Barfuß durch Scherben - Hannah Siebern - E-Book
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Barfuß durch Scherben E-Book

Hannah Siebern

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Beschreibung

Luisa hat ihre Zukunft perfekt geplant, doch dann liegt plötzlich alles in Scherben. Ihre Mutter wird krank, sie streitet sich mit ihrem Freund und wacht schließlich nach einer wilden Nacht neben einem Typen auf, von dem sie nicht mehr weiß, als dass er sich einen Vornamen mit Kurt Cobain teilt. Wie ein Dieb schleicht sie sich aus seinem Bett, nur um am nächsten Tag festzustellen, dass er sie im Internet als seine neueste Eroberung darstellt. Als sie Kurt ein Jahr später zufällig auf einem Festival wiedertrifft, würde sie ihm am liebsten sofort an die Gurgel springen. Doch was sich liebt, das neckt sich und die beiden kommen einander schnell wieder näher. Was Luisa jedoch nicht ahnt: Ihr erstes Zusammentreffen damals war kein Zufall ... »Barfuß durch Scherben« Ein Roman über Liebe, Trauer und den Mut nach vorne zu blicken.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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BARFUSS DURCH SCHERBEN

HANNAH SIEBERN

Copyright © 2016 by Hannah Siebern

Am Vogelbusch 18

48301 Nottuln

Deutsche Erstausgabe 11/2015

ISBN: 9783819408151

Lektorat: Sarah Weder und Nadine d’Arachart

Cover: Casandra Krammer

Coverschrift: Claudia Kolb

All rights reserved.

No part of this book may be reproduced in any form or by any electronic or mechanical means, including information storage and retrieval systems, without written permission from the author, except for the use of brief quotations in a book review.

Erstellt mit Vellum

Für meine Freunde

Danke, dass es euch gibt

INHALT

Über den Autor

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Wie geht es weiter?

Danksagung

ÜBER DEN AUTOR

Hannah Siebern wurde 1986 in Münster (NRW) geboren und studierte an der Uni Dortmund Erziehungswissenschaft. Geschichten schrieb sie schon als Kind leidenschaftlich gerne. Ihre ersten Werke handelten von fiktiven Abenteuern, die sie mit ihren Freundinnen erlebte. Jahre später entdeckte sie dann ihre Liebe zu Fantasyromanen und schrieb mit 23 ihr erstes komplettes Buch.

Inzwischen lebt sie mit ihrem Freund, und ihrem Hund in Coesfeld (NRW).

Foto: Guido Karp www.p41d.com

„Barfuß im Regen“ ist ihr erster Liebesroman, in dem sie auch einige persönliche Erfahrungen mit eingebaut hat.

Besuchen Sie Hannah Sieberns Blog unter

http://hannahsiebern.blogspot.de/

www.nubila-roman.de

[email protected]

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KAPITEL1

April 2014

„Schau mal. Das ist eine Bild von die Heimatort von meine Opa und meine Oma“, sagte Tanju und hielt mir ein Foto vor die Nase.

Ich zog noch einmal an meiner Zigarette und nahm dann das Bild entgegen.

Tanju und ich saßen gemeinsam auf einer Wolldecke in einem Park und genossen das Wetter. Es war zwar noch zu kalt, um ohne Jacke draußen zu sein, aber in der Sonne war es wirklich schön.

„Das ist also China?“, fragte ich und drückte geistesabwesend meine Zigarette aus. Dann strich ich über das Bild.

Es waren ein Mann und eine Frau mit eindeutig asiatischen Gesichtszügen zu sehen, die nebeneinander standen und in die Kamera lächelten. Beide trugen runde Hüte und weite Kleider. Im Hintergrund waren ein Fluss und kleine Häuser mit spitzen Dächern zu sehen, vor denen Kinder saßen und angelten.

„Deine Großeltern sehen nett aus.“ Ich lächelte.

„Oh ja. Sie seien sehr nett“, bestätigte Tanju. „Und Tai O Village ist eine sehr schöne Dorf.“

Ich hatte es längst aufgegeben, Tanju die deutsche Grammatik zu erklären und korrigierte ihn daher nicht. Im Prinzip hatte ich damit aufgehört, als er angefangen hatte, mir Chinesisch beizubringen. Da war mir nämlich bewusst geworden, wie unterschiedlich unsere Sprachen waren und dass es für ihn sicherlich genauso schwierig war, Deutsch zu lernen, wie für mich Chinesisch. Allerdings war das kein Grund, die Flinte ins Korn zu werfen. Im Gegenteil. Es motivierte mich sogar, besser zu werden. Wenn ich irgendwann flüssiger chinesisch sprach als Tanju deutsch, dann hatte ich ihn zumindest in einer Disziplin geschlagen. In allen anderen war er mir nämlich haushoch überlegen.

„Ich kann nicht glauben, dass es schon nach den Ferien losgeht“, sagte ich fröhlich. „Meine Freundinnen machen dann ihr Abitur oder eine Ausbildung und ich bin auf der anderen Seite der Welt und lerne eine völlig andere Kultur kennen. Ich wette, in China werden mich alle Leute anstarren.“

Tanju lachte. „In die kleine Dorf von meine Großeltern vielleicht. Aber sicher nicht in Hong Kong. Du nicht bist die erste hübsche blonde Mädchen in die Hauptstadt. Tut mir leid, Lu-Isa.“

Lu-Isa. Er sprach meinen Namen immer so komisch aus und mein Herz machte einen Hüpfer, wie immer, wenn Tanju etwas Lustiges tat oder sich mir gegenüber liebevoll verhielt.

„Sage mal. Musst du heute gar nicht zu die Schule?“

Ich winkte ab. „Heute haben wir nur noch Sport und Geschichte. Geschichte ist langweilig und sportlich genug bin ich auch.“

Tanju schnalzte mit der Zunge. Die Missbilligung in seinem Blick war mir nur allzu gut bekannt, aber ich wusste, dass er mir nicht wirklich böse sein konnte. Wir waren seit fast einem halben Jahr zusammen und er hatte sich in dieser Zeit niemals respektlos mir gegenüber verhalten oder war unhöflich gewesen.

„Ich wollte die Zeit, in der du noch da bist, lieber mit dir verbringen“, erklärte ich. „Ich finde es schade, dass du schon so bald fliegen musst. Kannst du wirklich nicht bleiben, bis ich auch mitkann? Es sind doch nur noch ein paar Monate.“

„Ich würde gerne bleiben, Lu-Isa. Aber das geht nicht. Ich muss zurück, aber ich werde dich vermissen an jede einzige Tag.“

Ich lächelte und legte eine Hand auf Tanjus Wange. Er war so typisch chinesisch. Oder zumindest war er genauso, wie ich mir Chinesen immer vorgestellt hatte. Er war kaum größer als ich, hatte kurzes schwarzes Haar und ein attraktives, rundliches Gesicht. Er war schlank und hatte schmale braune Augen, die durch seine Brille etwas größer wirkten. Außerdem war er hochintelligent, sympathisch und pflichtbewusst. Meistens jedenfalls.

Als Tanju sich vorbeugte kam ich ihm automatisch entgegen. Ihn zu küssen war schön. Nicht so übermütig und unbeholfen wie bei den Jungen, die ich vor ihm geküsst hatte, sondern bedächtig und gekonnt. Seine Lippen waren warm und ich rückte näher an ihn heran.

„Lu-Isa. Du schmeckst wie eine Aschenbecher“, beschwerte Tanju sich und ich grinste.

„Ich werde dich auch vermissen“, flüsterte ich.

Tanju war mein erster richtiger Freund und ich konnte es überhaupt nicht erwarten, endlich mit ihm zusammen sein Land zu erkunden. Meine Schwester Janna war nach der Mittelstufe in Mexiko gewesen und machte zurzeit mit ihrem neuen Freund ein Praktikum in Namibia. Aber was war das schon im Vergleich zu China?

„Ich freue mich schon so darauf, deine Welt kennenzulernen“, sagte ich voller Begeisterung und Tanju lächelte.

„Hast du keine Angst vor die Heimweh?“

Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte keine Angst. Was sollte ich schon vermissen? Meine langweiligen Eltern oder meine Schwester, mit der ich mich ohnehin nur herumstritt? Meinen kleinen Bruder, der die meiste Zeit vor dem Computer saß oder meine Klassenkameradinnen, von denen die meisten jetzt ohnehin die Schule wechselten oder eine Ausbildung anfingen? Die Einzige, die ich vielleicht vermissen würde, war meine beste Freundin Kiki. Aber die wohnte schon lange nicht mehr in Dülmen und wir sahen uns ohnehin nur einmal im Monat. Wenn wir uns ein Jahr lang bloß schreiben konnten, dann war das schon in Ordnung.

Ich konnte mir wirklich nicht vorstellen, dass es ansonsten irgendetwas geben könnte, das mir besonders fehlen würde.

* * *

Als ich zu Hause ankam, stand Mama in der Küche und machte Marmorkuchen. Ich hüpfte an ihr vorbei und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

„Hallo, Mami“, rief ich kaugummikauend und hoffte, dass ihr nicht auffallen würde, dass ich geraucht hatte. Sie hasste es, wenn ich das tat, aber ich hatte mich einfach viel zu sehr daran gewöhnt, um es wieder aufzugeben.

„Hallo, Schätzchen“, sagte Mama und klang etwas kurzatmig. Offenbar war das Kuchenbacken ganz schön anstrengend, denn ihr standen Schweißperlen auf der Stirn. Nicht, dass ich mich mit so etwas ausgekannt hätte. „Wie schön, dass du wieder da bist. Wie war es bei Tanju?“

„Toll. Er hat mir Fotos von China gezeigt.“ Ich beugte mich über die Teigschüssel und steckte den Finger hinein, um zu naschen.

„Finger weg“, sagte meine Mutter sofort und gab mir einen Klaps auf die Hand. „Sonst ist ja nachher nichts mehr übrig.“

„Schmecken tut es aber jetzt schon“, sagte ich grinsend und leckte den Teig ab.

„Ach, Schätzchen. Da sind rohe Eier drin. Das bekommt dir nicht.“

Ich zuckte mit den Schultern, setzte mich an den Tisch und griff nach einer Wasserflasche. Ich wollte sie gerade ansetzen, als meine Mutter sie mir abnahm und mir ein Glas vor die Nase stellte.

„Daraus wollen andere Leute auch noch trinken, Mäuschen. Wie wäre es mal mit ein bisschen Rücksichtnahme?“

Ich verdrehte die Augen, goss mir aber gehorsam ein und trank aus dem Glas.

Als ich es wieder abgestellt hatte, berührte mich plötzlich etwas Feuchtes an der Hand und ich quiekte vor Schreck wie ein angestochenes Schwein. Sofort polterte es unter dem Tisch und ein schwarzes Fellknäuel taumelte darunter hervor.

„Himmel. Nun erschreck mich doch nicht so“, sagte Mama und hielt sich eine Hand an die Brust. „Das ist doch nur Cindy. Du kennst sie doch.“

„Ja. Aber sie war schon seit Wochen nicht mehr hier, sondern immer bei Joshs Granny.“ Josh war der Freund meiner Schwester Janna und seine Großmutter hatte sich bereit erklärt, in Jannas Abwesenheit auf ihren alten Hund aufzupassen. Daher hatte ich nicht damit gerechnet, sie plötzlich wieder hier zu sehen.

„Granny wollte ein paar Tage verreisen und hat uns gebeten, Cindy solange zu übernehmen. Das ist doch auch kein Problem. Sie macht nun wirklich nicht viel Arbeit.“

„Naja. Zumindest nicht, solange sie ihre Windel trägt.“

Cindy war seit einiger Zeit inkontinent und hinterließ überall nasse Flecken. Es musste schrecklich sein, so wenig Kontrolle über die eigene Blase zu haben. Ich konnte mit Hunden nicht viel anfangen. Trotzdem hatte ich Mitleid mit der struppigen alten Cindy, wenn sie sich völlig irritiert umsah, weil sie wieder einmal eine Pfütze hinterlassen hatte, obwohl sie ihr Leben lang stubenrein gewesen war. Vermutlich hatte sie Angst vor Schelte.

„Gibt’s irgendwas Neues von Janna?“, fragte ich und tätschelte dem alten Hund den Kopf.

Meine Schwester war inzwischen seit zwei Monaten in Namibia und ich beneidete sie darum mit jeder Faser meines Herzens. Die Fotos, die sie schickte, waren der Wahnsinn. Natürlich taten mir die Waisenkinder leid, um die sie sich kümmerte, aber gleichzeitig faszinierte mich die Wildheit der Natur dort. Die Weite der Wüsten und die Vielfalt der Tiere. Wer bekam schon die Möglichkeit Elefanten, Giraffen und Löwen in freier Wildbahn zu beobachten? Hoffentlich würde ich in China auch ein paar exotische Tiere sehen.

„Sie hat heute Morgen geschrieben, dass sie mit Josh und ein paar anderen Leuten eine Reise zum Etosha Nationalpark machen wird. Sie schreibt von einer Chrissie und ihrem Cousin Alexander, die zur Zeit im selben Projekt arbeiten. Das klingt alles sehr aufregend“, gab meine Mutter zu und klang dabei wieder ein wenig atemlos. „Habe ich dir jemals erzählt, dass ich selbst schon mal in Afrika war?“

Überrascht schüttelte ich den Kopf. Das hatte ich nicht gewusst. Um genau zu sein, fiel es mir sehr schwer, mir Mama an einem anderen Ort als bei ihrem Job im Krankenhaus oder vor dem Ofen vorzustellen. Dass sie ein Leben vor uns Kindern gehabt haben könnte, wollte mir einfach nicht in den Kopf.

„Ich war mit deinem Vater in Südafrika. Wir haben dort ein Jahr lang gearbeitet, bevor wir wieder nach Deutschland gekommen sind. Er als Lehrer und ich als Krankenschwester. Zurückgegangen sind wir erst, als ich festgestellt habe, dass ich schwanger war. Neun Monate später kam dann Janna zur Welt.“

Aha. Das war ja mal wieder klar. Janna war in einem exotischen Land gezeugt worden. Ich hingegen vermutlich ganz geziemt im trauten Ehebett. Es war so typisch, dass sie mir selbst in solchen Dingen etwas voraus hatte. Ich war froh, dass es Tanju gab, denn dank ihm würde ich bald auch eine ganze Menge zu erzählen haben.

„Toll“, sagte ich mit gespieltem Enthusiasmus. „Das war doch sicher spannend.“

„Allerdings“, erwiderte sie und hustete leicht. „Mir taten nur die ganzen hungernden Kinder leid. Mir war mein kleiner Wohlstandsbauch noch nie so peinlich.“

Wie automatisch sah ich an ihr herab, wo ihr kleiner Bauch inzwischen zu einem etwas größeren geworden war. Sie war nicht fett, aber mit ihren ausladenden Hüften auch nicht unbedingt schlank. Ich war froh, dass ich diese Anlage nicht geerbt zu haben schien, denn trotz meiner Vorliebe für Gummibärchen war ich immer noch dünner als die meisten meiner Freundinnen. Ich machte allerdings auch regelmäßig Sport und aß gerne Salat.

Mama füllte den Teig in eine Napfkuchenform und schob ihn dann in den vorgeheizten Backofen. Danach holte sie tief Luft und begann plötzlich richtig zu husten.

Zuerst dachte ich, sie würde sofort wieder aufhören, aber als es immer schlimmer wurde, sprang ich auf und führte sie zu einem Stuhl.

„Mami? Alles okay?“, fragte ich besorgt.

„Wasser …“, sagte sie abgehackt. „Ich … brauche … Wasser.“

Da mein Glas bereits leer war, griff ich schnell nach der Flasche und öffnete sie. Diesmal beschwerte Mama sich nicht darüber, dass ich kein Glas verwendete, sondern nahm mir die Flasche sofort aus der Hand, um zu trinken.

Sie atmete noch ein paar Mal schwer, bevor ihre Brust sich wieder regelmäßiger hob und senkte.

„Geht’s?“, fragte ich ernsthaft besorgt und überlegte, ob ich ihr auf den Rücken hätte klopfen sollen.

Sie nickte und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ja. Danke dir, mein Schatz. Es geht schon wieder …“

Sie atmete noch ein paar Mal durch und ich betrachtete sie skeptisch.

„Bekommst du eine Erkältung?“

Es war eigenartig, Mama so zu sehen. Sie war nie krank. Zumindest hatte sie uns Kinder das nie spüren lassen. Wir hatten für sie immer an erster Stelle gestanden, allen voran natürlich Janna als ihr Lieblingskind. Aber auch mich und Max hatte sie stets umsorgt.

„Ich fürchte, ja.“ Mama räusperte sich und trank noch einen Schluck aus der Flasche. „Grundgütiger. Ich hatte für einen Moment das Gefühl, gar keine Luft mehr zu bekommen.“

„Hm. Vielleicht solltest du dich mal ein paar Tage krankschreiben lassen.“

„Ach, Unsinn. So schlimm war es auch wieder nicht. Ich muss mich einfach nur eine Weile ausruhen. Würdest du vielleicht nach dem Kuchen sehen?“

Ich verzog den Mund. „Ich wollte eigentlich noch mal los und mit ein paar Freunden was trinken gehen. Tanju kommt auch und es sind ja jetzt seine letzten Tage in Deutschland, also …“

„Ja ja. Schon gut. Ich stelle mir einfach einen Wecker“, sagte Mama und ich strahlte sie an.

„Danke, Mami. Du bist die Beste.“ Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange und hüpfte dann die Treppe hoch.

Morgen würde es ihr bestimmt wieder besser gehen.

KAPITEL2

Juli 2014

Es gab Momente in meinem Leben, die ich sicherlich nie vergessen würde, und der Moment, in dem Mama mir mitteilte, dass sie ernsthaft krank war, gehörte definitiv dazu.

„Du hast Krebs?“, fragte ich ungläubig und meine Mutter nickte.

„Lungenkrebs“, sagte sie mit erstickter Stimme.

„Aber wie kann das sein?“, fragte mein kleiner Bruder Max neben mir. „Du rauchst doch gar nicht.“ Er war so blass, wie ich ihn noch niemals zuvor gesehen hatte, und ein Teil von mir wollte ihn am liebsten packen und von hier fortbringen, damit er sich diese Lügen nicht anhören musste.

Lungenkrebs. Das konnte nicht sein. Das war überhaupt nicht möglich.

„Lungenkrebs kann man auch kriegen, wenn man nicht geraucht hat. In meinem Falle bin ich mir aber nicht sicher, ob es nicht doch an den Zigaretten liegen könnte.“ Mama senkte den Blick. „Ich habe früher geraucht. Ich habe angefangen, als ich noch jünger war als du, Max. Gute Güte. Ich habe geraucht wie ein Schlot, bevor ich schwanger geworden bin. Aber ich hätte doch nie erwartet, dass …“ Ihre Stimme versagte und sie holte keuchend Luft.

„Es ist nicht deine Schuld, Mama“, sagte meine Schwester Janna und drückte ihre Hand. „Der Arzt hat doch gesagt, Rauchen wäre nur einer der möglichen Gründe. Es könnte genauso gut sein, dass du auch krank geworden wärst, wenn du nie geraucht hättest.“ Sie war erst gestern frühzeitig aus Namibia wiedergekommen und wirkte noch ziemlich erschöpft. Ob das aber an der Reise oder an den niederschmetternden Neuigkeiten lag, war schwer zu sagen.

„Ja. Aber man weiß es nicht genau.“ Mama schluchzte. „Ich wünschte, ich hätte niemals damit angefangen. Ich wünschte, ich wäre vernünftig gewesen, als man mir damals sagte, wie gefährlich Zigaretten sind. Ich wünschte … Oh Gott. Ich wünschte, das wäre alles nur ein Albtraum, aus dem ich einfach aufwachen könnte.“

„Seit wann weißt du es schon?“, fragte ich.

Mama sah mich an. „Dir ist ja sicher schon aufgefallen, dass ich in letzter Zeit häufig krank war …“

Ich biss mir auf die Unterlippe. Richtig aufgefallen war es mir eigentlich nicht. Nachdem Tanju fortgegangen war, hatte ich mich wochenlang in Selbstmitleid gesuhlt und mich regelrecht dazu zwingen müssen, weiter zur Schule zu gehen. Ich vermisste ihn schrecklich und hatte im Prinzip nur noch darauf hingelebt, endlich nach China fliegen zu können, daher konnte ich nicht behaupten, dass ich Mamas Problemen sonderlich viel Aufmerksamkeit gewidmet hätte.

„Meine Atemschwierigkeiten sind immer schlimmer geworden, obwohl ich wirklich versucht habe, mich zu schonen, also war ich vor zwei Wochen in der Klinik. Letzte Woche ist es dann bestätigt worden“, sagte Mama weiter, und es fiel mir schwer, ihr richtig zuzuhören. „Ich habe …“ Sie brach ab und schluchzte auf.

Ich sah, wie Papa ihr einen Arm um die Schulter legte und sie an sich zog. Er war genau so blass wie sie.

„Letzte Woche?“ Ich horchte auf. „Du weißt es schon seit letzter Woche und hast mir nichts davon gesagt?“

„Ich wollte es euch allen zusammen sagen“, erklärte Mama und sah mich um Verständnis bittend an.

„Ach ja? Aber Janna wusste es natürlich eher, stimmt’s?“

„Lu. Was soll das?“ Janna sah mich tadelnd an. „Mama hat uns gerade erzählt, dass sie schwer krank ist. Da wäre es doch nun wirklich nicht zu viel verlangt, wenn du einmal beim Thema bleibst. Natürlich hat sie es mir gesagt. Sonst wäre ich ja bestimmt nicht vorzeitig aus Namibia wieder gekommen.“ Mehr an unsere Eltern gewandt fügte sie hinzu: „Josh wäre am liebsten auch hier, aber er muss noch etwas länger bleiben, um die neuen Praktikanten einzuarbeiten. Er fliegt her, sobald er kann.“

Janna war immer so vernünftig. Oder zumindest das, was sie selbst als vernünftig betrachtete. Es gab immerhin auch Ausnahmen, wie ihre derzeitige Frisur zeigte. Ihr helles Haar, das sie normalerweise zu einem langweiligen Pferdeschwanz trug, hatte sie in Namibia zu eng anliegenden Zöpfen flechten lassen, die ihren kompletten Kopf zierten. Es sah ungewohnt aus und ließ sie, genau wie ihre braungebrannte Haut, exotischer erscheinen als sonst.

„Aber … was machen wir denn nun?“, fragte Max, der mit der ganzen Situation völlig überfordert zu sein schien.

Automatisch griff ich nach seiner Hand und drückte sie. Max und ich hatten als Kinder fast alles zusammen gemacht. Ich hatte ihn dazu genötigt, mit Barbiepuppen zu spielen und er hatte mich dazu gebracht, Fußball auszuprobieren, was inzwischen zu meinen absoluten Lieblingssportarten zählte. In den letzten Jahren hatten wir uns etwas voneinander entfremdet, aber er stand mir trotzdem erheblich näher als Janna, die sowieso immer alles besser wusste.

„Eure Mutter braucht eine Chemotherapie.“ Papa und sah uns ernst an. „Leider wurde der Krebs nicht direkt im Anfangsstadium erkannt, daher stehen die Chancen …“ Er zögerte. „Die Chancen stehen sehr schlecht, Max.“

„Lu. Du weißt, was das für dich bedeutet, oder?“, fragte Janna und sah mich ernst an. Cindy lag zu ihren Füßen, wie sie es in den letzten zwölf Jahren immer getan hatte und das machte es realer, dass sie wirklich wieder da war.

„Was meinst du?“ Ich war irritiert.

„Du wirst deinen Trip nach China verschieben müssen. Tanju wird das sicherlich verstehen.“

„Bitte was?“ Sprachlos sah ich sie an. Bei all dem Gerede über Krebs war mir trotz allem nicht in den Sinn gekommen, dass Mamas Krankheit irgendeinen Einfluss auf meine eigenen Pläne haben könnte. Mama ging es schlecht. Okay. Aber warum sollte ich deswegen nicht nach China fliegen? Sie würde doch wieder gesund werden, oder? Sie musste wieder gesund werden. Alles andere war undenkbar.

„Es handelt sich bei dem Tumor um ein kleinzelliges Bronchialkarzinom“, erklärte Janna. „Mama hat mir die Unterlagen gezeigt und ich habe mich im Internet ein bisschen schlau gemacht. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Chemotherapie anschlägt und der Tumor verschwindet, liegt nur bei circa fünf Prozent.“

Ich fühlte, wie mir der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Fünf Prozent? Das bedeutete, dass die Chemo nur bei fünf von einhundert Menschen wirkte? Das war ja unglaublich wenig. Mein Hals wurde eng und ich spürte Übelkeit in mir aufsteigen.

Wie war das nur möglich? Letzte Woche war doch noch alles in Ordnung gewesen. Oder etwa nicht? Ich hatte ganz normal mit Mama gesprochen und es war ihr gut gegangen. Fein. Sie war etwas abwesend gewesen und hatte ab und zu gehustet, aber das? Dass Mama sterben könnte, lag so weit außerhalb meines Vorstellungsvermögens, dass ich es einfach nicht glauben wollte.

„Wie … wie lange noch?“, krächzte ich. Ich wollte es eigentlich nicht wissen. Ganz sicher nicht. Aber ich musste es trotzdem erfahren, weil es wichtig war und weil es zu den Dingen gehörte, die man einfach wissen musste, wenn die eigene Mutter plötzlich Krebs hatte.

Janna öffnete den Mund, aber ich schüttelte den Kopf.

„Nein. Ich muss das von Mama hören.“

Mama nahm den Kopf von Papas Schulter und sah mich mit Tränen in den Augen an. Sie räusperte sich. „Wenn … wenn die Chemo nicht anschlägt, dann … Also. Der Arzt hat gesagt, dann habe ich höchstens noch zwölf Monate zu leben.“

* * *

„Ich kann nicht einfach hier bleiben.“ Aufgebracht lief ich in meinem Zimmer auf und ab und warf willkürlich irgendwelche Kleidungsstücke in meinen Koffer. „Ich muss nach China. Und zwar am besten sofort.“

Janna widersprach mir nicht. Sie war die Einzige, die mir gefolgt war, als ich völlig kopflos aus dem Wohnzimmer gerannt war, um meine Klamotten zu packen und zu verschwinden.

„Vergiss nicht, frische Unterwäsche mitzunehmen“, sagte Janna zuvorkommend und deutete auf die Schublade, in der ich meine Slips aufbewahrte.

Grimmig funkelte ich sie an, zog dann energisch die Schublade heraus und schmiss haufenweise Slips in meinen Koffer.

Eigentlich hatte ich vorgehabt, erst nächste Woche zu packen. Es war eine lästige Aufgabe, die ich erst in letzter Sekunde hatte erledigen wollen. Aber auf einmal konnte es mir gar nicht schnell genug gehen. Vielleicht konnte ich ja in irgendeiner Jugendherberge unterkommen, bis mein Flug ging. Das wäre doch eine Möglichkeit, denn mit Sicherheit war alles besser, als hierzubleiben und darauf zu warten, dass … dass …

„Wie kannst du eigentlich so ruhig bleiben?“, pfefferte ich Janna entgegen. „Wie bringst du es über dich, neben Mama zu sitzen und ihr das Knie zu tätscheln? Wie? Ich verstehe es einfach nicht.“

Ich sah, wie Jannas selbstbewusste Fassade zu bröckeln begann und sie schluckte.

„Wie ich das mache?“, fragte sie. „Indem ich mich daran erinnere, dass nicht ich es bin, die krank ist, sondern Mama. Indem ich in den sauren Apfel beiße und an sie denke statt an mich. Ich würde ja auch gerne den nächsten Flieger zurück nach Namibia nehmen, aber das werde ich nicht tun. Und weißt du, warum, Lu? Weil ich Mama liebe und weil ich in dieser schlimmen Zeit bei ihr sein will.“

„Aber was ist, wenn … wenn …?“

„Wenn sie stirbt?“

Ich nickte.

„Wenn sie stirbt, dann werde ich an ihrem Grab stehen und weinen. Genau wie du. Aber ich werde froh sein, dass ich die Zeit genutzt habe, in der sie noch da war. Und wenn du jetzt gehst, Lu, wenn du wirklich nächste Woche in dieses Flugzeug steigst und Mama stirbt, während du in China bist, dann wirst du das dein Leben lang bereuen.“

„Das ist nicht fair“, sagte ich und merkte, wie die Tränen anfingen, mir die Wangen hinunter zu laufen. „Das ist einfach nicht fair. Du warst in Mexiko. Du warst in Namibia. Und wenn ich zum ersten Mal in meinem Leben etwas alleine machen will, dann passiert so etwas Schreckliches.“

Mir war klar, dass das für Janna egoistisch klingen musste. Aber ich war einfach so verzweifelt, dass ich irgendein Ventil brauchte, um meine Gefühle herauszulassen. Mir war alles recht, solange ich die Wahrheit nicht an mich heranlassen musste. Die Wahrheit, dass Mama krank war. Richtig krank. Und dass wir sie möglicherweise verlieren würden.

Oh Gott. Wie sehr wünschte ich mir, dass Tanju jetzt bei mir wäre.

Janna stand auf und zog mich in ihre Arme. Das hatte sie das letzte Mal getan, als ich noch ein kleines Mädchen gewesen war, aber ich ließ es trotzdem geschehen.

„Du hast Recht“, gab sie zu. „Es ist nicht fair. Nicht für dich, nicht für mich und nicht für Max oder Papa. Aber vor allem ist es nicht fair für Mama. Und alles, was wir tun können, ist ihr beizustehen und so viel Zeit wie möglich mit ihr zu verbringen. Willst du das nicht auch?“

Ich vergrub mein Gesicht an Jannas Brust und schluchzte laut auf. „Nein“, sagte ich. „Das will ich nicht. Ich will, dass Mama wieder gesund ist und ich will nach China zu Tanju. Ich will, dass alles wieder so ist, wie es … wie es noch vor ein paar Tagen war! Aber ich fürchte, dass es scheißegal ist, was ich will, oder?“

„Ja“, bestätigte Janna. „Dieses eine Mal ist es tatsächlich scheißegal.“

KAPITEL3

Fünf Bier, sechs Tequila mit Zitrone und drei Wodka Red Bull waren eindeutig zu viel Abwechslung für einen Abend gewesen. Das wurde ihm schlagartig klar, als morgens um acht Uhr sein Handy klingelte und es sich anfühlte, als würde sein gesamter Kopf zerspringen.

Allein schon, damit es aufhörte, krabbelte er über sein Bett, bis zu dem kleinen Tischchen, und griff nach seinem Smartphone.

„Hallo?“

„Bist du betrunken?“

„Wer will das wissen?“

„Jemand, dem du noch einen Gefallen schuldest.“

Oh. Scheiße.

„Bist du noch dran?“

„Ja, ja. Natürlich. Ich bin ganz bei dir.“

„Gut. Du musst nämlich dringend etwas für mich tun.“

* * *

Ich rannte, so schnell ich konnte. Ich fühlte mich schwerelos, spürte den Boden unter meinen Füßen kaum und legte noch einen Zahn zu, als ich die Kurve hinter mir gelassen hatte und das Ziel wie im Tunnelblick vor mir sah.

Ich spürte die Schmerzen in den Muskeln meiner Beine, als ich das letzte bisschen aus mir herausholte und die finalen Meter hinter mich brachte. Ich passierte die Ziellinie und rannte weiter, bis ich die Bank mit unseren Sachen erreichte und mich dort auf den Rasen fallen ließ.

Luft. Ich brauchte so dringend Luft. Jeder Atemzug tat weh und ich fühlte mich, als müsste ich jeden Moment sterben, aber das Adrenalin, das gleichzeitig durch meinen Körper rauschte, machte das alles wieder wett.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Kiki endlich bei mir ankam und sich neben mich fallen ließ. Im Gegensatz zu mir schwitzte sie so gut wie gar nicht und wirkte auch kaum außer Atem. Ihre pink gefärbten Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst und ihr Körper war ein echtes Kunstwerk. Ihre Arme und ein Teil ihres Oberkörpers waren von den unterschiedlichsten Tattoos übersät: Blumen, Figuren, Schriftzüge und Tiere in den unterschiedlichsten Farben. Ich hatte tatsächlich das Gefühl, seit unserem letzten Treffen wären wieder ein paar neue dazu gekommen.

„Puh. Das war anstrengend“, verkündete Kiki und strich sich eine Strähne hinters Ohr.

Sie war ein bisschen rot im Gesicht, während ich vermutete, dass ich selbst inzwischen vollkommen blass war, weil ich mich dermaßen überanstrengt hatte.

„Du hast aber auch ein Tempo vorgelegt“, warf Kiki mir vor. „Das ist ja nicht zu fassen. Wolltest du mir irgendwas beweisen?“

Ich antwortete nicht. Selbst wenn ich es gewollt hätte, hätte ich es nicht gekonnt. Dafür war ich immer noch viel zu sehr außer Atem. Ich ließ den Kopf auf dem Rasen liegen und konzentrierte mich darauf, mich wieder zu beruhigen.

Meine Brust schmerzte schrecklich und je mehr ich daran dachte, dass Mama ein solches Gefühl inzwischen ständig durchmachen musste, desto schlimmer fühlte ich mich.

„Hey. Alles in Ordnung bei euch?“, fragte in diesem Moment eine angenehm dunkle Stimme und jemand beugte sich über mich.

Ich sah ihn nur verschwommen und schüttelte den Kopf. Es war verdammt warm heute und mir war übel.

„Hier. Trink das“, befahl die Person und drückte mir eine Wasserflasche in die Hand.

Ich gehorchte, trank ein paar Schlucke und kippte mir etwas Wasser übers Gesicht.

„Danke“, keuchte ich, setzte mich auf und wollte die Flasche zurückgeben. Sofort wurde mir wieder schwindelig.

„Behalt sie“, sagte die Stimme. „Ist schon okay. Und bleib gefälligst liegen, solange du so weiß bist.“

Ich gehorchte, ließ mich wieder zurücksinken und protestierte auch nicht, als der Fremde meine Beine hochnahm und auf die Bank legte. Wie entwürdigend. Aber zumindest ließ nun das Schwindelgefühl wieder nach.

„Trink noch etwas“, forderte der Kerl mich auf und ich gehorchte. „Du hast dich überanstrengt. Das ist ganz eindeutig.“

„Hm. Ja. Das ist typisch Isa“, sagte Kiki. „Warum sollte man sich auch zurückhalten, wenn man es doch schaffen könnte, den nächsten Weltrekord aufzustellen? Bloß keine Bescheidenheit. Wozu soll die schon gut sein?“

Erst nach einer gefühlten Ewigkeit traute ich mich wieder, die Augen zu öffnen und meinen Retter anzusehen, der im Gegensatz zu meiner Freundin Kiki genau richtig gehandelt hatte.

Der Typ hatte rötliches Haar, braune Augen und ein unverschämt attraktives Gesicht mit einer leicht schiefen Nase und einem Bartschatten, der ihm unheimlich gut stand.

„Geht’s besser?“, fragte er besorgt und sah mich dabei skeptisch an.

Sofort klopfte mein Herz wieder schneller. „Ja. Danke“, sagte ich. „Das war wirklich nett von dir.“

Als ich die Beine von der Bank nehmen wollte, schüttelte der Kerl den Kopf.

„Bleib lieber noch liegen“, riet er mir. „Es kann eine Weile dauern, bis du wieder ganz auf dem Damm bist.“

„Oho. Da spricht wohl jemand aus Erfahrung“, sagte Kiki und klimperte mit den Wimpern. „Mit wem haben wir denn hier überhaupt die Ehre?“

„Oh, stimmt. Ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Kurt“, sagte er und streckte mir die Hand entgegen. Er sprach den Namen englisch aus, sodass er sich eher anhörte wie Kört. Ob er wohl auch Sänger war, wie sein Namensvetter Kurt Cobain? Nirvana gehörte zu meinen absoluten Lieblingsbands, auch wenn die Gruppe schon seit Ewigkeiten nicht mehr existierte. Ihre Musik war einfach toll.

„Luisa“, erwiderte ich und nahm bei der Begrüßung wahr, dass seine Hände rau und schwielig waren. Offenbar arbeitete er viel damit.

„Ich bin Kiki“, sagte meine Freundin und schüttelte Kurts Hand. „Wie kommt es denn, dass du hier einfach auftauchst und die Lage rettest? Ist das ein Hobby von dir?“

Kurt grinste und entblößte dabei zwei Reihen ebenmäßiger Zähne. Ob er als Jugendlicher wohl auch eine Zahnspange getragen hatte, so wie ich bis vor zwei Jahren? Oder war ihm das erspart geblieben?

„Ich trainiere hier“, erklärte Kurt. „Ich wollte eigentlich nur eine Runde joggen, als ich diesen Megasprint von Luisa gesehen habe. Das war wirklich beeindruckend. Ich glaube, ich habe noch nie ein Mädchen so schnell rennen sehen.“

„Pfft. So schnell rennt ja auch kein normales Mädchen“, sagte Kiki und drehte eine ihrer pinken Locken um den Finger. „Ich habe es schon nach den ersten zehn Metern aufgegeben, mit ihr mithalten zu wollen.“

„Das …“, japste ich. „Das liegt daran, dass du dich ohnehin nur bewegst, wenn es unbedingt sein muss. In deinem engen Sportdress könnte ich auch nicht rennen.“

„Hey. Man sollte auch beim Sport gut aussehen“, verteidigte Kiki sich. „Man weiß schließlich nie, wem man noch begegnet.“

Sie warf Kurt einen vielsagenden Blick zu und ich hätte am liebsten die Augen verdreht, wenn ich nicht befürchtet hätte, dass mir dadurch wieder schwindelig werden könnte.

„Gab es einen bestimmten Grund für diese Geschwindigkeit?“, fragte Kurt. „Wolltest du unbedingt deinen eigenen Rekord brechen oder so?“

„Dafür hätte sie ja jemanden haben müssen, der die Zeit stoppt“, feixte Kiki. „Nein. Da hatte jemand einfach Lust, sich mal richtig zu verausgaben.“

Ich sagte nichts. Kiki hatte recht. Ich war einfach nur gerannt, um des Rennens willen. Die Sache mit Mama und Tanju war mir über den Kopf gewachsen und daher hatte ich Kikis Angebot, das Wochenende bei ihr in Gronau zu verbringen, gerne angenommen. Ich brauchte Abstand von der ganzen Sache und musste mir über einige Dinge klar werden.

„Rennen hat auch therapeutische Funktion“, gab Kurt zu. „Wenn ich irgendwelche Probleme habe, dann mache ich auch gerne Sport, um mein inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Ich kann dich also gut verstehen.“

Ich versuchte mich an einem Lächeln, scheiterte aber kläglich.

„Ich glaube, ich kann jetzt langsam wieder aufstehen“, sagte ich dann und nahm die Beine von der Bank. Ich hatte keine Lust, vor diesem gutaussehenden Kerl noch länger als notwendig auf dem Boden herumzuliegen. Das war mir wirklich zu peinlich.

„Bist du sicher?“, fragte Kurt und runzelte skeptisch die Stirn.

„Ja. Das geht schon“, versicherte ich ihm und richtete mich auf.

Mein Kopf war zwar immer noch nicht ganz klar, aber zumindest drehte sich nicht mehr alles um mich herum.

Er half mir auf und ich kam nicht umhin, die Muskeln unter seinem Shirt zu bewundern. Er war wirklich gut gebaut. Das musste man ihm lassen.

Da ich mich trotz aller Worte etwas wacklig fühlte, setzte ich mich direkt auf die Bank und lehnte mich zurück.

„Besser. Viel besser. Kann ich mich irgendwie revanchieren?“

„Hm. Du könntest mir einen Drink ausgeben“, schlug er vor und grinste mich dabei an. „Das wäre doch mal was. Immerhin hast du mein Wasser vollkommen ausgetrunken.“

Sofort wurde ich rot, was immerhin besser war, als komplett weiß zu sein. Ein Date? Ich hatte gerade keuchend vor ihm auf dem Rasen gelegen und war so verschwitzt, wie man nur sein konnte, und trotzdem fragte mich dieser gutaussehende Fremde nach einem Date? Selbst wenn ich keinen Freund gehabt hätte, wäre mir ein solches Verhalten völlig unverständlich gewesen.

„Tut mir leid“, begann ich. „Aber ich …“

„Aber sie ist leider ein bisschen verklemmt“, beendete Kiki schnell meinen Satz. „Komm doch einfach zu der Geburtstagsparty von meinem Bruder heute Abend. Ich geb dir die Adresse. Um 21 Uhr geht es los.“

Kurt lächelte. „Wird Luisa denn auch da sein?“

„Natürlich wird sie da sein. Wie soll sie dir denn sonst bitte schön einen Drink ausgeben?“

„Kiki …“, versuchte ich dazwischen zu kommen.

„Keine Widerrede. Mein Bruder freut sich, wenn auch ein paar neue Gesichter dabei sind.“

Sie kramte in ihrer Handtasche, fand Zettel und Stift und schrieb ihre Adresse auf.

„Hier“, sagte sie. „Und sei pünktlich. Sonst ist nachher nichts mehr zu essen da.“

Kurt nahm den Zettel entgegen und steckte ihn ein. „Aber sicher doch.“ Er grinste. „Das werde ich mir auf keinen Fall entgehen lassen. Wir sehen uns dann später.“

Mit diesen Worten stand er auf, nickte mir noch einmal zu und ging wieder joggen.

„Was sollte das, Kiki?“, fragte ich, sobald Kurt außer Hörweite war. „Du weißt doch genau, dass ich einen Freund habe.“

„Du schon. Aber ich nicht“, verkündete sie.

„Ach. Und du glaubst, wenn er zu der Party kommt, dann wird er sich ganz plötzlich nur noch für dich interessieren und mich vollkommen in Ruhe lassen, ja?“

„Kommt drauf an. Wenn du nachher in denselben Klamotten auf der Party auftauchst wie jetzt, dann stehen meine Chancen gar nicht so schlecht.“

Ich schlug mir die Hand vors Gesicht und stöhnte.

„Komm“, sagte ich dann. „Wir sollten nach Hause gehen. Sonst bleibt mir am Ende wirklich nicht mehr genug Zeit, um mich zu duschen.“

„Aha. Du findest ihn also doch interessant?“

„Denk, was du willst. Auf jeden Fall habe ich keine Lust, mich vor allen zu blamieren. Die Aktion gerade eben hat mir eindeutig gereicht.“

„Ach. Nun stell dich doch nicht so an. Ich hab ja immer gesagt, du könntest auch ungeschminkt und in Lumpen die tollsten Typen aufreißen. Gerade hat sich mal wieder gezeigt, dass ich damit vollkommen recht habe.“

Ich schüttelte nur den Kopf und antwortete nicht darauf. Stattdessen nahm ich die fast leere Wasserflasche und ging los. Mir war klar, dass Jungs auf mich super reagierten. Das war schon seit der Grundschule so. Ich bekam ständig Zettel zugesteckt, ob ich mit einem von ihnen gehen wollte, und hatte fast immer einen Freund gehabt. Bis ich Tanju kennengelernt hatte, war allerdings nie mehr als Küssen und Fummeln gelaufen.

Kiki raffte ihre Sachen zusammen und folgte mir. Erst, als wir den Sportplatz verlassen hatten, brach sie wieder das Schweigen.

„Was willst du wegen Tanju jetzt eigentlich machen?“, fragte sie und ich zuckte unmerklich zusammen.

„Ich habe keine Ahnung“, gab ich zu. „Ich … ich werde wohl mit ihm über die Sache mit Mama reden müssen.“

„Du wirst doch jetzt nicht fliegen wollen, oder?“

„Ob ich fliegen will?“ Ich schnaubte. „Oh ja. Und wie ich das will. Am liebsten sofort und ohne zu zögern.

---ENDE DER LESEPROBE---