by any electronic or mechanical means, including information storage and retrieval systems, without written permission from the author, except for the use of brief quotations in a book review.
Erstellt mit Vellum
Über den Autor
Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Wie geht es weiter?
Danksagung
Hannah Siebern wurde 1986 in Münster (NRW) geboren und studierte an der Uni Dortmund Erziehungswissenschaft. Geschichten schrieb sie schon als Kind leidenschaftlich gerne. Ihre ersten Werke handelten von fiktiven Abenteuern, die sie mit ihren Freundinnen erlebte. Jahre später entdeckte sie dann ihre Liebe zu Fantasyromanen und schrieb mit 23 ihr erstes komplettes Buch.
Inzwischen lebt sie mit ihrem Freund und ihrem Hund in Coesfeld (NRW).
Foto: Guido Karp www.p41d.com
„Barfuß im Regen“ ist ihr erster Liebesroman, in dem sie auch einige persönliche Erfahrungen mit eingebaut hat.
Besuchen Sie Hannah Sieberns Blog unter
www.hannahsiebern.de
www.nubila-roman.de
Liebe Leserinnen und Leser
Das Buch „Barfuß im Sand“ ist eine in sich geschlossene Geschichte und kann auch ohne Vorwissen gelesen werden. Der Roman spielt aber zeitlich gesehen zwischen den Romanen „Barfuß im Regen“ und „Barfuß durch Scherben“.
Wer also Wert darauf legt, eine Reihe chronologisch in der richtigen Reihenfolge zu lesen, sollte lieber mit „Barfuß im Regen“ beginnen. :)
Des Weiteren möchte ich darauf hinweisen, dass dieser Roman nicht den Anspruch erhebt, die Realität widerzuspiegeln. Der Einfachheit beherrschen in diesem Roman alle Namibier Afrikaans, auch wenn mir bewusst ist, dass es in diesem Land auch zig andere Sprachen gibt.
Nun wünsche ich euch aber erstmal viel Vergnügen beim Lesen und freue mich schon riesig darauf, eure Meinung zu erfahren.
Dieses Buch ist für alle Kinder in Namibia
Danke, dass ihr mir gezeigt habt, worauf es im Leben wirklich ankommt.
Chrissie
67 Minuten! Mein Flug hatte 67 Minuten Verspätung und ich hatte keine Möglichkeit, meine Mitfahrgelegenheit zu informieren, weil ich nicht wusste, wie man die Nummer wählen musste. Offenbar gab es da irgendeinen Trick. Man musste mehr Nullen vorwählen oder irgendwas in der Art. Verdammt. Wenn ich Saskia in die Finger bekam, würde ich sie vierteilen.
Ob der Taxibusfahrer wohl eine Mail lesen würde? Waren Smartphones in Afrika überhaupt schon so verbreitet wie in Europa? Ich konnte mir kaum vorstellen, dass man hier überhaupt Empfang hatte.
67 Minuten. Da hatte ich nun also den Salat. Ich befand mich auf der anderen Seite der Welt, ohne die Sprache zu können oder eine Ahnung zu haben, wie ich von A nach B kommen sollte.
Was sollte ich tun, falls dieser komische Silas nicht da war? Ich schielte nervös auf die Anzeigentafel und wäre am liebsten auf und ab gelaufen, um die innere Anspannung loszuwerden. Aber ich hatte Angst, dass ich dadurch negativ auffallen würde. Wann kam denn nur dieses doofe Gepäck?
Die Kontaktdaten von Silas hatte ich durch Children of Namibia bekommen. Angeblich war er sehr zuverlässig. Trotzdem hatte ich mich davor gefürchtet, mich auf eine private Organisation zu verlassen.
„Was, wenn mein Flug Verspätung hat?“, hatte ich in einer E-Mail gefragt.
„No problem“, hatte Silas mir versichert. „I wait.“
Er würde warten. Na fein. Wehe, wenn er das nicht tat.
Endlich setzte sich das Gepäckband in Bewegung und die ersten Koffer fuhren an mir vorbei. Schwarz, blau, grün. Aber nirgends ein pinker Koffer zu sehen.
Mist, Mist, Mist. Was sollte ich nur tun? Nervös nestelte ich an meiner Handtasche herum und zog zum gefühlt hundertsten Mal mein Handy hervor. Sollte ich riskieren, es hier zu benutzen? Vermutlich würde ich hunderte von Euro an Auslandsgebühren zahlen. Anderseits, was hatte ich schon für eine Wahl, falls Silas nicht da war?
Wenn ich es richtig verstanden hatte, dann war ich nicht sein einziger Fahrgast, sondern er wollte auch noch andere abholen. Würde er es tatsächlich riskieren, seine Kunden zu verprellen, indem er auf mich wartete? Das hielt ich für unwahrscheinlich.
Ich wickelte mir eine blonde Haarsträhne um den Finger und wäre fast auf meinen High Heels gestolpert, als ich endlich meinen Koffer erblickte. Die pinke Farbe war unverkennbar und ich gratulierte mir selber zu meiner Wahl. Nicht nur, weil er perfekt zu der Farbe meiner Fingernägel passte, sondern auch weil er auffällig und somit unverwechselbar war. Hätte irgendjemand es gewagt, ihn mir vor der Nase wegzuschnappen, dann hätte ich es zumindest sofort gemerkt.
Als das Ungetüm an mir vorbei kam, griff ich danach und wäre fast auf das Rollband gefallen. Wie kam es nur, dass dieses verdammte Ding so schwer war?
„Entschuldigung“, rief ich, während ich neben meinem Koffer her stakste und versuchte, ihn vom Rollband zu hieven. Dabei drängelte ich einige Leute zur Seite, die ebenfalls auf ihr Gepäck warteten. „Verzeihung. Könnte ich mal?“
Als ein älterer Mann vor mir nach seiner Tasche griff, hatte ich keine andere Wahl, als meinen Koffer loszulassen, wenn ich ihn nicht über den Haufen rennen wollte.
Ich seufzte und sah meinem Gepäckstück kopfschüttelnd nach, bis ein dunkelhäutiger Mann drei Meter weiter das Ungetüm vom Band nahm und es neben sich stellte.
„Hey“, rief ich in der Annahme, dass er es klauen wollte. „Sie sind ja wohl verrückt geworden!“
Meine Mutter hatte mich eindringlich vor den Schwarzen in Namibia gewarnt. Nicht etwa wegen ihrer Hautfarbe, sondern weil sie durch ihre Armut einfach schneller dazu neigten, Dinge an sich zu nehmen, die ihnen nicht gehörten. Das hätte ein Weißer in dieser Situation genauso gemacht. Durch das Verhalten des Dunkelhäutigen fühlte ich mich bestätigt und lief, so schnell es mir möglich war, um den älteren Mann herum und auf den Afrikaner zu, der mir breit lächelnd den Koffer entgegenstreckte.
„Yours?“, fragte er.
Ich nickte und entriss ihm das Gepäckstück. „Natürlich ist das meiner“, schimpfte ich, ohne darauf zu achten, dass er mich möglicherweise nicht verstand. „Was fällt Ihnen eigentlich ein? Einfach das Eigentum anderer an sich zu nehmen!“
Hinter mir hörte ich ein Lachen und drehte mich um. Ein junger Weißer stand dort, auf dessen T-Shirt der Spruch prangte: Sei nett zu mir. Eines Tages könnte ich dein Chef sein. Oha. Da litt wohl jemand an Selbstüberschätzung.
„Ganz schön unhöflich, in ein fremdes Land zu kommen und als Erstes die Leute zu beschimpfen“, sagte er. „Ich glaube kaum, dass der Mann dich versteht. Wie wäre es mit Englisch?“
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn an. Er war ja ganz süß mit seinen Grübchen und dem verstrubbelten hellen Haar, aber es störte mich, dass er sofort meine Schwäche durchschaute.
„I’ll take it from here“, sagte der junge Mann zu dem Afrikaner und dieser schien sehr erleichtert zu sein, sich nicht mehr mit mir auseinandersetzen zu müssen.
„Ich habe gelesen, Namibia war einmal deutsche Kolonie“, sagte ich schnippisch. „Müssten die Leute dann nicht eigentlich Deutsch können?“
Der junge Mann schüttelte den Kopf. „Das ist ewig her“, erklärte er. „Sicher können einige der älteren Leute noch Deutsch. Aber die junge Generation lernt in der Schule nur die Amtssprache, und die ist Englisch.“
„Aha. Da spricht wohl ein Experte.“
„Sicher. Ich bin übrigens Josh“, sagte er und streckte mir seine Hand entgegen.
Zögerlich nahm ich sie und verzog den Mund, als er meine etwas zu fest drückte. Vielleicht war mein eigener Händedruck aber auch zu lasch, sodass er versuchte, das auszugleichen.
„Chrissie“, antwortete ich. „Und ich muss jetzt schnell weiter. Ich bin sowieso schon viel zu spät dran.“
Josh nickte. „Lass mich raten. Du musst nach Toekoms?“
Ich schluckte. Woher wusste er das denn?
„Ich habe den Sticker auf deinem Koffer gesehen“, erklärte Joshua und deutete auf den Children-of-Namibia-Aufkleber. Ich hatte ihn angebracht, damit man notfalls wusste, wo der Koffer hinmusste.
„Fährst du auch in die Richtung?“, fragte ich zaghaft. Ich wollte es ungern zugeben, aber es wäre eine Erleichterung gewesen, wenn er Ja sagte. Auch wenn ich mir gewünscht hatte, Neues zu erleben, so musste ich zugeben, dass ich mit der gesamten Situation überfordert war. Jemanden bei mir zu haben, der zumindest meine Sprache konnte, würde es mir erheblich leichter machen.
„Das muss ich tatsächlich“, erklärte Josh. „Meine Tante leitet Children of Namibia und ich war gerade für drei Tage in Johannesburg, um ein paar geschäftliche Dinge zu klären. Hast du schon eine Mitfahrgelegenheit?“
„Ja … Also, nein. Also … ich hoffe es. Aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob er noch da ist. Immerhin hatte der Flug ziemlich viel Verspätung.“
Josh nickte. „Komm. Wir finden es heraus.“
* * *
Namibia. 824.000 Quadratkilometer groß, aber weniger Einwohner als Berlin. Das sagte zumindest mein Reiseführer. So weit, so gut. Ich lehnte mich zurück und lauschte dem Gespräch zwischen Josh und unserem Fahrer. Tatsächlich hatte der Afrikaner mit den schlechten Zähnen auf uns gewartet und ich war mehr als erleichtert, dass Josh bei mir war. Ich kannte mich hier überhaupt nicht aus und dieser fremde Mann hätte mich sonst wo hinbringen können, ohne dass es mir überhaupt aufgefallen wäre. Ich verstand nur Bruchstücke von dem Gespräch und nahm mir vor, dass ich in den nächsten Wochen auf jeden Fall an meinem Englisch arbeiten musste. Wenn ich es richtig verstanden hatte, dann konnten wir mit den Kindern nur auf Englisch kommunizieren und das machte es für mich kompliziert. Ohnehin fragte ich mich, was mich geritten hatte, nach Namibia zu kommen.
Ich sah aus dem Fenster und betrachtete das trockene Land rund um uns herum. Es fiel mir schwer, mir vorzustellen, dass es hier auch Elefanten und Giraffen geben sollte. Wovon ernährten die Tiere sich denn in dieser Dürre?
„Is this your first time in Namibia?“, fragte Silas, unser Fahrer.
„Er fragt, ob …“
„Das hab ich wohl verstanden“, schimpfte ich. Was glaubte Josh denn, wer ich war? Ein Neandertaler? So viel Englisch konnte ich dann doch.
„Sag ihm, dass es mein erstes Mal hier ist“, forderte ich. „Ich war noch nie außerhalb von Europa.“
Josh hob grinsend die Hände. „Hey. Du sprichst doch so gut Englisch. Sag es ihm selber.“
Ich wollte protestieren, erkannte aber an dem Funkeln in seinen Augen, dass er keinen Rückzieher machen würde.
„Yes“, sagte ich daher zu unserem Fahrer. „First time.“
„And? What do you think?“
Was ich dachte?
„It’s … trocken“, brachte ich hervor. „Dry. It’s dry“, sagte ich schnell, als mir das Wort wieder einfiel.
Josh lachte. Genau wie unser Fahrer. Er war schwarz, wie laut meinem Reiseführer siebzig Prozent der Bevölkerung hier, und er gehörte offenbar zu den wenigen, die einen ordentlichen Job hatten. Ich hatte mich vor meinem Besuch hier ein wenig in die Literatur eingelesen und dabei festgestellt, dass ein Großteil der Bevölkerung von Namibia arbeitslos war und die Kluft zwischen Arm und Reich hier erheblich größer war als in Deutschland. Vor allem, da es kein soziales Absicherungssystem gab.
„You will love Namibia“, versprach unser Fahrer und entblößte einige schiefe Zähne.
Ich lehnte mich zurück und nickte. Das hoffte ich doch. Immerhin hatte ich vor, mehrere Wochen hier zu verbringen. Und es wäre wirklich gut, wenn dieses Land mich von meinen Problemen ablenken würde.
* * *
In Toekoms angekommen, lud unser Fahrer das Gepäck aus dem Auto und verabschiedete sich überschwänglich von uns. Josh schulterte seinen Rucksack und nahm mir den Koffer ab.
Dankbar nickte ich ihm zu.
Josh war ein wirklich gutaussehender Kerl. Verstrubbeltes Haar, sportliche Figur und faszinierende graue Augen. Nicht übel. Es wäre zwar unvernünftig gewesen, mich auf den erstbesten Kerl zu stürzen, dem ich hier über den Weg lief, aber immerhin war Josh ungefähr in meinem Alter, was schon mal einen riesigen Fortschritt gegenüber meiner letzten Beziehung darstellte. Immerhin war es unwahrscheinlich, dass er schon eine jugendliche Tochter hatte, die mir das Leben schwer machen würde.
Er brachte mich den Hang hinauf bis zu einem umzäunten Gelände, zog einen Schlüssel hervor und öffnete das Tor. Dann bat er mich mit einem „Ladies first“, vor ihm einzutreten.
Ich zögerte nicht, sondern ging hinein. Das Gebäude war weiß und erinnerte mich an eine der Fincas auf Mallorca. Es hatte ein flaches Dach, eine große Terrasse und sah gut gepflegt aus. Meine Schwester hatte nicht zu viel versprochen. Sie hatte mir zugesichert, dass sich mein Aufenthalt hier beinahe anfühlen würde wie Urlaub.
Josh führte mich um das Haus herum und ich freute mich, als ich einen Pool erblickte.
„Oh wie schön“, sagte ich. „Das ist ja toll.“
„Den Pool dürfen die Praktikanten nutzen, sofern sie ihn sauber halten“, sagte Josh.
Sauber halten? Überrascht sah ich ihn an. Wie hielt man einen Pool denn sauber? Gab es dafür keine Angestellten? Ich war doch nicht zum Putzen hier, sondern für die Kinder.
„Also“, sagte Josh und führte mich ins Gebäude. „Das hier ist die Küche. Hier wird auch die Wäsche gewaschen. Daneben gibt es ein Bad und den Aufenthaltsraum für uns alle. Da vorne ist mein Zimmer. Du kannst im Nebengebäude in dem Doppelzimmer schlafen. Das andere hier im Hauptgebäude wird im Moment noch renoviert.“
Ich warf einen Blick in das Zimmer neben dem von Josh und musste enttäuscht feststellen, dass er recht hatte. Das Bett war abgedeckt und es wurde gerade gestrichen.
„Und wo ist dieses andere Zimmer?“, fragte ich.
„Komm mit. Ich zeig’s dir.“
Er nahm meinen Koffer hoch und brachte mich einmal quer durch den Garten, bis zu einem kleinen Gebäude in einer Ecke des Grundstücks. Hier war man zwar noch in Rufweite, aber wurde sicherlich nass, falls es mal regnete und man in die Küche wollte. Na ja. Ich wollte nicht meckern. Ich hätte mir immerhin denken können, dass mich kein 5-Sterne-Hotel erwartete.
Das Zimmer war zwar abgeschieden, aber wie der Rest des Geländes gut gepflegt und ordentlich. Es gab zwei Einzelbetten in meinem Zimmer und ein eigenes kleines Bad. Das zumindest war ein Vorteil.
Als ich aus dem Zimmer kam, lief ich beinahe in einen großen Mann hinein, der neben dem Pool kniete und offensichtlich etwas reparierte. Er war sehr muskulös, hatte mokkabraune Haut und war sicherlich einen Meter neunzig groß. Sein dunkles Haar hing ihm im Gesicht und er war mit Sicherheit nicht viel älter als ich.
„Keine Augen im Kopf, was?“, knurrte der Mann und funkelte mich so böse an, als hätte ich ihn mit Absicht umgelaufen. Sein Blick irritierte mich und ließ mein Herz sofort schneller schlagen. So helle Augen hatte ich in einem afrikanischen Gesicht nicht erwartet. Ihre Farbe war eine Mischung aus Grau und Grün und sie stachen durch den Kontrast mit seiner dunklen Haut stark hervor.
„Tut mir leid, ich …“, stotterte ich und hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte.
Ich war froh, als Josh dazu kam und mir eine Hand auf die Schulter legte.
„Ah. Wie ich sehe, hast du Adam schon kennengelernt“, sagte er mit breitem Grinsen. „Adam. Das hier ist Chrissie, die neue Praktikantin. Chrissie. Das ist Adam. Er ist hier sozusagen der Hausmeister.“
„Sehr erfreut“, sagte ich und streckte ihm meine Hand entgegen.
Zu meiner Überraschung tat Adam so, als sähe er sie gar nicht, sondern fuhr einfach mit seiner Arbeit fort. Durch seine schroffe Art fühlte ich mich wie vor den Kopf gestoßen.
Josh gab mir ein Zeichen und führte mich weg.
„Ist dieser Kerl immer so unhöflich?“, fragte ich, sobald wir vor dem Haus waren.
Josh zuckte mit den Schultern. „Er mag keine Deutschen“, erklärte er leichthin.
„Aber … Er hat doch gerade mit mir deutsch gesprochen. Wie …“
„Adams Vater ist weiß und spricht deutsch. Seine Vorfahren kommen aus Deutschland“, erklärte Josh. „Sie sind hergezogen, als Namibia noch deutsche Kolonie war.“
„Aber … Du hast doch gesagt, das ist schon ewig her.“
„1884-1915. Ist ja auch schon viel Zeit vergangen seit damals. Trotz alledem fühlen sich die Nachfahren der deutschen Kolonialherren von damals der schwarzen Bevölkerung immer noch überlegen. Adams Vater ist ein besonders schlimmes Exemplar eines Rassisten. Adams Mutter war Bedienstete in seinem Haus und er hat sie bald nach der Geburt fortgeschickt, weil er nicht wollte, dass sie Einfluss auf Adam nimmt. Er hat Adam zwar anerkannt, aber aufgrund seiner Hautfarbe hat er keine gute Meinung von ihm.“
Ich schluckte. Das kam mir grausam vor.
„Das hat dazu geführt, dass Adam genau das Gegenteil tut und Deutsche nicht leiden kann. Am liebsten würde er auch alle Weißen verachten, aber das ist schwierig, weil er dann selbst nicht mehr in den Spiegel gucken könnte.“
„Na ja. So weiß ist er ja gar nicht“, stellte ich fest. „Hat wahrscheinlich schon zu viel Sonne abgekriegt.“
Josh zuckte mit den Schultern.
„Mit meiner Tante und mir kommt er ganz gut aus, weil wir Kanadier sind. Aber die deutschen Praktikanten, die hier regelmäßig ein- und ausgehen, kann er nicht ausstehen. Nimm’s nicht persönlich.“
Ich biss mir auf die Unterlippe. Auf die Idee, hier mit Rassismus gegenüber Weißen konfrontiert zu werden, war ich bisher gar nicht gekommen.
„Sollen wir dann?“, fragte Josh lächelnd.
„Wohin denn?“
„Na, zu den Kindern. Wohin sonst? Ich möchte dir gerne Janna vorstellen.“
„Janna? Wer ist Janna?“
Adam beobachtete aus dem Augenwinkel, wie Josh mit der Neuen das Gelände verließ. Schon wieder eine Praktikantin, die keine Ahnung hatte. In letzter Zeit hatte Mara immer wieder schlechte Mitarbeiter angeschleppt, weil sich einfach nicht mehr so viele meldeten wie früher.
Sie schien eine typische weiße Tussi zu sein und passte überhaupt nicht hierher. Im Gegensatz zu Janna, die sich dank Josh sehr schnell eingelebt hatte, wirkte Chrissie vollkommen fehl am Platz.
Hübsch war sie. Auch wenn das Blond sicher nicht echt war, stand es ihr sehr gut und brachte ihre porzellanfarbene Haut noch besser zur Geltung. Warum mussten weiße Frauen immer so zerbrechlich aussehen? Afrikanische Frauen waren da ganz anders und Adam nahm sich vor, dass er unbedingt mal wieder seine Schwester besuchen musste.
Erneut sah er Chrissie hinterher. Sie hatte eine tolle Figur. Das musste man ihr lassen, doch vermutlich war sie eine dieser Blondinen, die zwar klasse aussahen, aber nichts im Kopf hatten. An diesem Typ Frau hatte er überhaupt kein Interesse und er nahm sich vor, so weit wie möglich Abstand von ihr zu halten. Weiße Frauen machten nur Ärger und Ärger konnte er beim besten Willen nicht gebrauchen.
Janna
„Melody. Come here. Right now.“
Ich stemmte die Hände in die Hüften, als das kleine Mädchen mit schuldbewusster Miene zu mir gelaufen kam.
„Did you take the food from the table?“, fragte ich auf Englisch und gab mir Mühe, so streng wie möglich dabei zu wirken. Ich wusste, dass die Kinder alle Hunger hatten, aber wir konnten es trotzdem nicht dulden, dass sie deshalb anfingen zu stehlen. Sie bekamen alle etwas zu essen, aber sie mussten sich einfach gedulden, bis es so weit war.
Melody sah mich mit großen Augen an und verstand offensichtlich nicht, was ich von ihr wollte.
„Kari. Könntest du kurz für mich übersetzen?“, fragte ich auf Englisch und unsere Küchenhilfe kam heraus.
„Melody“, sagte sie überrascht. „Hat sie etwas ausgefressen, Janna?“
Ich schüttelte den Kopf. Melody war Karis Tochter und ich wollte auf keinen Fall, dass sie sich meinetwegen eine Ohrfeige einfing. Aber man musste ja trotzdem über so etwas reden.
„Alles halb so wild. Aber sag ihr bitte, dass sie nicht einfach von dem Essen nehmen darf. Wenn das alle so machen, dann ist am Ende nichts mehr übrig, was man kochen kann.“
Kari übersetzte meine Worte auf Afrikaans und Melody sah mich mit großen Augen an. Sie war ein unglaublich hübsches Mädchen und gehörte eindeutig zu den Kindern, die ich am liebsten einpacken und mit nach Deutschland nehmen wollte. Aber natürlich war das nicht so einfach möglich.
Melody senkte den Blick. „Sorry“, sagte sie. „Ich … Hunger.“
Mein Herz zog sich bei dem Anblick zusammen. Hunger. Das war ein Gefühl, das ich nie wirklich hatte kennenlernen müssen und es fiel mir immer wieder schwer, nicht mein gesamtes Geld dafür auszugeben, den Kindern zusätzliche Lebensmittel zu kaufen. Das Projekt bezahlte für eine warme Mahlzeit am Tag und für einige der Kinder war das alles, was sie bekamen.
Ich strich Melody die Tränen von den Wangen und sah sie an.
„Hey. Hör mal“, sagte ich auf Englisch. „Das ist kein Grund zu weinen. Ich kann verstehen, dass du Hunger hast, aber es ist ungerecht den anderen gegenüber, wenn du dich einfach bedienst und sie noch warten müssen. Es gibt ja gleich Mittagessen, okay?“
Kari übersetzte meine Worte wieder und Melody lächelte mich an und sagte etwas auf Afrikaans.
„Sie fragt, ob sie jetzt wieder spielen gehen kann“, sagte Kari und ich nickte.
„Aber klar doch. Sie hat ja nichts Schlimmes getan.“
Ich gab dem Mädchen einen leichten Schubs in Richtung Spielplatz und sah ihr hinterher, wie sie den Gang entlang lief.
Karis Gesichtsausdruck war verkniffen. „Es tut mir wirklich leid“, sagte sie auf Englisch. „Ich werde ihr zu Hause nochmal einbläuen, dass es nicht richtig ist, zu stehlen.“
Ich sah sie erschrocken an. „Aber sei nicht zu hart zu ihr. Sie ist doch noch ein Kind. Und sie hat Hunger.“
„Aber sie darf trotzdem nicht stehlen“, beharrte Kari. „Wir haben alle Hunger. Wenn wir deswegen alle stehlen würden, wäre bald niemandes Eigentum mehr sicher.“
Mit diesen Worten wandte sie sich ab und ging wieder in die Küche. Melody tat mir leid und ich bereute jetzt schon, dass ich überhaupt etwas gesagt hatte. Die Kinder waren mir sehr wichtig und ich wollte nicht, dass eines von ihnen meinetwegen Ärger bekam.
Es hatte ein paar Wochen gedauert, bis ich mich an die Quälgeister gewöhnt hatte, aber inzwischen war es mir fast schon zur zweiten Natur geworden, mit ihnen umzugehen. Womit ich aber leider immer noch nicht so ganz zurecht kam, war das Land an sich. Die Hitze, die Armut und die Natur. Das alles erinnerte mich schmerzhaft an meine Zeit in Mexiko und vor allem im Moment, wo Josh nicht da war, musste ich wirklich aufpassen, dass meine Erinnerungen mich nicht übermannten.
Er war noch nicht lange fort, aber er fehlte mir ganz fürchterlich. Ich bereute es zwar nicht, hergekommen zu sein, aber je länger er weg war, desto mehr wurde mir bewusst, dass ich eigentlich nur seinetwegen hergekommen war. Namibia war nicht meine Welt. Ich gab zwar mein Bestes, um den Kindern zumindest ein bisschen zu helfen, aber ein Teil von mir freute sich jetzt schon darauf, bald wieder nach Hause zu kommen. Hier gab es einfach zu viel, was schlechte Erinnerungen bei mir wachrief und ohne Josh war es besonders schlimm. Ich konnte nur hoffen, dass er nicht mehr lange auf sich warten ließ.
Chrissie
Als wir auf die Straße traten, stand dort zu meiner Überraschung bereits ein Wagen, der auf uns wartete.
„Hallo, Chrissie. Ich bin Martina, aber nenn mich ruhig Mara. Das machen alle hier“, begrüßte mich eine weiße Frau Mitte fünfzig mit einer großen Brille und winkte mir zu. „Steigt doch ein.“
Josh und ich taten wie geheißen und nahmen auf dem Rücksitz des Autos Platz. Es war nicht besonders bequem, aber wenn man meinem Reiseführer glauben durfte, dann gab es hier nicht annähernd so viele Autos wie in Deutschland. Ich konnte also vermutlich froh sein, dass ich nicht laufen musste. Mara drehte sich zu mir herum und lächelte mich an. „Es freut mich sehr, dich kennenzulernen, Chrissie. Schön, dass du da bist.“
„Freut mich auch. Danke.“ Ich schüttelte lächelnd ihre Hand und war glücklich, gleich zu Anfang so ein nettes Gesicht zu sehen. Mara war schlank, hatte lockiges Haar und war vollkommen ungeschminkt. Dabei hätte man aus ihrem schönen Gesicht sicher einiges machen können. Vielleicht sollte ich ihr bei Gelegenheit mal ein paar Tipps geben. Bestimmt war sie Joshs Tante, die das Kinderhaus führte und von der meine Schwester mir schon so viel erzählt hatte. Sie hatte einen englischen Akzent, sprach aber ansonsten sehr gut Deutsch.
„Wie war dein Flug?“, fragte sie und legte den ersten Gang ein. Das Auto war alt, aber offenbar noch gut funktionstüchtig und auch geländetauglich. Ich kannte mich mit Marken nicht gut aus, aber es wirkte auf mich wie ein größerer Jeep.
„Der Flug war schrecklich. Wir hatten Turbulenzen und in Deutschland schon über eine Stunde Verspätung. Ich habe den ganzen Weg hierher Blut und Wasser geschwitzt, weil ich befürchten musste, dass mein Taxi nicht auf mich wartet.“
„Ach. Wenn man das eine Taxi nicht nimmt, dann nimmt man das nächste. Es fahren immer wieder welche.“
„Aber so weit?“
Wir waren immerhin drei Stunden unterwegs gewesen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass jedes beliebige Taxi bereit war, diesen Weg auf sich zu nehmen.
„Ja, sicher. Es gibt mehrere Taxiunternehmen, die regelmäßig vom Flughafen bis nach Swakopmund fahren. Aber ich kann verstehen, dass es einen nervös macht, wenn man noch nie hier war.“
„Wie lange leben Sie denn schon hier?“
„Oh. Du kannst mich ruhig duzen und Mara zu mir sagen. Wir sind hier alle nicht so förmlich.“ Sie lächelte. „Ich lebe schon seit fast dreißig Jahren hier und muss sagen, dass ich die Arbeit mit den Kindern liebe. Es ist zwar oft hart, aber nirgendwo sonst auf der Welt wird einem so sehr bewusst, was im Leben wirklich wichtig ist.“
Ich schluckte. Ja. Das konnte ich mir gut vorstellen.
Der Weg zum Township war weiter, als ich erwartet hatte. Wir mussten durch ein trockengelegtes Flussbett und man konnte regelrecht zusehen, wie die Behausungen immer ärmlicher wurden. In der Nähe des Praktikantenhauses waren noch ein paar solide Gebäude gewesen, richtige Häuser mit schöner Fassade und Fundament, aber je weiter wir fuhren, desto baufälliger wirkte alles, bis man am Ende hauptsächlich Wellblechhütten zu sehen bekam. Überall lag Müll und man konnte kaum noch etwas sehen, weil das Auto so viel Staub aufwirbelte.
Mara und Josh unterhielten sich vorne leise auf Englisch. Akustisch konnte ich sie zwar durchaus verstehen, aber leider waren meine Kenntnisse so gering, dass ich mit der Schnelligkeit ihrer Worte nicht mithalten konnte. Während Silas so deutlich und einfach wie möglich gesprochen hatte, verwendeten Josh und Mara offensichtlich eine kanadische Variante des Englischen, was mir die Sache zusätzlich erschwerte.
Aber offensichtlich ging es um Joshs Kurztrip nach Südafrika. Ich verstand nicht viel, aber ich kapierte zumindest, dass es der Organisation an Geld mangelte. Saskia hatte so etwas Ähnliches auch erwähnt. Mara hatte finanzielle Probleme. Da sie sich hauptsächlich über Spenden finanzierte und es in Namibia sehr schwer war, an Geld zu kommen, griff sie immer wieder auf Praktikanten zurück. Aber da Namibia nicht unbedingt als sicherstes Land der Erde galt, war es immer schwieriger, Leute zu finden.
„Da wären wir“, sagte Mara plötzlich und lächelte breit. „Ich muss eben noch was erledigen, aber komme bald wieder. Wäre toll, wenn du ihr schon mal alles zeigen könntest, Josh.“
„Aber klar doch.“
Er stieg aus und öffnete mir galant die Tür. Beim Aussteigen musste ich aufpassen, dass ich nicht stolperte, denn auch hier war der Boden nicht asphaltiert. Ich rückte meine Sonnenbrille gerade und sah mich neugierig um.
Das Kinderzentrum in Toekoms war ein langes Gebäude mit einem eingezäunten Spielplatz, der durch Laken vor der Sonne geschützt war. Da wir April hatten, war es schon nicht mehr ganz so warm wie im Dezember. Trotzdem musste ich bedenken, dass die Sonne für mich sehr viel gefährlicher war als für die dunkelhäutigen Menschen, die hier lebten. Wer so helle Haut hatte wie ich, tat gut daran, sich einzucremen oder im Schatten zu bleiben.
An diesem Tag tat ich einfach beides.
„Josh! Josh! Josh!“, riefen einige kleine Kinder begeistert, sobald wir aus dem Auto stiegen, und hüpften wie verrückt um uns herum. Ich bekam sofort Angst um mein Kleid und machte unwillkürlich einen Schritt zurück. Josh hingegen schien überhaupt keine Berührungsängste zu haben. Ohne zu zögern nahm er zwei der Kinder auf den Arm und störte sich auch nicht daran, als sie ihn mit ihren staubigen Fingern betatschten.
„Hey guys. How are you?“, fragte er und drückte sie an sich.
„Fine“, riefen einige der Kinder und grinsten ihn an. Andere erzählten irgendetwas auf einer Sprache, die wohl Afrikaans sein musste und die ich noch weniger verstand als Englisch. Wirklich ärgerlich, das Ganze.
„I’m so happy to see you. Where is Janna?“, fragte Josh und ließ die Kinder wieder herunter.
Die Gesichter der Kleinen hellten sich noch weiter auf und sofort rannten einige von ihnen los und riefen Jannas Namen. Wer auch immer das sein sollte. Vielleicht eine Mitarbeiterin? Oder eine Cousine? Immerhin hatte Josh erzählt, dass Mara seine Tante war.
Dass Janna und Josh unmöglich verwandt sein konnten, wurde mir jedoch spätestens klar, als ein hellhaariges Mädchen mit staubiger Kleidung aus dem hinteren Teil des Gebäudes gestürmt kam, sich vor Freude juchzend in Joshs Arme schmiss und ihn vor aller Augen abknutschte.
Der Anblick versetzte mir einen Stich. Nicht, dass ich den beiden ihr Glück nicht gönnte oder etwa eifersüchtig war, dafür kannte ich Josh gar nicht genug. Nein. Es erinnerte mich einfach nur daran, dass ich niemanden zu Hause hatte, der bei meiner Heimkehr so fröhlich reagieren würde.
„Mein Gott, bin ich froh, dass du wieder da bist“, sagte Janna mit leuchtenden Augen.
Josh lachte. „Ich war doch nur drei Tage weg.“
„Drei Tage zu viel“, erklärte sie. „Beim nächsten Mal nimmst du mich gefälligst mit.“
„Könnte sich machen lassen“, sagte Josh grinsend. „Immerhin haben wir Zuwachs bekommen.“
Er deutete auf mich und ich richtete mich automatisch gerader auf. Eigentlich unlogisch, dass ich vor dieser Janna das Gefühl hatte, einen guten Eindruck machen zu müssen. Sie sah schließlich auch nicht präsentabel aus. Sie trug Kleidung, die genauso gut aus dem Second-Hand-Shop hätte stammen können und war völlig verstaubt. Sie war ungeschminkt und mehrere Strähnen hatten sich aus ihrem kurzen Pferdeschwanz gelöst. Trotzdem wollte ich gerne einen guten Eindruck hinterlassen und streckte ihr die Hand entgegen.
„Hi. Ich bin Chrissie“, stellte ich mich vor.
„Janna“, antwortete die junge Frau und musterte mich skeptisch.
Ich hasste es, wenn ich so begutachtet wurde. Eigentlich hatte ich gedacht, dass solche Blicke längst meiner Vergangenheit angehörten. Die Zeiten, in denen ich ein unscheinbares Entlein gewesen war, waren längst vorbei und ich wusste wirklich nicht, was man heute an meinem Aussehen auszusetzen haben könnte.
„Sehr erfreut“, sagte Janna mit einem gequälten Lächeln und schüttelte meine Hand. „Ähm. Also … in dieser Kleidung willst du aber hoffentlich nicht hier arbeiten?“
Ich spürte, wie ich errötete und schüttelte schnell den Kopf.
„Natürlich nicht“, versicherte ich. „Ich habe auch Hosen und flache Schuhe dabei.“
Janna wirkte erleichtert und nickte. „Wunderbar“, sagte sie. „Na, dann komm mal mit. Wir führen dich rum.“
Wir gingen durch einen großen Raum, der bis auf eine Tafel vollkommen leer war. Offenbar war er für Gruppenaktivitäten gedacht. Danach kamen wir in einen kleineren Raum voll mit Tischen und Stühlen.
„Das ist der Speisesaal“, erklärte Janna. „Die Kinder bekommen hier einmal am Tag eine warme Mahlzeit. Für uns gilt das nicht. Wir bringen unser Essen selber mit und machen die Mittagspause meist draußen.“
„Auf der Straße?“, fragte ich überrascht.
Janna zuckte mit den Schultern. „Es ist eigentlich ganz nett, wenn man die Leute ein bisschen beobachten kann. Immerhin sind wir ja auch hier, um Neues über die Menschen zu lernen.“
Ich schluckte. Das war nicht ganz mein Grund gewesen, um herzukommen. Mir ging es eher darum, dass ich es zu Hause nicht mehr ausgehalten und dringend einen Tapetenwechsel gebraucht hatte. Die ständige Gefahr, Johannes oder seiner Tochter über den Weg zu laufen, war unerträglich gewesen. Inzwischen fragte ich mich allerdings, ob es nicht auch ein ausgedehnter Urlaub auf Mallorca getan hätte.
„Hier ist die Küche“, fuhr Janna unbeirrt fort und zeigte auf einen düsteren Raum, in dem zwei dunkelhäutige Frauen standen und Gemüse schälten.
„Das hier sind Kari und Lahja“, stellte Josh mir die beiden vor. „Sie sind für das Essen und für die Kindergartenkinder zuständig. Lahja gehört zu den Ovambos und Kari ist eine Damara.“
Ich schüttelte den beiden Frauen die Hand und lächelte sie an. Ich hatte mich noch nicht intensiver mit den unterschiedlichen Kulturen beschäftigt, die es in Namibia gab, aber die beiden Begriffe sagten mir zumindest etwas. Gut, dass Saskia mich gezwungen hatte, den Reiseführer mitzunehmen. Sonst wäre ich vermutlich völlig aufgeschmissen gewesen.
„Nice meet you“, sagte ich und erntete erneut einen skeptischen Blick von Janna. Ganz offensichtlich hatte ich einen Fehler gemacht und es war nicht schwer zu erraten, dass Janna besseres Englisch sprach als ich. Vielleicht hätte ich auf Saskia hören und mir sofort noch ein englisches Wörterbuch mitnehmen sollen. Na ja. Zum Glück gab es Sprachlern-Apps. Dazu musste ich nur irgendwo WLAN finden. Oder Wi-Fi. Oder wie auch immer man das hier nannte.
„It is nice to meet you, too“, sagte Lahja, die dickere und ältere der beiden Frauen, und umfasste meine Finger mit beiden Händen. Zum Glück hatte ich Desinfektionstücher dabei. Wer konnte schon wissen, was sie vorher alles angefasst hatte? Besonders sauber wirkte die Küche auf mich nicht.
„Thank you“, stotterte ich und war froh, als sie mich wieder losließ und wir weitergingen.
„Das hier ist der Schulungsraum“, erklärte Josh. „Hier machen wir meistens die Hausaufgaben mit den Kindern. Sobald wir damit fertig sind, dürfen die Kinder hier aber auch spielen. Der hintere Raum ist immer abgeschlossen. Dort befindet sich ein Kopierer. Wir haben einige vorgefertigte Arbeitsblätter, die wir mit den Kindern machen können. Wir erstellen aber auch jeden Tag welche selber. Das heißt: Wenn die Kinder keine Hausaufgaben haben, dann geben wir ihnen etwas zu tun.“
Selber? Ich hatte noch nie ein Arbeitsblatt selber gemacht. Um genau zu sein, hatte ich auch noch nie versucht, Kindern irgendetwas beizubringen. Aber so schwer konnte das ja eigentlich nicht sein.
Josh und Janna führten mich nach draußen in den eingezäunten Spielbereich für die Kinder. Es war ein sandiger Spielplatz, der komplett von einer Mauer umgeben und teilweise mit Planen überdeckt war, damit es Schatten gab. Gut. Dann würde ich mir zumindest nicht den Pelz verbrennen.
Janna sah auf die Uhr. „Es dauert noch eine gute Stunde, bis die Kinder kommen“, erklärte sie. „Möchtest du hierbleiben und sie kennenlernen? Oder bist du zu erschöpft?“
Das irritierte mich nun doch. „Aber … da waren doch gerade so viele Kinder …“
„Ja, sicher. Aber das waren die Kindergartenkinder. Die sind immer vormittags da und werden vor allem durch Kari und Lahja betreut. Unsere Schützlinge kommen erst nachmittags. Sie sind schon älter und brauchen Hilfe bei den Hausaufgaben. Außerdem versuchen wir ihren Horizont zu erweitern, indem wir ihre Sexualerziehung verbessern und sie schon von klein auf dafür sensibilisieren, wie gefährlich verhütungsloser Geschlechtsverkehr sein kann.“
Ich nickte. In Hinblick auf die Aids-Rate in Namibia klang das sinnvoll.
„Möchtest du bleiben oder bist du zu müde? Eigentlich haben wir dich ja erst ab Montag erwartet.“
„Ich fürchte, ich bin müde“, gab ich zu. „Ich würde auch gern zuerst einmal meine Kleidung auspacken und mich frisch machen.“
Ich hatte mich zwar bereits nach dem Flug in der Toilette umgezogen und mir die Zähne geputzt, aber ich brauchte dringend eine Dusche und so langsam wurden meine High Heels tatsächlich unbequem. Gut, dass ich noch Ballerinas mitgenommen hatte.
„Okay“, sagte Josh. „Ich rufe Mara an. Eigentlich müsste sie mit ihren Besorgungen inzwischen fertig sein. Dann kann sie dich bestimmt zurück ins Praktikantenhaus bringen.“
„Schwesterchen. Sag mal, was hast du dir eigentlich dabei gedacht, mich hierhin zu schicken?“, fragte ich mit dem iPad vor meiner Nase. Glücklicherweise hatte das Praktikantenhaus Internet. Es gab im Haupthaus zwar Wi-Fi, aber die Verbindung war ziemlich schlecht. Vermutlich würde das Netz zusammenbrechen, sobald man versuchte, sich mit einem zweiten Gerät einzuloggen.
„Ach, Chris“, sagte Saskia und verdrehte die Augen. „Du bist gerade mal drei Stunden da und fängst schon an, dich zu beschweren? Ich dachte, du wolltest gerne was Neues kennenlernen. Du brauchst Abstand. Von allem. Das wird dir guttun. Vertrau mir.“
Offenbar hatte meine Schwester gerade geduscht, denn ihr schwarz gefärbtes Haar steckte unter einem Handtuch und sie trug nur einen Bademantel, der allerdings so weit offenstand, dass ich die Spitzen des Tattoos auf ihrem Brustbein sehen konnte. Ich fand es immer wieder faszinierend, wie unterschiedlich wir waren, aber ich liebte sie über alles und war froh, dass ich jederzeit mit ihr skypen konnte.
„Klar wollte ich das, aber …“ Obwohl ich alleine war, senkte ich lieber die Stimme. „Die verlangen, dass man hier alles selber macht. Sogar den Pool sollen wir säubern.“
Saskia lachte laut auf. „Oh Gott, Sis. Was hast du denn erwartet? Das ist keine Ferienanlage, sondern ein Praktikantenhaus. Ich finde es mehr als großzügig, dass es überhaupt einen Pool gibt. Das ist absolut keine Selbstverständlichkeit.“
„Na ja. Wenn du mir nicht gesagt hättest, dass es ein paar Annehmlichkeiten gibt, dann hätte ich mich auch gar nicht darauf eingelassen.“
„Oh Mann. Du bist so ein Snob, Schwesterchen. Wenn man so ein Praktikum macht, dann muss man auch bereit sein, sich mal die Hände schmutzig zu machen. Wir haben doch darüber geredet.“
Das stimmte. Saskia hatte mir ziemlich genau gesagt, was auf mich zukommen würde. Trotzdem hatte ich es mir irgendwie anders vorgestellt. Klar. Putzen musste ich meine kleine Wohnung zu Hause auch. Das war nicht der Punkt. Aber hier würde ich zusätzlich den Dreck der anderen mit wegmachen müssen. Die Vorstellung fand ich schrecklich.
„Ich hab einfach das Gefühl, dass ich hier völlig falsch bin. Ich hätte nicht ohne dich herkommen sollen. Das war eine dumme Idee.“
„Ich komme doch bald nach. Dann können wir an den Wochenenden zusammen reisen und das Land kennenlernen.“
„Du bist immer so unternehmungslustig. Das bewundere ich an dir.“
Saskia lachte. „Tja. Ich bin halt gerne unterwegs. Was soll ich sagen? Matze leidet ja auch immer darunter.“
Matze war seit knapp zwei Jahren mit Saskia zusammen und ich hatte den Eindruck, dass die beiden sehr gut zusammenpassten. Matze war zwar überhaupt nicht das, was ich in einem Mann suchte, aber er schien Saskia zu geben, was sie brauchte und das war wohl das Wichtigste.
„Beschwert Matze sich denn?“
„Nein. Nie. Das ist ja das Gute bei ihm. Er ist einfach ein toller Kerl und schränkt mich überhaupt nicht ein. So was zu finden ist gar nicht so einfach.“
Ich seufzte. Das stimmte wohl.
„Wie kommst du mit deinem Englisch zurecht?“, fragte Saskia.
„Oh Gott. Frag nicht. Ich weiß wirklich nicht, wie das funktionieren soll. Du hast behauptet, dass die hier alle Deutsch sprechen.“
„Stimmt doch auch, oder? Mara spricht Deutsch, die beiden Praktikanten, von denen du mir erzählt hast, sprechen Deutsch und selbst dieser Miesepeter von einem Hausmeister kann Deutsch, auch wenn man selten in den Genuss kommt, seine Stimme zu hören.“
„Ja. Aber was ist mit den Kindern?“
„Nun. Mit denen wirst du Englisch sprechen müssen. Das stimmt. Aber die meisten sprechen die Sprache noch schlechter als du. Vor denen brauchst du dich also nicht zu schämen.“
Ich schluckte. Ich brauchte mich nicht zu schämen? Gut und schön. Aber was, wenn ich es trotzdem tat? Es war nicht so, als wenn ich in der Schule von Anfang an schlecht in Englisch gewesen wäre. Aber ich hatte den Unterricht einfach zu oft ausfallen lassen und die Sprache nie aktiv genutzt. Ich fürchtete mich immer davor, etwas falsch zu machen. Ich wollte mich nicht mit falscher Grammatik oder falscher Aussprache blamieren, also sagte ich lieber gar nichts.
„Lad dir ‘ne Englisch-App runter“, riet Saskia mir.