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Skyler Rose

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Beschreibung

England um 1910   Ich, Kate Bow, versuche nach dem Tod meiner älteren Schwester Elisabeth mein eigenes Leben wieder in den Griff zu bekommen. Dies gestaltet sich schwieriger, als ich es mir vorstellen kann, denn durch ein Feuer wird die Näherei meiner Schwester vernichtet, in der ich als Designerin tätig bin. Eines Abends steht Benjamin O'Connor, der Mann von Elisabeth, vor meiner Tür und bietet mir überraschenderweise seine Hilfe an. Er ist acht Jahre für die British-Seahorse-Company im indischen Ozean auf Erkundungsfahrt gewesen. Da er meine Schwester einfach im Stich gelassen hat und ich ihm dies nicht verzeihen kann, verhalte ich mich ihm gegenüber kühl und reserviert. Doch mit der Zeit fange ich an, ihn zu mögen. Leider findet die englische Königin ebenfalls Gefallen an ihm und in nur wenigen Wochen verwandelt sich mein Leben in ein regelrechtes Abenteuer. Was alles in meiner Heimatstadt Beaumont Castle geschieht und dass meine Schwester ein dunkles Geheimnis mit ins Grab genommen hat, erfahrt ihr hier. Und noch vieles mehr.

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Skyler Rose

Beaumont Castle

Ein neues Leben

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Beaumont Castle

Beaumont Castle

 

 

 

Teil 1

 

 

Ein neues Leben

 

 

 

 

 

Skyler Rose

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig und strafbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der Übersetzung, sind vorbehalten! Ohne ausdrückliche schriftliche Erlaubnis des Autors/Verlages darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden, wie zum Beispiel manuell oder mithilfe elektronischer und mechanischer Systeme inklusive Fotokopien, Bandaufzeichnungen und Datenspeicherung. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadenersatz. Alle im Buch enthaltenen Angaben, Ergebnisse usw. wurden vom Autor nach bestem Wissen erstellt. Die Personen und Handlung des Buches sind vom Autor frei erfunden. © Skyler Rose 2019

 

 

 

 

 

1. Kapitel

 

Schmerzlicher Verlust

 

Diese schmerzhafte Leere, die mich seit Tagen beherrscht, die in meinem jungen Körper brennt, wird sie irgendwann verschwinden? Wie viele Tränen können meine Augen noch hergeben? Ich schlucke gegen den Brechreiz an, der mich seit Tagen begleitet, wie zähflüssiger Schleim, der sich aus meinen Bronchien an die Oberfläche kämpft. Ich kann nichts essen, nichts trinken. Mein Magen ist eine reine leere dunkle Grube. Mein Herz fühlt sich wie ein verkohlter Stein an. Ich kann nicht mehr leben. Ich will nicht mehr leben.

Ein zaghaftes Klopfen an der Zimmertür erklingt. Ich reagiere nicht, liege einfach nur da.

Die Tür öffnet sich langsam und Salish lugt durch einen schmalen Spalt. „Guten Morgen, Miss Kate? Ihr müsst was essen.“

Ich antworte nicht.

Salish betritt das Zimmer, das im Halbdunkeln liegt. Sie stellt das Tablett auf dem Tisch ab, begibt sich zum Fenster und zieht mit einem lauten Ratsch die schweren blauen Samtvorhänge zur Seite.

Sonnenlicht blendet mich, worauf ich schmerzhaft aufstöhne und mir die Hände vor die Augen drücke. „Salish!“, fluche ich sie mürrisch an.

„Nichts da, Salish! Seit Tagen liegst du hier rum und verkümmerst in deinem Selbstmitleid! Deine Schwester würde sich für dich schämen! Jawohl, ich bin mir sicher, dass sie sich bereits in ihrem Grab vor Scham windet und zum lieben Herrn betet, damit du endlich zur Vernunft kommst, Miss Kate!“, haut Salish mir die harten Worte um die Ohren. Und sie hat recht damit. Ich bin schockiert über mein dämliches Verhalten.

Elisabeth hätte sich nie so gehen lassen. Sie ist immer eine Kämpferin gewesen. Hat nach dem Tod unseres Vaters, ohne mit der Wimper zu zucken, die Näherei übernommen. Und das mit großem Erfolg.

Neben dem unsagbaren Schmerz, den ich fühle, nagt in mir ein viel größeres Problem: Angst. Angst zu versagen. Zu scheitern an den kleinsten Aufgaben. Ich bin zwanzig Jahre alt und bin in der Näherei lediglich für die Entwürfe und für den Stoffeinkauf zuständig. Meine sechs Jahre ältere Schwester war eine Koryphäe in der Buchführung, in der Kundenbetreuung, einfach in allem. Allein mit ihrem charmanten herzlichen Lachen wickelte sie jeden Kunden um den kleinen Finger.

Seit zwei Jahren erlebt unsere Näherei einen regelrechten Boom. Wir haben drei weitere Näherinnen eingestellt und sogar eine größere Halle angemietet. Wir leben seitdem nicht schlecht. Ganz im Gegenteil. Wir bewohnen eine hundert Quadratmeter große Wohnung mit einer Dachterrasse. Und das im noblen Viertel von Beaumont Castle. In der Cherry-Tree-Road.

Hier stehen die einzigen Kirschbäume von Beaumont Castle. Eigentlich ist unsere Gegend für die zahlreichen Apfelbäume bekannt, und für all das, was aus der süßen Frucht hergestellt wird. Doch, wenn die Kirschblüte erstrahlt, pilgern alle Bewohner der Stadt in dieses Viertel, nur um die prachtvollen Bäume in voller Blüte bestaunen zu können. Das Viertel verwandelt sich eine ganze Woche lang in eine Feier. Es werden Buden und Stände aufgebaut, die alles Mögliche anbieten, was sich aus Kirschen und deren Blüte anfertigen lässt. Das Fest findet jedes Jahr Anfang Mai statt.

Elisabeth hat vor zwei Jahren die Idee gehabt, dass auch wir einen Stand auf dem Fest haben sollten, um für unsere Näherei zu werben. Es war ein voller Erfolg. Die wohlhabenden Bewohner von Beaumont Castle überhäuften uns mit Anfragen und Aufträgen. Wir hatten es geschafft.

Und nun ist alles vorbei. Elisabeth ist vor einer Woche an den Folgen einer Lungenentzündung verstorben.

„Ich habe dir ein Bad eingelassen. Mit Verlaub, du muffelst, Miss Kate“, dringt die tiefe Stimme von Salish in meine düsteren Erinnerungen.

Reflexartig heb ich meinen rechten Arm und positioniere meine Nase in Richtung Achselhöhle. „Bäh …“, bringe ich mit einer Grimasse hervor, als hätte ich gerade in eine Zitrone gebissen.

„Sag ich doch. Und nach dem Bad geht es dir gleich viel besser, Miss Kate.“

Ich schaffe es tatsächlich und richte mich im Bett auf. Mein kupferrotes Haar liegt zottelig um mein Gesicht und ich streiche eine nervige, kitzelnde Strähne hinter mein Ohr. „Wenn ich dich nicht hätte!“ Ich schaffe es sogar, die Bettdecke von meinem eigentlich leblosen Körper zu ziehen, und schwinge meine kalkweißen Beine über die Bettkante.

 

Fünf Minuten später liegt mein Körper im warmen Wasser. Es duftet nach Rosen und ich schließe die Augen. Die Wärme tut meiner Seele gut, meinem stinkenden Körper.

Ich drifte in einen Modus der Entspannung und bekomme nicht mit, dass Salish in der Tür steht und beschwörende afrikanische Worte in ihren Gedanken auf mich niederrasseln lässt.

… ein großer Mann erreicht den Hafen von Beaumont Castle. Ich kann sehen, wie das imposante Schiff anlegt. Der Mann trägt einen schwarzen langen Mantel aus Büffelleder. Ich kann regelrecht das lebendige Tier riechen. Er verlässt das Schiff und steuert direkt auf die Cherry-Tree-Road zu. Er bleibt vor meiner Wohnungstür stehen. Ich öffne ihm, aber ich kann sein Gesicht nicht erkennen. Es liegt im Dunklen. „Wer seid Ihr?“, höre ich meine eigene Stimme in meinen Gedanken und ich blicke ihn neugierig an.

„Ich bin gekommen, um Euch zu retten, Miss Kate“, antwortet er mit einer Stimme, die mein Herz gefrieren lässt, aber nicht vor Angst, sondern vor Leidenschaft. So tief, so besänftigend, so beruhigend.

„Sagt mir Euren Namen“, bitte ich erneut um Antwort.

„Benjamin O’Connor, ich bin Ihr …“

Er hebt langsam den Hut an und kurz bevor ich sein Gesicht sehen kann, …

Schrecke ich in der Wanne auf, worauf kleine Wellen über den Rand der Wanne schwappen. Ich wische mir das Badewasser aus dem Gesicht. Hat der Mann in meinen Träumen gerade gesagt, dass sein Name Benjamin O’Connor ist? Das kann nicht sein. Mein Puls erhöht sich schlagartig und ich rufe nach Salish. „Salish! Salish, komm sofort zu mir!“

Es dauert nicht lang und sie erscheint. „Was ist denn, Miss Kate?“

Ich blicke sie aus schmalen Augen an. „Hast du wieder diesen afrikanischen Mumpitz an mir ausprobiert?“

Salish strafft ihre Haltung und schaut mich unschuldig an. „Ich weiß nicht, wovon du redest, Miss Kate.“

Ich roll mit den Augen. Salish kann ganz schlecht lügen. „Ich hatte gerade einen seltsamen Traum.“

„Ich kann nichts für deine seltsamen Träume, Miss Kate.“

„Ich habe geträumt, dass Benjamin O’Connor vor unserer Tür steht“, fahre ich fort.

Als Salish den Namen hört, huscht ein Lächeln durch ihr Gesicht. „Er lebt. Ich wusste es.“

„Du weißt schon, dass er Elisabeth vor acht Jahren verlassen hat, um nach Asien zu reisen“, erinnere ich sie an die unverschämte und gefühlskalte Tat, die er meiner Schwester zugefügt hat.

„Miss O’Connor war damals damit einverstanden … und“, stammelt sie leise.

„Und ihr blieb ja wohl nichts anderes übrig! Er hat sie einfach von heut auf morgen verlassen“, ergänze ich ihren Satz mit wütender Stimme.

„Hat Mister O’Connor etwas zu dir gesagt, Miss Kate?“, fragt sie mich und sieht mich dabei gespannt an.

„Dass er mich retten wird. Wovor soll mich so ein Bastard denn retten? Außerdem lebt er nicht mehr … sicherlich ist er bereits Fischfutter!“, motze ich weiter.

Salish reicht mir das große Badetuch. „Mister O’Connor ist ein guter Mann, ich hab es in meinen Visionen gesehen.“

Ich entreiße ihr das Tuch. „Was du nicht schon alles in deinen Visionen gesehen hast, liebe Salish.“

Salish wendet sich von mir ab, damit ich aus der Wanne steigen kann. „Ich habe den Tod deiner Schwester gesehen, Miss Kate“, flüstert sie.

Da ist er wieder, dieser Schmerz, der wie ein spitzer Dolch in mein Herz gerammt wird. Ich schließe die Augen und nehme einen tiefen Atemzug. Ich will diesen Schmerz nicht spüren. Nicht jetzt. Und er verschwindet tatsächlich. Dafür taucht Benjamin O’Connor in meinen Gedanken auf.

Ich kann mich gar nicht mehr so richtig an den Ehemann meiner Schwester erinnern. Elisabeth hat verdammt schnell geheiratet, was mich damals gewundert hat. Aber da ich noch ein Kind war und andere Flausen im Kopf hatte, schenkte ich dem Ereignis keine große Aufmerksamkeit.

„Hattest du auch eine Vision von Mister O’Connor?“, frage ich sie und wickle das weiche Badetuch um meinen Körper.

Salish dreht sich wieder zu mir um und nickt.

Ich sehe sie fordernd an. „Ja, und was hast du gesehen?“

„Dass er lebt und zurückkommt. Mit einem großen Schiff, das mit Reichtum beladen ist.“

„Weißt du auch, wann der Abenteurer hier eintreffen wird?“ Ich hole mir ein kleines Handtuch aus dem Holzregal und wickle es wie einen Turban um mein nasses Haar.

„In ein paar Tagen, Miss Kate.“

Ich stemme die Hände in die Hüften und blicke Salish motiviert an. „Tja, dann habe ich noch etwas Zeit, mein Leben zu ordnen. Lege mir bitte das grüne Kleid heraus, ich gehe in die Näherei.“

Salish strahlt bis über beide Ohren und eilt aus dem Bad. „Jawohl, Miss Kate, das grüne Kleid, eine sehr gute Wahl.“

 

Ich bleibe auf der gegenüberliegenden Straßenseite der Näherei stehen. Wieder überrollt mich eine Welle des Schmerzes. Die Vorstellung, dass ich gleich unsere Firma betrete und Elisabeth nicht da ist, raubt mir für einen kleinen Moment den Atem. In der nächsten Sekunde lenkt mich eine Person von dem Kummer ab. An der Straßenecke steht ein großer Mann. Er trägt einen schwarzen langen Ledermantel und einen Hut.

Ist O’Connor bereits in Beaumont Castle eingetroffen? „Ich rette dich …“, erklingt die melancholische Bassstimme in meinen Gedanken. Ich blinzle mehrmals. Er ist fort. Da steht niemand. Eine Gänsehaut nimmt meinen Körper in Beschlag und ich schüttle mich, um sie loszuwerden.

„Jetzt oder nie“, sag ich zu mir selbst, straffe meine Haltung und überquere die Straße. Kurz bevor ich die Klinke berühre, halte ich erneut inne. Tränen bahnen sich einen Weg zu meinen graublauen Augen. Ich schniefe, wische sie fort und betätige die Klinke.

Dann stehe ich in der Empfangshalle und höre das Rattern der Nähmaschinen. Sofort erfüllt mich dieses Geräusch mit Mut, Kraft und Hoffnung. Ich darf die harte Arbeit, die Elisabeth in der letzten Zeit in unsere Firma investiert hat, nicht mit Füßen treten. Das hat sie nicht verdient. Die Bürotür öffnet sich und Anna, eine der Schreibkräfte, tritt in die Halle. Als sie mich sieht, erstrahlt ihr Gesicht, und ehe ich mich versehe, liege ich in ihren Armen und werde fest und voller Liebe gedrückt.

„Kate! Du bist wieder da! Jetzt wird alles gut“, sagt sie hoffnungsvoll und gibt mich wieder frei. Ich sehe, wie eine Träne über ihre blasse Wange läuft, die sie mit dem Handrücken entfernt.

„Ja, jetzt wird wieder alles gut, liebe Anna. Entschuldigt bitte, dass ich mich eine Woche lang nicht um euch gekümmert habe“, beginne ich mit einer Entschuldigung. Das ist das Mindeste, was ich machen kann.

„Aber du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen. Es ist normal, dass du die Zeit zum Trauen benötigt hast. Die Belegschaft ist zutiefst geschockt und kann den schweren Verlust noch immer nicht in Worte fassen.“

„Danke, Anna, und vielen, vielen Dank für eure liebevolle Beileidskarte. Ich habe das Gesteck auf ihr Grab stellen lassen. Es ist sehr schön. Elisabeth liebte Sonnenblumen“, bedanke ich mich.

„Sehr gern.“

Ich hole einen tiefen Atemzug. „So, dann will ich mich mal wieder auf die Arbeit stürzen. Auf meinem Zeichentisch hat sich ganz bestimmt eine Staubschicht gebildet“, scherze ich und begebe mich in mein Büro. Es sieht noch genauso aus, wie ich es vor über einer Woche verlassen habe. Wie soll es sonst auch aussehen?

Ich lege meine Handtasche zur Seite und blicke auf den letzten Entwurf, den ich gezeichnet habe. Und ich blicke und blicke. Mir fehlt die Kraft weiterzumachen. Ich halte jetzt schon seit einer Stunde den Stift in der Hand und starre auf die Zeichnung. Es ist lediglich ein grober Entwurf für eine Bluse und einen Rock, die zur Teestunde getragen werden können.

Ich schweife in meinen Gedanken ab und erinnere mich an die letzte Teestunde, die ich mit Elisabeth verbracht habe. Wir sind bei Misses Sherman eingeladen gewesen und haben ihr die Entwürfe für ihre Wunschgarderobe gezeigt. Sie wollte gleich vier Kleider. Zwei für die besagten Teestunden und zwei für das Theater.

Wir waren völlig aus dem Häuschen und alberten auf dem Rückweg zur Näherei herum. Misses Sherman war anstrengend und mäkelte an allem herum. Wir äfften ihre eingebildete Art nach.

„Kate! Wir zollen Misses Sherman unseren Respekt. Sie sichert uns durch den Auftrag unsere Miete und die Löhne“, sagte Elisabeth in einem hochnäsigen Ton und prustete in der nächsten Sekunde wieder lauthals los.

Ihr Lachen. Ich kann es noch genau hören. Es war immer so herzlich, so offen und ansteckend.

Ein zaghaftes Klopfen holt mich in die Gegenwart zurück. Ich schrecke auf und tue so, als würde ich zeichnen. „Ja, bitte?“

Anna lugt durch einen schmalen Spalt. „Darf ich?“

Ich lege den Bleistift aus der Hand und schenke ihr ein Lächeln. „Aber bitte, komm herein, Anna.“

Sie schließt nach sich die Tür und ihr Gesichtsausdruck wirkt besorgt. Sie spielt nervös mit ihren Fingern. „Mister Smith von der Beaumont Bank ist hier und wünscht dich zu sprechen. Er war schon zwei Mal diese Woche hier.“

Oh nein, der hat mir gerade noch gefehlt. Die Bankgeschäfte hat nur Elisabeth geregelt. Ich hab doch überhaupt keine Ahnung, wenn es um Geldangelegenheiten geht. Aber nu, da muss ich jetzt durch. Ich lächle mein Unbehagen fort, stehe auf und streiche meinen Rock glatt. „Ich lasse bitten.“

Anna nickt und begleitet wenige Sekunden später Mister Smith in mein Büro.

Ich trete ihm mit erhobenem Haupt entgegen und reiche ihm meine Hand. „Guten Morgen, Mister Smith. Bitte entschuldigen Sie, dass Sie mich erst jetzt antreffen. Möchten Sie einen Kaffee oder einen Tee?“, plappere ich ihn gleich voll.

Der ältere Herr nimmt den Hut ab und erwidert meinen Händedruck. „Guten Morgen, Miss Bow. Ich möchte Ihnen noch mein aufrichtiges Beileid übermitteln. Uns hat die traurige Nachricht erst vor zwei Tagen erreicht. Wenn ich es eher erfahren hätte, wäre ich nicht gekommen. Darf ich fragen, woran Miss O’Connor so plötzlich verstorben ist? Ich habe sie doch noch vor zwei Wochen in der Bank getroffen.“

Ich schlucke gegen den aufsteigenden Schmerz an und befeuchte meine trockenen Lippen. „Sie hat eine schwere Lungenentzündung gehabt.“

„Das tut mir sehr leid, Miss Bow. Ich habe bereits von mehreren Todesfällen gehört, die Aufgrund einer verschleppten Lungenentzündung geschehen sind. Es ist wohl ein sehr hartnäckiger Virus, der zurzeit durch Beaumont Castle sein Unwesen treibt“, sagt er mit belegter Stimme und spricht mit einem sanften Lächeln weiter. „Und ich sage nicht Nein zu einem Tee.“

Ich nicke Anna zu, die noch an der Tür steht. „Aber sehr gern, Mister Smith.“

„Bitte, nehmen Sie doch Platz, Mister Smith.“ Ich deute auf die kleine Sitzgruppe hin, die in meinem Büro steht.

Er setzt sich und lässt seinen Blick durch den Raum schweifen. Eine Wand ist voll mit Stoffballen von unterschiedlicher Qualität und Farben. Im nächsten Regal stehen hunderte von Gläsern, in denen sich Knöpfe befinden. Mehrere Ankleidepuppen stehen am Fenster und warten auf neue Musterkleider.

„Wie ich sehe, geht Ihr Geschäft ganz gut, Miss Bow“, stellt er zufrieden fest.

„Ja, wir … also ich kann nicht klagen.“ Ich lege eine kleine Pause ein. „In was für einer Angelegenheit möchten Sie mich denn sprechen?“

„Ihre Schwester war kurz vor ihrem Tod in meinem Büro und hat um einen neuen Kredit gebeten.“

Meine rechte Braue schnellt nach oben und ich sehe ihn überrascht an. „Einen neuen Kredit?“

„Ja. Sie wollte noch vier Nähmaschinen kaufen und so einiges in der Halle für die Arbeiterinnen modernisieren lassen.“ Meinem überraschten Gesichtsausdruck entnehmend ahnt er, dass ich nichts von dem Vorhaben meiner Schwester weiß. „Hat Ihre Schwester nichts von dem neuen Kredit erzählt?“

„Nein, dazu ist sie leider nicht mehr gekommen. Wie hoch sollte der Kredit denn sein?“

„Zehntausend Pfund.“

„Zehntausend Pfund? Das ist eine sehr hohe Summe, Mister Smith“, bestätige ich ihm mit nervöser Stimme.

„Jawohl, und da ihre Schwester leider verstorben ist und wir nicht wissen, wie sich deren Tod auf die Geschäfte auswirkt, kann ich Ihnen den Kredit im Moment nicht genehmigen, Miss Bow“, spricht er mit offenen Worten. „Zudem kommt noch, dass Sie, Miss Bow, nicht als Bezugsperson eingetragen sind, um die Geldgeschäfte Ihrer Schwester zu übernehmen. Liegt Ihnen vielleicht ein Testament vor, in dem Ihre Schwester eine Vollmacht hinterlegt hat?“

Es klopft und Anna serviert den Tee. „Mister Smith.“

„Vielen Dank.“ Er nickt ihr zu und greift umgehend zur Tasse.

„Nein. Das Testament wurde noch nicht verkündet. Und Sie haben mein volles Verständnis, Mister Smith. Darf ich einen Blick in den Kreditantrag werfen? So weiß ich wenigstens, wofür meine Schwester genau das Geld einsetzen wollte“, bringe ich mit fester Stimme hervor. Jetzt bloß keine Angst und Nervosität zeigen.

Mister Smith stellt die Teetasse zurück, hebt seine Aktentasche auf seine Knie und fischt eine braune Mappe hervor. „Aber sehr gern.“

Ich nehme die Mappe entgegen, öffne sie und lass meinen Blick darüber schweifen. Meine Augen weiten sich und mein Puls erhöht sich. Ich schlucke gegen eine Panikattacke an und reiche die Mappe Mister Smith zurück. „Vielen Dank. Meine Schwester hat wirklich etwas Größeres geplant.“

„In der Tat, Miss Bow“, bestätigt er.

Größeres war noch maßlos untertrieben! Was um alles auf der Welt hatte Elisabeth nur vorgehabt? Und warum hat sie mich nicht in ihre Pläne eingeweiht? Ich fühle mich verletzt aufgrund ihres Mistrauens. Doch es ist jetzt nicht der passende Zeitpunkt, in Tränen auszubrechen. Also nehme ich einen tiefen Atemzug und schenke dem Herrn ein zauberhaftes Lächeln. „Nun, ich danke für Ihre Offenheit und bin froh, dass meine Schwester den Kredit noch nicht erhalten hat. Ich wäre gar nicht in der Lage, dies alles …“ Ich deute auf die braune Mappe. „… umzusetzen … also, im Moment der Trauer jedenfalls nicht.“

Mister Smith nimmt einen erneuten Schluck vom Tee. „Das kann ich mir gut vorstellen.“ Er setzt die Tasse ab und steht auf. „Ich bin mir sicher, dass sich Ihre Geschäfte weiterhin großartig entwickeln werden, und sobald Sie die Vollmacht Ihrer Schwester vorliegen haben, können Sie gern den Kredit neu beantragen. Wir von der Beaumont Bank wollen jungen und aufstrebenden Geschäftsleuten keine Steine in den Weg legen.“ Er steckt die braune Mappe in die Aktentasche zurück, setzt den Hut auf und reicht mir die Hand. „Und noch mal im Namen der ganzen Belegschaft unser aufrichtiges Beileid, Miss Bow.“

 

2. Kapitel

 

Träume & Hoffnung

 

Nachdem ich Mister Smith zur Tür begleitet habe, begebe ich mich zurück in mein Büro, lass mich auf den Stuhl fallen und vergrabe mein Gesicht in meinen Händen.

Wie kam meine Schwester nur darauf, sich zehntausend Pfund leihen zu wollen? Das ist eine immens hohe Summe, wir bräuchten Jahre, um sie abzuzahlen. Und warum hat sie mir nicht von all den Anschaffungen und Plänen erzählt? Ach was, sicherlich wollte sie die Zusage der Bank abwarten, bevor sie mir von dem großen Vorhaben berichten wollte. Elisabeth wusste ja, wie ich zu Geldgeschäften und dem ganzen Buchmacherquatsch stehe.

Ich schrecke hoch. Oh nein! Elisabeth hat zwei Wochen vor ihrem Tod irgendetwas in dieser Hinsicht zu mir gesagt. Und zwar, wie ich es finden würde, wenn wir in der Bird-Street einen kleinen Laden eröffnen würden. Ich habe diese Idee als Spinnerei abgetan und nur albern darauf reagiert.

Es klopft und Mel, eine unserer Näherinnen, tritt ein. „Entschuldige bitte die Störung, Kate.“

Ich richte mich auf und schenke ihr ein Lächeln. „Du störst nicht. Was kann ich für dich tun?“

Mel wirkt verlegen und streicht sich nervös über ihren Rock. „Ich wollte fragen … also … ich wollte fragen, ob es in Ordnung wäre, wenn ich morgen meine Tochter Ellie ausnahmsweise mit zur Arbeit bringen kann.“

„Hat der Kindergarten geschlossen?“, frage ich sie und bin mit meinen Gedanken eigentlich immer noch bei der Geschäftsidee meiner Schwester. Die ich, je länger ich darüber nachdenke, gar nicht mal so abwegig finde.

„Ja, aber nur für morgen. Es findet am Sonntag ein Kindergartenfest statt und morgen wird alles dafür vorbereitet und dabei würden die Kinder nur stören“, rattert Mel den Grund ohne Punkt und Komma herunter.

Ich sehe schon genau die Schaufenster vor mir, in denen meine Kleider präsentiert werden. Und sämtliche Frauen von Beaumont Castle drücken sich regelrecht die Nasen an den Scheiben platt. Ich grinse Mel träumerisch an und merke nicht, dass sie auf eine Antwort wartet.

„Und? Ist das für dich in Ordnung? Es wäre auch nur von acht bis zwölf, dann übernimmt Lara meine Schicht.“ Mel presst die Lippen zusammen und schaut mich gespannt an.

Ich schüttle den Kopf, um meinen Traum vom eigenen Geschäft zu verscheuchen. „Bitte?“

Mel stutzt für eine Sekunde, da ich anscheinend nicht zugehört habe, und wiederholt sich mit knappen Worten. „Wäre nur für morgen.“

„Ja, kein Problem. Sie darf nur nichts anfassen“, ermahne ich sie freundlich und die Idee meiner Schwester fängt an, in mir zu wachsen.

Mel freut sich und verlässt flink den Raum. „Vielen Dank, Ellie ist eine ganz Liebe.“

 

Das Vorhaben lässt mich nicht mehr los. Mein Kopf platzt förmlich vor Ideen. In meinen Gedanken richte ich bereits den kleinen Laden an der Bird-Street ein. Ich beschließe, in der Mittagspause dorthin zu gehen, um nachzuschauen, welches Ladenlokal meine Schwester im Visier gehabt hat.

„Anna, ich bin in einer Stunde wieder zurück!“, ruf ich ihr zu und verschwinde auf den Straßen von Beaumont Castle.

Nachdem ich stramm zwanzig Minuten gelaufen bin, erreiche ich die Innenstadt und die Bird-Street. Hier herrscht reges Treiben, und zwar reiches und elegantes Treiben. Die Frauen tragen in diesem Stadtviertel die schönsten Kleider und die Männer die elegantesten Anzüge. Die Kutschen sind mit Gold und Kupfer beschlagen. Sogar die Pferdegespanne sind mit Kordeln und Plaketten verziert. Hier sind sogar einige der Automobile unterwegs. Viele Bewohner halten diese technische Neuheit für das Werk des Teufels und bekreuzigen sich, wenn sie einem solchen verfluchten Gefährt begegnen. Ich hingegen finde sie sehr interessant.

Die Straßen sind gepflastert und Bürgersteige sind vorhanden. Eine Wohltat für jede Garderobe und jedes Schuhwerk. Ehrlich gesagt: Die Hafenstadt Beaumont Castle ist eine sehr saubere, wohlhabende und kriminellenfreie Stadt. Vielleicht liegt es daran, dass hier die Herzogin Mary lebt. Sie ist die Cousine der britischen Königin und legt großen Wert auf Sauberkeit und Ordnung. Wir haben es ihr zu verdanken, dass unsere Stadt bereits mit Elektrizität ausgestattet ist. Zwar noch nicht in allen Häusern, aber es geht langsam voran.

Die Herzogin scheut aber ihr Volk und traut sich höchst selten in die Öffentlichkeit. Manche munkeln, sie leide an Depressionen, andere vermuten, dass sie unsagbar hässlich sein soll. Ich habe sie nur ein paar Mal gesehen. Das letzte Mal war in der Kirche zur Ostermesse. Dort hat ein Schleier ihr Gesicht verdeckt. Eigentlich hat stets ein Schleier ihr Gesicht verdeckt. Anscheinend stimmt die Vermutung der Hässlichkeit.

Ich schlendere auf der Bird-Street entlang und halte nach einem leerstehenden Gebäude Ausschau. Fast am Ende der Straße, wenn es links in die Manor-Road geht, entdecke ich es. Es ist ein kleines Backsteinhaus mit einem spitzen Dachgiebel. Es wirkt sauber und befindet sich in einem guten Zustand. Ich überlege, wer hier vorher ansässig war. Es fällt mir doch tatsächlich nicht mehr ein. Hm? Ich sehe den Zettel im Fenster, auf dem steht, dass es vermietet wird. Von diesem Geschäft musste Elisabeth mir erzählt haben.

Plötzlich nagt das schlechte Gewissen in mir. Ich habe ihr so oft nicht zugehört, bin stets mit meinen Gedanken woanders gewesen. Ich schwebe seit meiner Jugend in meiner Fantasiewelt. Doch damit ist jetzt Schluss. Ich werde den Traum meiner Schwester umsetzen, das bin ich ihr schuldig und die Vorstellung lässt meinen Kummer etwas weniger schmerzen.

Ich klebe fast an der Scheibe, um in das Innere schauen zu können. Es gefällt mir auf Anhieb und vor meinen Augen ist der Laden bereits eingerichtet. Links würde ich den Verkaufstresen planen, daneben eine kleine Teesitzecke, rechts würden die Stoffballen und Muster dekoriert werden und es gab natürlich zwei Umkleidekabinen zum sofortigen Anprobieren der Kleidung. Ja, das würde Elisabeth auch gefallen.

 

Gut gelaunt erscheine ich in der Näherei.

„Anna? Ich bin wieder da!“, rufe ich in den Flur, worauf Anna aus ihrem Büro schaut.

„Ich soll dich von Mel fragen, ob du ihr den Stoff für Lady Patterson geben kannst. Sie möchte heute noch damit anfangen.“

„Ja, mach ich.“ Ich suche den Auftrag für Lady Patterson heraus und den passenden Stoffballen. Lady Patterson ist seit einem Jahr eine Stammkundin von uns. Ich gebe Mel den Stoff und die Zeichnung. Nachdem wir alles besprochen haben, setze ich mich an meinen Zeichentisch und die Ideen für neue Kleidung sprudeln nur so aus mir heraus. Stets den Laden vor Augen.

Die Zeit vergeht so schnell und als ich einen Blick auf die Wanduhr werfe, zeigt sie mir bereits sechzehn Uhr dreißig an. Mist, ich will noch zum Immobilienmakler. Ich räume meinen Tisch auf und sage Anna Bescheid. „Wir sehen uns morgen früh.“

 

Der Immobilienmakler liegt nur zwanzig Minuten von unserer Näherei entfernt. Als ich den Raum betrete, klingelt ein Glöckchen über mir und kündigt meinen Besuch an.

Sofort erscheint ein sehr gepflegter und gutaussehender Mann im Anzug. „Guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?“

Wir reichen uns die Hand. „Mein Name ist Miss Bow und ich interessiere mich für ein Ladenlokal in der Bird-Street.“

„Angenehm, Henry Cotton. Ah, ja … es hat eine hervorragende Lage und der Preis ist sensationell. Aber bitte, Miss Bow, nehmen Sie doch Platz.“ Er deutet auf einen eleganten Sessel, der vor einem Schreibtisch steht. „Darf ich Ihnen einen Tee oder Kaffee anbieten?“

Ich lehne höflich ab. „Nein, danke. Ich möchte gerne die Miete erfahren.“

„Darf ich fragen, was Sie mit den Räumlichkeiten anfangen möchten?“

„Mir und meiner …“ Ich räuspere mich. „Mir gehört die Näherei „Bow & Sisters“ an der Main-Road …“

„Oh, entschuldigen Sie bitte, dann sind Sie die Schwester von Miss Elisabeth O’Connor? Ich habe Sie nicht erkannt“, entschuldigt er sich aufrichtig.

„Ja, die bin ich“, gebe ich leise zu.

Er reicht mir die Hand und sein Gesichtsausdruck zeigt Trauer. „Mein aufrichtiges Beileid, Miss Bow. Meine Frau hat mir von dem schrecklichen Verlust erzählt, den Sie erleiden mussten. Wissen Sie, meine Frau hat bereits einige Kleider von Ihnen gekauft und schwärmt in den höchsten Tönen von Ihrer Näherei.“

Ich schlucke gegen die aufsteigenden Tränen an. Gerade konnte ich vor Glück bereits Bäume ausreißen und jetzt bricht die Welt vor meinen Augen erneut zusammen. „Danke, das ist sehr aufmerksam von Ihnen, Mister Cotton. Und es freut mich sehr, dass Ihrer Gattin die Kleider gefallen.“

„Nun, wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, was gedenken Sie mit den Räumlichkeiten anzufangen?“, wechselt er das Thema, als er sieht, dass meine Augen feucht schimmern.

„Meine Schwester hat vor ihrem Tod die Idee geäußert, einen kleinen Laden anzumieten, um dort unsere Kleider besser präsentieren zu können“, erzähle ich ihm.

„Das hört sich nach einer sehr guten Geschäftsidee an, Miss Bow.“ Er steht auf und geht zu einem großen Aktenschrank, öffnet eine der oberen Schubladen und holt eine Mappe hervor. „Da haben wir ja schon die genauen Angaben.“ Er nimmt wieder Platz und liest.

Plötzlich verspüre ich eine aufkommende Angst in mir. Tue ich das Richtige? Ich habe doch von dem langweiligen Geld- und Buchführungsgedöns überhaupt keine Ahnung! Und ich kann nicht die komplette Arbeit einfach Anna allein überlassen. Sie hat so schon mehr als genug um die Ohren. Soll ich einfach aufstehen und fluchtartig den Raum verlassen?

„Ah, da haben wir es ja … die Miete beläuft sich monatlich auf zwanzig Pfund“, teilt mir Mister Cotton mit.

„Zwanzig Pfund?“, wiederhole ich strenger, als ich eigentlich meine. Ich bin noch bei meinen Abhaugedanken.

„Nun, weil meine Frau sehr gern bei Ihnen ihre Kleider kauft, würde ich Ihnen ein Angebot von achtzehn Pfund pro Monat machen. Was halten Sie davon, Miss Bow?“, unterbreitet er mir sein Angebot.

„Das hört sich sehr gut an, Mister Cotton. Wann müsste ich Ihnen meine Entscheidung mitteilen?“

Er wirft einen Blick auf seinen Tischkalender. „Sagen wir bis Mitte nächster Woche. Ich bin ehrlich, Miss Bow, ich habe noch einen anderen Interessenten und der ist bereit mir fünfundzwanzig Pfund im Monat zu zahlen.“

Ich stehe auf und reiche ihm meine Hand. „Danke für Ihre offenen Worte, Mister Cotton. Sie erhalten rechtzeitig meine Antwort. Und grüßen Sie bitte ganz herzlich Ihre Gattin.“

Er erwidert meinen Händedruck und begleitet mich bis zur Tür.

„Die Grüße werde ich mit Freude überbringen, Miss Bow. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.“ Er hebt zum Abschied die Hand und schließt die Tür mit einem freundlichen Lächeln.

 

Mit gemischten Gefühlen gehe ich nach Hause. Soll ich wirklich diesen gewaltigen Schritt wagen? Jetzt merke ich, wie sehr Elisabeth mir fehlt. Sie hat kluge Entscheidungen binnen Sekunden getroffen. Bei mir dauert es stets Stunden. Ich bin immer so unsicher und launenhaft. Doch das darf ich jetzt nicht mehr sein. Ich betrete den Hausflur und betätige den Schalter, um das Licht anzuschalten. Ich kann es noch immer nicht glauben, dass wir den Luxus der Elektrizität genießen dürfen, obwohl es bereits ein Jahr her ist, als die Stromleitungen verlegt wurden.

Ein leckerer Duft strömt in meine Nase, als ich die Haustür aufschließe. Salish hat gekocht. Und wie immer riecht es fabelhaft und genauso schmeckt es auch.

Salish stammt aus Nordafrika. Sie wurde mit vierzehn Jahren von einem Sklavenhändler aus England gekauft und landete unter glücklichen Umständen in meiner Familie. Mein Vater hat sie vor über zehn Jahren halb verhungert und misshandelt vor der Näherei gefunden.

Und da meine Familie nichts gegen andere Nationalitäten hat und sehr sozial eingestellt ist, haben wir Salish mit offenen Armen aufgenommen. Wir haben Wochen gebraucht, um ihr Vertrauen zu gewinnen und es neu aufzubauen. Aber: Wir haben es geschafft und Salish arbeitet seitdem als Haushälterin. Sie wird von Anfang an fair bezahlt, darf mit im Haus wohnen und mit am Tisch essen.

Als unsere Eltern innerhalb von drei Jahren verstorben sind, war Salish am Boden zerstört. Elisabeth, Salish und ich haben uns in dieser schwierigen Zeit aufgebaut und getröstet.

Ein Leben ohne Salish kann ich mir gar nicht mehr vorstellen. Sie ist meine beste Freundin geworden. Obwohl: Manchmal ist sie mir unheimlich. Salish beherrscht die afrikanische Voodoo-Kunst. Sie sieht Dinge und weiß Sachen, die sie eigentlich nicht wissen kann. Genau wie sie angeblich gesehen hat, dass der Ehemann meiner Schwester nach Beaumont Castle zurückkehren wird.

„Das riecht ja schrecklich, Salish! Was hast du wieder für ein afrikanisches Zeug gekocht!“, zieh ich sie spaßhaft auf und befreie mich im Flur von meinen Schnürstiefeln.

Salish wirft mir einen bösen Blick aus der Küche zu. „Dich wird der Mann mit dem schwarzen Hut holen.“

„Was hast du gesagt?“ Ich begebe mich zu ihr in die Küche. „Wie kommst du darauf, dass mich ein Mann mit einem schwarzen Hut holen wird?“

Salish wirbelt am Herd herum, der durch Feuerholz angeheizt wird und zuckt kurz zusammen, da ich das Licht anschalte. Salish mag diesen technischen Hokuspokus eigentlich nicht. Außer die Küchenlampe, die findet sie gut, da sie so mehr sehen kann. Und im Moment sieht sie mich gerade intensiv an. „Du hast Mister O’Connor gesehen.“

Mein Puls schnellt in die Höhe und ich schüttle den Kopf. „Nein, habe ich nicht. Nur einen Mann …“

„… der sich dir als dein Schwager vorgestellt hat, nicht wahr?“ Sie grinst mich überlegen an.

Ich schmolle, weil sie mich beim Schwindeln erwischt hat. „Was will der blöde Kerl hier eigentlich?“

Sie hebt den Kochlöffel und kommt mir entgegen. Ihre braunen Augen funkeln fast schwarz und ihre Stimme klingt beschwörend. „Weil er der Mann ist, der dir das Herz brechen wird.“

„Pah … er hat mir gesagt, dass er mich retten wird“, entgegne ich ihr trotzig. „Außerdem ist er mein Schwager.“

Ihre Augen weiten sich. „Du hast ihn tatsächlich in deinen Träumen gesehen?“

„Ja, das weißt du doch.“ Ich stemme die Hände in die Hüften und sehe sie aus schmalen Augen an. „Verheimlichst du mir etwas?“

Sie dreht sich von mir fort und widmet sich ihren Kochtöpfen. „Nein, Miss Kate. Wie schon gesagt, Mister O’Connor wird bald nach Beaumont Castle kommen.“

„Ich werde dann mal den Tisch decken“, wechsle ich das Thema. Ich habe keine Lust, mir die schwer erkämpfte gute Laune durch eine geheimnisvolle Vision vermiesen zu lassen.

Als wir am Tisch sitzen und das leckere Gericht genießen, erzähle ich Salish von der Geschäftsidee. Sofort beginnen ihre großen, braunen Augen zu leuchten und sie ergreift meine Hand. „Das ist schön. Endlich bist du der Trauerwelt entkommen, Miss Kate. Lebe den Traum von Elisabeth, denn darin wird sie ewig weiterleben.“

 

Am nächsten Tag bin ich bereits vor sieben Uhr in der Näherei. Anna wundert sich und lacht. „Na, da ist aber jemand aus dem Bett gefallen. Guten Morgen! Hattest du schon einen Tee?“

„Guten Morgen, Anna. Nein, aber ich nehme gern einen. Hast du einen Moment für mich?“

Anna nickt und sieht mich neugierig an. „Aber sicher doch. Was kann ich für dich tun?“

Ich nage an meiner Unterlippe und bin etwas aufgeregt. Nachdem ich einen tiefen Atemzug genommen habe, unterrichte ich sie über meine Geschäftsidee. „Ich würde dir natürlich mehr Geld geben.“

Anna strahlt übers ganze Gesicht und umarmt mich in der nächsten Sekunde. „Aber sicher doch. Ich schaffe das zeitlich. Paul geht doch ab diesen Sommer in die Ganztagsschule und somit habe ich jeden Tag bis sechzehn Uhr Zeit, mich um die Buchführung zu kümmern.“

Ich erwidere ihre Freude.

 

Um acht Uhr erscheinen die Näherinnen. Mel mit ihrer zuckersüßen Tochter Ellie. Vier Jahre alt und ein richtiger Wildfang. Sie wirbelt um die Näherinnen herum und schmeißt nicht nur Wäschekörbe um, sondern alles Mögliche. Eigentlich würde es mich stören, aber nicht heute. Heute ist ein guter Tag, denn ich verspüre keine Trauer in mir.

Ich verbringe den ganzen Tag in meiner Zeichenstube und entwerfe nicht nur neue Kleidung, sondern die komplette Inneneinrichtung für das Geschäft. Ich brauche noch einen Namen. „Lizzy & Kate“ fällt mir da spontan ein. Lizzy ist der Spitzname meiner Schwester gewesen. Und so würde sie nicht in Vergessenheit geraten. Ach, was rede ich denn da! Meine Lizzy hat immer einen Platz in meinem Herzen.

„Lizzy & Kate“, spreche ich es laut und voller Tatendrang aus.

 

Am Freitag schließt unsere Näherei um sechzehn Uhr. Ich verlasse mein Büro und wundere mich, als Mel in Begleitung ihrer Tochter Ellie aus dem Nähereiraum erscheint.

„Ich dachte, du arbeitest heute nur bis Mittag?“ Und deute mit einem Blick auf die kleine Maus.

Sie wirkt ertappt und läuft rot an. „Ich musste unbedingt das Kleid für Lady Buffalo fertigstellen.“

„Ah?“, kommt es überrascht über meine Lippen.

„Und noch mal danke, dass ich Ellie mitbringen durfte. Passiert auch nicht noch einmal“, bedankt sie sich.

In diesem Moment ahne ich noch nicht, wie recht sie damit hat.

Wir verabschieden uns alle und wünschen uns ein schönes Wochenende.

 

Was niemand von uns mitbekommt: Ellie tobt, kurz bevor ihre Mutter sie zu sich ruft, durch die Bügelabteilung und wirft mit ihrem wilden Verhalten eins der noch heißen Bügeleisen um. Das Bügeleisen fällt in einen Wäschekorb und schmort langsam vor sich hin. Bis kleine Flammen entstehen und sich binnen weniger Sekunden zu einem großen Feuer ausbreiten.

Eine Stunde später steht die Näherei lichterloh in Flammen.

 

***

Salish und ich bereiten in der Küche einen Kuchen für das Wochenende vor. Salish singt ein afrikanisches Lied und bewirft mich gutgelaunt mit Mehl. Ich lache und schlage mit einer Portion zurück. In der nächsten Sekunde wird unser Spaß durch die Türklingel und ein lautes Hämmern gegen die Wohnungstür unterbrochen. Wir halten inne und sehen uns aus fragenden Augen an.

„Ich geh schon.“ Ich putze mir die Hände an der Schürze ab.

Das Klingeln und Hämmern hört nicht auf. „Miss Bow! Miss Bow!“, erklingt eine aufgeregte Männerstimme.

Ich eile zur Tür und öffne sie. Vor mir steht Bill, er ist Polizist. Für seine Ehefrau habe ich bereits mehrere Kleider entworfen. Ich sehe ihn überrascht an. „Bill? Was ist denn los?“

„Es brennt! Deine Näherei! Sie brennt lichterloh! Komm schnell!“, prallen seine Worte auf mich nieder.

Ich stehe nur da und starre ihn an. Was hat er gerade zu mir gesagt?

„Kate? Die Näherei … sie brennt!“, wiederholt er mit lauter Stimme.

Wie in Trance lauf ich einfach los. In meinem Kopf wiederholen sich immer wieder Bills Worte: „Die Näherei … sie brennt! Die Näherei, sie brennt … die Näherei, sie brennt!“

 

Ich renne, als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter mir her. Die Umgebung saust schemenhaft an mir vorbei. Ich sehe die Personen nicht, die sich auf dem Gehweg befinden und die ich fast umlaufe. Deren Schimpfworte prallen an mir ab.

Außer Atem erreiche ich die Näherei und bleibe wie vom Blitz getroffen stehen. Meine Lunge brennt vom Rennen. Genau wie die Näherei. Sie steht lichterloh in Flammen. Für eine Sekunde spiele ich mit dem Gedanken, durch das Feuer zu laufen und aus meinem Büro wichtige Entwürfe zu holen. Doch die Hitze und der erbärmliche Anblick lähmen mich und ich sacke weinend zu Boden.

Ein Feuerwehrmann sieht mich. „Miss? Geht es Ihnen gut?“

Ich kann nicht antworten, denn mein lautes Schluchzen lässt keine einzige Silbe über meine Lippen kommen.

Er bückt sich und berührt mich sachte an der Schulter, als er mein Gesicht sieht, schreckt er zurück. „Kate? Oh, mein Gott …“ Sofort hilft er mir auf und winkt einen Kollegen zu sich. „Schnell, Bob, ich benötige eine Decke!“

Bob reicht ihm eine Wolldecke. „Ist das etwa Kate Bow?“

Er nickt und legt mir die Decke über meine kalten Schultern.

John und Bob kennen mich und Elisabeth seit der Schulzeit. Ihre Frauen sind ebenfalls Kundinnen von uns.

„Kate … komm, setz dich.“ John führt mich langsam zu einer Bank. „Es tut mir so leid.“

„Was … wie … wie konnte das nur geschehen?“, würge ich die Worte durch meine zugeschnürte Kehle hervor. Ich zittere am ganzen Körper, aber ich merke es nicht.

„Das wissen wir leider noch nicht. Wir wurden vor einer Stunde von einem Passanten alarmiert. Er hat den Rauch und die Flammen gesehen“, berichtet mir John und drückt mich an seine starke Schulter. „Es tut uns allen so leid … Kate.“

Ich starre weiterhin auf das Unmögliche. Alles ist zerstört. All meine Entwürfe, all die kostbaren Stoffballen, die ausgefallenen Knöpfe, die teuren Nähmaschinen. Alles zerstört. Meine Zukunft brennt vor meinen Augen nieder. Und sofort brennt der schmerzliche Verlust der Trauer in meinem Herzen. Ich habe alles verloren. Meine geliebte Schwester, unsere Näherei, meine Zukunft. Alles wird vor meinen Augen vom Feuer des Teufels verbrannt.

Eine Welle der Machtlosigkeit überrollt mich. Ich habe das Gefühl, daran zu ersticken. Ich fasse nach meinem Hals und röchle nach frischer Luft. Dann verliere ich mein Bewusstsein.

 

Salish deckt mich zu und streicht mir über mein Haar. „Alles wird gut. Ich habe es gesehen, Miss Kate. Glaube mir … der Mann mit dem schwarzem Hut wird dich retten.“ Sie schließt die Tür. „Sie schläft jetzt.“

Doktor Benner reicht Salish eine kleine braune Flasche. „Das sind Beruhigungstropfen. Sie reichen für vier Tage. Geben Sie ihr dreißig Tropfen am Tag. Sollte sie noch Nachschub benötigen, melden Sie sich bitte in meiner Praxis.“

„Danke, Doktor Benner, dass Sie so schnell kommen konnten. Ich hoffe, ich habe Ihnen nicht den Freitagabend verdorben?“, entschuldigt sich Salish und man kann ihr das schlechte Gewissen regelrecht ansehen.

Er winkt ihre Entschuldigung mit einer laschen Handbewegung fort. „Dafür bin ich da, liebe Salish. Ich möchte nur nicht daran denken, wie es Miss Bow morgen früh gehen wird, wenn ihr der schlimme Verlust erst einmal richtig bewusst wird. Sie hat doch sicherlich eine Versicherung auf die Näherei abgeschlossen?“

Salish zuckt nur mit den Schultern.

 

3. Kapitel

 

Der Mann mit dem schwarzen Hut

 

Drei Tage später

 

„Es tut mir sehr leid, Miss Bow, aber Ihre Schwester hat meinen Vorschlag, eine Gebäudeversicherung abzuschließen, vor zwei Jahren abgelehnt“, teilt mir Mister Neil Green mit. Er ist der Manager der „Beaumont Bank“ und gleichzeitig Leiter der Versicherungsabteilung. „Sie hat dadurch Geld eingespart und den ersten Kredit reibungslos abgezahlt.“

Wie viel Kummer kann mein Herz eigentlich aushalten?

„Und jetzt? Wie soll ich die Näherei wieder aufbauen?“ Ich ringe mit meiner Fassung.

Mister Green faltet die Hände wie zum Gebet und seufzt. „Ich bin ehrlich zu Ihnen, Miss Bow.“

„Ich bitte darum, Mister Green.“ Ich zwinge mich, meine Stimme ruhig klingen zu lassen. Am liebsten würde ich laut schreien.

„Sie können Ihre Näherei leider nicht neu aufbauen. Die Bank kann und wird Ihnen keinen neuen Kredit mehr geben.“

„Aber warum nicht? Ich meine, Sie wissen doch, dass die Näherei sehr gut lief und viel Gewinn abgeworfen hat. Ich muss ja nicht gleich so groß anfangen, nur eine kleine Halle und drei Nähmaschinen, mehr verlange ich nicht, Mister Green“, bitte ich ihn und höre meine eigene Verzweiflung.

„Miss Bow, vor dem Feuer war die Näherei komplett bezahlt und hatte Ihrem Vater gehört. Jetzt fangen Sie komplett bei null an. Sie bräuchten mindestens zwanzigtausend Pfund, um wenigstens etwas auf die Beine zu stellen. Oder wollen Sie ohne Stoff und Garn die Kleider nähen?“, spricht er ohne Umschweife.

Ich habe keine Kraft mehr und stehe auf. „Vielen Dank, Mister Green. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“ Ich gehe zur Tür.

Mister Green erhebt sich. „Aber Miss Bow, so warten Sie doch!“

Ich gehe, nein, ich eile aus der Bank und ich fühle regelrecht die mitleidigen Blicke der Angestellten und der Kunden. Nur raus hier, weg!

Dann mache ich etwas, das ich noch nie zuvor getan habe: Ich suche den Spirituosenladen in der Mason Street auf und kaufe mir eine Flasche Whisky.

„Es ist ein riesengroßes Schiff! So etwas Gigantisches hat in Beaumont Castle noch nie angelegt“, schwärmt ein Mann neben mir am Verkaufstresen.

„Aha? Und wem gehört es?“, will der Verkäufer von dem Kunden erfahren.

„Keine Ahnung. Man munkelt, es käme aus Indien … und es soll mit sämtlichen Schätzen beladen sein, so schwer, dass es einen absoluten Tiefgang hat und nur mit der Flut einlaufen konnte“, berichtet der Kunde weiter.

„Hat der Besitzer vielleicht einen schwarzen Hut auf?“, bringe ich mich ins Gespräch mit ein.

Die beiden Männer schauen mich an, als würde ich nicht mehr alle Tassen im Schrank haben. „Wie bitte, Miss?“

Ich winke die Frage fort und stelle die Flasche Whisky auf den Tresen. „Was bekommen Sie dafür?“

„Zwei Pfund, Miss“, gibt der Verkäufer Antwort und wickelt die Flasche in braunes Papier ein.

Ich lege ihm exakt zwei Pfund hin, stecke die Flasche ein und verlasse erhobenen Hauptes den Laden.

 

Als ich die Haustür aufschließe und nach Salish rufe, fällt mir ein, dass heute Montag ist. Da trifft sich Salish immer mit Gleichgesinnten in der Kirche und singt. Vor dreiundzwanzig Uhr kommt sie nicht wieder.

Ich schnappe mir ein Whiskyglas und fülle es halbvoll. Die ersten Schlucke schmecken nicht gut und brennen sich durch meine Speiseröhre nach unten. Ich spüre regelrecht, wie die Flüssigkeit in meinem Magen ankommt. Ein kalter Schauer schüttelt mich durch.

„Los, Kate, sei keine Memme … du trinkst heute Abend“, sporne ich mich selbst an und nehme den nächsten Schluck. Wieder schüttle ich mich und frage mich allen Ernstes, wie die Leute dieses Zeugs nur runterbekommen.

Eine Stunde später weiß ich es. Nach dem dritten Glas sind die Geschmacksnerven betäubt und ich besoffen.

Ich eiere durch das Wohnzimmer, die Flasche in der Hand und rede mit mir selbst. Ich philosophiere regelrecht.

„Und wie kannst du mich nur verlassen, meine liebe Schwester! Ich hasse dich! Ja, ich hasse dich! Und wieso hast du dumme Pute keine Versicherung abgeschlossen? Wie blöd kann man nur sein? Ja, ja … und ich bin jetzt nämlich die Blöde, weil ich üüüberhaupt keine Ahnung habe, wie ich die Karre aus dem Dreck ziehen soll!“

Es klingelt an der Wohnungstür.

„Wer stört mich denn jetzt? Ah, das ist bestimmt die Feuerwehr und sagt mir, dass die Näherei brennt …“ Ich kichere voll albern.

Es klingelt erneut.

„Ja, ja … ich komm ja schon …“ Ich nehme einen erneuten Schluck aus der Flasche und rülpse leise, worauf ich wieder lachen muss. „Ah, Elisabeth, wenn du mich jetzt sehen könntest. Ja, deine kleine, dumme Schwester ist betrunken …“

Es klingelt mehrmals.

„Ja, Herrgott noch mal! Oh? Sind Sie es etwa, Mister Green? Geben Sie mir doch einen Kredit?“ Ich erreiche die Tür und greife nach der Klinke. Bevor ich öffne, genehmige ich mir einen guten Schluck und wisch mir über den Mund. Dann drücke ich die Klinke nach unten und reiße die Tür auf. „Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist? Da stört man eine Lady nicht mehr!“

Meine Augen sind für einen kurzen Moment geschlossen und als ich sie wieder öffne, trifft mich augenblicklich der Schlag! Ich taumle rückwärts, stolpere über meine eigenen Füße, falle der Länge nach zu Boden und schreie. Vor mir steht ein großer, breitschultriger Mann. Er trägt einen schwarzen Ledermantel und einen …

„Der schwarze Hut … Sie tragen einen schwarzen Hut“, säusle ich voller Entsetzen und fingere durch die Luft.

Die dunkle Gestalt macht einen großen Schritt aus dem dunklen Hausflur und bleibt einen Meter vor mir stehen. „Du musst Kate Bow sein.“

Seine basslastige Stimme lässt mein Herz regelrecht erbeben und ich bin plötzlich wie gelähmt. Er hat genau die Stimme wie die Person in meiner Vision. „Wer … wer sind Sie?“

Er hebt seinen Kopf und ich traue meinen Augen nicht. Es ist zwar acht Jahre her und ich habe ihn nicht allzu oft gesehen, aber ich erkenne ihn wieder. „Benjamin O’Connor?“, flüstere ich ehrfürchtig.

Er kniet sich zu mir herunter und schenkt mir ein amüsantes Lächeln. „Ich bin hier, um dich zu retten, liebe Schwägerin.“

„Was … was machen Sie hier?“, pflaume ich ihn an und starre weiterhin in seine klaren, grünen Augen. Sie erinnern mich an Knöpfe, die ich für Lady Chantalle auf dem Orientmarkt gekauft habe.

„Ich helfe dir erst mal beim Aufstehen.“ Er reicht mir seine große, schlanke Hand.

Im Affekt greif ich zu und er zieht mich, ohne mit der Wimper zu zucken, vom Boden hoch. Ich schwanke, worauf er seine Hände auf meine Taille legt, um mich in eine sichere Position zu bringen. Seine Berührung ist wie ein elektrischer Schlag. Ich haue im Reflex seine Hände weg und straffe meine Brust.

Er lächelt süffisant, sagt aber nichts.

„Danke. Und? Wo waren Sie all die Jahre?“ Ich streiche mir eine Strähne aus dem Gesicht.

„Ich war fort.“

„Bitte?“

„Ich war fort, liebe Schwägerin.“

„Ich bin nicht Ihre verdammte, liebe Schwägerin! Ich bin Miss Bow, und Sie sind ein absoluter Mistkerl! Sie haben meine Schwester allein gelassen …“, schimpfe ich auf ihn ein und hantiere wild mit der Whiskyflasche vor seiner Nase herum. Einer sehr hübschen Nase, muss ich eingestehen. „Sie kommen leider zu spät, Mister O’Connor, meine Schwester, Ihre Gattin ist vor zwei Wochen verstorben!“

Er nimmt den Hut ab und sein Gesicht zeigt ehrliche Betroffenheit und es scheint mir so, als würden seine Augen feucht schimmern. „Ja, ich habe es heute erfahren. Mein aufrichtiges Beileid. Sie war so ein wunderbarer Mensch.“

Ich zeige böse mit dem Finger auf ihn. „Ja, und dieser wunderbare Mensch ist jetzt tot. Ihre geliebte Ehefrau ist tot!“

„Es ist vielleicht besser, wenn du dich hinlegst, Kate“, wechselt er abrupt das Thema und greift nach der Whiskyflasche.

Doch ich zieh sie zurück. „Ich lasse mir doch nicht von Ihnen vorschreiben, wann ich ins Bett gehe … verschwinden Sie lieber, bevor ich die Polizei rufe!“, drohe ich ihm und torkle ins Wohnzimmer. Er folgt mir und bleibt im Türrahmen stehen.

„Sie sind ja immer noch da!“, zicke ich und stelle die Flasche auf den Tisch ab. Ich mag das Zeug nicht mehr, es brennt säuerlich in meinem Magen und vernebelt meinen Verstand. Sicherlich steht Benjamin O’Connor gar nicht vor mir und ich halluziniere bereits von dem Teufelszeug.

Er lässt seinen Blick durch den Raum schweifen. „Eure Näherei hat, wie ich sehe, sehr guten Gewinn abgeworfen. Ihr lebt sehr nobel.“

„Die Näherei? Welche Näherei?“, spotte ich. Es dreht sich alles vor meinen Augen.

„Auch von diesem Unglück habe ich heute erfahren. Es tut mir sehr leid, Kate. Ich werde dir helfen, die Näherei wieder aufzubauen.“

„Ach, ich will Ihre Almosen nicht … steigen Sie auf Ihr blödes Schiff und segeln Sie wieder nach Afrika!“

„Asien.“

„Was?“

„Ich war die letzten Jahre in Asien und Indien unterwegs“, verbessert er mich.

Ich puste laut Luft aus und verdrehe theatralisch die Augen. „Afrika? Asien? Wo ist da der Unterschied … weg ist weg.“

Benjamin schmunzelt über meine Worte und macht immer noch nicht den Anstand, zu gehen. „Ist Salish eigentlich noch bei euch tätig?“

„Ja, sie ist im Gegensatz zu Ihnen all die Jahre treu bei uns geblieben.“ Meine Lider werden schwerer und ich verstecke ein Gähnen hinter meiner Hand. Ich erhebe mich und wie aus heiterem Himmel verdunkelt sich dieser und ich falle der Länge nach auf den Teppichboden.

Benjamin eilt sofort zu mir, hebt mich hoch und bringt mich in mein Schlafzimmer. Er zieht mir sogar die Schuhe aus und deckt mich zu.

Als er gerade auf den Flur tritt, ertönt ein spitzer Schrei und Salish erleidet beinahe einen Infarkt. Doch als sie den Mann genauer betrachtet, wechselt ihre Angst in Freude und sie lacht. „Mister O’Connor! Ich wusste, dass Ihr zurückkommt! Ich habe es in meinen Träumen gesehen!“

„Salish, mein altes Mädchen!“, begrüßt Benjamin sie und umarmt Salish im nächsten Augenblick.

„Sie sehen sehr gut aus, Mister O’Connor … die gesunde Gesichtsfarbe steht Ihnen ausgezeichnet. Wo ist Miss Kate?“ Sie blickt hinter ihn.

„Die habe ich lieber zu Bett gebracht. Sie hat fast eine Flasche Whisky geleert.“

Salish weitet die Augen. „Miss Kate hat Alkohol getrunken? Allein?“

„Nun ja, mir hat sie kein Glas angeboten. Sie ist nicht sehr erfreut darüber, dass ihr Schwager plötzlich wieder auf der Matte steht.“

„Dann genehmigen wir uns jetzt ein Gläschen, Mister O’Connor … ich will alles erfahren.“ Salish zieht ihren Mantel aus. „Nehmen Sie im Wohnzimmer Platz, ich schau noch nach Miss Kate.“

Benjamin folgt ihrer Einladung und nimmt im Wohnzimmer Platz. Sein Blick fällt auf einen goldenen Bilderrahmen. Es ist das Hochzeitsfoto von Elisabeth und ihm. Er steht auf und nimmt es in die Hand. Als er heute den Hafen von Beaumont Castle erreichte, hat er sich so auf das Wiedersehen mit Elisabeth gefreut. Doch seine Wiedersehensfreude wurde schnell im Keim erstickt, als er von einem Bekannten vom Tod Elisabeths erfahren hat. Und dass die Näherei letzten Freitag bis auf die Grundmauern niedergebrannt ist. Ein Unglück kommt selten allein. Er hatte Elisabeth sehr gemocht. Sie ist so voller Lebensfreude und Tatendrang gewesen. Ihr gemeinsames Geheimnis hat sie mit ins Grab genommen.

Nachdem sich Salish nach meinem Gemütszustand erkundigt hat, begibt sie sich ins Wohnzimmer und bietet Benjamin einen Sherry an.

„Ich gehe davon aus, dass Ihr bereits vom Tod Eurer Gattin erfahren habt und dass die Näherei niedergebrannt ist?“

„Ja, mein aufrichtiges Beileid … was ist denn nur geschehen?“, fragt er Salish und sie erzählt ihm, was sich in den acht Jahren alles in unserer Familie ereignet hat.

 

***

Als ich langsam die Augen öffne, meldet sich mein Kopf in Form von hämmernden Schmerzen. Ich richte mich auf und blicke erschrocken an mir hinunter. Warum trage ich noch meine Kleidung von gestern? Was für ein Tag ist heute? Dienstag. Genau, also ist gestern Montag gewesen. Was habe ich denn gestern angestellt? Und dann fällt es mir wie Schuppen aus den Haaren. Ich war bei der Bank und habe um einen Kredit gebeten, der mir nicht genehmigt wurde. Daraufhin bin ich in einen Spirituosenladen gegangen, habe mir eine Flasche Whisky gekauft und diesen angefangen zu trinken. Und wie bin ich ins Bett gekommen? Ich kann mich einfach nicht daran erinnern.

Es klopft und Salish betritt mein Zimmer. „Guten Morgen, Miss Kate. Wie geht es dir?“

„Außer Kopfschmerzen, gut.“

Sie öffnet die Vorhänge und macht ein Fenster auf. Die frische Luft tut mir gut und mildert die Kopfschmerzen.

„Das wundert mich, Miss Kate. Du hast fast eine Flasche Whisky getrunken.“ Sie grinst.

„Ja, ich weiß … ich war gestern bei der Bank und die Mistkerle wollen mir keinen Kredit geben … da bin ich … da bin ich halt undamenhaft geworden …“, gestehe ich brummend.

„Zum Glück hat Mister O’Connor dich gefunden und ins Bett gebracht“, plappert sie lustig und sieht mich ebenso an.

Ein gewaltiger Schock durchfährt meinen Körper und ich starre Salish aus monströsen Augen an. „Wer?“

Sie bleibt vor mir stehen und grinst mich weiterhin amüsiert an. „Ha, ich habe dir gesagt, dass er kommen wird. Und er ist gekommen … er wird dich retten.“

Ich schließe meine Augen und gehe in Gedanken den Abend durch … also ist das kein Traum gewesen, sondern mein lieber Schwager ist tatsächlich hier aufgetaucht? Mir wird leicht übel.

„Und er hat mich zu Bett gebracht?“

Sie nickt übertrieben oft. „Weil du ohnmächtig geworden bist. Kein Wunder, Miss Kate … warum betrinkst du dich auch?“

Ich klatsche mir die Hände vors Gesicht und lass mich rückwärts in die Kissen fallen. Das darf doch nicht wahr sein! Da erscheint nach acht Jahren mein Schwager und das Erste, was er sieht, ist seine betrunkene Schwägerin. „Oh nein …“

„Er kommt übrigens zum Brunch heute.“

Ich schnelle wieder hoch, was mein Schädel gar nicht vertragen kann, und schaue Salish entsetzt an. „Was? Du hast ihn heute zum Brunch eingeladen? Wieso machst du sowas?“

Sie zuckt gleichgültig mit den Schultern und geht zur Tür. „Ich bringe dein Leben wieder in Schwung, Miss Kate. Und ich würde schnell ein Bad nehmen und mich fertig machen. Mister O’Connor kommt in einer Stunde.“ Ihr dämliches Grinsen verschwindet hinter der Tür.

„Und ich bring dich eigenhändig um, Salish!“, brülle ich ihr hinterher und wieder lass ich mich in die Kissen fallen. Ich starre die Decke an. Versuche mich an den gestrigen Abend zu erinnern.

Doch so sehr ich mich anstrenge, fallen mir nur ganz kleine Bruchstücke ein. Es fühlt sich wie ein Traum an, an den man sich nur sehr schwer erinnern kann. Aber anscheinend habe ich diesmal nicht von ihm geträumt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Salish sich das alles ausgedacht hat. Ich traue ihr viel Fantasie zu und sie hat ja auch so eine mystische Ader und den Hang zum Hokuspokus, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mich in dieser Sache auf den Arm nimmt.

Was ich nicht verstehen kann, ist: Wie kann sie einfach selbst entscheiden, den Mann mit dem schwarzen Hut einzuladen?

Arrh! Ich habe nur eine Stunde Zeit, um mich fertig zu machen. Ich springe wie von der Tarantel gestochen aus dem Bett und stürme ins Bad. Salish ist manchmal ein wahrer Engel, denn das Badewannenwasser dampft einladend vor mir.

 

***

„Ich kann es nicht glauben! Ben, du alter Haudegen lebst!“, ruft Marcus Fuller und hebt vor Freude die Arme. „Gott sei Dank!“

„Und ich kann es nicht glauben, mein alter Freund, dass du jetzt hier das Sagen hast!“

Die beiden Männer umarmen sich und klopfen sich gegenseitig auf den Rücken.