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Der verstrahlte Planet Becquerel ist das Ziel der Träume verschiedenster Interessensgruppen. Für die einen ist er eine unerschöpfliche Quelle an Energie und Rohstoffen. Manche sehen in ihm ein ideales Testgelände für eine neue Waffe. Andere sehnen sich nach Rache für einen verlorenen Krieg. Für den gezeichneten Viktor Steiner aber ist Becquerel lediglich der Ort, an dem seine Albträume wohnen.
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Seitenzahl: 403
Veröffentlichungsjahr: 2022
Buchbeschreibung:
Der verstrahlte Planet Becquerel ist das Ziel der Träume verschiedenster Interessensgruppen. Für die einen ist er eine unerschöpfliche Quelle an Energie und Rohstoffen. Manche sehen in ihm ein ideales Testgelände für eine neue Waffe. Andere sehnen sich nach Rache für einen verlorenen Krieg. Für den gezeichneten Viktor Steiner aber ist Becquerel lediglich der Ort, an dem seine Albträume wohnen.
Über den Autor:
Joachim Angerer ist österreichischer Science-FictionAutor. Sein erstes Werk "Becquerelsche Träume" erschien ursprünglich im September 2017. Weitere Werke des Autors sind: "Die maschinellen Technokraten" (Juli 2020), "Gestaltete Wirklichkeit" (Juli 2021) und "Becquerelsche Ränke" (Oktober 2021)
2. Auflage 2022, Vorgängerausgabe 2017
© 2022 Joachim Angerer
Titelbild: Itunes Store / Graphic Node
Covergestaltung: Joachim Angerer / Alfred Vejchar
ISBN Softcover: 978-3-347-46175-8
ISBN Hardcover: 978-3-347-46188-8
ISBN E-Book: 978-3-347-46189-5
Druck und Distribution im Auftrag:
tredition GmbH
Halenreie 40-44
22359 Hamburg
Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag von: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Becquerelsche Träume
Joachim Angerer
Sei weniger interessiert an Menschen und mehr an Ideen.
Marie Curie
Kapitel 1
Von der Ferne drang ein Heulen an mein Ohr und rüttelte mich wach.
»Wir werden angegriffen!«, dröhnte ein Gedanke.
Ich drehte hektisch meinen Kopf in alle Richtungen.
Kein Angriff.
Ich war allein.
Erleichtert seufzend ließ ich mein Haupt zurück auf das Polster sinken. Der schmutzstarrenden Matratze entströmte zwar ein schwach modriger Geruch, aber ich sog das muffige Aroma dennoch ein - war es doch der Beweis, dass ich mich tatsächlich auf der Erde befand. Viel würde mir dieser Tag nicht bieten, da schien Weiterschlafen noch die beste Option. Tief durchatmend schloss ich die Augen.
Doch - wie so oft - hegte irgendjemand andere Pläne für mich. Ein zweites Mal drang dieser unangenehme Heulton an mein Ohr. Er stammte nicht von einer Alarmsirene – zumindest darüber herrschte Klarheit. Ob dies die Situation allerdings verbesserte, würde sich noch zeigen müssen …
Verdrossen hievte ich mich schwerfällig von meinem Lager und schlurfte in Richtung Esstisch. Zum Telefon - dem einzig funktionierenden Elektrogerät in der Wohnung.
Nun, das entsprach nicht ganz den Tatsachen, denn könnte ich die Stromrechnung begleichen, wären auch die anderen Gerätschaften wieder in Betrieb.
Aber angesichts der aktuellen Strompreise war ich bei weitem nicht der einzige, der nachts ein paar Kerzen anzündete, wenn er Licht brauchte. Das Telefon dagegen besaß eine eigene Energiequelle. Tief in seinem Inneren ruhte - sorgsam isoliert – ein radioaktiver Kern, dessen Strahlung in Elektrizität umgewandelt wurde.
Bis die Reserven des zerfallenden Herzens verbraucht wären, würde das Gerät schon längst defekt sein. Oder zumindest völlig veraltet.
Bevor die Energiekrise die Preise in die Höhe trieb, war für die meisten Menschen beides ein gleichwertiger Kaufgrund. Ich dagegen hätte den Apparat schon längst liebend gern eingetauscht, aber leider gehörte er meinem Arbeitgeber. Und der verlangte permanente Erreichbarkeit.
Ein Ausschalten war nicht möglich. Nicht einmal versehentlich verlegen ließ sich das Teil – zumindest nicht, ohne dass sein Eigentümer es bemerkte. Irgendein verdammter Sensor schien meine Anwesenheit zu registrieren, denn bis heute erfolgte keine Nachricht während meiner Abwesenheit.
Nun gut, irgendwie schuldete ich dem Anrufer – sozusagen als Gegenleistung – ein wenig Aufmerksamkeit, denn seine unerwartete Kontaktaufnahme befreite mich aus einem lästigen Traum. Sobald es nichts zu erledigen gab, und Langeweile einsetzte, begannen meine Gedanken in schöner Regelmäßigkeit um längst vergangenes Grauen zu kreisen. Für heute aber reichte es mir mit den Träumereien …
Murrend griff ich nach dem lästigen Gerät. Kaum näherte sich meine Hand bis auf wenige Zentimeter, aktivierte sich das Telefon. Seine sensible Einstellung registrierte meine ausreichende Nähe zur Entgegennahme des Anrufs.
»Neuer Auftrag. Entlohnung 150 Millionen. Ferndistanz. Sie haben 10 Minuten zur Entscheidung«, erklärte mir eine sanfte Frauenstimme. Damit endete der Anruf.
Söldneragenturen besaßen bekanntlich nicht den besten Ruf. Weder im Hinblick auf ihre Mitarbeiter, noch ihre Aufträge. Zumindest Letzteres hoffte die Agentur, durch Einsatz einer solch unschuldig klingenden Sprecherin aufzuwerten.
150 Millionen klangen allerdings alles andere als … unschuldig. Mit dem Telefonapparat in der Hand trottete ich zu meiner Pritsche und ließ mich wieder auf die Matratze fallen. Es galt jetzt gründlich zu überlegen.
Die Agentur würde mich nicht zur Annahme des Auftrags zwingen. Es erwies sich zwar als unratsam, mehrere Angebote in Folge zu ignorieren, aber da ich erst vor einer Woche einen Auftrag erledigte, eröffnete sich mir in dieser Hinsicht etwas Spielraum. Sicher, es existierten genügend rationale Gründe, um abzulehnen:
Einerseits natürlich die Tatsache, dass hohe Prämien zumeist gleichzeitig erheblichen Ärger und/oder Lebensgefahr in Aussicht stellten. Dann war da die Gewissheit, dass das Wörtchen »Ferndistanz« irgendeinen Ort im Nirgendwo andeutete.
Die Bezahlung, so hoch sie war, überzeugte nicht wirklich. Sicher, ich könnte mit dem Geld meine Stromrechnung zahlen. Ein funktionierender Kühlschrank, der mehr als nur ein improvisiertes Regal war, hätte was.
Von dem Rest ließen sich meine Mietschulden begleichen, denn ich war mit dieser Rechnung - wie mit so vielen - schon wieder etwas im Rückstand.
Nur, wer war das nicht in dieser Armensiedlung?
Wenn der Vermieter mich wegen meiner Schulden rauswarf, müsste er den halben Block mit auf die Straße setzen. Einen solchen Unruheherd würde er nicht riskieren – dafür war mein Rückstand nicht hoch genug.
Aber selbst wenn es doch so wäre, würde ich dieser Wohnung keine Träne nachweinen. Da lag ich nun auf meiner Pritsche, mit einer Liste von Ablehnungsgründen.
Ich hob das Telefon und starrte es an. Tja, es stand mir frei »Nein« zu sagen …
Dennoch steuerte mein Finger zielstrebig auf »Bestätigen« zu.
Tatsächlich war ich alles andere als »frei«. Die einzige Alternative zu diesem Auftrag bestand in unerträglicher …Langeweile. Mein Bedarf an Schlaf, Albträumen und Nichtstun war inzwischen aber mehr als gedeckt. Wie gefährlich der Auftrag auch sein würde – er verschaffte mir zumindest dringend erforderliche Abwechslung.
So stimmte ich also zu. Nicht des Geldes wegen, sondern um zu fliehen. Vor einem … Traum.
Na gut, rationale Gründe klangen vermutlich anders.
Aber nur als Beweis persönlicher Freiheit abzulehnen, schien mir irgendwie auch nicht vernünftiger. Der Anflug eines Grinsens umspielte meine Mundwinkel, als ich mir das Telefon auf die Brust legte und mit hinter dem Kopf verschränkten Händen zur Decke starrte. Schon so manches Mal hatte mich der Sensenmann knapp verfehlt. Würde es mir wieder gelingen, Gevatter Tod ein Schnippchen zu schlagen?
Von der Zimmerdecke schweifte mein Blick durch das Zimmer.
Voraussichtlich würde ich für längere Zeit nicht zurückkehren. Vielleicht überhaupt nicht. Wäre wahrscheinlich sogar besser. Womöglich würde ich am Ende sonst noch anfangen, mich in diesem Loch zuhause zu fühlen.
Der einzige Ort, an dem mir das in der Vergangenheit tatsächlich zumindest ansatzweise gelang, war ein gewisser fremder Planet …
Verdammt, da waren sie wieder: Diese elenden Erinnerungen, denen ich endlich entfliehen wollte! Hoffentlich meldete sich die Agentur bald.
Als verstehe es die Aufforderung, aktivierte sich das Telefon.
»Wir gratulieren zu Ihrem Auftrag, Herr Steiner. Der Kunde wird in 10 Minuten bei Ihnen sein«, verkündete die viel zu freundliche Stimme.
Hausbesuch? In 10 Minuten? Dass die Agentur aber auch immer Wert darauf legen musste, sich als möglichst unberechenbar zu erweisen!
Befürchtete man, dass ich mich quasi in letzter Minute absetze? Wohin denn?
Manch naiver Möchtegern-Söldner mochte vielleicht kurz vor Beginn einer Mission in Panik geraten.
Aber derart ahnungslos war ich alter Hase schon lange nicht mehr. Wer sich mit der Agentur einließ, den ließ sie nicht ohne ihren Anteil ziehen. Bei diesem Glücksspiel fuhren nicht alle schlecht – sofern man nicht vergaß, wer die Bank war …
Der Gedanke, dass mich in wenigen Minuten irgendein reicher Geldsack besuchen würde, besaß etwas Amüsantes. Falls der hier Luxus erwartete, musste er eine herbe Enttäuschung hinnehmen:
Der Kühlschrank in der Kochnische war leer, und im Schrank gegenüber der Pritsche hing mein letztes sauberes Hemd.
Nicht, dass ich Grund hätte, mich für den Kunden herauszuputzen. Wer immer es war, würde kaum davon ausgehen, auf einen elegant gekleideten Edelmann zu treffen.
Aber wem würde ich in wenigen Minuten wohl gegenüberstehen? Einem reichen Pinkel, der mit angewiderter Miene auf der Schwelle verharrte? Einem seiner geleckten Lakaien?
Letzteres erschien wahrscheinlicher. Sogenannte »feine Herren« ließen sich zwar durchaus häufig mit Söldnern ein, aber nur selten mit ihnen blicken. Man achtete sorgsam auf die sprichwörtlich »weiße Weste« – und meine war weder im übertragenen, noch im wörtlichen Sinne sauber.
Das Geräusch schwerer Schritte im Treppenhaus drang vom Flur her durch die Tür. Die stampfenden Tritte verrieten mir, dass sie nicht von meinen Nachbarn stammten. Dazu waren sie zu ordentlich, zumindest was Lärm betraf. Ein Blick auf die Uhr des Telefons zeigte, dass die 10 Minuten inzwischen verstrichen waren. Es könnte sich somit um den angekündigten Kunden handeln.
Allerdings kam auch eine Reihe anderer Möglichkeiten in Betracht: Als Söldner verfügte man über verhältnismäßig wenige Freunde, dafür aber naturgemäß über ein ansehnliches Arsenal an Feinden.
Die Schrittgeräusche näherten sich. Knapp vor meiner Tür verstummten sie.
Kurz darauf klopfte es. Ein zurückhaltendes, höfliches Klopfen. Kein energisches Hämmern. Das und der Lärm im Stiegenhaus verrieten schon einiges über meinen Besucher. Ein Attentäter hätte sich nicht durch Krach verraten. Zumindest keiner, der Ahnung von seinem Job hatte. Natürlich gab es eine ausreichend große Anzahl von Schwachköpfen, die diesem Beruf aufgrund einer Mischung aus Gier, Verzweiflung und Selbstüberschätzung nachgingen.
Mit Sicherheit war die Person vor der Tür kein Geldeintreiber - weder Möchtegern, noch Profi. Beide Vertreter dieser Gattung klopften nicht sanft an, sondern fielen mit der Tür ins Haus. Ihre Devise hieß »Einschüchterung«. Wäre aber seltsam, einen dieser raffgierigen Schläger ausgerechnet vor meiner Tür zu sehen. Jeder von denen mit zumindest minimalem Grips wusste doch, dass hier nichts zu holen war.
Vorsichtshalber langte ich nach der kleinen Strahlenpistole in dem Halfter unter meinem Hemd. Es gab Söldner, die ihre Waffe offen trugen, um sie notfalls schneller ziehen zu können. Aber mir war dieses Relikt aus der Zeit im Wächterkorps hierfür bislang nicht nützlich genug gewesen. So trug ich es lieber verdeckt. Wie auch meine Albträume … Auf manche Dinge wollte man nicht angesprochen werden, auch wenn man sie ständig mit sich trug.
Nachdem das Korps seine letzte Niederlage erlitten hatte, und wir der Rückkehr zur Erde entgegenblickten, steckte man jedem von uns eine dieser Strahlenpistolen aus Restbeständen zu.
Niemand wusste, was uns auf der Erde erwarten würde, aber eine Reihe finsterer Gerüchte machte die Runde.
»Jeder Zehnte wird gehängt. Damit die anderen Neun nicht auf die Idee kommen über den Krieg zu reden«, raunte einer der Wächter.
»Schwachsinn«, widersprach ein Zweiter. »Die ersten Neun lassen sie über die Klinge springen. Den Zehnten sperren sie für immer hinter Gitter, damit sie ihn notfalls verhören können.«
Im Nachhinein erwies sich alles als Blödsinn. Das Wächterkorps wurde zwar offiziell zur verbrecherischen Organisation erklärt, aber dennoch kam keines seiner Mitglieder hinter Gitter - oder an den Galgen.
Die Sache war mehr als Drohung zu verstehen: Haltet die Klappe und erzählt nichts über das Korps, dann lassen wir euch in Ruhe. An mich zumindest war dieses Angebot verschwendet. Ich hatte ohnehin wenig Lust, über die Vergangenheit zu reden. Die Gedanken reichten mir.
Ich entsicherte meine Waffe. Außer im Dienst hatte ich noch nie jemanden erschossen. Die Vorstellung, mit dieser Tradition nun womöglich zu brechen, widerte mich an.
Auf leisen Sohlen schlich ich zur Tür und riskierte einen Blick durch den Spion.
Verglichen mit dem Anblick im Stiegenhaus schien selbst der Gedanke an einen Geldeintreiber mit einem Mal gar nicht mehr so absurd. Der dort geduldig wartende Dickwanst wirkte weder wie der Bedienstete eines Billiardärs, noch wie ein potentieller Gewalttäter.
Vor meiner Tür stand ein schwer atmender, korpulenter Mann, der optisch wie ein Mittfünfziger wirkte, auch wenn eine solche Schätzung in Zeiten von Verjüngungstherapien unsicher war. Die Zähne, sichtbar durch den geöffneten und heftig Luft einsaugenden Mund, deuteten jedoch darauf hin, dass ihr Besitzer keinem gesteigerten Schönheitsideal nacheiferte.
Auf seinem grauen Jackett zeichneten sich dunkle Schweißflecken ab. Die Stufen, nicht gerade wenige – immerhin wohnte ich im obersten, dem 10. Stock – hatten ihn wohl jeglicher Kraft beraubt.
Grinsend steckte ich die Strahlenpistole wieder ein und öffnete die Tür.
»Falls Sie gekommen sind, um mich umzubringen, lassen Sie mich vorher zu Ihrer großartigen Tarnung gratulieren.«
»Bitt-he?«
Er riss den Mund noch weiter auf, aber ihm fehlte die Luft, um zu antworten. Stattdessen sah er mich halb fragend, halb entgeistert an.
»Nur ein kleiner Scherz. Sie sehen nicht wie der harte Cowboy aus, den man erwarten würde.«
Ich trat zurück und wies ihm mit ausgestrecktem Arm den Weg in die Wohnung. Wortlos dankend nickte er, griff schwer atmend in die Innentasche seines Sakkos und reichte mir ein kleines Kärtchen.
»Vielen … Dank, dass Sie … mich empfangen. Hier … meine Karte.«
Mit aufgerissenen Augen starrte ich verblüfft auf das Stück Papier in seiner Hand.
Julius Vasalle – Soldatengewerkschaft
Soldatengewerkschaft!?
Schweigend deutete ich zum Tisch mit den beiden Sesseln. Wieder bedankte er sich stumm nickend und stapfte durch den Raum.
Mit einem Schnaufen, das klang, als steche man einen Reifen ab, ließ er sich auf den Sessel fallen.
Das Möbelstück protestierte ächzend.
»Ah, echtes Holz! Eine Seltenheit heutzutage, Herr Steiner.«
»Hab ihn auf einem Flohmarkt ergattert.«
Ich setzte mich meinem seltsamen Besucher gegenüber an den Tisch. Als sei sie aus den kostbarsten Materialien, betastete seine linke Hand die Armlehne. Auf seinem Gesicht erschien ein wehmütiges Lächeln.
»Ja, in Geschäften werden nur noch Kunststoffmöbel angeboten. Das Diktat der Kosteneffizienz.«
»Also, teuer war er nicht, falls Sie das meinen.«
Mit einer Hand wies ich auf die kärgliche Einrichtung.
»Hier ist alles billig. So billig, dass man auch den Strom für den Aufzug abgedreht hat. Aber … «, ich deutete vielsagend auf sein verschwitztes Jackett,» … das haben Sie wohl schon bemerkt.«
»Ja, durchaus.«
Aus der Innentasche seines Sakkos zog er umständlich ein Stofftaschentuch hervor und wischte sich Schweißperlen von der Stirn.
»Ihr Vermieter besticht leider nicht durch Großzügigkeit.«
»Tja. Er dreht dem Aufzug den Strom ab, dafür zahle ich keine Miete … würde sagen, wir sind quitt.«
Fein säuberlich faltete er sein Taschentuch zusammen und schob es zurück in die Innentasche, während ich ihn schweigend dabei beobachtete.
»Sie passen noch weniger in diese Welt als ich.«
Fragend blickte er mich nur an, als müsse er seinen knappen Atem für Wichtigeres aufsparen.
»Sie benutzen ein Stofftaschentuch, ließen sich kein Teenagergebiss verpassen, Ihr Anzug entspricht auch nicht mehr dem neuesten Trend - und außerdem verwenden Sie … Visitenkarten.«
Um die Reaktion meines Gegenübers abzuschätzen, legte ich eine Pause ein. Doch als er mit keinem Muskel zuckte, setzte ich erneut an.
»Was sind Sie? So etwas wie der letzte Gentleman?«
Der Kunde schwieg weiterhin, doch sein Gesicht schien aufzuwachen. Auf seiner Stirn bildeten sich einige zusätzliche Falten.
»Heutzutage glaubt man, alles mit dem Stigma »alt« Belastete ablegen zu müssen«, sagte er schließlich. »Dabei muss doch selbst das neuzeitlichste Gebäude auf einem bewährten Fundament ruhen. Tja, alles hat zunehmend moderner, kostengünstiger und effizienter zu werden. Für dieses oberflächliche Ziel wird das Original geopfert – und jeweils durch ein Zerrbild ersetzt. Und eines Tages müssen wir uns schließlich selbst ersetzen, weil wir als Menschen dann nicht mehr in diese Welt passen.«
Eine seltsame Traurigkeit schwang in seinen letzten Worten mit.
»Sie wissen, was Leute wie ich so tun, Vasalle. Philosophieren gehört nicht wirklich dazu.«
»Natürlich, verzeihen Sie.« Entschuldigend hob er die Hände. »Doch Sie werden feststellen, dass ich tatsächlich gar nicht weit vom Thema abgewichen bin.«
Jetzt war ich es, der ihn fragend ansah.
Vasalle fuhr unbeirrt fort: »Nun, was meinen Sie? Wie lange wird es angesichts all der von Maschinen übernommenen Tätigkeiten noch dauern, bis sie den Menschen völlig ersetzen?«
»Was denn, Sie gehören doch nicht etwa zu denen, die in Angst vor einer Maschinenwelt leben? Dieser Zukunftsalbtraum hat schon eine Menge Staub angesetzt.«
»Verzeihung, aber Sie wissen nicht, was Sie da reden, Herr Steiner.«
»Dann sollten wir besser zur Sache kommen. Oder bin ich der bestbezahlte Zuhörer im Sonnensystem?«
»Nun, ob Sie es glauben oder nicht: Wir sind bereits zur entscheidenden Kernfrage vorgedrungen.«
Vasalle ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, als verstreiche für ihn die Zeit langsamer.
»Wie gut kennen Sie sich mit Humandrohnen aus?«
Erwartungsvoll schaute er mich an.
»Ist das die Kernfrage?«
Mein Gegenüber nickte stumm.
»Ich weiß, wie man sie behandeln muss, damit sie möglichst schnell kaputt gehen.«
»Gut, wobei ich zuversichtliche Hoffnung hege, dass dies nicht nötig sein wird.« Wie um Spannung zu erzeugen, legte er eine Pause ein, bevor er weitersprach.
»Es geht darum, Humandrohnen von Menschen zu unterscheiden.«
»Und das soll Ihnen 150 Millionen wert sein?«
»Nun, nicht direkt mir. Aber den Herstellern dieser Drohne. Um ehrlich zu sein, hat mich die hohe Summe selbst überrascht. Aber daran erkennt man wohl, wie bitter ernst es denen ist. Die neueste Generation der Humandrohnen soll äußerlich unmöglich von Menschen zu unterscheiden sein.« Vasalle beugte sich vor und fixierte mich eindringlich.
»Wir brauchen jemanden mit Ihrer Erfahrung. Jemand, der sich mit Humandrohnen in Extremsituationen befand – und daher all ihre Schwächen kennt.«
Ich glaubte nicht an das Schicksal. Eigentlich glaubte ich an gar nichts. Doch in diesem Moment schien es mir, als würde mich irgendeine Macht furchtbar verarschen und sich dabei totlachen.
»Wenn ich Sie richtig verstehe, Vasalle, wollen Sie also, dass ich in meiner Erinnerungskiste ein bisschen nach der Zeit im Wächterkorps stöbere, richtig?«
»Ich weiß, es muss schwer für Sie sein. Aber es ist notwendig.«
»Gar nichts wissen Sie!«
»Ob Sie es mir glauben oder nicht. Ich … war auch in der Armee.«
Der Fettsack? Soldat? Unwillkürlich starrte ich auf seinen beträchtlichen Bauchumfang.
Scheinbar war die Verpflegung in der Armee doch besser als ihr Ruf. Wahrscheinlich hatte der Dicke nur irgendeinen Bürojob innegehabt. Mitglieder der Fronttruppe sahen anders aus.
Aber selbst wenn Vasalle tatsächlich ein Ex-Elitesoldat war und sich seine Zusatzpfunde erst später angefuttert hatte, spielte dies keine Rolle.
»Ja, gut, ich gebe zu, in den letzten Jahren etwas zugenommen zu haben.« Vasalle wiegte verlegen den Kopf. Meine Blicke deutete er richtig, die Gedanken jedoch falsch.
»Ist mir egal, was Sie einmal waren, Vasalle. Ich war nie einer Ihrer Kameraden. Darauf hat die Armee doch selbst Wert gelegt. Wie heißt es so schön: Wer mit seinem Leben nichts anzufangen weiß, der geht zur Armee …«
»… Mit wem die Armee nichts anzufangen weiß, der geht zum Wächterkorps«, vervollständigte er meinen Satz und fuhr in eindringlichem Tonfall fort: »Ja, ich kenne dieses Zitat. Es stimmt, man erkennt dem Wächterkorps immer noch nicht den Status einer regulären Armee zu. Es sind schlimme Dinge passiert. Aber, glauben Sie mir, ich will keinesfalls über Sie urteilen. Ich weiß, was man sich über das Wächterkorps erzählt. Aber ich versichere Ihnen: Ich vertrete weder die Ansicht, dass alle Mitglieder Kriegsverbrecher waren, noch die Auffassung, dass alle diesen Dienst freiwillig leisteten.«
Sein Blick bekam etwas Flehendes. Wie der eines Speichelleckers, der darum bettelte, nicht als solcher enttarnt zu werden.
»Bitte! Wir brauchen Sie, Herr Steiner.«
»Warum hat die Soldatengewerkschaft denn solche Angst vor den Dingern? Die Armee bestückt doch schon seit Jahren ein schweres Kriegsgerät nach dem anderen mit Autopiloten. Jetzt gibt es halt zusätzlich diese neuen Humandrohnen. Kann Ihnen doch recht sein, oder? Dank besserer Ausrüstung sterben weniger Ihrer Mitglieder. Mir wäre es jedenfalls lieber gewesen, wenn man uns damals nicht nur Schrott geschickt hätte. Die Roboter waren für uns gefährlicher, als für den Feind.«
Vasalle seufzte.
»Sie … verstehen nicht. Nun, ich kann es Ihnen nicht verdenken. Vielleicht ändern Sie Ihre Meinung, wenn ich Ihnen die ganze Geschichte erzähle. Ich konnte meinen Einfluss nutzen, um Details über Ihre Mission zu erfahren. Wenn Sie den Gesamtzusammenhang erfahren, werden Sie mir zustimmen.«
Oha! Endlich begann das Gespräch interessant zu werden! Die Agentur setzte für gewöhnlich auf absolute Verschwiegenheit. Zumeist erfuhr ich über den Beginn einer Mission nicht mehr als Ort und Zeitpunkt.
Wurde nunmehr mit dieser Tradition gebrochen? Verdammt ungewöhnlich. Aber bislang schien alles an diesem Auftrag seltsam. Angefangen von der hohen Bezahlung bis hin zum Hausbesuch dieses Kunden - oder was auch immer dieser Typ sonst sein mochte.
Wahrscheinlich log er mich nur an. Sollte mir recht sein. Die Nachricht der Agentur war echt. Wenn Sie mir 150 Millionen dafür zahlten einen dummen Zuhörer zu spielen, dann störte mich das nicht.
»Sie haben Recht, der Einsatz von Drohnen für Militärzwecke stellt nichts Neues dar.«
Der Kunde setzte zu einem erneuten Monolog an. Ergeben blickte ich zur Zimmerdecke.
»Der Unterschied im Hinblick auf diesen neuen Prototyp einer Humandrohne besteht jedoch darin, dass er Menschen nicht unterstützen, sondern ersetzen soll. Warum wohl, glauben Sie, soll er von Menschen nicht zu unterscheiden sein? Ginge es allein um Einsätze in Kriegsgebieten, könnte man genausogut eine Riesenspinne oder eine andere Monstrosität kreieren. Nein, der Mensch soll ersetzt werden.
Historisch betrachtet, war es immer das Militär, auf das neue Erfindungen zuerst losgelassen wurden. Die Atomrakete? Militärisch betrachtet völlig wertlos. Keine Einzige kam jemals in einem Krieg zum Einsatz. Aber die Kernwaffen bildeten den ersten Schritt auf dem Weg ins nukleare Zeitalter.
Mit diesem Prototyp wird es nicht anders sein. Zuerst verschwinden Soldaten. Dann Polizisten. Am Ende befindet sich die gesamte Staatsgewalt in Händen desjenigen, der die Humandrohnen kontrolliert.
Menschen besitzen einen Willen. Sie können sich Befehlen widersetzen. Roboter nicht. Unternehmen wir nichts, stehen wir an der Schwelle zu einer neuen Art von Totalitarismus. Einem, aus dem es kein Entrinnen gibt.«
Mit verschränkten Armen lehnte ich mich im Sessel zurück.
»Hm, ich soll also die Welt retten, ja? Ist das meine Mission?«
»Verzeihen Sie, wenn ich ein wenig abgeschweift bin. Aber ich möchte, dass Sie die Dringlichkeit der Mission verstehen. Was den eigentlichen Auftrag betrifft: Sie sollen ein Team durch ein unbevölkertes Gebiet führen, wobei einer Ihrer Teamkollegen die Humandrohne sein wird.
Offiziell geht es darum, dieses Gebiet auf seine wirtschaftliche Nutzung hin zu untersuchen. Inoffiziell aber soll der Prototyp getestet werden.
Als Leiter dieser Unternehmung liegt es an Ihnen, die Leistung der Mitglieder in Form eines Berichts zu bewerten. Von Ihrer Bewertung hängt somit das Schicksal des Humandrohnenprojekts ab. Ich bitte Sie daher, die Humandrohne zu identifizieren und dann negativ zu bewerten.«
»Wenn die - wer auch immer sie sind - einen Roboter testen wollen, wieso schicken sie dann einen Söldner und keinen Ingenieur mit? Oder ziehen wir direkt in irgendeine Schlacht?«
»Nein, keine Schlacht. Es ist nur so, das entsprechende Gebiet liegt nicht auf der Erde, sondern auf … Becquerel.«
Ich hörte das letzte Wort nicht, ich fühlte es. Das Schicksal gab sich nicht damit zufrieden mich zu verarschen. Es trat mir in die Eier.
Vasalle musterte mich besorgt.
»Wie fühlen Sie sich, Herr Steiner?«, fragte er naiv.
»Na, wie wohl!«, fuhr ich ihn an. »Warum wollen die mich zurückschicken in dieses verfluchte … Höllenloch?«
»Schauen Sie auf Ihre Stromrechnung, dann wissen Sie es. Seit der Entdeckung der Radiovoltaik ist die Weltwirtschaft von radioaktiven Erzen abhängig. Auf der Erde gehen die Ressourcen zur Neige. Auf Becquerel werden sie das nie.«
»Labern Sie mich nicht voll!« Erbost erhob ich die Stimme.
»Ich weiß, was es in diesem Drecksloch gibt! Der ganze verdammte Planet ist ein einziges Stück Atommüll. Ich war schon einmal dort, um die Versorgung mit Rohstoffen zu sichern. Jeder Eingeborene, der sich einzumischen versuchte, wurde von uns Wächtern abgefackelt. Bis sie dann zurückschlugen. Die Menschheit scheiterte schon einmal an Becquerel. Was ich von Ihnen wissen will ist, wieso dieses eine Mal nicht ausreicht!«
»Reichtum, Macht, Wirtschaftswachstum … Suchen Sie es sich aus«, antwortete Vasalle ruhig, ohne dabei seine Stimme zu heben.
»Die Reichen und Mächtigen dieser Welt strichen nie Becquerel von ihrer Liste, sondern nur die Soldaten, die den Preis dafür zahlen mussten.«
»Verdammt! Zum letzten Mal, Vasalle: Kommen Sie mir nicht mit den Soldaten! Keiner von denen traute sich nach Becquerel. Stattdessen stampfte man unsere kleine „Elitetruppe“ aus dem Boden – um sie dann zur verbrecherischen Organisation zu erklären!«
»Bitte, Herr Steiner«, bat Vasalle. »Ich sagte doch schon: Ich verurteile niemanden.«
Als brauche er mein Einverständnis, um fortfahren zu dürfen, schaute er mir bittend in die Augen.
»Ach, zur Hölle! Reden Sie schon weiter, Vasalle.«
»Danke. Sie haben Recht. Der letzte Krieg ging verloren. Daraufhin verbannten die siegreichen Bewohner Becquerels uns von ihrem Planeten.
Selbstverständlich riss die Kommunikation zwischen beiden Seiten niemals vollständig ab. Seitens der Erde erfolgten immer wieder zaghafte Verhandlungsversuche. Wie diese sich im Detail darstellten, kann ich nicht sagen.
Soweit ich informiert bin, spielen Humandrohnen dabei jedoch eine Rolle. Die Minenbetreiber weigern sich, ungeschützt nach Becquerel zu reisen. Dadurch wären sie den Eingeborenen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Die wiederum weigern sich, bewaffnete Menschen auf ihrem Planeten zu akzeptieren.
Die Lösung: Als Wächter eingesetzte Humandrohnen.
Mit einigen wenigen Robotern könnten sich die Eingeborenen abfinden. So hat man es mir jedenfalls erzählt. Zur besseren Kontrolle würden auch zumindest kurzfristig ein paar Menschen auf Becquerel stationiert werden. Scheinbar wenden die Eingeborenen dagegen nichts ein. Aber all diese Pläne setzen voraus, dass der Prototyp seinen Anforderungen gerecht wird.
Somit fiel die Wahl auf Sie, Herr Steiner: Sie besitzen die notwendigen Ortskenntnisse und haben während des Kriegs Erfahrungen mit den damaligen Humandrohnen gesammelt. Verstehen Sie die Sachlage jetzt besser?«
Er pausierte.
Ich verstand sogar verdammt gut. Im Gegensatz zu Vasalle.
»Da Sie wissen, dass ich dort war, müssten Sie auch wissen, dass ich nicht unbedingt dorthin zurückkehren will.«
»Ja.« Vasalles Miene nahm einen Anflug vorgeblicher Traurigkeit an. »Ja, ich weiß, wie Sie sich bei dieser Aussicht fühlen müssen. Aber es gibt einen Aspekt der Sache, der Sie vielleicht motiviert: Entlarven und kritisieren Sie die Humandrohne, wirft dies kein gutes Licht auf das Projekt. Vermutlich wird man es dann sogar streichen.«
Klar, dass diese Aussicht Vasalle gefiel. Keine Robotersoldaten – keine Konkurrenz für die Soldatengewerkschaft. Aber was hatte ich davon?
»Ha! Als ob die Menschheit freiwillig jemals ihre Finger von Becquerel lassen würde«, murrte ich.
»Seien Sie sich da nicht so sicher, Herr Steiner. Neben der Radiovoltaik existieren durchaus alternative praktikable Formen der Energienutzung. Steigen die Preise für radioaktive Erze weiter, wird der Menschheit nichts anderes als der endgültige Verzicht auf diese Technologie übrig bleiben. Indirekt hätte das Korps dann gesiegt. Nie wieder müsste ein Mensch auf Becquerel sterben.«
Dieses Übermaß an Heuchelei war einfach nicht zu ertragen!
»Gut, zum Teufel, ich mache es! Aber halten Sie endlich das Maul!«
»Danke, tausendmal Danke! Sie retten uns alle.«
Umständlich nestelte er eine Speicherkarte aus seiner Sakkotasche und schob sie über den Tisch.
»Darauf sind alle Daten gespeichert. Stecken Sie sie einfach in Ihr Telefon.«
»Weiß schon, wie das Ding funktioniert«, brummte ich, steckte die Karte ein und stand auf.
»Dann war´s das also. Den Weg hinaus kennen Sie ja. Liebe Grüße an Ihre … Kameraden.« Das letzte Wort zog ich sarkastisch in die Länge.
Vasalle erhob sich schwerfällig und stapfte Richtung Tür. Nach einigen Schritten blieb er stehen, drehte sich um und sah mich halb nachdenklich, halb ungläubig an.
»Ich muss gestehen, ich hatte erwartet, dass es schwerer sein würde, Sie zu überzeugen.«
»Hab der Agentur schon zugesagt. Wie sollte ich da noch Widerstand leisten?«
»Fürchten Sie sich denn nicht davor, sich Ihren Dämonen zu stellen?«
»Ich halte nicht viel von Aberglauben. Davon abgesehen: Warum sollte ich mich vor Becquerel fürchten? Das letzte Mal habe ich dort meine Angst verloren.«
»Wer keine Angst kennt, kann vermutlich nichts empfinden.«
»Schätze, meine Empfindsamkeit liegt wohl auch noch irgendwo auf Becquerel herum.«
»Und Sie haben keine … Albträume?«
»Schauen Sie keine Kriegsfilme, Vasalle?«
»Nein.«
Gleichmütig zuckte ich mit den Schultern.
»Der Veteran kehrt immer an den Wohnort seiner Albträume zurück, um den einen letzten Auftrag auszuführen. Ob er will oder nicht. So will es das Klischee.«
Vasalle schmunzelte verhalten, wandte sich der Tür zu und ließ mich allein in meiner Wohnung zurück.
Albträume. Was wusste der Fettsack schon davon? Würde ich mich jetzt hinlegen, kämen die Bilder vom Strahlenland garantiert zurück. So als habe sie jemand in mein Gehirn geritzt – als wären sie Realität.
Aber vielleicht waren sie das ja, und das Leben auf der Erde nur ein Traum. Einer, der mich davon ablenkte, Becquerel nie entkommen zu sein.
Mein Blick glitt über die Billigmöbel. Hier würde ich die Wahrheit nicht finden. Aber vielleicht im Strahlenland.
Kapitel 2
Schwarzgräuliche Rußwolken stiegen vom Heck des Taxis auf. Fasziniert beobachtete ich, wie sich verbrannte mit unverbrannter Luft zu einem gasförmigen Brei vermischte. Ein Prozess, den es gar nicht mehr geben dürfte.
Vor zehn Jahren, als die Förderung radioaktiver Erze auf Becquerel ihrem Höhepunkt entgegensteuerte, wurde die Herstellung von Verbrennungsmotoren offiziell verboten. Zu dreckig, ineffizient – und vor allem: Veraltet.
Künftig sollten nur mehr mit Radiovoltaik ausgestattete Elektroautos die Straßen befahren. Die Menschheit, so hieß es, habe das fossile Zeitalter hinter sich gelassen.
Eine Zeitlang ging dieser Plan auf. Aber das Dumme an verlorenen Kriegen besteht darin, dass keiner mit ihnen rechnet.
Vor acht Jahren endeten die Kämpfe auf Becquerel und somit der Nachschub kostengünstiger radioaktiver Erze. Leider vergaß man, sich das einzugestehen. Der Neubau von Verbrennungsmotoren blieb weiterhin verboten.
Zum Glück waren die alten Maschinen nie völlig verdrängt worden. Nicht selten landete eine Rostlaube statt in der Schrottpresse, zurück auf der Straße.
Die vielen bräunlichen Flecken des Taxis zeigten, dass es diesem Gefährt ebenso ergangen war. Ging Vasalles Plan auf, würde dieser Wagen schon bald umfangreichere Gesellschaft bekommen. Zumindest, bis man das Verbrennerverbot endlich kippte.
Was würden die Ingenieure der Elektroautos dazu sagen? Die Technologie, die sie zu eliminieren versuchten, löste jetzt ihre Erfindung ab. Tja, Geschichte definiert Fortschritt anders als die Menschheit.
»Zum Raumhafen«, wies ich den Fahrer des Taxis an, dessen Finger ungeduldig auf dem Lenkrad trommelten. Das Öffnen der Hintertür entlockte ihr ein jämmerliches Quietschen. Wen die Taxigesellschaft für die Straßenzulassung dieser altersschwachen Karre wohl bestochen haben mochte?
Ich ließ mich auf den Sitz fallen. Die alten Metallfedern kommentierten es mit mürrischem Knarren. Das Taxi wirkte insgesamt wie ein unfreiwillig aus dem Altersheim gezerrter Pensionist.
Den allgemeinen Protest der Rostlaube ignorierend, presste ich entspannt meinen Rücken gegen die Polsterung. Die Chancen, unterwegs eine Panne zu erleben, standen nicht schlecht. Trotzdem hätte ich diese rollende Ruine nicht gegen eine Limousine eingetauscht. Luxus bedeutete mir wenig, und das nicht nur, weil mir dazu die finanziellen Mittel fehlten. Zu einem Kleinganoven wie mir passte ein altes verbeultes Taxi einfach besser als ein geräumiger Dienstwagen.
Genüsslich sogen meine Ohren das stotternde Brummen des Motors in sich auf.
Auf Becquerel gab es keine Verbrenner. Auf einem Planeten, der stärker strahlte als sein Stern, wurden alle Geräte radiovoltaisch betrieben.
Ein Verbrennungsmotor dagegen gehörte auf die Erde. Solange ich das Rumoren der Maschine hörte, befand sich das Strahlenland in weiter Ferne.
Ich verzog belustigt die Mundwinkel. Wie ironisch:
Die menschenähnlichen Humandrohnen verachtete ich, aber mit einem rostigen Taxi fühlte ich mich verbunden!
Ich blickte aus dem Fenster auf die vorbeisausenden Gebäude, die mit jedem Meter in die äußeren Bezirke hässlicher wurden. In diesem Stadtteil wohnten die wirklichen Verlierer der Wirtschaftskrise. Der Energiemangel forderte seinen Tribut hier am stärksten.
Schuld an der grassierenden Arbeitslosigkeit und damit verbundener Verarmung trugen die geschlossenen Fabriken. Aufgrund der Energiekrise wurde nur mehr stoßweise produziert. Es kam billiger Maschinen auszuschalten, als unter nicht voller Auslastung arbeiten zu lassen. Stromverschwendung konnten sich nicht einmal Fabrikbesitzer leisten.
Erst wenn wieder Nachschub aus Becquerel anrollte, würde man die Produktion ankurbeln. Doch genau das sollte ich ja verhindern. Ob mich dies in den Augen der Mietbarackenbewohner zum Bösewicht machte? Alle mussten von den Verhandlungen mit den Eingeborenen Becquerels gehört haben. Und zumindest einige hofften sicher auf ein Wirtschaftswunder.
Andererseits: Für die Gefallenen im Strahlenland gab es auch kein Mitleid. Entschlossen verdrängte ich den Gedanken. Meine Entscheidung war getroffen. Sollte man mich dafür doch hassen oder lieben: Die Menschheit würde lernen müssen, ohne Becquerel auszukommen.
Eine Erschütterung hob mich unsanft von der Polsterung. Die alten Sitze kommentierten meine Bewegung mit verärgertem Knarzen.
Wir hatten die Stadtgrenze erreicht. Hier waren die Straßen derart ruiniert, dass das Taxi wie ein Schiff auf rauer See durchgeschüttelt wurde. Quasi als Ausgleich dazu waren die Verkehrswege aber praktisch leer.
In einer Gegend, in der fast niemand einen fahrbaren Untersatz besaß, zeigte sich die Regierung wenig motiviert, Geld zur Fahrbahnsanierung auszugeben. Wer sich ein Auto leistete, bekam die Schlaglochpiste - genannt Straße - gratis dazu.
Meinem Fahrer schienen die Straßenverhältnisse gleichgültig zu sein. Die Anzeige des Geschwindigkeitsmessers verharrte konstant im verbotenen Bereich. Ein sicheres Zeichen dafür, dass er den Wagen selbst lenkte. Autopiloten hielten sich penibel an die Verkehrsordnung. In den Armenvierteln aber galten eigene Gesetze. Verbrechen unterhalb der Schwere eines Mordes waren nur offiziell verboten.
Ihre Blindheit für ungeschriebene Regeln bildete einen der letzten Nachteile der Autopiloten - und war eher der Feigheit ihrer Entwickler geschuldet. Der Tag, an dem Computer unnötige Regeln zu ignorieren lernten, läutete das Aus für menschliche Fahrzeugführer ein.
Schon jetzt war der Mensch in den meisten Automobilen zum Kontrolleur degradiert, der nur den Bordcomputer beaufsichtigte. Aber selbst dieser Posten wankte. Wenig sprach dagegen, einen Computer durch einen zweiten überwachen zu lassen. Die Tatsache, dass manche Menschen einer Maschine nicht trauten, half in dieser Entwicklung kaum.
Es war unbestreitbar: Die Ära menschlicher Fahrer neigte sich dem Ende. Gerüchten zufolge hatten die Frachtführer ihre Mitarbeiter aus Fleisch und Blut bereits allesamt entlassen.
Ich beugte mich zum Fahrer vor.
»Was meinen Sie, machen diese Autopiloten Sie bald arbeitslos?«
»Na«, antwortete er gelangweilt, während er mir aus dem Rückspiegel einen kurzen Blick zuwarf.
»Rechnet sich versicherungstechnisch nicht. Baut eine Maschine Mist, haftet der Besitzer. Baut ein Mensch einen Unfall, haftet der Fahrer.«
Aha, das war also die letzte Trumpfkarte der Menschen: Ein veralteter Gesetzestext.
»Regt sich Ihre Gewerkschaft nicht über diese Ungerechtigkeit auf?«
»Na. Offiziell redet die sich raus. Komplizierte juristische Probleme, schwierige gesetzliche Lage, und so weiter. In Wirklichkeit ist sie froh über diese Regelung. Ohne die gäb´s bald keine Mitglieder mehr. Wer einen Taxifahrer auf Schadensersatz verklagt, dem kann eh nicht mehr geholfen werden.«
Ich schnaubte amüsiert und lehnte mich wieder zurück.
Sollten Maschinen ruhig zuverlässiger sein - im Zweifelsfall war es kostengünstiger, wenn der Kunde von einem Menschen umgebracht wurde. Witzige Logik! Wie oft man meinen derzeitigen Chauffeur wohl schon erfolglos verklagte? Wahrscheinlich hatten es die Geldeintreiber bei ihm ähnlich schwer, wie bei mir.
Dunkel erinnerte ich mich an mein letztes »Gespräch« mit einem dieser Kerle: »So Steiner, du weißt, warum ich da bin?«, fragte mich der Hüne in süffisantem Ton. Schuldeneintreiber waren allesamt Riesen. In meinem Fall handelte es sich um einen Vertreter der pflichtbewussten Sorte. Obwohl er wusste, dass er nichts von Wert finden würde, schob er mich trotzdem - ruppig, wie es sich gehörte - zur Seite und sah sich in der Wohnung um.
Nach Beendigung der natürlich erfolglosen Besichtigung versuchte er es zur Gesichtswahrung abschließend mit einer letzten Halbdrohung.
»Laut Protokoll müsste ich dich jetzt eigentlich zusammenschlagen«, brummte er wenig einschüchternd.
»Wozu? Schätze mal, du trägst wie ich eine Waffe«, gab ich lakonisch zu bedenken. »Sag deinem Boss einfach, ich war nicht da. Spart uns beiden Munition.«
Mark (glaube, so lautete sein Name) war zwar pflichtbewusst, aber kein Idiot. Ich sah ihn nie wieder.
Wie eine solche Begegnung wohl ausgehen würde, wenn erste Robotergeldeintreiber zum Einsatz kamen? Schaudernd rief ich mir die Warnung des dicken Gewerkschaftlers ins Gedächtnis.
Statt eines Söldners hätte er lieber einen Fernfahrer anwerben sollen. Das wäre für beide Seiten angenehmer. Autopiloten gaben ein glaubwürdigeres Feindbild ab als Robotersoldaten. Schon heute waren Maschinen die besseren oder zumindest zuverlässigeren Fahrer.
Für den Krieg aber taugten Roboter nicht. Mit Regelkonformität kam man auf dem Schlachtfeld nicht weit, erst recht nicht auf Becquerel.
Ihnen ging es um Suchen und Zerstören. Zu mehr zeigten sich die primitiven elektronischen Gehirne der Humandrohen – zumindest bislang - nicht fähig. Sicher, auf der Erde ergab ihre Programmierung Sinn: Eine Panzerdivision versteckte man nicht so leicht.
Aber die Eingeborenen Becquerels zeigten wenig Lust, sich uns offen zu zeigen. Lieber verkrochen sie sich in den Bergen des Planeten. Von dort aus überfielen sie die Minen, wann immer sich Gelegenheit dazu bot.
Zwar konnten die Humandrohnen ganz gut klettern, da ihre mechanischen Muskeln mehr leisteten als die unseren, und ihre stählernen Finger krallten sich in die Felsen, als wären diese aus Weichholz.
Doch die extrem hohe Strahlung Becquerels beeinträchtigte ihre empfindlichen Ortungssysteme, sodass sie die getarnten Gebirgskämpfer kaum wahrnahmen. Außerdem reagierten die Roboter im Nahkampf äußerst träge.
Auf der Erde wurden moderne Kriege schon längst nur mehr über Ferndistanzen ausgefochten. Humandrohnen vermochten dank ihrer hochempfindlichen Zieloptik eine Fliege aus Dutzenden Kilometern Entfernung zu treffen.
Das half aber wenig gegen einen Eingeborenen, der aus der Deckung sprang und attackierte.
Damit nicht genug. Die Roboter wogen deutlich mehr, als Menschen. Gerieten sie erst einmal in Schieflage, zog sie ihre Masse erbarmungslos zu Boden.
Zu Beginn des Krieges schickten wir Wächter die Humandrohnen zunächst allein voran.
Eine Taktik, die wir recht schnell aufgaben.
Die Eingeborenen schlugen uns im wahrsten Sinne des Wortes mit unseren eigenen Waffen. Innerlich verfluchte ich den Gewerkschaftler dafür, dass er meine Erinnerungen für sich nutzte.
Wieso, zur Hölle, musste ich zurück ins verdammte Strahlenland? Die Maschinen versagten dort schon einmal. Reichte das nicht?
Auf der Suche nach Ablenkung lehnte ich mich zum Fahrer vor.
»Sind wir bald da?«, löcherte ich ihn wie ein ungeduldiges Kleinkind.
»Doch, doch«, murmelte er, ohne mich im Rückspiegel anzusehen.
»Bin wohl nicht Ihr erster nerviger Fahrgast, was?«
»Doch, doch.«
Belustigt lehnte ich mich wieder zurück. Da hatte außer mir wohl noch jemand mit lästigen Kunden zu kämpfen.
Die Häuser zu beiden Straßenseiten wurden niedriger, aber wirkten nun weniger baufällig.
Auch die Anzahl der Schlaglöcher schien sich auszudünnen. Das Taxi rumpelte nunmehr nur noch etwa alle zehn Sekunden. Der äußerste Stadtrand. Hier fanden sich überwiegend Lagerhallen und andere gewerbliche Bauten. Um der Lieferwagen willen, die ihre Fracht von der Stadt in die Vororte transportierten, wurden die Fahrbahnen hier etwas besser in Schuss gehalten.
»Wir sind da.«
Der Fahrer ließ den Wagen langsam ausrollen.
Ich gab ihm ein kleines Trinkgeld – klein genug, dass er es ohne ein Wort des Dankes annahm und grußlos abfuhr.
Nun ja, Pech für ihn: Die Agentur überwies mein Honorar erst bei Missionsbeginn. Noch konnte ich mir sonderliche Großzügigkeit also nicht leisten.
Mit hängenden Schultern blickte ich dem Taxi hinterher.
All das war von vorne bis hinten widersprüchlich: Im Hinblick auf Taxis verzichtete man komplett auf Menschen - aber ausgerechnet im Krieg imitierte man sie.
Ich schüttelte den Kopf.
Es brachte nichts, jetzt noch weiter darüber zu grübeln. Ein letzter Blick auf mein Telefon verriet: Die Koordinaten stimmten.
Kapitel 3
Vor mir erhob sich der meterhohe Stahlzaun des Raumhafens. Der Wachmann, das Augenmerk starr auf einen kleinen Bildschirm fixiert, würdigte mich keines Blickes. Erst, als ich ihm unter vernehmlichem Räuspern mein Telefon entgegenhielt, erwachte er aus seiner Starre. Mürrisch nahm er das Gerät an sich und langte nach einem Scanner.
»Was wollen Sie hier?«, knurrte er.
»Da ich schon hier bin, will ich wahrscheinlich in den Weltraum.«
»Von mir aus.« Mit einer Hand wies er Richtung Eingang und schob mir mit der anderen das Telefon zu. »Solange Sie keinen Ärger machen.«
»Wäre ich darauf aus, suchte ich mir ein lohnenderes Ziel.«
Ohne ein weiteres Wort wandte sich der Wachmann erneut seinem Bildschirm zu.
Noch vor acht Jahren wäre man hier anders begrüßt worden. Statt von einem mürrischen Lahmarsch war das Areal von einem ganzen Zug Soldaten bewacht worden. Wer den Raumhafen betreten wollte, erhielt zu dieser Zeit eine gründliche Leibesvisitation. Wer sich direkt Zutritt zu verschaffen versuchte, bekam eine Kugel. Während des Krieges waren alle derartigen Anlagen dem Militär unterstellt. Täglich starteten und landeten dort Raketen. Die eingehenden Flüge transportierten radioaktive Erze von Becquerel, die ausgehenden Truppen und Versorgungsgüter für das Wächterkorps. Gleichzeitig bemühten sich militante Kriegsgegner darum, ihrer Botschaft durch Anschläge Nachdruck zu verleihen.
Doch mit Kriegsende auf Becquerel ging auch die Bedeutung der Raumhäfen verloren.
Das Militär zeigte wenig Interesse daran, an seine Misserfolge erinnert zu werden. Um die immensen Verluste zumindest etwas zu verringern, wurden die Raumhäfen zum Verkauf angeboten.
Viele Käufer fanden sich allerdings nicht. Den wenigen reichen Pinkeln, die sich für Unsummen ins All schießen lassen wollten, versuchte das eine oder andere Reisebüro nach wie vor diesen Lebenstraum zu erfüllen.
Eine noch geringere Anzahl der Raumhäfen wurde zum Austausch defekter Satelliten weiterhin betrieben.
Die meisten der Anlagen wurden aber entweder geschlossen, oder verfielen – wie diese – in eine Art Wachkoma. Zwar hielt man die Maschinen für den Fall in Betrieb, dass der Patient eines Tages wieder aufwachen würde, aber man gab sich keiner großen Hoffnung hin.
Selbst die militanten Gegner hatten das Interesse an den Raumhäfen verloren. Moderne Terroristen attackierten lieber Flughäfen.
Ich betrat die Eingangshalle und erlebte eine Überraschung. Meine Konturen spiegelten sich auf blank polierten Bodenfliesen. Wenn die Agentur sich schon mit der Herrichtung des Inneren diese Mühe gab, hätte sie auch diesen verschnarchten Wachmann auswechseln können. Oder befürchtete sie, durch eine solche Maßnahme unnötige Aufmerksamkeit zu erregen? Wo nichts war, gab es schließlich nichts zu bewachen.
Vor dem Übergang zum Terminal, von dem aus man die Raketen betrat, erblickte ich eine Abgesandte der Agentur - zumindest erweckte die Dame diesen Eindruck.
Beidseitig flankiert von zwei riesenhaften Leibwächtern, strahlte die Frau eine seltsame Art von Makellosigkeit aus.
Ihre Strahlengewehre hielten die Hünen locker vor der Brust, wie es nur jemand tat, der im Umgang mit der Waffe mehr als geübt war.
Am linken Handrücken eines der Bewaffneten erkannte ich eine Tätowierung. In Form eines flammenummantelten Schildes.
Unwillkürlich richtete ich meine Augen himmelwärts und schnaubte verächtlich. An manche Dinge gewöhnte man sich einfach nie! Dabei bekam ich derartige Fälschungen oft genug zu sehen.
Die Vergangenheit suchte mich nicht nur in meinen Träumen heim. Beim Anblick dieser Möchtegerns stand sie unmittelbar wieder vor mir …
Verbotenes übte zu allen Zeiten eine von Faszination geprägte Anziehungskraft aus. Erst recht auf junge Kerle, die auf dem schmalen Grat zwischen Legalität und Kriminalität balancierten. Naja, zugegebenermaßen taten Söldner dies immer.
Immerhin trugen die beiden Möchtegern-Ex-Wächter professioneller gefälschte Tätowierungen als die meisten der wichtigtuerischen Witzfiguren. Die leicht verblichenen Ränder ihrer Tattoos wirkten weder künstlich neu, noch übertrieben gealtert.
Aber ein geschickter Tätowierer schützte den Träger nicht vor der eigenen Dummheit. Ein echter Wächter ließ sich dieses Symbol nicht zur Aufwertung seines Egos stechen – obwohl uns das Zeichen quasi als Medaille verkauft worden war. In dem Tattoo verbarg sich ein Code, der alle personenbezogenen Daten des Trägers enthielt.
Die Mitglieder der regulären Streitkräfte trugen längst einen subkutanen Chip, der diese Aufgabe übernahm. Natürlich stellte dieser mehr als nur ein Ausweis dar: Dank des Implantats war jeder Soldat ortbar. Überall. Offiziell diente diese Funktion zur Rettung Vermisster.
Inoffiziell fing man auf diese Weise Deserteure ein.
Ein heutiger Soldat musste mit permanenter Überwachung durch seinen Vorgesetzten rechnen. Vorbei waren die Zeiten, in denen man notfalls untertauchen konnte.
Im Wächterkorps hatte man aus gutem Grund von dieser Maßnahme abgesehen: Auf Becquerel konnte man schlicht nicht abhauen. Außer den Wächtern, sowie ein paar Forschern und Minenarbeitern, lebten dort keine weiteren Menschen. Die nicht dem Korps angehörenden Zivilisten lieferten Deserteure umgehend an deren Einheit aus. Nicht etwa, weil sie sonderlich große Sympathien für das Wächterkorps hegten, sondern weil wir die einzigen bewaffneten Menschen auf dem Planeten waren - und die Erde weit entfernt.
Aber Becquerel selbst bildete das größte Fluchthindernis. Ohne Strahlenschutzanzüge überlebte dort kein Mensch. Spätestens, sobald dem Deserteur die Ersatzfilter für das Atemgerät ausgingen, bedeutete dies das Ende der Flucht.
Verständlicherweise weigerten sich die regulären Streitkräfte vehement dagegen, ihre aufwendig ausgebildeten Soldaten zur Bewachung eines verseuchten Planeten abzukommandieren. Den Mineninhabern blieb somit nichts anderes übrig, als eine eigene Schutzeinheit aus dem Boden zu stampfen. Da die Armee ihr wertvolles Personal nicht hergab, benötigte man als Ersatz weniger wertvolle Leute.
Schon bald nahm ein umgekehrter »Bewerbungsprozess« seinen Lauf: Statt militärische Ausbildungsstätten nach den Besten abzugrasen, wurden die Kasernen dazu aufgerufen, Listen mit »Wunschkandidaten« zu erstellen, deren jeweiligen Chip man durch das Flammenschildtattoo ersetzte. Nicht wenige dieser »Soldaten« meldeten sich freiwillig. Zumeist jene, die gelegentlich mit der Überwachungsfunktion der Militärchips auf Kollisionskurs gerieten. Aber die Aussicht auf Verfolgungsfreiheit zog nicht nur undisziplinierte Charaktere an. Echte Schurken, die einen Planetenwechsel für das Beste hielten, meldeten sich ebenfalls in beachtlicher Stückzahl. Bereits nach kurzer Zeit verfügte das Wächterkorps über eine stattliche Anzahl »Freiwilliger«.
Ich selbst – weder Soldat noch zum damaligen Zeitpunkt kriminell - gehörte zur dritten Gattung der Bewerber: Idioten, die sich aus Blödheit und Langeweile meldeten.
Die Erde hatte mir nichts zu bieten, und Abenteuer auf einem fremden Planeten kam mir jungem Naivling da nicht ungelegen. Ich hatte eindeutig schon bessere Entscheidungen getroffen. Tja, so kann man sich irren …
Immerhin, in einem Punkt lag ich damals nicht total daneben: Die Erde bot mir auch heute nichts. Dafür aber verfolgte mich Becquerel in meinen Albträumen.
Nach dem Krieg war man auf die Tätowierung nicht mehr sonderlich stolz. Leider war deren Farbe extrem widerstandsfähig. Man konnte sie zwar wegätzen, dabei blieb jedoch eine verräterische Narbe zurück.
Da hielt man das Zeichen lieber möglichst verborgen. Glücklicherweise war das Wächterkorps seinerzeit so großzügig, das Flammenschild an einer Körperstelle zu platzieren, die Außenstehenden nicht schon auf den ersten Blick ins Auge fiel. Meine Zeichnung trug ich an der Innenseite des Oberarms, knapp unter der Achsel.
Jedem zufällig vorbeilaufenden Fremden ungewollt seine Einheitszugehörigkeit zu offerieren, wäre doch ziemlich dämlich, nicht wahr? Aber das musste man diesen ahnungslos posierenden Angebern erst erklären. Wahrscheinlich kannten sie nicht einmal die symbolische Bedeutung der Zeichnung.
Das Schild war selbsterklärend: Das Wächterkorps sollte schützen, was die Erde für sich beanspruchte.
Die Flammen standen für die Hauptwaffe der Wächter, den Plasmawerfer.
Aber, wie im Hinblick auf die gesamte Truppe, wurde auch bezüglich dieser Bewaffnung improvisiert.
Bei der Waffe handelte sich um ein aufgemotztes Heißluftgebläse. Optisch seinen Vorläufern - den Flammenwerfern - ähnlich, aber mit anderem Wirkprinzip: Ein miniaturisierter Kernreaktor erhitzte angesaugte Luft bis zum Übergang in den Plasmazustand. Der gewaltige Hitzestrahl wurde dann über eine Lanze auszustoßen.
Ja, ganz recht, jeder einfache Wächter trug spaltbares Material auf dem Rücken. Heute kaum vorstellbar, aber so billig war das Zeug damals! Anlässlich ihrer Einführung erfreute sich die Waffe zunächst großer Beliebtheit, zumal sie sich sowohl zum Angriff als auch zur Verteidigung eignete. Der Funkenstrahl des Plasmawerfers zerstörte alles, was er berührte. War der Benutzer feindlichem Beschuss ausgesetzt, baute er vor sich eine Plasmawand auf, die anstürmende Feinde und sogar einfliegende Geschosse gnadenlos zersetzte.
Doch leider gab es einen Haken. Diese Höllenhitze unterschied nicht zwischen Freund und Feind.
Alles Brennbare fing Feuer.
Alles nicht Brennbare schmolz.
Alles andere verdampfte.
Nur mithilfe spezieller Hitzeschilder vermochte man sich einem Plasmawerfer zu nähern.
Genau hier lag aber die zweite Schwäche der Waffe: Geringe Reichweite. Plasma kühlte an der Luft zu schnell ab.
In einer Zeit, in der Interkontinentalraketen als veraltet galten, war der Bedarf an Nahkampfwaffen gering.
Als sich nun den Armeen der Erde die Chance bot, ihre untauglichen Soldaten bequem »auszumustern«, rüstete man sie mit den wertlosen Plasmawerfer aus.
Auf Becquerel kam dem Wächterkorps die egalitäre Zerstörungswut der Werfer recht gelegen. Jene bedauernswerten Eingeborenen, die sich im Nahkampf auf uns stürzten, lösten sich in weniger als Asche auf. Verräterische Felsvorsprünge, hinter denen sich ein Feind verstecken konnte, wurden vorsorglich eingeschmolzen.
Doch gleichgültig, wie sehr wir uns bemühten: Becquerel war von Bergen überzogen. Was nützte es, ein paar Steine einzuschmelzen? Es erwies sich als ähnlich sinnvoll, wie zur Austrocknung Schwämme in einen See zu werfen.
Ich bezweifelte, dass einer der dort vorn stehenden Möchtegernwächter je einen Plasmawerfer zu Gesicht bekommen hatte. Die wollten einfach »Zähne zeigen« - notfalls eben auch mit künstlichem Gebiss.
Idioten …
»Herr Steiner, wie schön, dass ich Sie auf dieser Mission willkommen heißen darf«, begrüßte mich die Vertreterin der Agentur. Zögerlich ergriff ich ihre ausgestreckte Hand. Ihr Griff fühlte sich seltsam kalt und glatt wie eine Stahlplatte an.
»Ist Ihnen nicht wohl, Herr Steiner?«
»Sie besitzen die gleiche Stimme, wie die Telefonistin?«
Statt zu antworten, schaute sie mich nur lächelnd an.
Ihr Gesicht demonstrierte eindrucksvoll die heutigen medizinischen Möglichkeiten. Perfekt symmetrisch, ohne eine einzige Hautunreinheit. Die zu einem strahlenden Lächeln geformten Lippen entblößten einen Satz perlweißer Zähne. Es war unmöglich, das wahre Alter dieser Dame abzuschätzen. Es konnte irgendwo zwischen 20 und 100 Jahren liegen.
»Darf ich Ihnen Ihr Team vorstellen?« Mit der Hand vollführte sie eine einladende Geste.
Die Hünen traten beiseite und gaben den Blick auf eine Sitzreihe hinter ihnen frei. Im nächsten Moment erhoben sich dort vier Personen. Wortlos begrüßte ich sie mit einem Nicken. Mir fehlte die Lust dazu, allen der Reihe nach die Hand zu reichen.
»Ehre der Wacht!«