Because of You I Want to Stay - Nadine Kerger - E-Book
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Because of You I Want to Stay E-Book

Nadine Kerger

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Beschreibung

Sommer, Sonne, neue Liebe – aber wie soll eine Beziehung bestehen, wenn sie ein Ablaufdatum hat?

Als ihr Freund plötzlich die Beziehung beendet und sie ihren Job verliert, will die junge Meeresbiologin Josie nur noch weg aus Boston. Kurz entschlossen flieht sie mit ihrer besten Freundin Liv für den Sommer auf die malerische Insel Martha’s Vineyard. Am ersten Abend lernt Josie Blake kennen, dessen ozeanblaue Augen sie sofort magisch anziehen. Doch am nächsten Tag muss sie feststellen, dass er einer der alteingesessenen Sullivan-Brüder ist und damit einer ihrer neuen Chefs im Jachtklub, in dem sie einen Sommerjob angenommen hat. Während Josie und Blake alles daransetzen, professionell zu bleiben, fällt es ihnen immer schwerer, die gegenseitige Anziehungskraft zu ignorieren. Nur wie soll ihre Liebe bestehen, wenn Josie im Herbst auf einem Forschungsschiff in Grönland ist?

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Seitenzahl: 422

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Buch

Als ihr Freund plötzlich die Beziehung beendet und sie ihren Job verliert, will die junge Meeresbiologin Josie nur noch weg aus Boston. Kurz entschlossen flieht sie mit ihrer besten Freundin Liv für den Sommer auf die malerische Insel Martha’s Vineyard. Bereits am ersten Abend lernt Josie Blake kennen, dessen ozeanblaue Augen sie sofort magisch anziehen. Doch am nächsten Tag muss sie feststellen, dass er einer der alteingesessenen Sullivan-Brüder ist und damit einer ihrer neuen Chefs im Jachtclub, in dem sie einen Sommerjob angenommen hat. Bei der Arbeit versucht Josie, professionell zu bleiben und ihre Gefühle zu unterdrücken. Auf keinen Fall will sie sich wieder von einem Mann abhängig machen, und außerdem ist es ihr Ziel, im Herbst auf einem Forschungsschiff zu arbeiten. Aber je mehr Zeit sie mit Blake verbringt, desto schwieriger wird es, die Anziehung zu ignorieren, und Josie muss sich fragen, ob sie wirklich weiß, was ihr Herz will.

Weitere Informationen zu Nadine Kerger

sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

Nadine Kerger

Because of you I want to stay

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe März 2024

Copyright © by Nadine Kerger 2024

Copyright © dieser Ausgabe 2024

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Covermotiv: shutterstock / Konstanttin, letovsegda, Tori Art, MiOli, PROSKURINSERHII, lavendertime

Redaktion: Beate De Salve

ES · Herstellung: ik

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-30717-2V001

www.goldmann-verlag.de

Für H.Meinen großen Schatz

1

Der Atlantik liegt wie ein dunkler Bleiteppich vor uns, als die Fähre von Cape Cod in Richtung Martha’s Vineyard ablegt. Aber kaum haben wir das Hafenbecken verlassen und sind auf das offene Meer hinausgefahren, bricht der wolkenverhangene Nachmittagshimmel auf, und die Sonnenstrahlen glitzern auf der Wasseroberfläche wie tausend funkelnde Sterne.

»Endlich wird das Wetter besser!«, sagt meine beste Freundin Liv gut gelaunt und rutscht ein Stück näher ans Fenster.

»Ich fände Wolken und strömenden Regen irgendwie passender«, antworte ich und ziehe den Reißverschluss meiner Hoodie-Jacke mit dem Schriftzug des Boston-University-Schwimmteams nach oben. »Das würde wenigstens meiner Gefühlslage entsprechen. Warum sollte die Sonne scheinen, wenn ich am Tiefpunkt meines Lebens angekommen bin?«

Mit beiden Händen umfasse ich den heißen Kaffeebecher, der vor mir auf dem Tisch steht. Zumindest gibt er ein bisschen Wärme ab, denn mir ist seit Wochen dauerkalt – äußerlich und innerlich.

»Ach, jetzt hör auf, Josie!« Liv sieht mich streng an. »Du bist nicht am Tiefpunkt deines Lebens angekommen. Und selbst wenn – ab sofort wird es aufwärtsgehen, versprochen.«

Sie schiebt ihre große schwarze Brille mit dem Zeigefinger auf dem Nasenrücken nach oben, so wie sie es ungefähr vierhundert Mal am Tag macht. Ich habe ihr – ebenfalls schon an die vierhundertmal – gesagt, dass sie sich die Bügel enger stellen lassen soll, aber sie weigert sich standhaft und behauptet, von einer zu eng sitzenden Brille Kopfschmerzen zu bekommen.

Seit sie sich vor fünf Jahren in meiner allerersten Meeresbiologie-Vorlesung an der Boston University neben mich gesetzt hat, ist viel passiert. Nachdem wir unser Studium gemeinsam gemeistert hatten, habe ich einen Job als Laborantin im Abbott Institute for Marine Biologie in Dorchester angenommen, und Liv ist dabei, ihren Doktor zu machen – aber ihre Brille rutscht heute noch genauso wie am ersten Tag.

»Anstatt dich weiter vor Liebeskummer zu verzehren, solltest du lieber daran denken, was für eine tolle Zeit wir vor uns haben«, versucht sie mich aufzumuntern. »Deine Probleme werden sich schneller in Luft auflösen, als du ›Trübsal‹ sagen kannst. Wir werden den ganzen Sommer auf einer traumhaften Insel verbringen, in einem Haus direkt am Meer wohnen, jeden Tag am Strand sein, schwimmen, Ausflüge machen, Sundowner trinken …«

Sie klatscht vor Begeisterung in die Hände und strahlt mich an. Ich weiß, dass sie es gut meint, aber im Moment hört sich das, wovon sie da gerade schwärmt, für mich weniger nach Spaß, sondern eher nach Folter an. Das Einzige, was ich will, ist, in mein Bett zu kriechen, mir die Decke über den Kopf zu ziehen und die nächsten Wochen nicht mehr aufzustehen. Außer vielleicht, um aufs Klo zu gehen oder mir Oreos mit doppelter Cremefüllung aus der Küche zu holen.

»Ich bezweifle, dass sich alle meine Probleme über den Sommer in Luft auflösen werden«, sage ich matt. »Wie auch? Mein Leben ist ein einziger Scherbenhaufen.«

Ich schlucke den Kloß in meinem Hals herunter und versuche, die Tränen zurückzuhalten, die mir in die Augen steigen. Wie soll ein Sommer auf Martha’s Vineyard – so traumhaft Liv ihn sich auch gerade ausmalt – auch nur ein einziges meiner vielen Probleme lösen können?

»Dein Leben ist kein einziger Scherbenhaufen«, sagt meine Freundin mit einem aufmunternden Lächeln. »Das Leben geht weiter, auch wenn Nathan sich von dir getrennt hat.«

Natürlich weiß ich, dass sie recht hat. Aber von der Trennung einmal abgesehen, bin ich derzeit de facto auch noch arbeitslos, weil Nathan nicht nur mein Freund war, sondern auch mein Chef im Labor und Leiter der Forschungsreihe, an der ich arbeite. Als ich mich vor einem halben Jahr beim Abbot Institute beworben habe, schien es eine tolle Idee zu sein, mit ihm gemeinsam zu forschen, auch wenn mich jeder in meinem Umfeld davor gewarnt hat, Berufliches und Privates zu vermischen. Und letztendlich sollten sie recht behalten: Nathan hat mir nach unserer Trennung deutlich gemacht, dass es ihm lieber wäre, wenn ich das Institut verlasse. Also habe ich drei Monate unbezahlten Urlaub genommen, um mir zu überlegen, wie es in meinem Leben weitergehen soll. Ohne Job. Und ohne Nathan.

Nathan ist acht Jahre älter als ich, und als ich ihn kennenlernte, hat er meinen Kurs in Grundlagen der Biochemie geleitet. Er war so attraktiv, klug, souverän und gleichzeitig witzig, dass ich ihn sofort anziehend fand und über das Semester eine ernsthafte Schwärmerei für ihn entwickelt habe. Natürlich wäre ich niemals auf die Idee gekommen, dass etwas daraus werden könnte, schließlich war er mein Lehrer und deutlich älter als ich. Als er dann aber mit mir ausgehen wollte und wir schließlich zusammenkamen, konnte ich mein Glück kaum fassen.

»Hör auf, an Nathan zu denken«, unterbricht Liv mein davongaloppierendes Kopfkino. »Du hast ihn viel zu sehr angebetet.«

Es war Livs Idee, dass ich sie für die nächsten Monate auf die Insel begleite, wo sie in den Semesterferien ehrenamtlich in einer Seehundauffangstation arbeitet. Sie meint, es wäre die perfekte Ablenkung für mich, aber ich bin mir da nicht so sicher.

»Dabei hast du das gar nicht nötig!«, fährt Liv fort, und ihre Augen funkeln schelmisch. »Du siehst aus wie Anne Hathaway und bist so intelligent wie …«

»… Albert Einstein?«, schlage ich vor und muss wider Willen lachen. »Du spinnst, Livy.«

»Wie Sylvia Earle, wollte ich eigentlich sagen.«

»Danke.« Ich bin ein wenig gerührt, dass sie mich mit der berühmten Meeresbiologin und Umweltaktivistin vergleicht. »Für Anne. Und für Sylvia. Ich weiß gar nicht, wovon ich mich mehr geschmeichelt fühlen soll.«

Sie verdreht die Augen. »Was ich damit sagen will, ist: Vergiss den Typen! Er war nicht gut für dich.«

Liv hat meine Begeisterung für Nathan nie so wirklich nachvollziehen können. Wir haben in der Vergangenheit das Thema lieber gemieden, um unsere Freundschaft nicht zu belasten, aber heute scheint sie ganz besonders in Schwung zu sein.

»Erst überredet er dich, ein tolles Angebot für einen Masterstudiengang in Berkeley abzulehnen, damit du in seiner Nähe bleibst«, fährt sie gnadenlos fort, »und in seinem Labor anzufangen, anstatt deine Eltern ein Jahr auf Grönlandexpedition zu begleiten …«

Ich will etwas zu meiner Verteidigung vorbringen, aber Liv lässt mich nicht zu Wort kommen.

»Und jetzt macht er einfach so mit dir Schluss, um sich selbst zu finden? Was erwartet er zu entdecken?« Liv schnaubt spöttisch. »Sein Rückgrat? Viel Glück beim Suchen.«

Mir entfährt ein Seufzen. Ich weiß, dass meine Freundin auf meiner Seite ist und wie eine Löwin für mich kämpfen würde, aber im Moment verstärken ihre Worte nur die Leere in mir. Meine große Liebe hat mich verlassen, und an der Stelle in meinem Herzen, an der vorher noch Nathan war, klafft jetzt dieses große schwarze Loch.

»Lass uns das Thema wechseln«, erwidere ich matt. »Ich will das alles einfach nur irgendwie verdrängen. Weiter darüber nachzudenken tut mir zu weh.«

»Du sollst ihn nicht verdrängen – du sollst ihn vergessen!« Liv drückt meine Hand. »Und genau dafür hast du mich.«

Als Liv mir vorgeschlagen hat, mit ihr für die Sommermonate auf die Insel zu kommen, damit ich nicht alleine in Boston bleiben und Trübsal blasen muss, war mein erster Impuls, ihr abzusagen. Allein die Vorstellung, den Sommer mit fröhlichen Menschen in Urlaubsstimmung verbringen zu müssen oder all die von Liv geplanten Aktivitäten mitzumachen, war mir ein Graus. Außerdem konnte ich mir das alles wegen des unbezahlten Urlaubs schlicht nicht leisten.

Aber Liv hat einfach nicht lockergelassen und mich gedrängt, alle möglichen Bewerbungen abzuschicken, um mir meine Zeit auf der Insel zu finanzieren: als Kellnerin, Eisverkäuferin, Reinigungskraft für Ferienhäuser, als Babysitterin und Nanny … Am Ende habe ich einen Ferienjob in einem Jachtclub im Westen der Insel ergattern können, ganz in der Nähe von Livs Seehundauffangstation. Wir haben sogar Zimmer im selben Haus gefunden. Eigentlich wäre also alles perfekt – wenn ich mich nur nicht so verdammt elend fühlen würde!

Verwundert schaue ich auf, als Liv sich erhebt. »Wohin gehst du?«

»Ich hole uns einen Prosecco!«, sagt sie entschlossen und beugt sich zu mir herunter, um mir einen Kuss auf die Wange zu geben. »Mit diesem traurigen Gesicht ist ab sofort Schluss, denn jetzt beginnen die besten Sommerferien unseres Lebens!«

Am Landungsterminal in Oak Bluffs lassen wir uns etwas Zeit und fallen ein Stück hinter die anderen aussteigenden Passagiere zurück. Es ist ziemlich voll, denn morgen ist Memorial Day und damit der Start der Sommersaison auf Martha’s Vineyard.

Die Räder unserer Rollkoffer rattern über den regenfeuchten Asphalt, während wir an der langen Schlange der Autos vorbeilaufen, die auf die Autofähre warten.

»Schon merkwürdig, an einem Ort zu leben, den man nur mit einem Schiff erreichen oder verlassen kann, oder?«, sagt Liv nachdenklich, als wir den Schalter der Steamship Authority, dem Betreiber des Fährbetriebs, passieren. »Wenn du wegwillst – oder musst –, gibt es keine andere Möglichkeit, als auf eine Fähre zu warten oder einen Helikopter zu nehmen. Und bei schlechtem Wetter geht beides nicht.«

Ich nicke zwar, aber ich habe Probleme, mich auf ihre Worte zu konzentrieren. Zu sehr nimmt mich der Anblick ein, der sich uns bietet. Unwillkürlich bleibe ich stehen.

Vor uns liegt die Hauptstraße des Örtchens Oak Bluffs mit seinen pittoresken Häusern, kleinen Läden und Bars, und zu unserer Linken erstreckt sich die Uferpromenade mit einer großen Parkanlage direkt am Meer. Seaview Avenue lese ich auf einem Straßenschild und muss über den ebenso einfachen wie treffenden Namen schmunzeln, denn tatsächlich beginnt hinter dem schmalen, mit Dünengras bewachsenen Uferstreifen der schier endlose Atlantik. Es riecht nach Salz und feuchter Erde, und auf einmal habe ich das Gefühl, dass sich mein Herzschlag verlangsamt. Eine eigenartige Ruhe überkommt mich.

Die blauen Himmelsfetzen über uns sind größer geworden, und die durchbrechenden Sonnenstrahlen tanzen auf den weiß glitzernden Schaumkronen des Wassers. Eine wagemutige Möwe stürzt sich mit einem Schrei in die Fluten und taucht nur eine Sekunde später mit einem zappelnden Fisch im Schnabel wieder auf. Eine zweite kreuzt ihren Weg und versucht, ihr die Beute streitig zu machen.

»Kein Taxi weit und breit«, reißt mich Liv aus meinen Gedanken, und ich schließe hastig wieder zu ihr auf. »Wie kommen wir denn jetzt nach Menemsha?«

Etwas ratlos schauen wir uns um, aber anscheinend gibt es auf Martha’s Vineyard keine Taxis, oder die anderen Reisenden waren im Gegensatz zu uns so schlau, sich eins vorzubestellen. Auch ein Blick in die Uber-App bringt uns nicht viel weiter: keine Fahrer verfügbar.

»Was ist mit dem Bus?«, frage ich und deute in Richtung der Haltestelle am Landungsterminal.

»Der braucht eineinhalb Stunden, und wir müssen zweimal umsteigen«, antwortet Liv nach einem Blick auf ihr Handy. »Außerdem fährt der nächste erst in zwei Stunden.«

Das fängt ja gut an, denke ich, sage es aber nicht laut.

»Lass uns ein Stück die Hauptstraße entlanggehen«, schlage ich stattdessen vor. »Vielleicht finden wir im Stadtzentrum ein Taxi?«

Liv zieht die Augenbrauen hoch. »Das hier ist das Stadtzentrum, Josie.«

Aber dann greift sie doch nach ihrem Rollkoffer. Gemeinsam überqueren wir die Straße und laufen die Oak Bluffs Avenue entlang. Wir kommen an einem wunderschön dekorierten Blumenladen, einem Geschäft für Babybekleidung und einem Fahrradverleih vorbei. Außerdem entdecken wir eine kleine Buchhandlung, eine gemütlich aussehende Bar und einen Fischhändler. Alles sieht so sauber, behaglich und hübsch aus, dass ich fast den Eindruck bekomme, als sei ich ein paar Jahrzehnte in der Zeit zurückgereist oder in Stars Hollow gelandet.

»Was ist das?«, frage ich verwundert, als wir an der nächsten Straßenecke vor einem rechteckigen bordeauxrot angestrichenen Gebäude stehen bleiben.

»Das ist das Flying Horses Carousel«, erklärt eine ältere Dame, die gerade vorbeikommt.

Liv und ich schauen sie überrascht an. Aus Boston ist man es nicht gewöhnt, dass wildfremde Menschen einen so freundlich ansprechen, dafür sind die meisten Städter viel zu sehr in Eile. Aber die Dame hier scheint Zeit zu haben, denn sie stellt ihren Einkaufskorb ab, aus dem ein Strauß Sonnenblumen hervorlugt.

»Das Flying Horses Carousel ist das älteste Karussell der Vereinigten Staaten, das noch in Betrieb ist. Es stammt aus dem Jahr 1876 und wurde einst in New York gebaut. Dann wurde es irgendwann verkauft, abgebaut und hierhergebracht.«

Sie streicht sich eine weiße Locke aus dem Gesicht und steckt sie in ihr geblümtes Haarband.

»Das hört sich so an, als müssten wir uns das mal genauer ansehen«, sage ich.

Die Frau strahlt uns an, wobei sich in ihrem Gesicht tausend kleine Fältchen bilden.

»Das müssen Sie wirklich! Es ist eine der größten Attraktionen von Martha’s Vineyard. Außer den Aquinnah Cliffs, natürlich. Und unseren Lebkuchenhäusern. Den Stränden, dem Museum, den Farmermärkten.« Sie denkt kurz nach. »Und dem Gay Head Light, dem berühmtesten unserer Leuchttürme.«

»Sind Sie von hier?«, frage ich neugierig, denn ich habe in der Cosmo gelesen, dass nur fünfzehntausend Menschen dauerhaft auf der Insel leben, in den Sommermonaten aber mehr als hunderttausend Feriengäste über die Insel hereinbrechen.

»Ich bin hier geboren und aufgewachsen, habe hier geheiratet, meine Kinder bekommen und sie großgezogen«, antwortet sie und sieht ein klein bisschen stolz aus. »Seitdem ich vor sechzig Jahren geheiratet habe, wohne ich in Oak Bluffs – da hinten, direkt am Hafen –, und wenn es nach mir geht, werde ich auch hier sterben.«

Sie deutet in die Richtung, wo die Straße sich zum Meer hin öffnet. Mit etwas Fantasie kann man das Hafenbecken und einige Segelmasten erahnen.

»Das finde ich toll!«, ruft Liv begeistert, doch als sie merkt, wie sich das anhören muss, fügt sie schnell hinzu: »Also, ich finde es natürlich nicht toll, dass sie sterben werden. Ich meine, es ist toll, dass sie hier so lange gelebt haben …«

Sie bricht ab, und ich muss grinsen. Oh, Liv! Meine Freundin und ihr Mundwerk, das immer ein bisschen schneller zu arbeiten scheint als ihr Kopf.

»Ich glaube, ich kümmere mich lieber um das Taxi …«, murmelt sie verlegen und schaut die Straße hinunter.

Aber die Dame lächelt nur und nimmt ihren Korb wieder auf.

»Ich habe es schon richtig verstanden«, versichert sie und zwinkert uns zu. »Ich wünsche Ihnen einen wundervollen Urlaub. Und wenn Sie Süßes mögen und den besten Kaffee der Insel kosten möchten, vergessen Sie nicht, in die Black Dog Bakery zu gehen. Die gehört meiner Schwiegertochter.«

Wir bedanken uns, und ich nehme mir fest vor, dem Café einen Besuch abzustatten, während die alte Dame sich mit kleinen Schritten in Richtung des Hauses bewegt, in dem sie schon seit über sechzig Jahren lebt.

»Sollen wir Ihnen Ihre Einkäufe nach Hause tragen?«, rufe ich ihr spontan hinterher.

Sie dreht sich noch einmal zu uns um und schüttelt entschieden den Kopf. »Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich würde mich schrecklich alt fühlen, wenn Sie das täten. Und ich bin erst siebenundachtzig, wissen Sie?«

Mit einem Lächeln sehe ich ihr hinterher. Was für eine nette alte Frau. Ob hier alle Menschen so freundlich sind?

»Jetzt schau dich an«, spottet Liv neben mir belustigt. »Seit einem Monat versuche ich mit allen Mitteln, dich aufzumuntern, und die Erste, die es schafft, dir ein Lächeln zu entlocken, ist eine schrullige alte Oma mit einem Weidenkorb.«

»Die war aber auch wirklich süß«, entgegne ich und deute in Richtung des Flying Horses Carousel. »Hast du Lust, es dir kurz anzusehen?«

Liv nickt und zieht ihren Rollkoffer in Richtung des Gebäudes.

»Klar«, antwortet sie und schnauft, als sie beginnt, Koffer und Tasche die Stufen zum Eingang hochzuwuchten. »Die fünf Minuten haben wir, oder? Ein Taxi ist ohnehin nicht in Sicht.«

Drinnen empfängt uns Stimmengewirr und lautes Kinderlachen. Es herrscht ein fröhliches Durcheinander von Touristen, umherrennenden Kindern und Eltern mit Buggys, die mit ihren Handykameras Fotos schießen und Videos drehen.

Wir gehen an der Schlange zum Kartenschalter vorbei und stellen uns etwas an die Seite, um das alte Holzkarussell mit den wunderschön geschnitzten Pferden und Wagen zu bewundern. Eine Weile schauen wir dem bunten Treiben zu, bevor wir auf die Straße zurücklaufen, um erneut unser Glück mit einem Taxi zu versuchen.

»Wenn wir jetzt keins finden, rufe ich die Vermieterin an und frage sie, was wir machen sollen.« Liv stellt ihren Koffer am Straßenrand ab. »Vielleicht kann sie uns abholen.«

Gerade will ich etwas erwidern, da hält direkt neben uns …

»Ein Taxi!«, quietscht meine Freundin.

Während ich mich noch frage, ob mein Gehirn mir einen Streich spielt, reißt Liv bereits die Beifahrertür des Wagens auf.

»Ihr sucht nicht zufällig ein Taxi?«, fragt der Fahrer belustigt.

»Doch!«, rufe ich begeistert über Livs Schulter in den Wagen. »Sie schickt der Himmel!«

»Eher meine Großmutter«, erwidert er trocken und steigt aus, um uns mit den Koffern und Taschen zu helfen.

»Ihre Großmutter?«, hake ich verwirrt nach, während er das schwere Gepäck in den Kofferraum wuchtet.

»Ja«, bestätigt er und schlägt den Kofferraumdeckel mit einem herzhaften Knall zu. »Theresa Picket? Ihr habt gerade mit ihr gesprochen, als sie vom Einkaufen kam.«

»Die alte Dame mit dem Korb?«, fragt Liv ungläubig.

»Jepp«, erwidert unser Retter. »Sie hat mich angerufen und gemeint, dass zwei nette junge Damen auf der Straße herumlaufen und ganz offensichtlich ein Taxi suchen. Und ich war gerade in der Nähe.«

Liv und ich rutschen auf den Rücksitz und grinsen uns an, während der Taxifahrer, der sich uns als Paul vorstellt, den Blinker setzt und wendet.

Martha’s Vineyard fängt gerade an, mir richtig gut zu gefallen.

Während der Fahrt von Oak Bluffs nach Menemsha, die einmal quer über die Insel führt, plappert Paul ununterbrochen und weist uns, genau wie seine Großmutter vor ihm, auf die eine oder andere Sehenswürdigkeit hin. Wir durchqueren das Städtchen, aber sobald wir Oak Bluffs verlassen, sind wir wieder am Meer und fahren über eine lang gezogene Brücke.

»Diese Brücke verbindet Oak Bluffs und Vineyard Haven«, erklärt Paul, während wir eine Gruppe Fahrradfahrer überholen, die angehalten hat, um Fotos zu machen. »In Vineyard Haven gibt es ein spannendes Museum.« Im Rückspiegel sehe ich, dass er grinst. »Nun, zumindest für die Menschen, die sich für Dinge wie die Fresnel-Linsen, alte Chronometer und Sextanten interessieren. Aber auch sonst ist das Museum einen Besuch wert, denn es befindet sich in dem alten Marinekrankenhaus direkt an der Lagune. Und es zeigt einige Exponate zum Walfang im letzten Jahrhundert.«

Rasch werfe ich Liv einen Seitenblick zu. Meine beste Freundin ist Tierschützerin und ernährt sich rein vegetarisch. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob eine Ausstellung über das Abschlachten von Walen das Richtige für sie ist.

Aber Paul, der das natürlich nicht ahnen kann, fährt unbeirrt fort: »Und da vorne liegt das Black Dog Café. Das gehört meiner …«

»… Mutter?«, vollende ich seinen Satz und ernte einen irritierten Blick durch den Rückspiegel.

»Tante«, korrigiert er mich. »Meine Mutter ist Krankenschwester, genau wie meine Frau Mel.«

Das nimmt er zum Anlass, um mit einer ausführlichen Erzählung darüber zu beginnen, wie er seine Frau kennengelernt hat – in der zweiten Klasse – und wie er sie erobert hat – in der neunten Klasse. Ich höre nur noch mit einem Ohr zu, während ich fasziniert aus dem Fenster schaue.

Wir haben die letzten Häuser hinter uns gelassen, und die Straße führt nun abwechselnd durch Felder und Wälder. Hin und wieder kommen wir an großen Toren und breiten Auffahrten vorbei, die darauf schließen lassen, dass sich prächtige Anwesen dahinter verbergen. Wer weiß, ob sich hier irgendwo das Haus der Obamas, von Pink, Jennifer Lawrence oder Reese Witherspoon befindet, die alle hier regelmäßig Urlaub machen und zum Teil eigene Ferienvillen besitzen. Auch das stand in der Cosmo.

»Hier geht es zum Flughafen«, sagt Paul, als wir an eine kleinere Kreuzung kommen, und deutet nach links. »Als Barack Obama hier während seiner Präsidentschaft Urlaub gemacht hat, wurde der komplette Luftraum gesperrt. In der Zeit gab es keine Inselflüge mit dem Helikopter, nichts. Aus Sicherheitsgründen.«

Er biegt nach rechts ab.

»Übrigens war auch Prinzessin Diana mal hier«, fährt er fort. »Sie hat im Charlotte Inn in Edgartown gewohnt, und Tim – der Sohn des Hotelbesitzers – war für ihre Ausflüge verantwortlich. Er hat es geschafft, die ganzen Paparazzi abzuschütteln, die sie immer überallhin verfolgt haben. Das ist nicht mal ihren Bodyguards gelungen. Nach ihrer Abreise hat sie gemeint, dass sie nie zuvor einen so himmlischen Urlaub verlebt habe.«

»Und wie hat er das geschafft?«, hake ich neugierig nach. »Ich meine, die Paparazzi abzuschütteln?«

Paul stößt einen grunzenden Laut aus, von dem ich annehme, dass er Belustigung ausdrücken soll. »Einmal hat er einfach heimlich die Luft aus den Reifen der Autos der vor dem Hotel wartenden Paparazzi gelassen, sodass sie ihnen nicht folgen konnten. Außerdem hat er identisch aussehende Autos benutzt. Die Paparazzi haben angenommen, die Prinzessin sei in dem einen Wagen, doch in Wirklichkeit war sie in einem anderen.«

Das nächste Schild zeigt an, dass hier der Ort Menemsha beginnt, unser Zuhause für die nächsten Monate. Plötzlich bin ich ein bisschen aufgeregt und beuge mich nach vorne, um besser sehen zu können.

Paul, der schon den Blinker gesetzt hat, um in einen schmalen Weg abzubiegen, scheint das zu bemerken, denn er fragt: »Habt ihr noch etwas Zeit? Dann mache ich eine kleine Kennenlerntour durchs Dorf.«

Als Liv und ich synchron nicken, fährt er weiter geradeaus.

Auf den ersten Blick scheint Menemsha nur aus wenigen Straßen und ein paar zusammengewürfelten Häusern zu bestehen. Doch in der Harbor Street, die direkt am Hafenbecken entlangführt, herrscht reges Treiben, und hier tummeln sich die Fußgänger und Fahrradfahrer.

»Da vorne ist der Lobsterville Grill.« Paul deutet auf ein kleines Restaurant, vor dem einige Tische und Bänke aufgestellt sind. »Sieht einfach aus, aber hier gibt es den besten Hummer der Insel. Die Besitzerin Wendy war mal Regisseurin am Broadway, aber jetzt schwingt sie nur noch in ihrem Restaurant das Zepter. Das da ist sie übrigens.«

Eine kurvige Frau in einem pinken Kaftan mit Leopardenprint und mit kunstvoll toupiertem Haar kommt die zwei Stufen des Restaurants hinunter und beginnt, schwungvoll die regennassen Tische vor der Tür mit einem Lappen trocken zu wischen. Als sie das Taxi vorbeirollen sieht, hebt sie die Hand und winkt.

Paul grüßt zurück und deutet dann auf die andere Straßenseite.

»Da hinten sind der Fischereihafen und die Fahrradfähre, die man benutzen muss, wenn man zur Seehundauffangstation will.«

»Da arbeite ich!«, ruft Liv enthusiastisch.

»Oh, dann richte Andrew einen schönen Gruß von mir aus, er leitet die Station. Wir waren früher in einer Klasse«, sagt Paul und fährt direkt fort: »Direkt neben dem Lobsterville Grill liegt Kathleen’s Deli. Dort bekommt man Sandwiches und Donuts. Eine richtige Bäckerei oder ein Café gibt es leider nicht, dafür müsst ihr nach Chilmark fahren. Hier an der Ecke ist unser Supermarkt Pick & Carry, und dort hinten der auf der Insel ziemlich bekannte Newport Yachtclub. Die haben auch ein sehr gutes Restaurant und eine Marina. Dort liegen die Boote und Jachten der reichen Sommergäste – und die von uns Einheimischen natürlich auch.« Er zwinkert uns im Rückspiegel zu. »Aber wir bekommen einen Rabatt bei den Liegegebühren.«

Erneut beuge ich mich vor, um besser sehen zu können. Am Ende der Straße kann ich ein lang gezogenes weiß gestrichenes Gebäude erkennen, davor eine Rasenfläche und einen Parkplatz. Rechts davon befindet sich ein Gewirr aus Masten – offensichtlich gehören sie zu den Segelschiffen, die in der Marina liegen.

Das ist also der Jachtclub, in dem ich den Sommer über arbeiten werde.

Hoffentlich sind meine Kollegen nett, schießt es mir durch den Kopf.

Natürlich weiß ich, dass ich nur für drei Monate dort angestellt bin und außerdem nur einen Aushilfsjob habe, dennoch wünsche ich mir gerade nichts mehr, als eine entspannte Zeit dort zu haben. Ohne Drama, ohne Ärger und ohne ätzende Chefs oder Kollegen. Die mitleidigen Blicke der anderen Mitarbeiter im Labor an meinen letzten Arbeitstagen haben mir gereicht …

»Wenn ihr mal einen Fahrer braucht, könnt ihr mich jederzeit anrufen oder in der Harbor Hill Road Nummer 12 klingeln«, reißt mich Paul aus meinen Gedanken. »Da wohne ich nämlich.«

Er reicht uns eine Visitenkarte nach hinten, und Liv schiebt sie in die Tasche ihrer Jeans.

Paul wendet den Wagen und fährt auf der Hauptstraße zurück in die Richtung, aus der wir gekommen sind. Nur ein paar Hundert Meter, nachdem wir das Dorf hinter uns gelassen haben, biegt er auf einen von Dünengras gesäumten, unbefestigten Weg ab. Erst umgeben uns nur ein paar Bäume, aber dann öffnet sich die Sicht, und wir sehen hinter dem Dünenkamm das dunkelblaue Meer.

Am Ende der Straße entdecke ich ein Haus. »Seaside Cottage«, steht auf einem abgeblätterten und etwas schief hängenden Schild neben der Einfahrt.

»Ich hoffe, es ist schön …«, murmelt Liv und drückt sich die Nase an der Fensterscheibe platt, während wir langsam die letzten Meter in Richtung Haus rollen. »Das weiß man ja irgendwie nie, wenn man nur Fotos gesehen hat …«

Kaum hat unser Fahrer den Motor abgestellt, springen wir aus dem Auto. Wir sind aufgeregt wie kleine Kinder.

Vor uns liegt ein kleines, zweistöckiges Steinhaus mit Sprossenfenstern und blauen Fensterläden. Die gesamte rechte Seite des Hauses und der Schornstein sind von kleinen weißen Kletterrosen überwuchert, die auf dem besten Wege sind, auch vom Dach Besitz zu ergreifen. An der Hauswand steht eine verwitterte Bank, und rechts und links vom Eingang wachsen einige Hortensienbüsche, die in voller Blüte wunderschön aussehen müssen. Der Vorgarten ist von farbenprächtigen Wildblumen überwuchert.

»Das sieht so hübsch aus!«, sage ich begeistert, während ich Paul meine Hälfte des Fahrgeldes plus ein ordentliches Trinkgeld in die Hand drücke.

Noch bevor wir uns von unserem Fahrer verabschieden können, öffnet sich die Haustür und eine Frau in unserem Alter kommt heraus.

»Hi«, ruft sie und eilt uns mit großen Schritten entgegen. »Willkommen im Seaside Cottage! Ich bin Hannah.«

Wir stellen uns vor, und sie begrüßt uns mit einem kräftigen Händedruck und einem herzlichen Lächeln.

Hannah ist groß und hat ein hübsches Gesicht mit blassen Sommersprossen auf Nase und Wangen. Ihre langen blonden Haare sind zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden. Irgendwie erinnert sie mich ein bisschen an Blake Lively, auch wenn sie im Moment nicht gerade glamourös aussieht in ihren mit Farbe verschmierten Camouflage-Shorts und dem ebenso vollgeklecksten T-Shirt. Sogar im Gesicht entdecke ich ein paar Farbspritzer.

»Entschuldigt meinen Aufzug. Ich renoviere gerade eines der Zimmer im Erdgeschoss«, erklärt sie schnell, als sie meinen verwunderten Blick bemerkt.

Während Liv und ich unsere Reisetaschen schultern und die Koffer in Richtung Haus zerren, winkt Hannah unserem Taxifahrer zu.

»Hey, Paul, wie geht es euch? Wann kommt das Baby?«

»Bestens!«, antwortet er und winkt zurück. »Es kann jederzeit so weit sein.«

»Bestell Mel liebe Grüße von mir, und meldet euch, wenn ihr was braucht«, sagt Hannah und nickt uns zu, was wir als Aufforderung verstehen, ihr ins Haus zu folgen.

Wir bitten Paul, seiner Großmutter Grüße und ein herzliches Dankeschön auszurichten, dann verabschieden wir uns ebenfalls.

Gemeinsam betreten Liv und ich den schmalen Hauseingang, der mit weiß gestrichenem Holz getäfelt ist.

»Im Erdgeschoss wohnt meine Großmutter«, erklärt sie und deutet den Gang entlang, der links vom Flur abgeht, bevor sie die Tür rechts neben der Haustür öffnet. »Und hier ist das Wohnzimmer, das wir alle benutzen. Es gibt ein paar Sofas und Sessel, außerdem einen Kamin, vor dem man es sich gemütlich machen kann, wenn es abends kühl wird.«

Als ich Liv und Hannah in den Raum folge, halte ich den Atem an. Das Zimmer ist zwar nicht groß und auch recht einfach eingerichtet, aber durch die Fenster hat man einen atemberaubenden Blick auf das Meer, das hinter einem kleinen Garten und den mit Gras bewachsenen Dünen in der Sonne glitzert.

Hannah öffnet eine weitere Tür. »Und hier ist die Küche.«

Der Raum, der mit einem alten Herd, zusammengewürfelten Schränken, einem Tisch und einer Eckbank mit bunten Kissen ausgestattet ist, hat ebenfalls Meerblick.

»Ihr könnt eure Lebensmittel in den Kühlschrank legen und hier frühstücken oder kochen, ganz wie ihr mögt. Fühlt euch einfach wie zu Hause.« Sie lächelt und zwinkert uns zu. »Nur fremde Männer hat meine Oma nicht so gerne im Haus.«

Liv und ich wechseln einen Blick. Nichts liegt mir ferner, als hier irgendwelche Typen anzuschleppen!

Hannah öffnet die Tür Richtung Garten, und wir folgen ihr nach draußen. Genauso wie der Vorgarten ist der hintere Teil des Grundstücks von blühenden Wildblumen überwuchert. An der Seite wachsen ein paar knorrige Obstbäume und Rosenbüsche. Ein schmaler Weg führt durch die Blumenwiese zu einem kleinen Tor und durch die Dünen direkt zum Strand. Alles wirkt so ruhig und friedlich, dass ich unwillkürlich tief durchatme.

Auf der vermoosten Holzterrasse stehen ein Tisch mit sechs Stühlen sowie eine Bank, auf der eine ältere Frau mit zu einem Dutt zusammengebundenen grauen Haaren sitzt. Als sie uns sieht, lässt sie das Buch sinken, in dem sie gerade gelesen hat, und steht überraschend behände auf.

»Ihr müsst die zwei Mädchen sein, die den Sommer über bei uns wohnen?«, fragt sie und kommt zu uns herüber.

»Gran, das sind doch keine Mädchen!«, ruft Hannah und lacht. »Das sind erwachsene Frauen!«

»Papperlapapp.« Die Frau streckt mir die Hand hin. »Wenn du erst mal so alt bist wie ich, sind alle Frauen unter sechzig Mädchen, glaube mir.«

»Josie«, stelle ich mich vor und schüttele ihr die Hand, die in meiner fast etwas zerbrechlich wirkt. »Und das ist Liv.«

»Ich bin Louise, Hannahs Großmutter. Ich war früher die Eigentümerin des Seaside Cottage, aber jetzt gehört es meiner Enkelin.«

»Hör auf, Gran!« Hannah verdreht die Augen, und es scheint, als hätten sie diese Diskussion schon oft geführt. »Das Haus gehört dir. Ich wohne hier doch nur.«

Liebevoll sieht Louise erst ihre Enkelin an, dann zwinkert sie Liv und mir zu.

»Ich habe ihr das Haus längst überschrieben. Außerdem schmeißt Hannah den ganzen Laden, vermietet die Zimmer und kümmert sich um alles. Wir wissen also beide, dass ich diejenige bin, die hier bloß wohnen darf.« Hannah öffnet den Mund, um etwas zu erwidern, aber Louise fährt schon fort: »Und ihr beiden Hübschen macht hier Urlaub?«

»Ein bisschen Urlaub und ein bisschen arbeiten«, antwortet Liv und zwinkert mir zu. »Wir sind eigentlich Meeresbiologinnen und leben in Boston.«

»Also nicht nur hübsch, sondern auch klug«, erwidert Louise und nickt anerkennend. »Das finde ich wundervoll.«

»Kommt, ich zeige euch den Rest des Hauses«, sagt Hannah, und wir folgen ihr, nachdem wir uns von Louise verabschiedet haben.

»Sind wir denn die einzigen Gäste?«, fragt Liv, als wir wieder in der Küche stehen.

»Ja, im Moment schon«, bestätigt Hannah. »Ich würde das Haus irgendwann gerne in ein kleines Bed & Breakfast umwandeln, aber im Moment fehlen uns noch die Mittel, um alles professionell renovieren zu lassen.« Sie zuckt mit den Schultern und deutet auf ihre mit Farbe verschmierten Kleider. »In der Zwischenzeit versuche ich es selbst und bin froh, die beiden bewohnbaren Zimmer im ersten Stock für den Sommer an euch vermieten zu können. Den meisten Feriengästen wäre es hier wahrscheinlich nicht schick genug.«

»Wir brauchen nichts Schickes«, versichere ich schnell. »Wir freuen uns, dass wir in der Hochsaison bezahlbare Zimmer gefunden haben.«

»Klassische Win-win-Situation, würde ich sagen!« Hannah strahlt. »Wollt ihr sehen, wo ihr schlafen werdet?«

Mein Zimmer liegt direkt neben Livs, hat zwei kleine Fenster mit Klappläden in Richtung Garten und einen wundervollen Blick über die Dünen und das Meer. Ebenso wie das Wohnzimmer und die Küche im Erdgeschoss ist es einfach, aber gemütlich eingerichtet und sehr sauber. Die nächste Stunde verbringen Liv und ich damit, unsere Sachen auszupacken und uns in dem angrenzenden Badezimmer, das wir uns mit Hannah teilen müssen, frisch zu machen.

»Wie findest du es?«, fragt Liv, während sie sich die dunkelbraunen Haare vor dem kleinen Spiegel über dem Waschbecken bürstet und zu einem Zopf zusammenbindet.

»Einfach super«, erwidere ich und stelle meinen Kulturbeutel auf den Badewannenrand.

Als ich mich umdrehe, grinst meine Freundin mich glücklich an. Mir bleibt fast die Luft weg, als sie mich in ihre Arme reißt und an sich drückt.

»Wir werden den besten Sommer erleben, den es je gab!«, jubelt sie und hüpft aufgeregt auf und ab wie ein kleines Kind.

Voller Zuneigung erwidere ich ihre Umarmung. Ich wünsche mir so sehr, dass sie recht behält – und dass ich es schaffe, das Beste aus unserer gemeinsamen Zeit zu machen.

2

»Auf unseren ersten Abend auf Martha’s Vineyard!« So schwungvoll, wie Liv mit ihrem Weinglas gegen meins stößt, grenzt es an ein Wunder, dass es nicht zerbricht. »Und auf die vor uns liegende Zeit!«

Ich trinke einen großen Schluck und genieße das Gefühl, wie der kühle, frische Pinot Grigio meine Kehle herunterrinnt.

Wir sitzen im Lobsterville Grill, der mit den dunklen, holzvertäfelten Wänden und der langen, abgenutzten Eichenholztheke mehr eine gemütliche, kleine Bar als ein Restaurant ist. Nachdem wir unsere Koffer ausgepackt und uns im Cottage eingerichtet haben, haben wir einen Strandspaziergang gemacht, um uns nach der langen Reise ein wenig die Beine zu vertreten. Danach haben wir heiß geduscht, uns umgezogen und auf den Weg nach Menemsha gemacht. Der Ort liegt nur wenige Minuten Fußweg vom Seaside Cottage entfernt.

Das Restaurant ist gut gefüllt, und die Gäste sind schon in Feiertagsstimmung, aber wir haben Glück und können einen Tisch in der Ecke neben der Bar ergattern, an der ein paar Einheimische stehen und Bier trinken. Wir werden eingehüllt von Gelächter und fröhlichem Stimmengewirr, und zum ersten Mal seit vier Wochen fühle ich mich entspannt und bin gut gelaunt.

Ein Junggesellinnenabschied, bestehend aus fünf jungen Frauen in pinken Kleidern, poltert durch die Tür und wird mit großem Hallo begrüßt, obwohl ich nicht annehme, dass die Mädels von hier sind. Vielleicht kommen sie aus New York, zumindest legen das die blinkenden Freiheitsstatuen auf ihren Haarreifen nahe.

Als Erstes stürzen sie sich auf die Männer an der Bar, und tatsächlich finden sie in ihnen dankbare Abnehmer für die Kaugummis, Kondome und Küsse, die sie verkaufen. Als die Restaurantbesitzerin Wendy großzügig eine Runde eines klebrig aussehenden rosa Likörs ausgibt, wirken die Frauen erst nicht so begeistert, doch dann stellen sie sich der Herausforderung und kippen das Zeug tapfer hinunter.

Schmunzelnd nehme ich mir einen Nacho und dippe ihn in die leckere Tomatensalsa, bevor ich ihn mir in den Mund schiebe. Vielleicht liegt es an der frischen Meeresluft oder aber an der langen Reise, jedenfalls bin ich völlig ausgehungert. Neidisch beäuge ich die frittierten Gemüsesticks, die Liv sich bestellt hat.

Sie grinst und schiebt dann den halb vollen Teller zu mir rüber.

»Du kannst den Rest haben«, sagt sie großzügig. »Ich bin froh, wenn du endlich mal wieder mit Appetit essen kannst.«

»Danke!« Ich ziehe den Teller zu mir heran. »Ich glaube, ich bestelle mir noch die Muscheln. Oder sind die zu teuer?«

Sehnsüchtig schaue ich zum Nachbartisch, an dem ein Mann in einer schwarzen Lederjacke sitzt, der gerade einen dunkelblauen Emailletopf mit lecker aussehenden Miesmuscheln in Gemüsesud vor sich stehen hat. Er fängt meinen Blick auf und zieht kurz einen Mundwinkel nach oben. Es wirkt fast so, als wüsste er, dass ich scharf auf sein Essen bin. Ein wenig unsicher lächele ich zurück, merke aber gleichzeitig, dass ich rot werde.

Wow, flirttechnisch bin ich ja offensichtlich völlig aus der Übung. Schnell schaue ich wieder weg.

»Wenn du mich fragst, solltest du heute Abend einfach mal alles vergessen«, sagt Liv nachdenklich. Ganz offensichtlich hat sie mich beobachtet. »Hab einfach Spaß, tu irgendetwas Verrücktes.«

»Mit ihm?«, frage ich halb ungläubig, halb belustigt und nicke unauffällig mit dem Kopf in Richtung Nachbartisch.

Liv zuckt mit den Schultern und schiebt ihre Brille hoch. »Du sollst tun, was sich für dich richtig anfühlt. Aber ja, Sex mit einem Fremden ist eine völlig legitime und im Übrigen millionenfach erprobte Methode, um Liebeskummer zu überwinden.«

Ich kann mir ein spöttisches Schnauben nicht verkneifen, denn Liv ist – genauso wie ich – eigentlich nicht der Typ für One-Night-Stands. Sie hatte im zweiten Studienjahr einen Freund, aber die Beziehung hielt nicht sehr lange. Ich hingegen habe in den letzten fünf Jahren zumindest geglaubt, den Richtigen gefunden zu haben. Aber das war wohl ein Irrtum.

Oder ist Nathan vielleicht der Richtige für mich, ich bin aber nicht die Richtige für ihn? Gibt es so was?

Mein Lächeln erlischt so schnell, wie es gekommen ist. Genauso wie mein Appetit. Ich schiebe den Teller mit den Gemüsesticks wieder in Livs Richtung.

Mist. Ich wollte doch nicht mehr an Nathan denken!

Zum Glück scheint Liv meinen Stimmungsumschwung nicht zu bemerken.

»Du bist immer so …«, fährt sie nachdenklich fort und sucht nach Worten, während sie sich eine frittierte Karotte in den Mund schiebt. »So kontrolliert, so fleißig und so zielstrebig«, fällt es ihr schließlich ein. »Du hast immer nur die besten Noten geschrieben, warst der Liebling aller Professoren. Für deine Eltern bist du die perfekte Tochter, für Nathan warst du die perfekte Freundin. Solange wir uns kennen, hast du noch kein einziges Mal über die Stränge geschlagen.«

»Ich bin einfach nicht der Typ, der über die Stränge schlägt«, sage ich und füge hinzu: »Genauso wie du, wenn ich dich daran erinnern darf.«

»Oh, ich habe vor, es in diesem Sommer so richtig krachen zu lassen«, behauptet sie und wirft mir einen schelmischen Blick zu. »Männertechnisch, meine ich.«

Ich verschlucke mich an meinem Wein und muss husten. »Wie bitte?«

»Du hast schon richtig gehört.« Sie grinst. »Mein fester Vorsatz für diese Ferien ist es, Sex zu haben. Viel Sex! Irgendein heißer Kerl, der mich will, wird sich doch wohl finden lassen. Vielleicht sogar zwei oder drei?«

»Ich bin davon überzeugt, dass sich Dutzende Männer finden lassen, die dich wollen, aber …«

»Siehst du, das meine ich«, fällt sie mir ins Wort und verdreht die Augen. »Du bist immer viel zu vernünftig!«

Ich beiße mir auf die Unterlippe und schaue noch einmal zu dem Mann am Nachbartisch hinüber. Der isst konzentriert seine Muscheln und merkt glücklicherweise nicht, dass ich ihn mustere. Er ist ziemlich attraktiv, wenn auch nicht im klassischen Sinne gutaussehend. Eher … gutaussehend mit Ecken und Kanten.

»Okay, du hast ja recht.« Ich seufze und trinke noch einen Schluck Wein. »Was bringt es dir, auf den Richtigen zu warten? Schau mich an. Ich dachte, Nathan sei meine große Liebe, und was habe ich davon?«

Ein Schatten fällt auf unseren Tisch, und wir sehen beide hoch. Wendy steht vor uns, die Hände in die Hüften gestützt. So aus der Nähe betrachtet hat sie ein bisschen was von Miss Patty, der Tanzlehrerin aus Gilmore Girls.

»Die große Liebe gibt es nicht, Schätzchen, glaub mir«, donnert sie und lacht herzhaft, wobei die toupierten Haare mit den großen, glitzernden Ohrringen um die Wette wippen. »Und ich muss es wissen, immerhin war ich viermal verheiratet, bin dreimal geschieden und einmal verwitwet.«

Einen Moment starren wir sie sprachlos an, dann grinst Liv. »Da hörst du es, Josie. Vergiss deinen blöden Ex und schau lieber nach vorne!«

»Genau«, pflichtet Wendy ihr bei und zwinkert mir verschwörerisch zu, während sie unsere leeren Teller abräumt. »Männer gibt es wie Sand am Meer, und das Leben ist zu kurz, um einem von ihnen hinterherzutrauern. Man sollte seine Zeit lieber mit sinnvollen Dingen verbringen. Mit Kuchenessen oder Schuhekaufen, Champagnertrinken, Reisen, Lesen … Mir würde so vieles einfallen, was besser ist, als irgendeinem Kerl nachzuweinen!«

Lachend dreht sie sich um und bahnt sich einen Weg durch die Gästeschar in Richtung Küche. Der Mann vom Nachbartisch lässt seine Gabel sinken und schaut zu uns herüber. Hat er etwa mitbekommen, was wir besprochen haben?

»Ich würde mir gut überlegen, ob ich auf die Ratschläge von jemandem höre, der viermal verheiratet war«, sagt er mit einer leicht hochgezogenen Augenbraue.

Dann lächelt er, und wieder werde ich ein bisschen rot. Er hat eine tiefe Stimme, die mir eine leichte Gänsehaut verursacht. Leider fällt mir keine halbwegs intelligente oder witzige Antwort ein, aber glücklicherweise klingelt in diesem Augenblick das Handy des Fremden, und nachdem er uns noch einmal zugezwinkert hat, nimmt er den Anruf an.

»Auf jeden Fall …«, sagt Liv, wieder an mich gewandt, und schenkt den letzten Schluck aus der Flasche in mein Glas, »… werde ich aufhören, auf den Richtigen zu warten und mir einfach den Heißesten suchen. Und das solltest du auch tun.«

Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, aber Liv lässt mich nicht zu Wort kommen.

»Keine Widerrede! Komm, lass uns noch eine Flasche Wein bestellen. Und du bekommst deine Muscheln, egal was sie kosten.«

Eine Stunde später ist auch die zweite Flasche geleert, und Liv hat als »Absacker« zwei Gin Tonic bestellt. Ich bin es nicht gewöhnt, so viel Alkohol zu trinken, und spüre bereits die volle Wirkung. Ganz wohl ist mir nicht dabei, denn morgen ist mein erster Arbeitstag, aber gleichzeitig ist es ein angenehmes Gefühl, das mich für den Moment all meine Sorgen vergessen lässt. Na ja, zumindest dämpft der Alkohol den scharfen Schmerz des Liebeskummers, der mich seit Wochen begleitet, und verwandelt ihn in ein vages, leicht melancholisches Gefühl in der Magengegend.

»Puh!« Liv seufzt und zückt ihr Portemonnaie. »Ich bin völlig erschlagen und muss ins Bett. Kommst du mit?«

Ich schaue auf mein Handy. Es ist gerade mal kurz nach neun.

»Wäre es okay, wenn ich noch etwas bleibe?«, frage ich und versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass ich noch nicht zurück ins Cottage will.

Gerade geht es mir halbwegs gut, aber die Vorstellung, jetzt schon ins Bett zu gehen, wo ich mit meinen Gedanken an Nathan allein sein werde, verursacht mir ein ungutes Gefühl. Und schlafen könnte ich jetzt ohnehin noch nicht. Erster Arbeitstag hin oder her.

»Klar«, sagt sie und schiebt zwei Fünfzigdollarscheine über den Tisch. »Dann sehe ich dich gleich im Cottage? Oder morgen – je nachdem, wie spät es bei dir wird.«

Sie drückt mir einen Kuss auf die Wange, und ich sehe ihr nach, während sie sich einen Weg in Richtung Tür bahnt. Als sie verschwunden ist, nehme ich mein Handy und schaue mir die Fotos an, die ich heute im Laufe des Tages gemacht habe. Einem Impuls folgend, suche ich eins vom Cottage, eins vom Garten und ein Selfie von Liv und mir am Strand heraus und schicke sie meinen Eltern.

»Viele Grüße von Martha’s Vineyard!«, schreibe ich darunter und schicke noch drei rote Herzchen hinterher.

Gerade als ich die Foto-App schließen will, springt mir ein Bild von Nathan und mir ins Auge – das letzte, das es von uns gibt. Am Tag unserer Trennung sind wir nach Rockport gefahren, haben die Stadt besichtigt und dort zu Mittag gegessen. Mir ist an diesem Tag überhaupt nichts Ungewöhnliches aufgefallen, außer vielleicht, dass Nathan auf der Rückfahrt etwas schweigsamer war als gewöhnlich. Als wir wieder in seiner Wohnung angekommen sind, haben wir das erste Mal seit langer Zeit miteinander geschlafen. Direkt danach hat Nathan Unterhose und T-Shirt angezogen, sich auf die Bettkante gesetzt und gesagt, dass er sich nicht mehr sicher ist, ob er mich noch liebt. Er müsse sich darüber klar werden, was er wirklich will. Ohne mich.

Hätte er sich das nicht früher überlegen können? Er liebt mich nicht mehr, aber für eine letzte Runde Sex reicht es noch?

Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie gedemütigt und ausgenutzt ich mich gefühlt habe. Zumindest hätte er warten können, bis ich mir was übergezogen habe, bevor er mir das Herz bricht. Ich muss den Kloß herunterschlucken, der sich bei der Erinnerung an diesen Tag in meinem Hals gebildet hat.

Mein Daumen schwebt über dem Foto, aber ich kann mich nicht dazu durchringen, es zu löschen. Nathan hat das Selfie gemacht. Er grinst in die Kamera, während ich ihm einen Kuss auf die Wange presse, was mein Gesicht seltsam zerknautscht aussehen lässt. Aber ich weiß, dass ich glücklich war.

Und er? Kann man in seinen Augen irgendetwas erkennen? Gibt es irgendwelche Anzeichen dafür, dass er mich gar nicht mehr geliebt hat?

Erst als Wendy verkündet, dass in fünf Minuten ein Pub-Quiz losgeht, werde ich aus meiner Grübelei gerissen. Der Trubel, den eine solche Veranstaltung mit sich bringt, passt so gar nicht zu meiner melancholischen Stimmung, und ich beschließe, mich nach draußen zu setzen.

Ich bezahle unsere Rechnung und stecke Livs Restgeld in die Jeanstasche, damit ich es ihr morgen zurückgeben kann. Dann verlasse ich die Bar und suche mir mit meinem fast leeren Gin-Tonic-Glas einen Platz auf einer der Bänke vor der Eingangstür. Es ist mittlerweile dunkel, und während wir gegessen haben, scheint es noch mal geregnet zu haben, denn es tropft vom Vordach. Ich rutsche so nah es geht an die Hauswand und ziehe die Beine an, damit ich keine nassen Füße bekomme.

Von meinem Platz aus hat man einen direkten Blick auf den Menemsha Pond, das kleine Hafenbecken und die Boote. Bei Sonnenschein muss es hier traumhaft schön sein. Das leise Plätschern, mit dem das Wasser an die Kaimauer trifft, wirkt entspannend, und ich bin so tief in meine Gedanken versunken, dass ich gar nicht bemerke, wie jemand neben mich tritt.

»Ich bin wohl nicht der Einzige, der keine Lust auf das Quiz hat?«, fragt eine Stimme neben mir, und mein Kopf ruckt hoch.

Da steht er, der Muschel-Mann vom Nachbartisch, eine Flasche Bier lässig in der Hand an der Hüfte. Bereits in der Bar ist mir aufgefallen, dass er attraktiv ist, aber erst jetzt erkenne ich, wie gut er aussieht. Er ist groß, und sein Gesicht erinnert mich ein wenig an Adam Demos, aber seine Haare sind kürzer und schwarz.

Bevor ich auf seine Frage antworten kann, fügt er mit einem Kopfnicken in Richtung des Stuhls neben meiner Bank hinzu: »Darf ich mich dazusetzen?«

»Natürlich«, antworte ich schnell und räuspere mich, weil meine Stimme etwas kratzig klingt. Offenbar ist nicht nur meine Flirttechnik eingerostet.

Er zieht seine Lederjacke aus, wirft sie über die Stuhllehne und setzt sich. Verstohlen mustere ich ihn von der Seite.

Sowohl mein erster als auch mein zweiter Eindruck bestätigen sich aus der Nähe. Er sieht gut aus, aber auf eine raue Art und Weise. Die Wangen und das Kinn sind von einem dunklen Dreitagebart bedeckt, seine dichten, vollen Haare ein wenig strubbelig. Gesicht und Arme sind gebräunt, als würde er viel Zeit an der frischen Luft verbringen. Er trägt verwaschene Jeans, einen Ledergürtel, schwere Boots und …

Ich kneife die Augen zusammen, weil ich nicht glauben kann, was ich da sehe. Sein T-Shirt ist babyblau, und auf seiner Brust prangt der Schriftzug »I love Martha’s Vineyard«. Statt des »o« in dem Wort »love« ist ein schreiend pinkes Herz aufgedruckt.

Ich muss mir ein Grinsen verkneifen und wende schnell den Blick ab, bevor er merkt, wie sehr mich sein Outfit amüsiert. Touristischer geht es wirklich kaum – auch wenn ich zugeben muss, dass seine breiten Schultern das lächerliche Shirt ziemlich perfekt ausfüllen.

»Was ist die meistverkaufte Buchreihe des 21. Jahrhunderts?«, ertönt es da von drinnen durch das nur angelehnte Fenster hinter uns. Das Pub-Quiz scheint loszugehen.

»Harry Potter«, murmele ich in demselben Moment, in dem der Muschel-Mann neben mir sagt: »Harry Potter.«

Wir lächeln uns kurz an, bevor wir beide wieder geradeaus aufs Wasser schauen und ein Boot beobachten, das in der Dunkelheit ins Hafenbecken einfährt. Ein paar Touristen sitzen am Heck und singen eine sehr schiefe Version von »Sail on, Sailor« von den Beach Boys. Scheint ein feuchtfröhlicher Tag auf dem Meer gewesen zu sein.

»Wie lautet der Name des Cafés in der Sitcom Friends?«, höre ich den Barkeeper.

»Central Perk«, sage ich reflexartig, und wieder antwortet mein Sitznachbar im selben Moment dasselbe wie ich.

Wir sehen uns an. Sein Lächeln ist wirklich ansteckend. Er hat einen schönen Mund und kleine Lachfältchen um die Augen. Und ein Grübchen auf der linken Wange. Schnell schaue ich wieder nach vorne, wo das Boot gerade, ganz langsam, eine Lücke zwischen zwei anderen Booten ansteuert.

»Mit welchem Film gewann Leonardo DiCaprio 2016 seinen Oscar?«

Wieder antworten wir zeitgleich. »The Revenant.«

Ich muss ein Kichern unterdrücken.

»Obwohl ich ihn in Django Unchained um Klassen besser fand«, kommt es von links, und ich drehe mich zu ihm um.

»Meiner Meinung nach war Titanic sein bester Film«, sage ich mit Überzeugung. Wer hat Leo in diesem Film nicht geliebt?

Er nickt ernst. »Und auf dem Brett wäre auf jeden Fall auch noch Platz für Jack gewesen, wenn Rose ein bisschen zur Seite gerutscht wäre.«

Unwillkürlich lache ich laut auf. »Auf jeden Fall!«

Jetzt dreht der Fremde sich mit dem ganzen Körper zu mir um, und ein Lächeln umspielt seine Lippen. »Was hältst du davon? Wer als Erstes eine Frage falsch beantwortet, zahlt die nächste Runde.«

Wieder fällt mir auf, wie dunkel seine Stimme ist, und seine unübersehbare Attraktivität in Verbindung mit seinem durchdringenden Blick löst bei mir ein merkwürdiges Gefühl in der Magengrube aus. Ich schaue auf mein leeres Glas und nicke.

Er beugt sich vor und streckt die Hand aus. »Ich bin übrigens Blake.«

Der Muschel-Mann heißt Blake, denke ich. Ein schöner Name.

Bin ich betrunken, oder warum zur Hölle habe ich eine Meinung dazu, ob der Name des Muschel-Manns schön ist oder nicht?

»Josie«, sage ich schnell und ergreife seine Hand.

Sie ist warm und sein Händedruck angenehm fest. Glücklicherweise wird drinnen gerade die nächste Frage gestellt, und ich versuche angestrengt, mich zu konzentrieren.

»Wo wurde Barack Obama geboren?«

»Honolulu«, sagen wir beide wie aus der Pistole geschossen.

Unsere Blicke treffen sich. Selbst im schwachen Licht der Terrassenbeleuchtung sehe ich, dass seine Augen blau sind. Ozeanblau. Faszinierend.

Unser Schweigen dehnt sich aus, bis die nächste Frage gestellt wird.

»Was ist der tiefste Punkt der Erde?«

Wieder antworten wir gleichzeitig: »Der Marianengraben!«

Wir halten immer noch Blickkontakt, aber ich muss wegschauen, bevor die nächste Frage gestellt wird. Sonst bin ich einfach zu abgelenkt.