Beast Changers, Band 1: Im Bann der Eiswölfe - Amie Kaufman - E-Book
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Beast Changers, Band 1: Im Bann der Eiswölfe E-Book

Amie Kaufman

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Beschreibung

Wecke das Tier in dir: Bist du Eiswolf oder Feuerdrache? Als sich die 12-jährige Rayna umzingelt von Eiswölfen in einen Feuerdrachen verwandelt, muss sie fliehen – schließlich sind Wölfe und Drachen seit jeher erbitterte Feinde. Was Rayna nicht ahnt: Ihr Zwillingsbruder Anders ist ein Eiswolf. Undenkbar in der Welt der Tierwandler! Während Anders von nun an dazu ausgebildet wird, Feuerdrachen zu jagen, hat er in Wahrheit ein ganz anderes Ziel vor Augen: die uralte Feindschaft zwischen Wölfen und Drachen zu brechen – und seine Schwester zu retten ... Entdecke alle Abenteuer der "Beast Changers"-Trilogie: Band 1: Im Bann der Eiswölfe Band 2: Im Reich der Feuerdrachen Band 3: Der Kampf der Tierwandler

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2019 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag GmbH © 2019 Ravensburger Verlag Originaltitel: Elementals: Ice Wolves © 2018 by HarperCollins Publishers Published by arrangement with HarperCollins Children’s Books, a division of HarperCollins Publishers. Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Hannover. Umschlaggestaltung: Frauke Schneider unter Verwendung von Motiven von © RedGreen/Shutterstock Vignette im Innenteil: Adobe Stock/acr23 Übersetzung: Britta Keil Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, 88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-47972-6

www.ravensburger.de

Widmung

Für meine zauberhafte Meg,die mich verwandelt hat

1

Rayna führte sie zielstrebig in die falsche Richtung. Anders folgte ihr durchs Gedränge, wobei er in seiner Hast beinah mit einer Frau und ihrem Korb voller glitzernder Fische zusammenstieß. Der Gestank hüllte ihn wie eine Wolke ein. Er schlug einen Haken und rannte weiter hinter Rayna her durch einen steinernen Torbogen.

„Rayna, wir …“

Doch Rayna war schon um die Ecke gebogen und flitzte nun knapp vor einem mit Fässern beladenen Karren, der von zwei rotbraunen Ponys übers Kopfsteinpflaster gezogen wurde, über die Helstustrat. Anders trat ungeduldig von einem Bein aufs andere, bis der Karren vorbeigerumpelt war, dann nahm er die Verfolgung wieder auf. „Rayna!“

Er wusste, dass seine Schwester ihn gehört hatte, denn sie warf ihm ein breites Grinsen über die Schulter zu. Aber langsamer lief sie trotzdem nicht, und ihr dicker schwarzer Zopf peitschte beim Rennen hin und her. Ihm blieb also nichts anderes übrig, als sie einzuholen. Wie immer.

„Rayna!“, rief er wieder, als sie abermals abbogen – und die Straßensperre erblickten. Sie bestand aus mehreren Wachen in grauen, wollenen Uniformen.

Rayna machte sofort auf dem Absatz kehrt, rannte zurück zu Anders und packte ihn am Arm, um ihn in die Gasse zu zerren, aus der sie gekommen waren.

Anders ließ sich gegen die kühle Steinmauer sinken. Sein Herz raste. Das war knapp!

„Wachen“, stieß Rayna hervor und zog ihren Mantel straff.

„Ich weiß!“, erwiderte er. „Sie stehen in allen Straßen im Norden der Stadt und kontrollieren jeden, der vorbeikommt.“

Rayna spähte noch einmal um die Ecke. „Aber wieso? Ist etwa wieder ein Drache gesichtet worden? Oder haben sie die Wachen bloß verstärkt, weil morgen die Hadda-Prüfung stattfindet?“

„Erst letzte Nacht ist wieder ein Drache am Himmel gesehen worden“, antwortete Anders. „Ich habe gehört, wie sich die Leute heute Morgen in der Taverne darüber unterhalten haben, als wir vom Dach geklettert sind.“ Er verkniff sich zu erwähnen, dass Rayna von der Unterhaltung nichts mitbekommen hatte, weil sie zu sehr damit beschäftigt gewesen war, ihn in ihre Pläne für den heutigen Tag einzuweihen. „Der Drache soll sogar Feuer gespuckt haben.“

Das brachte selbst Rayna kurz zum Schweigen.

Seit zehn Jahren waren Drachen aus Holbard verschwunden gewesen, doch nun tauchten sie wieder am Himmel auf. Vor einem halben Jahr hatten Anders und Rayna selbst einen Drachen gesehen – beim Fest zur Tagundnachtgleiche. Der Drache hatte reines weißes Feuer gespuckt, während er über der Stadt gekreist war, und war dann in der Dunkelheit verschwunden. Eine Stunde später brannten mehrere Ställe im Norden der Stadt lichterloh. Drachenfeuer war verheerender und bösartiger als gewöhnliches Feuer, denn seine weißgoldenen Flammen breiteten sich viel schneller aus und ließen sich nur sehr schwer löschen.

Als die Gebäude zu Asche verbrannt waren, war der Drache längst fort gewesen – und mit ihm der Sohn der Bauernfamilie, der über den Ställen gewohnt hatte. Drachen raubten immer wieder Kinder – die schwachen, die kränklichen und die wehrlosen. Es gab zahllose Geschichten darüber.

„Vielleicht denken die Wachen ja, dass der Drache von gestern Nacht noch hier ist und menschliche Gestalt angenommen hat, um heimlich die Stadt auszuspionieren“, sagte Anders. „Oder dass er vorhat, noch mehr Häuser niederzubrennen.“

Rayna schnaubte verächtlich. „Ach so, und falls jemand weiß, wo die Drachen sich versteckt halten, wird er es den Wachen einfach so erzählen, nur weil sie ihn danach fragen.“

Anders nickte und senkte die Stimme: „Ich gebe es zu, verehrter Herro“, ahmte er den Tonfall eines braven, geständigen Bürgers nach, „ich verstecke tatsächlich ein paar Feuerdrachen auf meinem Dach, weil ich nämlich bei lebendigem Leib geröstet werden will und mir auch die Sicherheit meiner Mitmenschen keinen Kupferling wert ist. Ich hatte deswegen schon die ganze Zeit ein schlechtes Gewissen und hätte mich gern jemandem anvertraut, aber ich wusste nicht, wem.“

„So wird dir wenigstens warm“, erwiderte Rayna kichernd und trat mit der Fußspitze gegen einen matschigen Schneehaufen.

Ihr Gekicher vertrieb seine Angst, so wie jedes Mal, und mit normaler Stimme sagte Anders nun: „Wer keine Fragen stellt, bekommt auch keine Antworten.“ Doch obwohl er lächelte, jagte ihm allein das Wort jedes Mal einen Schauer über den Rücken: Feuerdrachen. Sie waren das Einzige, wovor sich jeder in Holbard fürchtete – ganz gleich, ob er nun Einheimischer oder Händler aus Übersee war. Und nun machten täglich neue Gerüchte die Runde, vor den Toren der Stadt solle es wieder Drachen geben. Es hieß, erst vor wenigen Tagen hätten sie einen ganzen Bauernhof niedergebrannt, mitsamt seinen Bewohnern darin.

Rayna riss ihn aus seinen Gedanken. „Wie weit nach Süden müssen wir, wenn wir die Wachen umgehen wollen?“, fragte sie.

Um Holbards Wächter machten die Geschwister ganz instinktiv einen großen Bogen, denn Wächter stellten gern unangenehme Fragen – wo ihre Eltern seien oder warum Rayna und Anders ganz ohne Aufsicht eines Erwachsenen umherstreunten.

„Mindestens zehn Straßen“, antwortete Anders. „Ein paar der Wachen waren in Wolfsgestalt, und ich fürchte, die können deine Angst riechen.“

„Zehn Straßen? Das ist ja ein Riesenumweg bis zum Trelligplatz! Mensch, Anders! Warum hast du denn nichts gesagt, wenn du genau wusstest, dass wir in die falsche Richtung laufen?“ Rayna stemmte empört die Hände in die Hüften.

„Na ja, ich …“, begann er, doch er verstummte gleich wieder. Vielleicht hätte er sich wirklich noch mehr anstrengen müssen, Rayna dazu zu bringen, ihm zuzuhören. Nun war es irgendwie auch seine Schuld, dass sie so weit vom richtigen Kurs abgekommen waren. „Tut mir leid“, sagte er schließlich, doch da war Rayna schon wieder losgelaufen – diesmal in südliche Richtung.

„Wir nehmen den Weg über die Dächer“, entschied sie.

Anders war groß und schlaksig, Rayna klein und kräftig. Abgesehen von den schwarzen Locken und der braunen Haut hatten die Zwillinge äußerlich nicht viel gemeinsam. Weil Anders der Größere von beiden war, hob er zuerst seine Schwester hoch, damit sie sich an der Regenrinne aufs Dach hinaufziehen konnte. Dann stieg er auf ein Fass und kletterte hinterher.

Oben angekommen, ließ er den Blick über Holbards ausgedehnte Dachwiesen schweifen. Jedes Stück Wiese war mindestens zwanzig Häuser lang und zwanzig Häuser breit, mit mehr oder weniger steilen Anhöhen und Abhängen – je nachdem, wie schräg die bewachsenen Dächer waren.

Hier und da sprossen leuchtende Wildblumen, in den Dachrinnen wuchsen rote Fentilien, und gelb-weiße Flammenblumen neigten sich im Wind, genau wie die Kräuter, die jemand gepflanzt hatte, dessen Dachfenster groß genug war, um hinauszuklettern und sein Gärtchen zu hegen.

Dank der Straßenkinder von Holbard gab es fast überall dort, wo die Wiesenstücke nur durch ein schmales Gässchen und nicht durch eine breite Straße voneinander getrennt waren, Holzplanken, die man wie eine Brücke benutzen konnte. So war es möglich, die halbe Stadt zu durchqueren, ohne auch nur einen Fuß auf die Straße zu setzen.

Anders und Rayna rannten über die Wiese mit ihren Gipfeln aus Dachgiebeln, und es dauerte nicht lange, bis sie den Trelligplatz erreicht hatten. Er war zwar nicht so groß wie manch anderer Platz in den nobleren Vierteln oder der Platz unten am Hafen, aber er wimmelte immer von Kauflustigen.

Direkt unter ihnen drängten sich mindestens hundert Leute um ein paar Stände, die alles feilboten, was das Herz begehrte: Blumen und frische Eier, gebrauchte Kleidung und heiße Würstchen im Brot.

Auf dem Hausdach gegenüber entdeckten sie Jerro, einen dunkelhaarigen Jungen mit dunklen Augen, dessen käseweiße Haut von einer dicken Dreckschicht überzogen war. Jerro war ungefähr im selben Alter wie sie. Er war ein geübter Taschendieb und meistens mit einigen seiner Brüder unterwegs, die allesamt aussahen wie eine kleinere Version seiner selbst. Er beobachtete Anders und Rayna eine ganze Weile, dann wandte er sich ab. Wahrscheinlich war er zu dem Schluss gekommen, dass die Zwillinge keine Gefahr darstellten.

Unten auf dem Platz wurde ein Puppentheater aufgebaut. Man wollte noch eine letzte Vorstellung geben, bevor die Dämmerung hereinbrach. Während die Puppenspieler die große Holzkiste zusammenzimmerten, hinter der sie sich während des Spiels verstecken konnten, lockte eine selbst spielende Harmonika die Zuschauer an: Sie saugte den Wind ein und spuckte Töne aus. Das Instrument war ein Artefakt – eine Konstruktion, die mithilfe magischer Energie betrieben wurde – und war wahrscheinlich mehr wert als der ganze Rest des Puppentheaters zusammen.

Als die Harmonika verstummte, legten sich die Zwillinge auf den Bauch und spähten, den Kopf in die Hände gestützt, über die Dachkante. Die Vorstellung begann. Was die Puppenspieler sagten, konnten Anders und Rayna von oben nicht verstehen, aber sie wussten auch so, wovon die Geschichte handelte: von der letzten großen Schlacht vor zehn Jahren, als eine Horde Drachen Holbard angegriffen und die Wolfsgarde die Stadt verteidigt hatte. Da waren Anders und Rayna noch ganz klein gewesen.

Mehrere Holzfigürchen, die die Einwohner Holbards darstellen sollten, gingen fröhlich springend und tanzend ihrem Tagwerk nach, ohne zu ahnen, welches Unheil ihnen drohte. Die Puppen waren wunderschön gearbeitet – aus hellem, blank poliertem Kiefernholz oder dunklem Mahagoni –, und jede von ihnen war so einzigartig wie die Bewohner der Stadt selbst, die nun vor der Bühne standen und der Aufführung zusahen.

Anders hörte die Zuschauer unten nach Luft schnappen, als plötzlich rote Drachenpuppen auftauchten und dicht über den Menschenpüppchen schwebten. Diese sprengten in Panik auseinander und rannten auf der Bühne herum, zappelnd und wackelnd auf den Stöcken der Puppenspieler. Dann schoss einer der Drachen herab und schnappte sich die kleinste Puppe – ein Kind.

„Ich bin gespannt, wie sie …“, begann Rayna, doch weiter kam sie nicht, denn da spuckte einer der Drachen auch schon Feuer. Aber aus seinem Maul kam kein Schwall aus goldenem und weißem Stoff, wie man es sonst bei diesen Puppenspielen sah. Das hier war nicht nur irgendein billiger Budenzauber, sondern echtes Feuer! Die Flammen züngelten an den genähten Kleidchen der Puppen empor, bis sie lichterloh brannten, und Sekunden später war nichts mehr von ihnen übrig.

„Wie haben sie das Feuer so weiß gekriegt?“, flüsterte Rayna. „Und mit goldenen Funken drin? Das sah wie richtiges Drachenfeuer aus!“

„Ich glaube, mit irgendeinem Salz“, flüsterte Anders zurück. „Und mit Eisenspänen für die goldenen Funken. Das war die beste Puppenschlacht, die wir je gesehen haben.“

Die Püppchen, die vom Feuer verschont geblieben waren, wuselten nun noch panischer als zuvor auf der Bühne hin und her. Anders und Rayna reckten erwartungsvoll die Köpfe. Nach dem Angriff der Feuerdrachen war es nun Zeit für die Helden dieser Schlacht – die Eiswölfe. Eiswölfe und Feuerdrachen waren zwei uralte, verfeindete Clans, die jedoch eines gemeinsam hatten: Sie waren Forvandyr – Tierwandler.

Weitere Puppen in Menschengestalt erschienen auf der Bühne. Sie waren alle in Grau gekleidet.

Rayna streckte den Arm aus. „Da, die Wolfsgarde!“, rief sie.

Unten in der Holzkiste sah man die Puppenspieler eifrig herumhantieren, und im nächsten Augenblick stülpten sie ihre Puppen um. Die Innenseiten waren nun außen – und sie waren in Wolfsform genäht! Jetzt waren die Puppen nicht länger Wächter in grauen, wollenen Uniformen, sondern richtige Wölfe, die heulten und versuchten, die Drachen mit Eisspeeren zu verjagen.

Der schrille Lärm war selbst über die aufgeregten „Ah“- und „Oh“-Rufe der Zuschauer hinweg zu hören.

„Wirklich raffiniert gemacht, diese Puppen“, sagte Anders, als zwei Wolfsgardisten – keine Puppen, sondern echte, lebendige Wolfsgardisten – über den Platz patrouillierten. Der eine sah aus wie eine Puppe aus Kiefernholz, der andere wie eine aus Mahagoni. Sie nickten beifällig, als einer der Drachen von einem Speer getroffen wurde und abstürzte. Ein anderer Drache ließ die kleine, geraubte Kinderpuppe fallen. Anders verzog das Gesicht. Unter einer „Rettung“ stellte er sich etwas anderes vor, als von einem Drachen aus großer Höhe fallen gelassen zu werden. Aber was wusste er schon von solchen Dingen!

„Ja, wirklich raffiniert“, stimmte Rayna ihm zu. „Aber raffinierte Puppen besorgen mir kein Abendessen.“

Rayna zog eine Angel aus ihrem Mantel, steckte Spule und Rute zusammen und brachte sich am Rand des Dachs in Stellung. Direkt unter ihnen stand ein Würstchenverkäufer, ein hutzeliges Männchen, von dem Anders nicht viel mehr erkennen konnte als sein graues Haar und seinen dicken grünen Mantel. Rayna ließ den Haken hinunter, und als der Mann nicht hinsah, angelte sie sich eines seiner Würstchen.

Die Leute auf dem Platz staunten immer noch über den Ausgang des Spektakels und steckten den Spielern Kupfermünzen zu, während sie aufgeregt darüber diskutierten, wie es wohl gelungen sein mochte, die Drachenpuppe Feuer spucken zu lassen.

Rayna holte schnell, aber vorsichtig die Angel ein und ließ sie dann zu Anders hinüberschwenken, der das Würstchen vom Haken nahm. Dann legte er sich auf den Rücken und ließ das Würstchen durch die Luft schwimmen, als wäre es ein Fisch oder eines der Püppchen aus dem Puppentheater.

„Mit dem Essen spielt man nicht!“, rief Rayna lachend und spähte nach unten, um zu sehen, ob sich noch ein zweites Würstchen ergattern ließ. Es war eine geniale Idee von ihr gewesen, die Angel zu benutzen. Niemand, der einen Dieb suchte, schaute jemals nach oben!

Wobei es in Zeiten wie diesen natürlich durchaus vorkam, dass die Leute nach oben schauten – es könnten ja Drachen am Himmel sein! –, aber vom Dach aus zu räubern war trotzdem besser als unten auf der Straße. Dennoch mussten sie morgen wieder dort hinunter, um ein paar Münzen abzugreifen.

Anders hatte jedes Mal ein schlechtes Gewissen dabei, die Leute zu bestehlen, doch Rayna zuckte immer bloß die Schultern. „Es geht nun mal nicht anders“, sagte sie. „Jeder muss sehen, wo er bleibt.“

Mit grimmiger Miene beobachtete Rayna jetzt, wie der Verkäufer einem Kunden seine letzten Würstchen verkaufte und anfing, seinen Stand zusammenzupacken. Sie baute ihre Angel auseinander, lief zur anderen Seite des Dachs und warf einen Blick in die Gasse dahinter.

„Pssst!“, machte sie und winkte Anders herbei. „Sieh mal, das Fenster da!“

Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch ging Anders zu seiner Schwester hinüber. Ihm schwante nichts Gutes. Als er sich vorbeugte und an der Hauswand hinunterblickte, sah er ein kleines Fenster, das halb offen stand. „Vergiss es, Rayna!“, sagte er.

„Tsss, deine Beine sind lang genug!“, erwiderte sie. „Überleg doch nur mal, was alles in dem Zimmer sein könnte!“

„Ein Mensch!“, rief Anders. „Ein Mensch könnte da drin sein!“

Sie winkte ab. „So ein winziges Fenster gehört bestimmt nicht zu einem Wohnzimmer. Das wird ein Bad sein, oder die Speisekammer. Niemand wird dich sehen.“

Es gab noch ein Dutzend Gründe, warum das hier eine schlechte Idee war, aber Anders sparte sich die Diskussion. Er wusste, wie die Sache ausgehen würde – egal, was er sagte. Also reichte er Rayna stattdessen seufzend seinen Mantel und ließ sich über die Dachkante hinunter.

Den Rand des Dachs fest umklammernd, tastete er mit den Füßen nach dem Fenstersims, während Rayna ihm von oben Kommandos zuraunte. Anders stellte sich vor, was passieren würde, wenn ihn die Kräfte verließen und er loslassen musste. Aufs Kopfsteinpflaster zu stürzen, würde verdammt wehtun.

Gerade als er anfing, richtig Panik zu kriegen, spürte er den schmalen Sims unter seinen Füßen. Er ging langsam in die Hocke, bis er weit genug unten war, um sich durch das Fenster zu zwängen, sprang ab und landete mit rudernden Armen in einem kleinen Raum. Als er das Gleichgewicht wiedergefunden hatte und die Regale sah, die ringsum an den Wänden standen, atmete er erleichtert auf. Er war tatsächlich in einer Speisekammer gelandet.

Doch seine Erleichterung währte genau zehn Sekunden lang. Dann hörte er, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. Ein Luftzug fegte durch die angelehnte Tür in die Kammer hinein, und das kleine Fenster über ihm fiel knallend zu. Er wirbelte herum und wollte nach dem Griff angeln, um das Fenster wieder aufzumachen, doch im selben Moment sah er, dass es ins Schloss gefallen war. Und er hatte keinen Schlüssel.

Entsetzt starrte er auf seinen Fluchtweg, der nun keiner mehr war. Warum mussten solche Sachen immer ihm passieren?

Anders hörte, wie sich Schritte näherten, und suchte hektisch nach einem guten Versteck in dem winzigen Raum. Schließlich kauerte er sich hinter einen braunen Steinguttopf, der fast so groß war wie er selbst.

Als er den Deckel abnahm, stieg ihm der stechende Geruch nach sauer eingelegtem Gemüse in die Nase. Anders setzte sich den Deckel auf den Kopf. In der Kammer war es dunkel, und mit etwas Glück würde er zwischen den ganzen Töpfen um sich herum gar nicht auffallen. Wobei er nach eigener Erfahrung nicht gerade ein Glückspilz war.

Jemand blieb direkt vor der Speisekammer stehen. Durch den Türspalt sah Anders eine Frau. Während er selbst gerade versuchte, mit seiner Umgebung zu verschmelzen, sah diese Frau aus, als wollte sie um jeden Preis auffallen. Sie trug einen prachtvollen Hut mit üppigem Blumenschmuck der teuersten Sorte, und passend zu ihrem ausladenden, violetten Kleid, dessen Sinn offenbar darin bestand, möglichst viel Platz einzunehmen, hatte sie die braunen Wangen violett gepudert. Diese Frau war wohlhabend, keine Frage, und als sie sich vorbeugte, um sich im Flurspiegel zu begutachten und ihren Hut zurechtzurücken, reckte sie hochmütig das Kinn.

„Dama Barro, diese Schnepfe!“, schimpfte sie vor sich hin. „Und Dama Chardi erst! Denen werde ich zeigen, was eine gute Torte ist! Und dann wollen wir doch mal sehen, wer beim nächsten Wettbacken am lautesten lacht.“

Anders starrte die fremde Frau an. Führte sie etwa Selbstgespräche? Wie lange konnte das wohl noch dauern? Und wie kam er aus dieser verfluchten Kammer heraus? Wenn sie ihn hier drin erwischte, würde sie ihn garantiert der Wolfsgarde melden.

Gerade als Anders versuchte, wieder normal zu atmen, klopfte es an der Wohnungstür. Das durfte doch nicht wahr sein!

Die Frau und ihr Hut rauschten zur Tür, und kurz darauf erkannte Anders Raynas fröhliche Stimme, auch wenn er nicht verstand, was sie sagte. Eines musste man Rayna lassen: Sie stürzte sich bereitwillig in jedes Abenteuer – ob sie nun einen Plan hatte oder nicht.

Plötzlich kam die Stimme der Frau wieder näher. „Ich habe dir doch gesagt, ich will keine …“

„Aber unser Angebot gilt nur heute!“, plapperte Rayna einfach weiter und marschierte geradewegs in die Wohnung hinein. „Ein Würstchen gratis für jeden Haushalt, als Kostprobe, damit Ihr Euch selbst von der Qualität unserer Waren überzeugen könnt. Ihr werdet sehen, verehrte Dama, unsere Würstchen sind die besten in ganz Holbard, wenn nicht sogar auf ganz Vallen!“

Anders sah Rayna an der Tür zur Speisekammer vorbeilaufen, gefolgt von der Frau, die offenkundig versuchte, den dreisten Eindringling wieder loszuwerden. Wären Raynas Kleider nicht so zerschlissen und die der Frau nicht so elegant gewesen, hätten die beiden in diesem Moment glatt als Mutter und Tochter durchgehen können. Dies hier hätte ihr Zuhause sein können.

Vor lauter Tagträumerei hätte Anders fast nicht gemerkt, dass der Weg zur Wohnungstür nun frei war. Er nahm den Deckel vom Kopf und kroch hinter dem Topf hervor. Dann holte er noch einmal tief Luft und huschte aus der Speisekammer auf den Flur hinaus.

„He!“, kreischte die Frau hinter ihm, doch er rannte einfach weiter Richtung Tür.

„Lasst Euch Euer Würstchen schmecken!“, rief Rayna, ihrem Bruder dicht auf den Fersen.

Wenig später schoben sich die Geschwister durch die Menschenmenge über den Trelligplatz. Rayna warf Anders seinen Mantel zu. Bevor die Dame mit Hut es bis hinaus auf die Straße geschafft hatte, waren die beiden längst in einer Gasse auf der anderen Seite des Platzes verschwunden.

„Puh!“, machte Rayna, als sie außer Sichtweite waren. „Das war knapp. Was hast du ergattert?“

„Ergattert?“, fragte Anders verständnislos, während er sich seinen Mantel überzog. „Was meinst du damit?“

„Na, du warst doch in der Speisekammer, oder? Was hast du uns Essbares mitgebracht? Ich musste mein Würstchen hergeben, um dich da rauszukriegen. Und es war ein gutes Würstchen.“

„Ich … ich hab nichts mitgebracht“, gestand er. „Ich musste mich doch verstecken, nachdem das Fenster zugeknallt war.“

Rayna war einen Moment lang still, dann tat sie, was sie immer tat, wenn Anders etwas vermasselt hatte: Sie grinste und schlang einen Arm um seine Schultern. „Nicht schlimm“, sagte sie fröhlich. „Dafür haben wir heute ein ziemlich gutes Puppenspiel gesehen.“

Die Dämmerung brach herein, und sie wussten, dass es höchste Zeit war, sich einen Unterschlupf für die Nacht zu suchen. Zwei Zwölfjährige sollten im Dunkeln nicht alleine draußen sein. Also machten sie sich auf den Weg über die Dächer Holbards, bis sie zu einer Taverne kamen, die am Rande der Innenstadt lag. Wolfshöhle stand auf dem Schild am Eingang.

Weil sie oft kreuz und quer durch die ganze Stadt streifen mussten, um genug Essen zu erbetteln, schafften sie es abends nicht immer bis zu dieser Taverne. Aber wann immer sie konnten, übernachteten sie hier. Die Wolfshöhle war etwas Besonderes.

Im unteren Stockwerk herrschte reger Betrieb. Schon bald war jedes Fenster golden erleuchtet, und Lärm schwappte auf die Straße hinaus. Doch das Haus hatte noch zwei weitere Stockwerke, was für ein Gebäude in Holbard recht ungewöhnlich war. Außerdem stand es auf einem kleinen Hügel.

Anders und Rayna kletterten aufs grasbewachsene Dach hinauf und zogen eine ebenfalls von Gras überwucherte Luke auf, die sie vor ein paar Jahren entdeckt hatten. Darunter befand sich ein winziger Dachboden. Von drinnen kam man nicht hinauf, und der Raum war so niedrig, dass ein Erwachsener nicht einmal aufrecht darin sitzen konnte. Aber es war genug Platz für die Zwillinge, um sich zusammenzurollen, und sie mussten nicht frieren.

Immer wenn Anders sich unterm Dach der Wolfshöhle schlafen legte, kam es ihm fast so vor, als wäre er zu Hause. Dies war ihr ganz besonderer Ort – ihr Geheimnis.

Rayna quetschte sich zuerst durch die Luke. Als Anders an der Reihe war, hielt er kurz inne, um noch einen Blick über die Stadt zu werfen, bevor sie in der Dämmerung versank. Hinter der breiten Stadtmauer, die ganz Holbard umschloss, lagen die weiten Ebenen und Berge bereits im Dunkeln. In jede Richtung erstreckten sich die Dachwiesen, und im Osten sah er das Meer schimmern und die Masten der Schiffe im Hafen.

Gerade als er die Luke zuziehen wollte, hörte er ganz in der Nähe ein leises Miauen. Er wartete kurz, und ein kleiner schwarzer Schatten mit leuchtend gelben Augen kam wie aus dem Nichts angeschossen und huschte durch die Luke hinunter zu Rayna. Es war Kess, eine Katze, die nachts manchmal das Lager mit ihnen teilte, um sich an ihnen zu wärmen.

Anders zog die Luke zu, und Rayna breitete eine Decke über sie beide. Kess rollte sich zu ihren Füßen zusammen. Anders knurrte der Magen, und ganz gewiss war auch seine Schwester hungrig, aber weder sie noch er erwähnte das verlorene Würstchen. Oder die Tatsache, dass er in einer gut gefüllten Speisekammer gestanden hatte, ohne auch nur eine Sekunde daran zu denken, etwas zu essen einzustecken. Aneinandergekuschelt an ihrem geheimen Ort zu liegen, war nicht der schlechteste Ausgang für diesen Tag.

Trotzdem musste Anders noch etwas loswerden. „Danke, dass du mich gerettet hast“, flüsterte er.

„Sei nicht albern“, flüsterte Rayna zurück. „Was hätte ich denn sonst tun sollen? Ich brauch dich doch.“ Sie wühlte einen Arm unter der Decke hervor und legte ihn um Anders. „Wir bleiben für immer zusammen. Wir passen immer aufeinander auf, versprochen, ja?“

„Versprochen“, sagte er und meinte es ganz ehrlich.

Doch als sie sich hingelegt hatten und er im Dunkeln darauf wartete, in den Schlaf hinüberzudämmern, erkannte er die Wahrheit: Rayna würde ihn niemals so sehr brauchen, wie er sie brauchte.

2

Am nächsten Morgen waren Anders und Rayna schon früh unterwegs zum Hafen. Es war der Tag der monatlich stattfindenden Hadda-Prüfung – der perfekte Tag für Taschendiebe, weswegen sich die Geschwister auch keine Sekunde davon entgehen lassen wollten.

Wie sich herausstellte, war es noch aus einem anderen Grund klug gewesen, so zeitig aufzubrechen. Die Wolfsgarde hatte immer noch an jeder Straßenecke Posten bezogen, aber es waren viel mehr Wachen als sonst. Die Zwillinge mussten also wieder den Weg über die Dachwiesen nehmen. Das war zwar sicherer, dauerte aber auch länger, da die Dächer nicht auf jeder Seite durch Holzplanken miteinander verbunden waren und Anders und Rayna öfter einen Umweg machen mussten, um die Straßenschluchten zu überqueren.

Ihr Ziel, der Platz am Hafen, war an drei Seiten von schmalen, hohen Häusern gesäumt. Sie hatten farbenfrohe Fassaden in Gelb, Grün und Blau, quadratische, weiß gerahmte Fenster und glänzende Eingangstüren. Die Häuser, zwei oder drei Stockwerke hoch, standen dicht gedrängt und waren meist von mehreren Familien bewohnt.

An der offenen Seite des Platzes lag der Hafen. Von Weitem sahen die Docks mit all den Schiffsmasten wie ein Wald aus. Vallen war zwar keine große Insel, aber alle waren sich darüber einig, dass man die Hauptstadt Holbard nicht verlassen musste, um etwas von der Welt zu sehen – denn die Welt kam direkt nach Holbard. Und zwar wegen der Windwächter.

Hoch über der Einfahrt in den Hafen wölbten sich die gigantischen Metallbögen der Windwächter – das größte Artefakt von ganz Vallen. Sie hatten den Hafen seit Generationen beschützt.

In die Bögen waren Runen eingraviert – an den Runen erkannte man ein Artefakt –, und sie waren hoch genug, dass selbst noch das größte Schiff unter ihnen durchfahren konnte.

Die Wächter hielten auf magische Weise den Wind ab. Selbst wenn draußen auf dem Meer ein Sturm wütete, blieb es im Hafen friedlich still. Und weil der Hafen von Holbard somit so sicher wie kein zweiter war, kamen Menschen aus allen erdenklichen – oder auch nicht erdenklichen – Winkeln der Welt in die Stadt, um Handel zu treiben oder um hier zu leben. Soweit Anders wusste, wohnten auch in anderen Städten Menschen verschiedenster Herkunft, und dennoch herrschte wohl nirgendwo sonst eine so bunte Vielfalt wie in Holbard.

An den Docks warteten Kaufleute auf ihre Fracht, Händler und Fischer priesen ihre Waren an, und Anders und Rayna machten einmal im Monat lange Finger – am Tag der Hadda-Prüfung (und gelegentlich auch an anderen Tagen).

Die Hadda-Prüfung war ein großes Spektakel. Der Hafenvorplatz wimmelte dann immer von Besuchern, und die waren allesamt so sehr damit beschäftigt, die Zwölfjährigen auf der Bühne anzugaffen, dass sie die beiden Zwölfjährigen direkt neben sich, die eine Hand in ihre Tasche oder in ihren Korb gleiten ließen, gar nicht bemerkten.

Zwar gab es auch in ihren Heimatländern Tierwandler, aber Eiswölfe – und Feuerdrachen – gab es nur hier auf Vallen, und jeder wollte unbedingt mit eigenen Augen sehen, wie sich ein Kind in einen Eiswolf verwandelte.

Die Docks am Hafen zählten nicht unbedingt zu Anders’ Lieblingsplätzen. Etwas an diesem Ort bereitete ihm jedes Mal Unbehagen. Wenn er die Brandmale an den Holztüren der Häuser sah, die das Feuer der großen Schlacht vor zehn Jahren hinterlassen hatte, glaubte er plötzlich, Rauch zu riechen. Wenn die Leute ihn im Gedränge herumschubsten – was ihm sonst nichts ausmachte –, meinte er, einen Schrei zu hören, der abrupt verstummte. Manchmal träumte er sogar nachts davon. Anders und Rayna wussten nicht, wo sie vor zehn Jahren gewesen waren, als die große Schlacht in Holbard getobt hatte, aber vielleicht waren sie ja genau dort, an den Docks, gewesen?

Heute kletterten die Zwillinge schon eher als sonst von den Dachwiesen herunter und setzten ihren Weg zu den Docks auf der Straße fort. Am Hafenvorplatz angekommen, wehte ihnen ein köstlicher Duft entgegen. Anders erkannte ihn sofort. Irgendwo verkaufte jemand geröstete und gesalzene Veternüsse – eine echte Leckerei. Sie hatten unterwegs zwar erst zwei Kupfermünzen erbeutet, aber …

„Wie wär’s mit …“, flüsterten Anders und Rayna wie aus einem Munde, kicherten kurz und vollendeten den Satz im Chor: „… Frühstück?“

„Wenn wir es geschickt anstellen, kriegen wir nachher noch genug Geld zusammen“, sagte Rayna. „Los, komm. Ich finde, wir haben uns eine kleine Belohnung verdient.“

Dem verführerischen Duft folgend, quetschten sie sich durch die Menschenmenge, und tatsächlich entdeckten sie eine Frau in einem hellgrünen Mantel, die glänzend braune Veternüsse in einer großen gusseisernen Pfanne röstete. Unter der Pfanne brannte kein Feuer, aber dafür waren in ihren oberen Rand ringsum viele schmale Runen eingraviert. Die Pfanne erhitzte sich von selbst.

„Macht einen Kupferling pro Tüte“, sagte die Verkäuferin, als sie Anders’ und Raynas Blicke bemerkte.

„Für einen Kupferling kriegt man sonst aber immer zwei Tüten“, protestierte Rayna. „Sind das irgendwelche besonderen Nüsse?“

„Nö, aber das ist eine besondere Pfanne“, antwortete die Frau. „Sie ist ein Artefakt. Die Nüsse werden darin viel gleichmäßiger geröstet als über normalem Feuer. Ihr werdet den Unterschied schmecken. Keine einzige Nuss ist verbrannt.“

Rayna schien immer noch nicht einverstanden zu sein, aber sie hatte einen ebensolchen Heißhunger auf Nüsse wie Anders, also rückte sie die beiden Kupfermünzen am Ende doch heraus. Die Frau reichte jedem von ihnen eine große, prall gefüllte Papiertüte mit Nüssen, und sie schoben sich schmatzend weiter durch die Menge. Das Spektakel würde jeden Augenblick beginnen.

Unterwegs wichen sie einer Gruppe von vier Jugendlichen aus, die offensichtlich Schüler an der Ulfar-Akademie waren. Man erkannte sie an ihren grau-weißen Uniformen. Die vier hatten die einmal im Monat stattfindende Prüfung bereits hinter sich und würden eines Tages zur Wolfsgarde gehören.

Plötzlich wanderten alle Blicke nach vorn zur Bühne, die auf einer Seite des Platzes aufgebaut worden war. Anders konnte zwar nichts sehen, weil die Leute, die vor ihm standen, zu groß waren, aber er wusste auch so, dass die Prüfung soeben begonnen haben musste. Er leckte sich das Salz von den Fingern und stopfte die restlichen Veternüsse in seine Manteltasche.

Obwohl es Frühling geworden war und die letzten matschigen Schneehaufen am Straßenrand schmolzen, trug Anders immer noch seinen Wintermantel. Zum einen wegen der vielen Taschen, in denen er seine Beute verschwinden lassen konnte, zum anderen wegen des eisigen Windes, der immer noch wehte. Der Mantel war also durchaus zweckmäßig.

Anders und Rayna streiften am Rand der Menge entlang, wo die Leute nicht ganz so dicht standen, und hielten Ausschau nach ihrem ersten Ziel. Dabei taten sie so, als würden sie sich nicht kennen. Zwar hatten die Zwillinge dieselben schwarz gelockten Haare und dieselbe braune Haut, aber in einer Stadt wie Holbard, wo die Leute von überallher kamen, war das noch lange kein Grund, die beiden für Geschwister zu halten. Davon abgesehen sahen Anders und Rayna ansonsten überhaupt nicht wie Zwillinge aus.

Anders entdeckte eine Frau, die den Kopf in den Nacken gelegt hatte und ängstlich zum Himmel sah. Die Gerüchte über Drachen waren allgegenwärtig. Sie schien abgelenkt zu sein, und ihre teuer aussehenden Kleider versprachen fette Beute. Anders stieß Rayna an der Schulter an und deutete mit einem Nicken auf die fremde Frau.

Rayna schielte unauffällig zu ihr hinüber. Dann schüttelte sie kaum merklich den Kopf. „Reißverschlüsse“, flüsterte sie.

Anders trat einen Schritt zur Seite und warf einen verstohlenen Blick auf die Taschen der Frau. Er schnappte nach Luft. Kein Wunder, dass die Frau in den Himmel sah, statt auf ihre Taschen achtzugeben: Sie waren mit klobigen Metallverschlüssen besetzt, und an jedem Verschluss hing ein kleiner metallener Anhänger, in den ein Paar Runen eingraviert war.

Anders hätte fast nach einem Kreischer gegriffen! Sobald er den Verschluss berührt hätte, um die Tasche zu öffnen, hätte der Kreischer einen Höllenlärm veranstaltet, und Anders hätte garantiert alle Blicke auf sich gezogen. Das wäre in einer Katastrophe geendet! Wenn du einen schlechten Rat brauchst – frag Anders!

Er kaute betreten auf der Unterlippe herum, und Rayna drückte kurz seine Hand, was so viel heißen sollte wie: Mach dir nichts draus. Trotzdem überließ er es nun seiner Schwester, die nächste Zielperson auszusuchen. Er war eben nicht so gut im Leutebeklauen wie sie oder im Schlösserknacken oder in überhaupt irgendetwas, aber hier, auf diesem elenden Platz, war er der größte Versager aller Zeiten.

Rayna hatte gerade einen Händler ins Visier genommen, als die Anführerin der Wolfsgarde, Fyrstulf Sigrid Turnsen, die Bühne betrat. Dort wurde sie bereits vom Bürgermeister und zwei Mitgliedern des vallenitischen Parlaments erwartet. Sie waren in feinsten Zwirn gehüllt und mit Goldketten, den Insignien ihres hohen Amtes, behängt, doch jeder auf dem Platz – zumindest jeder Einheimische – wusste, wer dort oben auf der Bühne in Wahrheit das Sagen hatte.

Sigrid Turnsen war eine blasse Frau mit kurzen weißblonden Haaren, deren graue Uniform um ihre schmalen Schultern schlackerte. Der Mann, den Rayna als nächstes Opfer auserkoren hatte, war das ganze Gegenteil: Er war stämmig gebaut und trug ein Gewand aus dünnem, flattrigem Seidenstoff in leuchtendem Rot und Blau. Er kam eindeutig nicht von Vallen – weshalb Raynas Wahl auch auf ihn gefallen war –, denn Rot war die Farbe der Drachen, und Einheimische trugen so gut wie nie Rot.

Dem hauchdünnen Stoff und den langen, wehenden Ärmeln seines Gewandes nach zu urteilen, kam er vermutlich vom Tautropfen-Archipel, und da er sich noch keine passendere Kleidung für die kalten Winde zugelegt hatte, die über Vallen hinwegfegten, war er wohl erst kürzlich eingetroffen. Ein Neuankömmling wie er würde vermutlich vollkommen eingenommen von Sigrid Turnsen sein – und möglicherweise auch von der Sehnsucht nach einem warmen Mantel.

„Wachsamkeit lautet das Gebot der Stunde!“, schallte die Stimme der Fyrstulf über den Platz.

Obwohl Anders die Rede in- und auswendig kannte, weil er sie seit seinem sechsten Lebensjahr jeden Monat gehört hatte, wurde ihm nie langweilig dabei. Die Kraft in Sigrid Turnsens Stimme hatte einfach etwas Fesselndes. Rayna machte sich gelegentlich einen Spaß daraus, die Fyrstulf nachzuäffen. Das hätte Anders nie gewagt.

„Nach zehn Jahren des Friedens“, fuhr die Fyrstulf fort, „wollen die Drachen wieder Krieg.“ Dieser Teil der Rede war allerdings neu. Die Lage musste wirklich ernst sein, wenn die Fyrstulf offen von Krieg sprach.

„Vor zehn Jahren hat die Wolfsgarde die Drachen aus der Stadt zurück in ihre Höhlen in den Bergen vertrieben, und wir stehen bereit, dasselbe wieder zu tun. Wir wissen, in jedem von euch hier könnte Drachenblut fließen. Womöglich ist mitten unter uns ein Spion, der die Sicherheit und Ordnung auf Vallen zerstören will, die wir in zehn Jahren so mühevoll wieder aufgebaut haben.“

Anders lief ein Schauer über den Rücken, doch das lag diesmal nicht an dem Unbehagen, das er sonst immer an den Docks verspürte. Die Fyrstulf sprach jeden Monat über die Schlacht und erinnerte die Valleniten an die Gefahren, die die Wölfe ausgestanden, und an die Opfer, die sie gebracht hatten. Aber diesmal klang sie noch eindringlicher als sonst, und in ihrer Stimme lag ein Unheil verkündendes Beben.

Rayna schob sich durch die Menge und blieb direkt vor dem Händler im rot-blauen Gewand stehen, wobei sie so tat, als wollte sie sich die ausgefranste Schleife an ihrem Zopf neu binden. Sie richtete ihre kupfernen Haarnadeln, steckte eine lose schwarze Strähne zurück in den Zopf und schleuderte ihn dann schwungvoll über die Schulter. Im selben Moment warf sie eine Prise fein gemahlenen Pfeffer in die Luft. Der Pfeffer wehte dem Händler, der empört die Luft einsog, weil Rayna ihm ihre Haare ins Gesicht geschleudert hatte, genau in die Nase.

Anders’ Aufgabe bestand nun darin, zwei Finger – aber nicht den Daumen, der war zu dick – in die Tasche des Mannes gleiten zu lassen und sich am seidigen Innenfutter entlang bis zur Geldbörse vorzutasten. Als er sie gefunden hatte, zog er sie geschwind heraus und steckte sie sich in eine der vielen Taschen seines eigenen Mantels. Die Börse wog nicht viel. Wahrscheinlich waren nur ein paar Kupferlinge darin.

Anders ließ den Mann, der einen ordentlichen Niesanfall bekommen hatte, stehen und schob sich an zwei einheimischen Händlern in braunen Mänteln vorbei. Seine Schwester verschwand nach ihren Ablenkungsmanövern immer nach rechts und wartete dann auf ihn. Als er Rayna wiedergefunden hatte, machten sie sich gemeinsam auf die Suche nach ihrem nächsten Ziel.

Ihre Wahl fiel auf eine Frau in einem gelben Kleid, die gerade angeregt mit ihrer Nachbarin tratschte. Während Rayna sie höflich nach der Uhrzeit fragte, zog Anders eine kleine Geldbörse aus ihrer Tasche. Dabei achteten die Geschwister darauf, nicht ins Blickfeld der Wachen vorn an der Bühne zu geraten.

Die Wolfsgardisten, die vor dem Podium aufgereiht standen, sahen alle gleich aus: graue Uniform, Kurzhaarschnitt, zusammengekniffene Augen, die die Menge absuchten. Es schien, als wären die Gardisten hinter den Pforten der Ulfar-Akademie in ein und dieselbe Form gepresst worden und als identische Skulpturen wieder herausgekommen.

Sigrids Stimme schallte über den Platz: „All jene unter euch, die das zwölfte Lebensjahr vollendet haben und behaupten, in ihren Adern fließe Wolfsblut, dürfen nun gern nach vorn kommen und sich der Hadda-Prüfung unterziehen. Viele Valleniten berufen sich ja voller Stolz auf mindestens einen Wolf in ihrer Ahnenreihe, doch nur die wenigsten verfügen über die Gabe, sich zu verwandeln.“ Bei diesen Worten bekam Anders eine Gänsehaut. Die Gabe, von der Sigrid Turnsen sprach, konnte das Leben eines Menschen mit einem Schlag verändern. „Diese seltene Gabe“, fuhr die Fyrstulf feierlich fort, „bringt große Verantwortung mit sich. Dazu gehört die Pflicht, sich in der Ulfar-Akademie für die Wolfsgarde ausbilden zu lassen – und sich mit Leib und Seele dem Schutz Vallens zu verschreiben. Es bedeutet ein Leben als Soldat. Es bedeutet …“

Eine kräftige Sturmböe toste über den Platz und riss die Worte der Fyrstulf mit sich. Einige Zuschauer gerieten ins Wanken, andere stürzten hin. Aus allen Richtungen ertönten Schreie.

Augenblicklich wurde Anders in die Erinnerung zurückkatapultiert, die ihn an diesem Ort immer wieder heimsuchte. Menschen schrien in Todesangst, der Wind schmeckte nach Rauch. Als Rayna ihn am Arm packte, nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr.

Er wirbelte herum und sah zwischen den Schiffsmasten etwas Riesiges flattern. Da fielen ihm die Gerüchte wieder ein, die in Holbard die Runde machten, und sein Gedächtnis beschwor die Bilder des Drachen herauf, den er vor gerade mal einem halben Jahr mit eigenen Augen gesehen hatte.

In Anders’ Vorstellung verwandelte sich das geblähte Segel eines Schiffes in einen Drachen, der auf den Hafen zuflog. Doch dann flaute der Wind schlagartig ab, und Anders realisierte, dass der Drache in Wahrheit nichts als ein Stück Stoff war. Die Schreie verstummten. Während die Leute um ihn herum nach und nach wieder auf die Beine kamen, schlug ihm das Herz bis zum Hals.

„Die Artefakte funktionieren nicht mehr!“, jammerte eine Frau.

„Daran sind die Drachen schuld!“, zischte jemand anders.

Die Fyrstulf auf dem Podium ließ sich wie immer nicht aus der Ruhe bringen. „Die Windwächter müssen hin und wieder gewartet werden“, erhob sich ihre Stimme über die aufgebrachte Menge hinweg. „Diese Wartung hätte über Nacht durchgeführt werden sollen, dann wäre niemand beeinträchtigt worden. Ich bitte vielmals um Verzeihung. Und nun lasst uns mit der Zeremonie fortfahren. Wer von euch hegt den Wunsch, der Wolfsgarde beizutreten und seinen Beitrag zum Schutz unseres Volkes zu leisten?“

Unter Getuschel stiegen fünf Jugendliche in Anders’ Alter – drei Mädchen und zwei Jungen – die Stufen zum Podium hinauf. Sie trugen ihre besten Kleider, und das Mädchen am Ende der Reihe zitterte so sehr, dass Anders schon dachte, sie würde von der Bühne kippen, bevor sie den Stab von Hadda überhaupt berühren und die eigentliche Prüfung beginnen konnte. Anders zitterte nach dem Schrecken, den ihm die Windböe eingejagt hatte, selbst noch am ganzen Körper.

Unten vor dem Podium stand noch mindestens ein weiteres Dutzend Kinder an, die alle ihr Glück versuchen wollten. Die meisten von ihnen würden scheitern. In einem guten Monat gelang es zwei oder drei Kandidaten, sich zu verwandeln. Anders hatte jedes Mal Mitleid mit all jenen, die es nicht schafften.

Der erste Junge betrat das Podium und lief zur Mitte der Bühne, wo einer der Wolfsgardisten Sigrid den Stab überreichte. Sigrid nickte, und dem Jungen wich das letzte bisschen Farbe aus dem ohnehin schon blassen Gesicht, bis er so weiß war wie der feine Mantel, den er trug.

Seine Stimme bebte vor Aufregung, als er versuchte, die noch immer lärmende Menge zu übertönen: „Ich bin Natan Haugen. Mein Großvater ist Bergur Haugen, der ein Mitglied der Wolfsgarde war. Meine Urgroßmutter war Serena Andersen, die ebenfalls ein Mitglied der Wolfsgarde war. Mein Bruder, Nicolas Haugen, hat sich vor drei Jahren zum ersten Mal verwandelt und ist nun Schüler an der Ulfar-Akademie. In mir fließt das Blut der Eiswölfe, und ich bin hier, um mich der Prüfung zu unterziehen.“

Sigrid und viele Zuschauer nickten, während Natan die Fyrstulf aus dem Augenwinkel betrachtete. Obwohl er so weit weg stand, wusste Anders, dass Natans Blick auf das Amulett gerichtet war, das die Anführerin der Wolfsgarde um den Hals trug.

Bei dem Amulett handelte es sich um einen runden silbergrauen Anhänger an einem Lederband, in den ein kompliziertes Muster aus Runen eingraviert war. Es kursierten jede Menge Geschichten darüber, was solche Amulette vermochten: dass ein Wolf mit ihrer Hilfe erkennen konnte, wenn jemand log, dass sie einen Wolf so stark machten wie zehn Männer oder dass sie schlicht das einzig sichere Erkennungszeichen dafür waren, wer zur Wolfsgarde gehörte. Wozu auch immer sie dienten – Natan starrte auf den Anhänger, als wäre er seine Eintrittskarte in ein neues Leben, und in gewisser Weise stimmte das ja auch.

Es war ein Leben, wie Anders es nie führen würde. Er würde niemals auf eine so bedeutende Akademie wie die Ulfar gehen, und er würde sich auch niemals auf einen solchen Familienstammbaum berufen können. Rayna war alles, was er hatte – und das ist mehr als genug, rief er sich in Erinnerung.

Und trotzdem wünschte er sich manchmal – vor allem dann, wenn ihm der Magen vor Hunger knurrte –, er hätte Mutter oder Vater, Tanten oder Onkel oder Großeltern.

Der Junge streckte die Hand nach dem Stab von Hadda aus, dann zögerte er. Der Stab, um den sich eine metallene, mit Gravuren verzierte Spirale wand, war durch so viele Hände gegangen, dass das helle Holz am Griff ganz glatt geworden war. Der Stab von Hadda gehörte zu den bedeutendsten Artefakten auf Vallen. Nur die mächtigsten Artefakte waren nach ihren Erschaffern benannt, und für die Wölfe, die sich durch die Berührung des Stabs verwandelten, begann ein neues Leben.

Natan nahm all seinen Mut zusammen und griff nach dem Stab. Der ganze Platz hielt den Atem an. Sogar Anders und Rayna sahen gebannt zur Bühne.

Nichts geschah.

Mit pochendem Herzen beobachtete Anders, wie Sigrid Natan die Hand auf die Schulter legte und ihn dann langsam zurück zur Treppe führte. „Vallen dankt dir für deine Bereitschaft zu dienen“, sagte sie, doch als sie ihn losließ und er von der Bühne stolperte, sah sie bereits begierig auf das Mädchen, das als Nächste in der Schlange stand. Es versetzte Anders einen Stich zu sehen, wie der Junge in sich zusammensank.

Doch auch das Mädchen verwandelte sich nicht. Rayna drückte Anders’ Hand, um ihn daran zu erinnern, dass sie nicht zum Gaffen hergekommen waren. Also schoben sie sich weiter durch die Menge, erbeuteten einen Kupferling hier und zwei Kupferlinge da, wobei Rayna geschickt die Leute ablenkte, während Anders ihnen möglichst unauffällig das Geld aus den Taschen zog und sich alle Mühe gab, es nicht zu vermasseln.

Im Hintergrund ging das übliche Prozedere weiter: Ein Kandidat nach dem anderen betete zunächst seinen Stammbaum herunter, um sich als rechtmäßiger Teilnehmer an der Prüfungszeremonie zu empfehlen, und umfasste dann mit zitternden Händen den Stab von Hadda. Die Stimmung auf dem Platz wurde zunehmend gereizter, denn nicht ein einziger Kandidat auf der Bühne wollte sich von einem Menschen in einen Wolf verwandeln.

Dabei brauchte Vallen gerade jetzt mehr Wölfe, mehr Wolfsgardisten, mehr Verteidiger denn je! Doch die heutige Zeremonie hatte keinen einzigen Wolf hervorgebracht. Anders konnte sich nicht erinnern, dass es so etwas schon jemals gegeben hatte.

Er ließ seine Hand gerade in die Manteltasche eines vornehm gekleideten, hoch gewachsenen Mannes gleiten, als ein zerbrechlich wirkendes Mädchen mit gesenktem Haupt die Treppen hinunterstieg. Die Zwillinge waren ein bisschen näher an der Bühne – und ein bisschen weiter von einem Fluchtweg entfernt, als Anders lieb war. Rayna schleuderte gerade wieder schwungvoll ihren Zopf umher und rempelte dabei scheinbar versehentlich zwei Händler an, aber Anders war nicht so mutig wie Rayna, und darum zitterte seine Hand, als er nach einer allerletzten Münze tastete.

Er konnte den Blick nicht von dem Mädchen abwenden, das gerade die Bühne verließ. Sie tat ihm leid. Ihr Hemd und ihre Hose sahen sauber und ordentlich aus, aber schlicht, ein bisschen altmodisch. Höchstwahrscheinlich war sie mit ihren Eltern vom Land nach Holbard gekommen, und es würde ein langer Heimweg werden, den sie nun auch noch mit leeren Händen antreten mussten.

Anders schlang seine Finger um eine Münze, die sich schwer anfühlte – vielleicht war sie aus Silber. Doch weil er in Gedanken noch immer bei dem Mädchen war und sich ausmalte, wie es in einem quietschenden Karren und unter düsterem Schweigen nach Hause fuhr, blieb er mit dem Handgelenk am Saum der Manteltasche hängen, und plötzlich steckte seine Hand fest. Anders verfluchte sich innerlich, während er hastig versuchte, sich zu befreien, um dann blitzschnell zu verschwinden – aber es war zu spät. Der Mann drehte sich wie in Zeitlupe um, die Augen und den Mund weit aufgerissen.

„Dieb!“, brüllte er und packte Anders mit eisernem Griff am Handgelenk. Anders konnte die Münze gerade noch zurück in die Tasche plumpsen lassen, bevor der Mann ihn so grob herumzerrte, dass er fast das Gleichgewicht verlor. Nein, nein, nein! Warum musste er immer alles vermasseln?

„Dieser Junge wollte mich bestehlen!“, rief der Mann, während er Anders unter gerunzelten, dichten Brauen missbilligend musterte.

„Wollte ich gar nicht!“, protestierte Anders prompt. „Seht doch! Meine Hände sind leer!“ Weil ich die Münze eben zurück in deine Tasche fallen gelassen habe. Doch Anders wusste, dass er damit nicht davonkommen würde. Als er den Kopf hob, sah er, wie eine Wolfsgardistin von der Bühne sprang und sich durch die Menge auf ihn zuschob, und die Leute wichen zurück, als wollten sie möglichst viel Abstand zwischen sich und den vermeintlichen Dieb bringen.

„Du bist ein Dieb“, sagte der Mann beharrlich, während Anders vergeblich versuchte, nicht zu zittern, und sich zwang, nicht zu Rayna hinüberzusehen. Er durfte keinesfalls riskieren, dass sie auch noch geschnappt wurde. „Und wenn deine Hände leer sind, dann nur, weil du ein lausiger Dieb bist, Bürschchen. Tja, du wirst dir gleich wünschen, du würdest zu den weniger lausigen gehören.“

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