Die maschinellen Technokraten - Joachim Angerer - E-Book

Die maschinellen Technokraten E-Book

Joachim Angerer

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Beschreibung

Die Welt ist effizient wie nie. Jeder Mensch trägt von Geburt an ein Ino-Implantat in seinem Kopf. Wozu früher Handarbeit notwendig war, reicht inzwischen ein bloßer Gedanke. Der ehemalige Polizist Siegfried Tegethoff ist einer der letzten, der den Rückzug menschlicher Arbeit noch beklagt. Da taucht ein Mann auf, den es nicht mehr geben dürfte. Ausgestattet mit den Worten alter Meister und einer Brutalität, wie aus längst vergessenen Zeiten, erklärt er der Welt den Krieg.

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Seitenzahl: 489

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Danksagung
Quellenangabe

Buchbeschreibung:

Die Welt ist effizient wie nie. Jeder Mensch trägt von Geburt an ein Ino-Implantat in seinem Kopf. Wozu früher Handarbeit notwendig war, reicht inzwischen ein bloßer Gedanke. Der ehemalige Polizist Siegfried Tegethoff ist einer der Letzten, der den Rückzug menschlicher Arbeit noch beklagt. Da taucht ein Mann auf, den es nicht mehr geben dürfte. Ausgestattet mit den Worten alter Meister und einer Brutalität, wie aus längst vergessenen Zeiten, erklärt er der Welt den Krieg.

Über den Autor:

Joachim Angerer ist österreichischer Science-Fiction-Autor. Sein erstes Werk "Becquerelsche Träume" erschien im September 2017. Weitere Werke des Autors sind: "Gestaltete Wirklichkeit" (Juli 2021) und "Becquerelsche Ränke" (Oktober 2021).

2. Auflage, Vorgängerausgabe 2020

© 2022 Joachim Angerer

Titelbild: Item ID: 553521775 von Liu Zishan

Lizenz gekauft auf www.shutterstock.com

ISBN Softcover: 978-3-347-52146-9

ISBN Hardcover: 978-3-347-52150-6

ISBN E-Book: 978-3-347-52154-4

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Die maschinellen Technokraten

Joachim Angerer

Jetzt ist es der Mensch, der scheitert, weil er mit dem Fortschritt seiner eigenen Zivilisation nicht Schritt halten kann.

José Ortega y Gasset

Kapitel 1

»Ich wusste gar nicht, dass solche Dinger überhaupt noch verwendet werden.«

Juliettes Stimme klang ehrlich erstaunt, als sie mit erhobenen Augenbrauen auf das antiquierte Handy starrte. An derartige Reaktionen gewöhnt, zuckte Siegfried mit den Schultern und fuhr sich durch das ergraute Haar.

»Tja, ich bin da wohl etwas … altmodisch.«

Ein funktionierendes Mobiltelefon bot inzwischen tatsächlich einen äußerst seltenen Anblick. Wie viele dieser Exemplare existierten heute wohl noch – außerhalb von Museen?

Auf dem Revier benutzte nur noch Siegfried eines dieser Geräte. Gemäß der geltenden Vorschrift hatten seine Kollegen ihre nicht mehr zeitgemäßen Diensthandys längst abgegeben – sofern sie zuvor überhaupt mit ihnen ausgestattet worden waren. Laut allgemeiner Dienstvorschrift hätte auch er sein Gerät gar nicht mehr besitzen dürfen. Doch ab einer gewissen Anzahl abgeleisteter Dienstjahre genoss man eben den Vorteil einer stillschweigenden Toleranz im Hinblick auf kleinere Beugungen der Regeln. Nur fraglich, ob dieser Sonderstatus als Privileg oder Brandmarkung verstanden werden sollte ...

Nun, ab dem heutigen Tag erübrigte sich diese Frage ohnehin: Keine Nachschärfung der Verhaltensregeln, sondern allein Siegfrieds Dienstalter veranlasste ihn, sich von seinem liebgewonnenen Mobiltelefon zu trennen.

Mit wehmütigem Blick sah er zu, wie Juliette es auf Nimmerwiedersehen in einer Schachtel verstaute. Warum nur wurde er das Gefühl nicht los, das Ende einer Ära zu erleben? Der Gedanke entlockte ihm einen Seufzer.

»Was hast du?« Juliette klang irritiert.

»Ach … nichts«, winkte Siegfried ab. »Ich habe jetzt alle meine dienstlichen Gegenstände abgeliefert, glaube ich zumindest. Oder fehlt noch etwas?«

Für einen Augenblick schienen Juliettes Augen wie abwesend in die Ferne zu wandern. »Nein, alles erledigt«, erklärte sie dann. »Der Rest läuft über I know everything. Sobald du das Gebäude verlässt, wird deine Datenbank entsprechend aktualisiert.«

I know everything lautete der Slogan, unter dem vor Jahrzehnten die ersten »Interaktiven-Neuronalen-Omnischnittstellen«, - kurz »I-N-O-Implantate«, oder einfach »Ino« – angepriesen wurden.

I know everything.

I know everywhere.

I know everytime.

Dieser Werbetext aus seiner Kindheit war Siegfried gut in Erinnerung. Man wurde zu jener Zeit derart permanent mit dieser Werbung penetriert, dass man sie nie wieder vergaß. Es gab buchstäblich kein Entrinnen: Weder innerhalb eines Gebäudes – wo nahezu an jeder Wand ein für Ino werbender Bildschirm prangte – noch auf den Straßen, wo im Abstand nur weniger Meter jeweils ein anpreisendes Werbebanner lauerte.

Heute dagegen suchte man nach Plakaten wie Bildschirmen gleichermaßen vergebens. Ino benötigte seit Jahrzehnten keine Werbung mehr. Siegfried fragte sich, ob unter den damaligen Organisatoren der Marketingkampagne Klarheit darüber herrschte, dass die Technologie, der sie da zum Durchbruch verhalfen, nur kurze Zeit später sämtliche vormals gängigen Werbemittel verdrängen würde. Unterschätzten sie womöglich die Konsequenzen ihres eigenen Erfolgs? Oder fanden sie sich mit der Unaufhaltbarkeit des Fortschritts ab? Vielleicht erkannten die Marketingexperten damals nur die Zeichen der Zeit – und wollten ein letztes Mal kräftig abkassieren.

»I know everything, hm? Schon seit Kindertagen habe ich diesen Satz nicht mehr gehört«, merkte Siegfried an. »Heute schwimmt man doch mit Ino im Datenstrom.«

»Schwimmen im Datenstrom? Das sagt man noch weit länger nicht mehr.« Juliette unterdrückte ein Kichern. »Inoline heißt es heute. Ich bin Inoline, nicht: ich schwimme im Datenstrom.«

»Ja, schon gut, ich bin eben alt«, winkte Siegfried ab. »Aber ich bleibe trotzdem bei Datenstrom.«

»Zugegeben, diese antiquierte Wortwahl hat irgendwie … Charme … «, sinnierte Juliette mit treuherzigem Augenaufschlag.

»Danke.« Siegfried nickte schwach lächelnd. »Du bist zu jung, um altmodisch wirken zu dürfen.«

»Wieso eigentlich altmodisch?«, erboste sich Juliette. »Etwa nur, weil du Begriffe benutzt, die heute kaum noch jemand kennt? Oder weil du weißt, wie man ein Telefon benutzt? Wer, außer dir, kann mit solch einem Ding überhaupt noch umgehen? Ich würde es nicht als altmodisch bezeichnen, etwas zu können, wozu die Mehrheit gar nicht mehr imstande ist.«

»Tja, ist wohl alles eine Frage der Perspektive.« Resigniert zuckte Siegfried mit den Schultern.

Juliette musterte ihn halb tadelnd, halb treuherzig. »Kaffee?«, erkundigte sie sich, als sei die Angelegenheit damit beendet.

»Ja, gerne«, log Siegfried, obwohl seine Kollegin im Vorfeld dafür gesorgt hatte, dass sein täglicher Koffeinbedarf mehr als gestillt war. Fast jedem, der sich mit ihr unterhielt, bot sie obligatorisch Kaffee an. Aus verständlichen Gründen erfolgte dies eher aus Langeweile, denn aus Höflichkeit, weil Gespräche von Angesicht zu Angesicht selbst unter Kollegen nur selten stattfanden. Dank Ino setzten die meisten Menschen ihre Münder im Wesentlichen nur noch zum Essen und Atmen ein. Auch in dieser Beziehung erwies sich Siegfried als eine Art ewig Gestriger. Aber das war ihm nur recht. Eine Überdosis Koffein konnte als kleiner Preis einer – zumindest in seinen Augen – vernünftigen Kommunikationsform gelten. Selbst wenn diese nur mit einer Kollegin erfolgte.

»Bitte sehr, der Herr«, wisperte Juliette in gespielt devotem Tonfall, reichte ihm eine Tasse und setzte sich hinter ihren Schreibtisch. Mit einer einladenden Handbewegung bat sie Siegfried, ebenfalls Platz zu nehmen.

»Tja, es ist die reine Ironie«, murmelte Siegfried, ließ sich auf den vor dem Schreibtisch platzierten Stuhl sinken und nippte an seinem Kaffee. »Frühere Generationen von Sekretärinnen empfanden das Aufbrühen von Kaffee für Kollegen als entwürdigend.«

»Ach, wirklich?« Mit großen Augen starrte Juliette ihn an. »War Ino damals bereits so weit entwickelt wie heute?«

Sich rückerinnernd wiegte Siegfried den Kopf.

»Es gab zumindest weniger Anwendungsmöglichkeiten. Damals sprachen die Menschen einfach noch mehr miteinander.« Nachdenklich kratzte er sich am Kopf. »Sagt man heute noch Ohrenstimme?«

»Ja.« Juliette lächelte. »Ohren- und Inostimme. Wenn man das zweite meint, kann man es auch Inotransfer nennen. Für Ohrenstimme fällt mir allerdings kein zweiter Ausdruck ein ...« Mit schräggelegtem Kopf legte sie eine kurze Pause ein, als denke sie angestrengt nach. »Vielleicht stirbt dieses Wort auch bald aus. Hast du schon von Inodive gehört?« Siegfried verneinte.

»Ino übernimmt den gesamten Körper, also nicht nur die Stimme, sondern auch die Gesten. Man muss sich also nur noch auf die eigenen Gedanken konzentrieren …«

»Bitte! Hör lieber auf«, stöhnte Siegfried. »Ich komme ja sowieso schon nicht mehr mit. Zu meiner Zeit schwamm man nur im Datenstrom. Jetzt taucht man also schon, als ob ...« Unvermittelt unterbrach er sich. Wieder hatte er den Begriff Datenstrom benutzt! Egal, mit dieser Gewohnheit würde er nicht mehr brechen.

»Bitte, sprich doch weiter«, drängte Juliette, beugte sich vor und stützte ihre Ellbogen auf die Tischplatte. »Wie war es denn damals?«

»Ach, naja, die Inoimplantate selbst unterschieden sich schon damals nicht wirklich von den heutigen. Sie wären auch schwer zu aktualisieren gewesen.« Er tippte sich an den Hinterkopf. »Allerdings gab es noch Leute, die keines trugen.«

Nachdenklich legte Juliette die Stirn in Falten.

»Ah, meinst Du den alten Pirow?«

»Was, du kanntest ihn?«

Erstaunt hob Siegfried die Augenbrauen, denn Fjodor Pirow war seit vielen Jahren tot – und vor seinem Ableben, schon seit noch längerem Zeitraum pensioniert! Neugierig musterten seine braunen Augen Juliette.

Faltenfreies Gesicht, langes und dichtes Haar, glatte Haut an ihren Händen. Kurzum: Sie wirkte viel zu jung, um Fjodor gekannt zu haben.

Sicher, unter Einsatz entsprechender monetärer Mittel ließ sich heutzutage jedes Alter simulieren – zumindest optisch. Doch reihte Siegfried Juliette nicht in diese Kategorie. Allein schon aus finanziellen Gründen, denn eine Sekretärin wurde nicht sonderlich üppig entlohnt.

Die junge Frau registrierte Siegfrieds prüfenden Blick, lehnte sich zurück und grinste.

»Nein, wo denkst Du hin! So alt bin ich nicht«, erklärte sie vorgeblich empört. »Ich habe nur Geschichten über ihn gehört. Pirow gilt irgendwie ein wenig als … Legende. Seltsamerweise findet man mit Ino nur wenig über ihn.«

»Ja, kein Wunder. Er traute dieser Technik nicht recht.«

»Stimmt es, dass er sogar noch richtiger Handwerker war?«

»Naja, wenn Du das so nennen willst.«

Siegfried faltete die Hände über seinem leichten Bauchansatz und schmunzelte. »Richtiges Handwerk.« Der Ausdruck hatte etwas Amüsantes. Was Fjodor wohl dazu gemeint hätte?

»Habe ich was Falsches gesagt?«, erkundigte sich Juliette aufgrund seiner belustigten Miene ein wenig pikiert.

»Nein, nein! Du weißt doch, im Alter schwelgt man einfach gerne in Erinnerungen.«

»Also los, erzähl schon!«

Siegfried nickte bedächtig und stellte seine Tasse ab. »Fjodor führte zuhause eine kleine Holzwerkstatt. Eine, in der man noch selbst Hand anlegen musste. Wenn er mich manchmal zu sich einlud, zeigte er mir, wie man Holz schnitzt. Oder vielmehr, wie die Leute früher Holz geschnitzt haben, als es noch Tischler gab.«

Juliette blinzelte irritiert.

»Gab es zu Pirows Zeiten etwa noch keine Roboter?«

»Doch, doch«, versicherte Siegfried. »Auch damals wurden bereits alle Möbel maschinell hergestellt. Der einzig wirkliche Unterschied zu heute besteht darin, dass Maschinen früher nicht von anderen Maschinen, sondern von Menschen bedient wurden.«

»Aber wieso betrieb Pirow dann diese Werkstatt?«

»Er nannte es sein Hobby.«

»Hobby?« Einen Moment lang blickte Juliette ihn ratlos an und wies dann mit ihrem Zeigefinger an den Hinterkopf.

»Verstehe ich nicht. Wenn man Zerstreuung sucht, findet man sie doch … hier.«

»Ja, schon. Aber selbst Hand anzulegen, ist einfach etwas … anderes.«

In Siegfrieds Bewusstsein stieg die Erinnerung daran auf, wie er vor Jahren – nach Fjodors Tod – versucht hatte, seine Besuche in dessen Werkstatt mittels Ino zu rekonstruieren: Die Feile glich dabei eher einem überdimensionierten Skalpell, und die Werkbank präsentierte sich aus Edelstahl.

Obwohl ihn das recht seltsame Resultat eher erheiterte als verschreckte, nahm er von der Wiederholung derartiger Experimente Abstand. Was sollte auch anderes dabei herauskommen als ein konfuses Zerrbild?

Sicher, Ino griff natürlich jeweils auf den eigenen Gedächtnisspeicher zurück. Doch erwiesen sich alte Erinnerungen in der Regel als lückenhaft und mussten durch den Datenstrom ergänzend aufgefüllt werden.

Und so vertrat der damals zuständige Algorithmus die Ansicht, die in den Erinnerungen Siegfrieds fehlenden Werkstattdetails seien korrekterweise durch jene eines Operationssaals zu ersetzen.

»Echte körperliche Betätigung lässt sich nicht so einfach simulieren«, fasste Siegfried sein Erlebnis zusammen.

»Du hast es schon lange nicht mehr ausprobiert, richtig?«, bohrte Juliette nach.

»Nein. Wozu auch?«

»Die Technik hat sich wirklich stark weiterentwickelt, Siegfried. Viele verbringen beispielsweise ihren Urlaub heutzutage nur noch mit Inomagine. «

Als Siegfried seine Kollegin lediglich schweigend ansah, fühlte sie sich zu einer näheren Erläuterung aufgefordert.

»So nennt man die Inopt oder Inoanwendung inzwischen. Man stellt sich den gewünschten Urlaubsort einfach nur vor, und der Datenstrom bringt einen dorthin.«

Juliette dehnte die Worte Inoanwendung und Datenstrom dermaßen, dass man es fast als Geringschätzung der intellektuellen Fähigkeiten ihres Gegenübers hätte auffassen können. Siegfried wusste aber, dass sie es nicht böse meinte. Nachdenklich blickte er auf seine Hände.

Auf den Handflächen fanden sich als letztes Überbleibsel seiner handwerklichen Betätigung noch schwach ausgeprägte Narben. Nach Fjodors Tod, damals war Siegfried noch jung und hatte keine Geheimratsecken, veräußerten die Erben zügig sein Haus, sodass Siegfried nun schon seit Jahren kein Werkzeug mehr in Händen gehalten hatte. Und doch erinnerte sich seine Haut. Zumindest dies ließ sich nicht simulieren, oder? Wenn sogar Urlaubsreisen nun der Vergangenheit angehörten – dann Werkzeuge wohl erst recht. Wie eben auch sein Telefon. Gedankenversunken seufzte er leise.

»Siegfried? Geht es dir nicht gut?«, erkundigte sich Juliette mit besorgtem Gesichtsausdruck.

»Nein, nein.« Tief durchatmend lehnte er sich zurück und winkte ab. »Mir wurde gerade nur bewusst, dass ich wohl das Ende einer Ära miterlebt habe.«

Das Ende einer weiteren Ära, fügte er gedanklich hinzu und lachte gedämpft kurz auf.

»Wird wohl wirklich Zeit, dass ich in Pension gehe.«

Prüfend musterte Juliette ihn.

»Hast du schon Pläne?«

Jemand klopfte in diesem Moment an der Tür und enthob Siegfried einer Antwort. Überrascht wandte er sich um. Durch die halbgeöffnete Tür lugte seine Kollegin Maja in den Raum.

»Hi, Juliette! Hey, da steckst du also, Siegfried.« Sie klang halb erfreut, halb verärgert. »Wieso bist du nicht rangegangen?«

Verlegen tippte sich Siegfried an den Hinterkopf.

»Ach verflixt, Inotransfer. Tut mir leid! Aber jetzt, da ich ja mehr als genug Zeit haben werde, sollte ich mich wohl mal eingehender damit beschäftigen.«

Maja trat ein und schloss die Tür hinter sich.

»Meine Eltern stammen auch aus der Omega-Generation. Sie sind fast besser Inoline als ich.«

Ihre Stimme war so sanft, dass man die unterschwellige Kritik kaum wahrnahm.

»Tja, die Omegageneration«, murmelte Siegfried.

Auch dieser Begriff würde wohl bald verschwinden. Er bezeichnete die letzten Menschen, die noch ohne Inoimplantat das Licht der Welt erblickten.

Der entsprechende medizinische Eingriff musste an einem noch nicht fertig entwickelten Gehirn durchgeführt werden. In Siegfrieds Kindheit war das Tragen eines Implantats zwar bereits verpflichtend, der dazu notwendige Eingriff jedoch nicht in erforderlichem Maße ausgereift. Die Operation konnte noch nicht an Ungeborenen durchgeführt werden. Daher erhielt Siegfried sein Inoimplantat erst im fortgeschrittenen Kindesalter.

Für die Vertreter seiner Generation blieben ihre Implantate in der Regel zeitlebens Fremdkörper. Er selbst musste es zur Nutzung jeweils bewusst aktivieren – wie eine unsichtbare Armbanduhr, die dem Träger die Uhrzeit nur verriet, wenn er einen gezielten Blick auf sie warf.

Maja dagegen betrachtete ihr Inoimplantat nicht weniger ihrem Körper zugehörig als Arme oder Beine. Dementsprechend schwer fiel es ihr, Verständnis für die gänzlich andere Situation ihres wesentlich älteren Kollegen aufzubringen. Dankbar, dass sie es dennoch versuchte, schaute Siegfried von seinem Sitzplatz auf und suchte ihren Blick.

Ihre Augen wirkten seltsam starr, gleichsam als befände sie sich geistig an einem anderen Ort.

Menschen wie Maja beherrschten Ino buchstäblich blind. Um einen fernen Ort zu bereisen, reichte ein einziger Gedanke. Ein Weiterer brachte sie wunschgemäß zurück.

In Majas scheinbar leerem Blick lag etwas Forderndes, das Siegfried abermals seufzen ließ. Heute, an seinem letzten Arbeitstag könnte sie doch wirklich ein wenig nachsichtiger mit ihm sein! Nun, zugegebenermaßen war er in wichtigen Lektionen ihr gegenüber auch stets unnachgiebig geblieben. Jetzt avancierte seine Schülerin also zur Lehrerin. Siegfried zuckte ergeben mit den Schultern. Im nächsten Augenblick rollte er mit den Augen, wie er es immer tat, wenn er in den Strom stieg.

»Na also! Ist doch gar nicht so schwer«, tönte Majas Stimme in seinem Kopf.

»Für dich vielleicht«, brummte Siegfried.

»Schon gut. Ich kenne deine Bedenken«, deutete Maja seine Reaktion richtig. »Doch die Technik ist wirklich praktisch. Leute kommunizieren miteinander fast nur noch auf diese Weise. Die Gefahr, dass jemand mithört, ist sehr gering.«

Siegfried bezweifelte das. Theoretisch konnte jedes kabellose Signal abgefangen werden. Wahrscheinlich war die Verschlüsselung des Inotransfers längst geknackt. Man gab es nur nicht zu. Schließlich würde die Behebung einer solch gravierenden Sicherheitslücke einen gewaltigen Aufwand nach sich ziehen. Maja kicherte angesichts seiner Überlegungen.

»Du meinst also, in ein paar Jahren müssen alle mit einem Kabel am Hinterkopf durch die Gegend laufen?«

Siegfried murrte. »Würdest du bitte nicht meine Gedanken lesen?«

»Sorry, aber du hast sie mitgeschickt. Man kann sortieren, was man teilen möchte, und was nicht. Du weißt doch, dass man Gedanken nicht einfach so lesen kann.«

»Schätze, ich bin wohl auch hierfür zu alt.«

»Ach was! Meine Ausreden hast du auch nie gelten lassen. Erinnerst du dich noch, wie ich mich anfangs bei den Leibesübungen angestellt habe? Dank deiner Hartnäckigkeit ist dann doch eine ziemlich fitte Polizistin aus mir geworden.«

Er versuchte, sich Maja bildlich vorzustellen. Mit Ino ließen sich mühelos Bilder ins Bewusstsein projizieren – sofern man wusste wie. Für Siegfried aber bedeutete schon der Austausch von Wörtern per Ino eine Qual. Da benutzte er lieber sein Gedächtnis – wohlgemerkt das echte Gedächtnis.

»Schau, hier hast du ein aktuelles Bild von mir.«

Maja in Sportkleidung erschien plötzlich vor seinem geistigen Auge.

»Ich habe wieder meine Gedanken mitgeschickt, nicht wahr?«

Majas Bild lächelte gutmütig.

Siegfried betrachtete Majas inzwischen kräftige Schultern. Augenscheinlich hatte sie seine Anweisungen tatsächlich artig befolgt.

Auf körperliche Fitness wurde in der allgemeinen Dienstvorschrift inzwischen nur wenig Wert gelegt. Dank Einsatz moderner Technik erwiesen sich Außeneinsätze nur selten als erforderlich. Kleinkriminelle ergaben sich zumeist freiwillig, sobald sie von der Polizei dazu aufgefordert wurden. Geriet man in den Kreis der Verdächtigen, erwies sich Untertauchen als unmöglich, da sich jedes Inoimplantat anhand seiner Signatur mühelos orten ließ. Nach der Identifizierung eines Täters bestimmte man seinen aktuellen Aufenthalt einfach vom Büro aus. Natürlich hielten selbst die extrem geringen Erfolgssausichten nicht jeden von Gesetzesbrüchen ab, aber die Aufklärungsrate lag konstant bei 100%.

»Ja, Du bist wirklich gut in Form, Maja«, lobte Siegfried.

»Danke. Ich habe deinen Rat übrigens an meinen Lehrling weitergegeben.«

»Oh, stimmt ja, inzwischen bist du selbst Ausbilderin! Wie macht er sich?«

»Gut. Ist sehr diszipliniert und ehrgeizig.«

Nur mit Mühe gelang es Siegfried, einen zynischen Kommentar zurückzuhalten. Can mochte zwar ehrgeizig sein, aber nach Ansicht Siegfrieds mangelte es diesem Anwärter entschieden an anderen wünschenswerten Qualitäten.

Unmut regte sich in ihm, als er sich unwillkürlich an sein erstes Zusammentreffen mit diesem jungen Kollegen erinnerte.

In bester Absicht streckte er ihm damals zur Begrüßung freundlich die Hand entgegen – und erntete eine Belehrung: Händeschütteln sei heutzutage nicht mehr üblich. Man nicke sich stattdessen nur kurz zu.

Ob es inzwischen ebenfalls unüblich sei, Dienstälteren mit Respekt zu begegnen, lautete Siegfrieds schroffe Antwort.

Zeitgeist hin oder her! Siegfrieds Auffassung nach schuldete ein Neuling seinen Kollegen ein gewisses Maß an Höflichkeit – und dieser Grundsatz durfte wohl als zeitlos betrachtet werden.

Majas Lehrling aber entschuldigte sich nach der Zurechtweisung nicht, sondern starrte Siegfried zunächst nur stumm an.

»Fürchte, wir haben uns auf dem falschen Fuß getroffen«, kam ihm schlussendlich ohne die geringste Spur Einsicht oder Bedauern über die Lippen.

»Ich weiß, du und Can habt da so eure … Differenzen«, meldete sich Majas Stimme. Siegfried schrak zusammen und räusperte sich.

»Diesmal habe ich meine Gedanken aber nicht mitgesendet, oder?«

»Nein. War nicht notwendig.«

»Nun … gut. Ich muss ja nicht mit ihm auskommen. Du bist seine Ausbilderin. Hoffe nur, er kostet dich nicht zu viele Nerven.«

»Hast du für heute schon alles Notwendige erledigt?«, wechselte Maja das Thema.

»Jawohl, habe alle meine dienstlichen Sachen abgegeben.«

»Okay, kommst du dann in die Küche?«

»Muss nur noch kurz meinen Schreibtisch überprüfen.«

»Schön. Bis gleich.«

Siegfried verließ Ino und blinzelte. Nach Verlassen des Stroms ließ seine Sehschärfe zunächst immer zu wünschen übrig, obwohl er bislang im Alltag noch keine Brille benötigte.

Majas abwesender Blick bewies, dass sie weiterhin Inoline blieb. Mit ausdrucksloser Miene winkte sie Juliette verabschiedend zu und verließ das Büro. Siegfried erhob sich, nickte Juliette zu und verharrte kopfschüttelnd im Türrahmen, während er Maja nachblickte.

Ino beinhaltete ein schier endloses Repertoire von Anwendungsmöglichkeiten. Eine davon bestand in einer Art interaktivem Navigationssystem, durch das sich der Benutzer durch den Datenstrom wortwörtlich leiten lassen konnte, solange sich seine Umgebung nicht veränderte. Siegfried schien das zu riskant, daher verließ er sich lieber auf seine Augen. Maja hingegen schien diese Bedenken nicht zu teilen. Als sei dies die natürlichste Art der Fortbewegung, schlenderte sie lässig, wenngleich leeren Blickes, den Gang entlang.

Was, so ging Siegfried durch den Kopf, wenn sich unvorhergesehen plötzlich ein Hindernis im Flur befand? Das Navigationssystem von Ino aktualisierte sich gewiss nicht schnell genug, um einen Zusammenstoß zu vermeiden.

Während er zu seinem Schreibtisch stapfte, spähte Siegfried prüfend den Korridor entlang. Im Zeitraffer ließ er Erinnerungseindrücke des Revierflures aus den letzten Jahren in seinem Kopf erscheinen. Nein, tatsächlich! Hier hatte es in all der Zeit keine Veränderungen gegeben.

Erstaunt hob er eine Augenbraue. Nicht einmal ein neues Bild an der Wand! Scheinbar bildete dieser Gang die einzig stabile Konstante auf der Welt. Alles andere veränderte sich und verdrängte seine Vorgänger, so wie Majas Lehrling nun Siegfried ablöste. Sicher, rein technisch betrachtet rückte ja Maja – allerdings bugsiert durch Can – in der Hierarchie eine Stufe höher. Sie würde bald Siegfrieds Posten übernehmen. Dieser Ablauf entsprach somit völlig dem normalen Lauf der Dinge.

Und doch erfüllte ihn der Gedanke mit Unbehagen, dass ein ungehobelter Schnösel wie dieser Can eines Tages seine Aufgabe übernehmen würde. Siegfried, nun alter und ausgedienter Polizist, versuchte diese unangenehme Anwandlung von Negativität abzuschütteln.

»Freuen sollte ich mich«, murmelte er sich leise zu, »jetzt habe ich endlich Zeit. Nur für mich. Hab mir vorgenommen, mich intensiver mit dieser neuartigen Realität von Ino zu beschäftigen – stattdessen stehe ich da und blicke melancholisch zurück.«

Siegfried schmunzelte ob seiner eigenen Worte. Es stimmte: Vergangenem nachzutrauern war nicht weniger töricht, als es zu verleugnen. Es war an der Zeit, stattdessen an die Zukunft zu denken!

In seinem Büro trat er hinter den Schreibtisch, griff in die oberste Lade und holte einen hölzernen Würfel hervor. Gedankenverloren drehte er das Schnitzwerk in der Hand.

Das Ding hatte ihn dereinst einige blutige Blasen gekostet. Unwillkürlich wanderte Siegfrieds Blick zu dem Abfallkorb neben seinem Schreibtisch. Dieser Würfel verkörperte einen weiteren Teil jener Vergangenheit, mit der er jetzt abzuschließen gedachte.

Nachdenklich hob er das Holzstück vor sein Gesicht und betrachtete es aus der Nähe. Wegwerfen? Eigentlich zu schade. Er könnte es verschenken. Möglicherweise würde sich Juliette darüber freuen. Zumindest wäre sie erstaunt. Wenn sein altes Diensthandy sie schon derart entzückte …

Nein!, entschied er entschlossen und schob den Würfel in seine Jackentasche. Mit diesem Holzteil verbanden sich zu viele positive Erinnerungen. Außerdem symbolisierte es eine Art letztes Andenken an Fjodor. Ja, er musste versuchen mit der Zeit zu gehen. Aber deshalb die Vergangenheit gleich einer alten Haut radikal abstreifen? Nein!

Ein letztes Mal ließ Siegfried einen prüfenden Blick über seinen Schreibtisch gleiten. Nun, da alle Habseligkeiten von ihm entfernt waren, spiegelten sich die Lichtreflexe der Deckenlampe auf der Schreibfläche. Die Putzroboter leisteten ganze Arbeit.

Nicht, dass die Platte jemals sonderlich belegt gewesen wäre. Heutzutage hielt sich ja der Bedarf an Büromaterialien in äußerst engen Grenzen. Auf Fjodors Schreibtisch thronten damals noch Bildschirm und Tastatur. Nicht länger notwendig: Siegfrieds Computer präsentierte sich extrem reduziert als kleiner Kasten, dort neben dem Abfallkübel. Ino ermöglichte die Eingabe von Befehlen mittels Gedanken. Statt mit einem Ein- oder Ausgabegerät, verband sich der Rechner direkt mit dem Gehirn des Anwenders. Alles, was der Computer an Bildern oder Text generierte, wurde hinter die Netzhaut projiziert.

Nachdenklich starrte Siegfried das annähernd quadratische Kästchen an. Wie lange würde es dauern, bis es ebenfalls wegrationalisiert wurde?

Computer waren Relikte aus einer Zeit, als der Datenstrom noch keine ausreichende Informationsdichte besaß. Inzwischen aber war Ino allwissend. Es gab einige wenige Inopts, die die Ressourcen eines normalen Zugriffsrechtes überstiegen. Zwar schwamm jeder im Strom, doch durchaus nicht mit gleichen Rechten …

Die Geschwindigkeit, mit der ein gewöhnlicher Inozugang Daten verarbeitete, erwies sich für manche Anwendungen als zu gering. Externe Computer mit zusätzlicher Rechenleistung schufen hier Abhilfe. Allerdings handelte es sich hierbei eher um eine Notlösung. Für spezielle Aufgaben erlaubte Ino den Zugriff auf Großrechner, die jede noch so gewaltige Datenmenge in kürzester Zeit verarbeiteten. Nur deren geringer Zahl verdankte der klassische Computer seine heutige Daseinsberechtigung, denn zumeist blockierte jemand mit höherer Prioritätsstufe den Zugriff auf einen der Großrechner. Eines Tages freilich, würde Ino so hochentwickelt sein, dass es selbst unter voller Auslastung nicht mehr zu längeren Wartezeiten kommen würde.

Siegfried betrachtete das kleine Kästchen mitleidig. Wie viel Zeit blieb dem Gerät wohl noch?

Mit einer gewissen Wehmut schaute der alte Polizist ein letztes Mal in seinem Büro um sich. Was würde in ein paar Jahren verschwunden sein? Der Schreibtisch? Oder gar sein Besitzer? Irgendwann würde schließlich auch die Polizei ihre Arbeit zur Gänze auslagern. Unzählige Firmen gingen schon voran. Sicher, einige Polizisten würden als Notreserve übrigbleiben – aber nicht viele.

Bereits jetzt wurde ursprüngliche Polizeiarbeit von Inoscannern erledigt – jenen Überwachungsgeräten, die automatisch jeden Passanten anhand des Implantats identifizierten. In den letzten Jahrzehnten verdrängten sie die zuvor schier allgegenwärtigen Kameras. Ließ sich damals die Identität noch durch geschickte Maskierung verbergen, so erwies sich nun jede Form von Versteckspiel als sinnlos. Verdächtige aufzuspüren stellte selbst in Siegfrieds jungen Dienstjahren keine Tätigkeit mehr dar, die Polizisten erfordert hätte.

Ein metallisches Scheppern ließ ihn aus seinen Grübeleien hochfahren. Einer der kleinen Putzroboter entleerte seinen Staubbeutel in den Abfallkübel auf dem Gang.

Siegfried schmunzelte. Pure Ironie, dass Technik zwar menschliche Reinigungskräfte ersetzt hatte, jedoch die Existenz der simplen Abfallbehälter nicht gefährdete. Diese schlichten Metalldosen würden überdauern. Gleichgültig wie fortschrittlich sich eine Gesellschaft präsentierte: Müll produzierte sie trotzdem.

Gemessenen Schrittes umrundete Siegfried den Schreibtisch.

In der Ecke stand ein weiteres Gerät, das die Digitalisierung so schnell nicht wegrationalisieren würde, da sich auch in Zukunft Lebensmittel – zumindest aller Wahrscheinlichkeit nach – nicht eigenständig kühlen würden.

Seufzend öffnete Siegfried den kleinen Kühlschrank und nahm den dort deponierten Kuchen heraus. Schokoladenaroma stieg ihm in die Nase. Die Kuchenform vorsichtig balancierend, schritt Siegfried durch den Flur Richtung Kaffeeküche. Dort angekommen hielt er überrascht im Türrahmen inne. Erstaunt und ehrlich erfreut ließ er seinen Blick über die Anwesenden schweifen.

»Wie schön, dass ihr alle gekommen seid!«

»Ist doch wohl selbstverständlich«, sagte Maja.

Ja, für dich ist es das wirklich, dachte er, trat ein und stellte den Kuchen auf den Tisch.

Can nickte ihm wortlos zu. Maja hatte ihn wohl her geschleift. Siegfrieds Blick wanderte weiter.

»Freut mich, dass du gekommen bist«, wandte er sich an Tess. Die Frau, die der einmeterachzig große Siegfried um mehr als einen Kopf überragte, hob den ihren nicht. Ohne eine Miene zu verziehen, sah sie durch ihren bald ehemaligen Kollegen hindurch. Offensichtlich wieder im Strom, dachte Siegfried und lächelte milde. Nun, immerhin schenkte sie ihm zumindest körperliche Präsenz. Nur sehr selten traf er sie Inoffline an.

Als diensthabende Analytikerin fungierte Tess quasi als eine Art Bindeglied zwischen dem Revier und dem Datenstrom. Sie gehörte zum privilegierten Kreis jener mit dem Vorrecht eines permanenten Zugriffs auf Karthago – so der Name des lokalen Großrechners.

Natürlich forderte jedes Privileg seinen Preis: Alle komplexen Anfragen liefen über ihre Person. Sie personifizierte somit quasi eine Art moderner Seherin. Sozusagen ein Medium in ewigem Kontakt zu der höheren Intelligenz im Strom.

»Na, altes Haus. Glückwunsch! Der erste Fuß ins Grab ist immer der schwerste!«

Grinsend klopfte ein Kollege Siegfried auf die Schulter. Der grinste zurück. Sean. Einer der Liebenswertesten – trotz oder vielleicht gerade wegen seines schwarzen Humors.

»Naja, so lange dauert es in deinem Fall auch nicht mehr.«

Beide trennten nur fünf Jahre. Wohl der wahre Grund, weshalb sich Siegfried ihm am ehesten verbunden fühlte. Sie stammten eben aus der alten Zeit. Auch wenn Sean im Vergleich zu Siegfried besser mit der Jetzigen zurechtzukommen schien. Ein wenig beneidete ihn Siegfried darum.

»Ach, ich fühle mich ganz fit. Ein Weilchen werde ich schon noch durchhalten.«

Der Tod – ein häufiges Gesprächsthema für Sean. Leichen zu begutachten bildete nur einen Teilbereich seines Aufgabenfeldes, gleichzeitig aber die Quelle seines Humors. Tatsächlich verkörperte er einen Alleskönner: Neben seiner Tätigkeit als Gerichtsmediziner betätigte er sich auch noch als Labortechniker und Spurensicherer. Chemie, Biologie, Medizin – Sean mischte überall mit. Die Technik erlaubte dies. Von Fjodor wusste Siegfried, dass in früherer Zeit pro Arbeitsgebiet je ein Experte erforderlich war. Inzwischen kam man ohne diesen Personalschlüssel aus, sogar Sean war im Grunde nur Laie auf seinen Betätigungsgebieten.

Laut eigener Aussage hatte er selbst noch keinen Körper obduziert. Sezierroboter übernahmen diese Aufgabe. Die Spurensicherung verlief ähnlich automatisiert. Seans eigentliches Tätigkeitsfeld beschränkte sich auf die Auswertung der Untersuchungsergebnisse.

»Hoffe nur, dass ich nicht eines Tages auf deinem Tisch lande«, raunte Siegfried seinem Kollegen zu.

»Keine Sorge. Ich lasse dich selbstverständlich nur von meinem besten Roboter untersuchen«, antwortete dieser trocken und Siegfried fiel wieder ein, wieso Sean und er sich zwar gut verstanden, ihre Beziehung aber nie zu einer engen Freundschaft reifte: Seans speziellen Humor ertrug man nur in kleinen Dosen.

»Herr Tegethoff!« Ferrera, Siegfrieds Vorgesetzter, streckte ihm jovial die Hand entgegen. »Auch wenn ich mich für Sie freue, so bedaure ich es doch, Sie gehen zu sehen.«

Lächelnd erwiderte Siegfried den festen Händedruck – mit nicht weniger gekünstelter Höflichkeit.

Allein schon die Tatsache, dass Ferrera ihn nicht – wie die übrigen Kollegen mit Ausnahme Cans – duzte, signalisierte eine gewisse Distanz zwischen beiden, die jedoch keinesfalls in Feindschaft gipfelte. Im Gegenteil: Siegfried empfand seinem Chef gegenüber durchaus Dankbarkeit für dessen kühle Freundlichkeit. Schließlich nahm er die Position seines Vorgesetzten ein. Dem Empfinden Siegfrieds nach verhielt sich Ferrera von allen Beschäftigten im Revier ihm gegenüber am respektvollsten – und sogar am aufrichtigsten. Es zeigte sich jetzt gerade in der Art seines Händedrucks: Kurz und kräftig.

»Junge, Junge! Sie haben reiflich Kraft«, scherzte Ferrera. »Packen Sie die Dinge in Ihrem Ruhestand lieber nicht zu hart an.«

Siegfried schaltete sein Lächeln auf Autopilot. Sein Chef vermochte zwar Höflichkeit glaubhaft vorzutäuschen, seine Versuche auf dem Gebiet des Humors verliefen aber weniger erfolgreich.

Als Siegfried sich seinem nächsten Kollegen zuwandte, stellte er durchaus erfreut fest, dass dieser nicht im Strom schwamm. Doch auch wenn Cans Augen nicht verräterisch ins Leere starrten, so richteten sie sich dennoch nicht auf seinen scheidenden Kollegen, sondern auf Siegfrieds Kuchen.

»Was ist … das?«

»Ein Kuchen. Zum Abschied«, erklärte Siegfried verschnupft. An diesen rüden Umgangston würde er sich nie gewöhnen! Dann bemerkte er, dass nicht nur Cans Augen, sondern die Augen aller auf seinen Kuchen starrten. Innerlich stöhnend wechselte er verärgert in den Strom.

»Also ich habe keinen Anbieter ausfindig machen können, der Derartiges produzieren würde«, vernahm er Tess‘ Stimme. »Meine Güte! Das würde keiner Qualitätskontrolle auch nur annähernd genügen. Die Dicke der Glasur schwankt um mehr als 100%. Die Teigzusammensetzung scheint mir zudem nicht vollständig homogen zu sein. Zur genaueren Analyse müsste man das Sean ins Labor schicken.«

»Ich glaube, wer das verbrochen hat, liegt auf der Hand«, scherzte der Forensiker. »Nicht wahr, Siegfried?«

»Was? Sie backen noch selbst?«, entfuhr es Can.

»Ach? Nun, höchst … ungewöhnlich«, kommentierte Tess.

»Freut mich, dass mein Backwerk solche Begeisterung auslöst«, quittierte Siegfried in sarkastischem Tonfall.

»Schon gut! Damit Du glücklich bist, nehme ich ein Stück. Ist ja Dein letzter Tag. Vielleicht dann auch meiner …«, spöttelte Sean.

»Ach Leute, jetzt seid nicht so! Siegfried hat ja noch einen zweiten mitgebracht«, mischte sich nun Maja zu Siegfrieds Überraschung ein. Verwirrt ging er Inoffline.

Seine zukünftige Nachfolgerin, noch Inoline, trat mit leerem Blick zum Kühlschrank und entnahm ihm ein Tablett.

Eine Sachertorte kam zum Vorschein.

Mit spiegelglatt glänzender Glasur.

Wortlos fixierte Siegfried das perfekte Kunstwerk und beschloss, für den Rest des Tages nicht mehr Inoline zu gehen – egal, was seine Kollegen davon hielten.

Als Sonderling zu gelten, erschien ihm immer noch besser, als einen Streit zu riskieren. Und der hätte sich kaum vermeiden lassen, wäre Siegfried erneut Inoline gegangen. Böse Worte ließen sich notfalls unterdrücken. Im Hinblick auf Gedanken stellte sich die Sache komplizierter dar.

Maja schenkte ihm ein spitzbübisches Grinsen und stieß ihn scherzhaft mit dem Ellbogen in die Seite. Siegfried zwang sich zu einem gequälten Lächeln.

Sicher, Maja meinte es nur gut. Auf ihre diplomatischen Künste sollte er als ihr ehemaliger Ausbilder sogar stolz sein. Doch die respektlose Unhöflichkeit seiner Kollegen vermochte er nicht so einfach hinunterzuschlucken.

Angewidert beobachtete er, wie jeder der Anwesenden gierig nach einem Stück Sachertorte langte, während sein selbstgebackener Kuchen verschmäht wurde. Sanft lächelnd schnitt Maja zwei weitere Stücke aus der Torte und reichte eines davon Siegfried.

»Danke«, brummte der Beschenkte, seinen Zorn nur mühsam unterdrückend.

»Nun, denn …«

Die Kuchengabel wie ein Zepter schwingend, setzte Ferrera zu einer Dankesrede an.

Sprach von den großen Leistungen Siegfrieds.

Von dessen Anteil daran, dass die Aufklärungsrate nach wie vor 100% betrage.

Gab abschließend seiner Hoffnung Ausdruck, dass man diese Quote auch ohne Siegfrieds wertvollen Beitrag weiterhin aufrechterhalten werde.

Für Siegfrieds Geschmack übertrieb sein Chef es etwas mit seinen Schmeicheleien. Aber immerhin: Er gab sich Mühe. Was sich allein schon daran zeigte, dass er mit seiner Ohrenstimme sprach.

Ob wohl die Möglichkeit bestand, zeitgleich die Inostimme zu verwenden? Siegfried redete sich entschlossen ein, dass dem nicht so war, und sein Chef tatsächlich nur für ihn sprach.

Seltsamerweise trübte der Gedanke an diese Sonderbehandlung sein Gemüt mehr, als er es erfreute.

Schließlich erschienen die meisten seiner Kollegen ohnehin nur pro forma zu seinem Abschied. Selbst im besten Fall schenkten sie Ferreras Rede kaum mehr Aufmerksamkeit als dem selbstgebackenen Kuchen. Eine Art Fluchtreflex stieg in ihm auf. Schließlich räusperte er sich und blickte in die Runde.

»Danke, dass ihr alle gekommen seid. Ich fürchte aber, ich muss mich jetzt verabschieden. Muss noch einen Zug erwischen.«

Verabschiedend nickte er in die Runde.

»Warte!«

Mit einer kleinen Schachtel in den Händen kam Juliette auf ihn zu. Im nächsten Augenblick fand sich Siegfried von seinen Kollegen umkreist.

»Was wäre denn eine Pensionierung ohne Abschiedsgeschenk?«

Lächelnd überreichte sie ihm die Schachtel. Überrascht nahm Siegfried das Präsent entgegen, öffnete es vorsichtig und blickte im nächsten Augenblick erstaunt auf einen länglichen Gegenstand. Eine Armbanduhr! Als Schmuck nach wie vor beliebt, auch wenn in dieser Verwendung nunmehr ihr einziger Zweck bestand. Entgegen seines ursprünglichen Plans, betrat Siegfried nun doch kurzzeitig den Strom, um die Uhrzeit abzugleichen. Natürlich ging die Uhr falsch.

»Meine Güte! Vielen lieben Dank euch allen!«

Diesmal sagte er es aufrichtig – und meinte es auch so.

Er reichte Juliette die Hand, doch sie umarmte ihn stattdessen. Vor Überraschung erstarrte Siegfried für einen Moment. Wann hatte ihn letztmals jemand umarmt? Juliette fasste ihn bei den Schultern und blickte ihm in die Augen.

»Pass auf dich auf.«

Maja trat zu ihm.

»Ich hoffe doch, dass wir uns wiedersehen?«

»Bestimmt«, versprach Siegfried, innerlich wenig überzeugt.

»Mach´s gut altes Haus.«

Sean klopfte ihm im Vorbeigehen ein weiteres Mal auf die Schulter, trat durch die Tür und eilte durch den Gang davon.

Die restlichen Kollegen schritten wortlos an Siegfried vorbei. Nur Can nickte kurz, was Siegfried jedoch ignorierte.

Schließlich war er allein im Raum.

Mit resigniertem Schulterzucken packte er seinen verschmähten Kuchen ein. Immerhin herrschte nun Klarheit darüber, was es abends zum Dessert geben würde. Ein letztes Mal ging er gemessenen Schrittes über den Korridor Richtung Ausgang.

Beim Verlassen des Gebäudes nickte er dem Inoscanner zu. Wie zum Abschied blinkte kurz ein rotes Signallämpchen auf.

»Siegfried Tegethoff. Identifiziert und ausgetragen«, meldete eine monotone Stimme in seinem Kopf.

Auch wenn man sich nicht im Strom befand, übertrugen Inoscanner ihre Signale. Ihre Stimme besaß zu großes Gewicht, um versehentlich nicht gehört zu werden. Streng genommen sogar größeres Gewicht als die Polizei, der sie offiziell dienten.

Denn Inoscanner identifizierten die Menschen nicht bloß: Indem sie auf den Datenstrom des Inoimplantats zugriffen, unterschieden sie Opfer von Tätern und Zeugen von Verdächtigen. Oder in Siegfrieds Fall Pensionär von Angestelltem.

Somit befand er sich nun hochoffiziell im Ruhestand.

Vor dem Gebäude schaute auf seine Armbanduhr. Punkt 12 Uhr. Trotz aller Ungenauigkeit der Zeitangabe kam ihm diese Uhrzeit passend vor. Siegfrieds Jahre im Polizeidienst lagen nun ein für alle Mal hinter ihm. Ein neuer Lebensabschnitt brach an – in genau diesem Augenblick.

Kapitel 2

Unter erheblichem Getöse fuhr der Zug in die Station ein. Siegfried stieg ein, ließ sich schnaufend auf einen der Sitze fallen und beobachtete, wie sich das Abteil allmählich füllte. Es schien sich heute ewig hinzuziehen, obwohl auf dem Bahnsteig nicht gerade großer Andrang herrschte.

Als sich die Türen wieder schlossen, war im Abteil nur etwa die Hälfte der Sitzplätze belegt.

Siegfried schaute auf seine unkorrekte Uhr und versuchte die tatsächliche Uhrzeit zu schätzen. Natürlich würde Ino ihm eine präzise Auskunft liefern, doch zu dieser Inanspruchnahme erwies sich sein Wissensdrang entschieden als nicht groß genug.

Noch fand kein Pendlerverkehr statt, also musste der Nachmittag recht jung sein. Der relativ hohe Sonnenstand bestätigte diese Einschätzung.

Sein letzter Arbeitstag war somit bedeutend kürzer, als Siegfried ihn empfunden hatte. Der Polizeidienst bescherte ihm zumeist regelmäßige Arbeitszeiten – zumindest ab der zweiten Karrierehälfte, während der er seine Aufgaben fast nur noch vom Schreibtisch aus verrichtete.

Der Gedanke, dass der letzte Tag seiner Berufstätigkeit gleichzeitig der vielleicht kürzeste seiner Laufbahn gewesen sein sollte, ließ in Siegfried eine eigenartige Verärgerung aufkommen. Schlechtgelaunt registrierte er, dass sich der Zug endlich langsam in Bewegung setzte.

Wenn dies nicht wahrer Ironie entsprach: Die gesamte Umwelt veränderte sich immer schneller, aber dieser Tag schien wie in Zeitlupe abzulaufen.

Unsanft stieß ein Ellbogen gegen Siegfrieds Schulter und riss ihn aus seinen Grübeleien.

»Au, passen Sie bitte auf!«, entfuhr ihm unwillkürlich. Der zu dem Ellbogen gehörende junge Mann ließ sich jedoch nur wortlos auf den Sitz neben ihm fallen. Tadelnd musterte Siegfried ihn.

»Gibt noch genügend andere freie Plätze, also kein Grund zu drängeln.«

Doch der Nebenmann schenkte seinem empörten Blick nicht mehr Aufmerksamkeit als seinen Worten. Stattdessen stierten seine Augen mit leerem Ausdruck in die Ferne, als sei sein Geist weit entfernt.

Naserümpfend wandte sich Siegfried ab. Unabsichtlich nicht wahrgenommen zu werden, das konnte als unhöflich, aber notfalls tolerierbar durchgehen. Doch ein derart unverblümtes Ignorieren, wie es dieser Kerl an den Tag legte? Schwer zu akzeptieren!

Unvermittelt kam Siegfried eine Begebenheit aus seiner frühen Dienstzeit in den Sinn: Sein ehemaliger Ausbilder Fjodor und er – damals noch Berufsanfänger – befanden sich gemeinsam auf Streife. Dabei überraschten sie einen Dieb, der – im Glauben, sie würden ihn nicht bemerken, sofern er nicht zu ihnen hinsah – quasi direkt vor ihrer Nase ein Fahrrad zu stehlen gedachte. Der Kerl zuckte kreidebleich zusammen, als Fjodor ihn ohne großes Federlesen in den Polizeigriff nahm. Höchlichst schockiert ließ der Dieb sich daraufhin widerstandslos festnehmen.

Diese lange zurückliegende Begebenheit führte Siegfried erstmals vor Augen, wie man sich Respekt verschaffte – und welche Wirkung dies erzielte. Vor allem im Hinblick auf das eigene Selbstbild.

Einen Moment später versuchte er, dieses Gefühl von Selbstsicherheit in sich wiederzubeleben. Ganz bewusst richtete er sich mit durchgedrücktem Kreuz in seinem Sitz auf und starrte seinen Sitznachbarn durchdringend an. Der Konfrontationsversuch übte tatsächlich eine seltsam belebende Wirkung auf Siegfried aus.

Konzentriert spannte er seine Gesichtsmuskeln an, da ein finsterer Gesichtsausdruck sich in jedem Fall als effizienter erwies.

»Hören Sie mal!«

Selbst wer Inoline war, befand sich nicht in vollständiger Abschirmung vor der Außenwelt. Der Zustand stellte sich vielmehr ähnlich dar, als sei man in höchstem Maße in eine Beschäftigung vertieft. Starke Empfindungen drangen durchaus bis ins Innere des Anwenders vor. Starrte man den Betreffenden etwa intensiv genug an, bemerkte er dies nach einer Weile und verließ dann meist irritiert den Strom. Diesen Trick praktizierte Siegfried in der Vergangenheit öfter erfolgreich an seinen Kollegen – damals, als er das Ignorieren seiner Person noch nicht hinzunehmen bereit war.

Einige Momente verstrichen, während sich Siegfrieds Blick verdüsterte. Doch glomm in seinen Augen recht bald mehr Frustration als Zorn, denn sein Sitznachbar verweigerte bemerkenswert konsequent jegliche Reaktion.

Scheinbar ein besonders hartnäckiger Fall.

Erbost beugte sich Siegfried vor, um dem Rüpel direkt in die Augen zu schauen. Doch der Blick wurde nicht erwidert. Siegfried kam es vor, als sehe er in das Gesicht einer Leiche.

Selbst jene, die tief im Datenstrom schwammen, zeigten zumindest gelegentlich Augenbewegungen. Hier passierte nichts. Kein Zucken der kleinen Muskeln, kein Flattern der Lider, keine Wanderung der Pupille. Als wären diese Augen aus Glas! Unwillkürlich zuckte Siegfried zusammen. Sollte dieser Kerl etwa tatsächlich verstorben sein?

Einigermaßen beunruhigt musterte er die vermeintliche Leiche. Leichenstarre setzte doch nicht schon nach wenigen Minuten ein! Trotz besseren Wissens ertappte Siegfried sich dabei, kurz eine Hand vor Mund und Nase seines Nachbarn zu halten. Na also, ein sanfter Luftzug! Die Atmung war intakt. Siegfried nannte sich insgeheim einen alten Narren.

Natürlich lebte dieser Mann! Vermutlich war er sogar ansprechbar. Er brauchte dazu nur die richtige Stimulation. Etwa ein grelles Licht direkt in die Augen – oder vielleicht ein bisschen Schmerz …

Inzwischen spielte Siegfried in seiner Empörung tatsächlich mit dem Gedanken, den unverschämten Kerl zu schlagen. Nein, nicht fest – nur als kleine Revanche. Immerhin hatte dieser rücksichtslose Zombie ihn ja angerempelt!

Von seinen Gewaltphantasien angewidert, wandte sich Siegfried im nächsten Augenblick kopfschüttelnd ab. Wieso, zum Henker, war ihm die Aufmerksamkeit dieses Idioten so wichtig? Sogar im Falle seiner Kollegen – seiner ehemaligen Kollegen – hatte er seine Bemühungen längst aufgegeben. Sollte dieser Typ doch im Strom ertrinken, wenn dem Trottel das gefiel!

Ertrinken? Das war das Stichwort. Ino schien den Kerl regelrecht verschlungen zu haben. Eine Ahnung kroch dunkel in Siegfried empor: Er selbst kam mit dem aktuellen Anwendungsstand von Ino kaum noch zurecht, aber wenn dieser Zombie hier das Resultat der zukünftigen Entwicklung verkörperte, dann …

Sein Gespräch mit Juliette an diesem Morgen fiel ihm ein. Sie hatte in ihrer Beschreibung nicht übertrieben. Das also war dieses »Inodive«!

Worum auch immer die Gedanken seines Sitznachbarn kreisten – seine reale Umgebung war es ganz offenkundig nicht. Er schien sich nicht einmal seines eigenen Körpers bewusst zu sein. Aber … wie war das möglich?

Zu seiner Verwunderung packte Siegfried die Neugierde. Er musste mehr über diese Anwendung oder Inopt – oder wie immer man sie auch nannte – erfahren. Zum ersten Mal an diesem Tag ging Siegfried freiwillig Inoline.

Die in der Tatsache liegende Ironie, dass er ausgerechnet im Strom nach den neuesten Entwicklungen eben dieser Technologie suchte, entging ihm nicht.

Immerhin wurde er für seinen Prinzipienbruch mit Effizienz belohnt: Kaum hatte er den Gedanken »Was ist Inodive?« Formuliert, erhielt er bereits eine umfassende Antwort.

Wie Juliette ihm richtig erläuterte, wurde durch Inodive das Bewusstsein vom Körper getrennt, wodurch der Anwender sich ausschließlich selektiven Denkvorgängen widmen konnte. Seine Physis wurde zwischenzeitlich von Ino gelenkt – nach einem auf die jeweilige Person und Situation zugeschnittenen Algorithmus.

Ächzend ging Siegfried Inoffline. Seiner Meinung nach wurde dieser Technologie die seltene, wie zweifelhafte Ehre zuteil, in der Theorie noch schrecklicher als in der Praxis zu wirken. Und doch schien dieser Horror sich durchgesetzt zu haben!

Siegfried ließ seinen Blick durch das Abteil schweifen. Die junge Frau mit Kurzhaarschnitt auf der gegenüberliegenden Sitzbank, der Anzugträger eine Reihe weiter – ja sogar diese Mutter dort, die ihre kleine Tochter bei der Hand hielt: Sie alle zeigten diesen seltsam regungslosen Gesichtsausdruck. Und keiner von ihnen schien sich in normaler Weise zu bewegen, geschweige denn seiner Umwelt auch nur die geringste Beachtung zu schenken.

Wie kam es, dass ihm dies erst jetzt auffiel? Schlagartig ernüchtert beantwortete er sich diese Frage nur allzu leicht selbst: Im Grunde verhielt er sich ja nicht weniger blind als seine Mitfahrer. Er hätte schon früher über Inodive recherchieren können, schenkte dem aber keine Beachtung – wie eigentlich grundsätzlich seinen Mitmenschen. Während so mancher langweiligen Zugfahrt vertrieb er sich die Zeit damit, ohne Zweck und Ziel im Datenstrom herumzuschwimmen, statt sich sinnvollerweise über den technischen Fortschritt Inos zu informieren.

Siegfried musste sich eingestehen, dass er sich einfach mit der Erklärung begnügte, dass diese nach Ino Süchtigen eben irgendetwas im Datenstrom trieben.

Um was genau es sich dabei handelte, fragte er sich nie.

Maja hatte recht. Der Grund seiner Rückständigkeit lag nicht an seinem Alter, sondern ausschließlich an seinem grundsätzlichen Desinteresse! Vielleicht sollte er wie alle anderen im Abteil auch Inoline gehen? Zumindest ließe sich auf diese Weise die Illusion aufrechterhalten, ebenfalls mit dieser Technik vertraut zu sein. Um diese Idee umgehend wieder in der Versenkung verschwinden zu lassen, brauchte es jedoch nicht mehr als einen Blick auf seinen reglos stierenden Nachbarn.

Wenigstens einer der Mitreisenden musste doch Inoffline sein! Unmöglich, dass er damit ganz allein sein sollte! Suchend, geradezu flehend, ließ er seinen Blick schweifen – und wurde schließlich fündig.

Bekleidet mit einem langen, schwarzen Mantel, stand dort mit dem Rücken zu Siegfried ein hochgewachsener Mann – trotz freier Sitze.

Sein Verhalten erweckte beinahe den Anschein, als wäre die Inanspruchnahme eines Sitzplatzes unter seiner Würde. Sein Arm bewegte sich, schwang leicht am Haltegriff hin und her, was natürlich allein den Zugbewegungen geschuldet sein mochte – also kein Beweis dafür, dass dieser Fremde Inoffline war.

Siegfried starrte ihn an. Registrierte dessen schütteres und ergrautes Haar. Er und der Mantelträger waren scheinbar annähernd im selben Alter. Vielleicht lag es an dieser Gemeinsamkeit, dass Siegfried insgeheim hoffte, der Mann sei wie er gedanklich außerhalb des Datenstroms. Wahrscheinlicher war, dass der Fremde wie die übrigen Passagiere vor sich hin stierte.

Da fielen Siegfried Majas Worte ein: Ihre Eltern – obgleich ebenfalls seiner Generation zugehörig – hatten sich der modernen Technologie angepasst und perfekt in das System eingefügt. Tja, im Gegensatz zu ihm. Es lag also nicht am Alter.

Eine eigenartige Anwandlung von Enttäuschung ließ Siegfried den Blick abwenden. Warum wurde er nur so merkwürdig melancholisch? Ab dem heutigen Tag stand ihm doch endlich alle Zeit der Welt zur Verfügung! Genug, um alles Wissenswerte über Ino zu lernen. Oder es eben bleiben zu lassen.

Niemand stellte jetzt mehr Erwartungen an ihn. Also zur Hölle mit Inodive! Wenn er sich dazu entschied, könnte er entspannt zurückgelehnt auch einfach nur beobachten, wie seine Mitmenschen sich in sich selbst zurückzogen!

Gedankenverloren hob er den Blick zur Decke des Abteils. Sein Gesicht spiegelte sich im runden Gehäuse des Inoscanners. Was der wohl entdeckte, wenn er in die Gedankenwelt des Sitznachbarn Einblick nahm?

Offiziell stellten die Geräte Identität und Standort aller Personen im Umkreis fest. Außerdem drei, jeweils von Individuum zu Individuum unterschiedliche Werte, die laufend neu berechnet wurden und im Zweifelsfall über Schuld oder Unschuld eines Angeklagten entschieden:

Moralitätswert, Fokuswert und Aggressionswert.

Der Moralitätswert zeigte den Ausprägungsgrad von Schuldgefühlen an. Ein hoher Wert signalisierte, dass sich der Verdächtige einer begangenen Straftat bewusst war.

Der Fokuswert wiederum, spiegelte die Konzentration des Gesuchten zum Tatzeitpunkt. Daraus ließ sich ableiten, ob der Täter das ihm angelastete Verbrechen vorsätzlich verübte.

Der Aggressionswert schließlich, ermittelte das Gewaltpotenzial der Zielperson.

Indem man diese Werte mit dem rekonstruierten Tatverlauf verglich, ließ sich zweifelsfrei über Schuld oder Unschuld eines Beschuldigten entscheiden. An der Effizienz dieses Verfahrens zweifelte längst niemand mehr.

Unbekannt dagegen war, wie diese Werte zustande kamen. Deren Ergebnisauswertung erfolgte – wie inzwischen üblich – ausschließlich automatisiert. Nicht einmal die Polizei besaß ein Zugriffsrecht auf die entsprechenden Datenbanken, die sich – unter allerhöchstem Sicherheitsstandard – in gewaltigen, autonomen Rechenzentren mit geheimem Standort befanden.

Trotz langjähriger Tätigkeit im Polizeidienst wusste Siegfried von keinem einzigen Fall, in dem ein Zugriff auf sie genehmigt worden wäre.

Und selbst wenn dies doch geschehen wäre, so hätte es kaum etwas genützt: Mit absoluter Sicherheit erwies sich der verwendete Algorithmus dieser Rechenzentren als derart komplex, dass er sich dem begrenzten Verständnisvermögen eines menschlichen Gehirns bei weitem entzog.

Doch eine beunruhigende Frage blieb: Lasen Inoscanner die Gedanken jeder Person, die sich in ihrem Wirkungsbereich befand?

Schwer vorstellbar, dass sie es nicht taten. Wie sonst erlangten sie die berechnungsrelevanten Daten? Auf welch anderem Weg gelangten sie zu der Schlussfolgerung über Schuld oder Unschuld eines Verdächtigen?

Siegfried erinnerte sich, wie er früher bei dem Gedanken zusammenzuckte, dass irgendwo jemand anonym mitlas, was er dachte. Heute aber nahm er diese Erkenntnis gelassen hin.

Jede Akzeptanz einer Neuerung benötigte wohl Zeit. Und die Einführung der Inoscanner hatte sich ja tatsächlich bewährt. Nur ihnen verdankte man schließlich die extrem hohe Verbrechensaufklärungsrate.

Zudem schien es ja auch noch nie Datenlecks gegeben zu haben. Selbst Tess fand diesbezüglich nichts in ihren Datenbanken, obwohl Siegfried sie oft genug danach zu suchen drängte.

Siegfried versuchte, den Schluss zu ziehen, dass er im Hinblick auf Inodive eines Tages gleichermaßen Gelassenheit empfinden werde, wie inzwischen bezüglich der Inoscanner.

Zweifelnd sah er den zombiehaft wirkenden Nebenmann an. Nein, verdammt! Es würde noch lange dauern, bis er sich mit damit abfand! Resignierend atmete er tief durch und legte den Kopf in den Nacken.

»Quo vadis humanis?!«, rief er aus, wissend, dass es niemand hörte.

»Quo vadis HUMANUS!«, belehrte ihn eine tiefe Stimme.

Verdutzt spähte Siegfried in Richtung der unerwarteten Antwort. Der Mantelträger hatte sich umgedreht und fixierte Siegfried.

Sofern Siegfried Zweifel daran hegte, ob er noch in die heutige Realität passe, so kam aufgrund des Anblicks dieses Fremden eine derartige Frage gar nicht erst auf:

Äußerst imposant spannte sich in dessen Gesicht ein mächtiger Backenbart von Wange zu Wange. Der deutlich gelichtete Haaransatz legte eine hohe und seltsam erhaben wirkende Stirn frei. Das zur Schleife verknotete, strahlend weiße Halstuch, bildete einen starken Kontrast zu der schwarzen Weste unter dem gleichermaßen dunklen Mantel.

Seine gesamte Erscheinung sendete eine unmissverständliche Botschaft, und selbst die ausgeprägten Krähenfüße um die Augenwinkel schienen sich daran zu beteiligen:

Ich bin nicht wie ihr – und stolz darauf!

Unwillkürlich schaute Siegfried an sich herab. Nun, auch sein Erscheinungsbild verkündete eine Botschaft, jedoch mit anderem Inhalt. Während dieser Backenbartträger seine Andersartigkeit regelrecht zelebrierte, verkörperte Siegfried den unfreiwilligen Sonderling: Jemanden, der nicht nur mit der Gesellschaft, sondern auch mit sich selbst nicht wirklich zurechtkam.

»Quo vadis humanus«, wiederholte die tiefe Stimme.

Der kräftige, durchdringende Bariton hätte nicht besser zu der hochgewachsenen Gestalt passen können. Eindringlich unterstrich er die von dem Unbekannten ausgehende seltsam beeindruckende Aura aus Kraft und Entschlossenheit.

Es geschah nicht zum ersten Mal, dass Siegfried sich mit einer dermaßen dominanten Persönlichkeit konfrontiert fand – einer Erscheinung, der man unwillkürlich nicht nur Respekt, sondern geradezu Ehrfurcht entgegenbrachte. Bei der letzten Begegnung dieser beeindruckenden Art war Siegfried aber noch ein junger Mann gewesen.

Als der Unbekannte nun gemessenen Schrittes auf ihn zutrat, rückte Siegfried unbewusst enger an die Rückenlehne. Im Grunde seines Herzens schien er doch ein leicht zu beeindruckender Jüngling geblieben zu sein. Oder empfand er nur fassungsloses Erstaunen? In dieser Zeit, in der sich Menschen freiwillig – und sogar gern – von Maschinen lenken ließen, hätte er nie damit gerechnet, plötzlich auf einen stolzen Individualisten zu treffen!

»Kann ich … Ihnen helfen?«, erkundigte sich Siegfried um Wahrung von Haltung bemüht. Der andere stand nun unmittelbar vor ihm, und seine mindestens einmeterneunzig große Gestalt schien geradezu einen Schatten auf seine gesamte Umgebung zu werfen. Zu Siegfrieds Überraschung umspielte ein mildes Lächeln seinen Mund.

»Quo vadis humanus«, wiederholte der Fremde abermals.

»Bitte?«, hauchte Siegfried und empfand gleichzeitig eine ihm unverständliche Faszination.

»Oh, mein Herr, bitte entschuldigt meine schlechten Manieren.«

Die tiefe Stimme klang sanft und freundlich, ja geradezu freundschaftlich.

»Ich hätte mich Euch zunächst vorstellen sollen. Flavius Claudius Julianus. Sehr erfreut.«

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Siegfried auf die ihm entgegengestreckte Hand. Flavius Claudius Julianus? Offenbar stand ein Verrückter vor ihm!

»Nun, entspricht dies Eurer Art der Respektsbekundung?«

Die Frage klang deutlich weniger sanft.

»Also, ich gestehe, mit dem Zeremoniell am römischen Kaiserhof nicht vertraut zu sein«, erklärte Siegfried spöttisch. Sein Gegenüber verzog keine Miene.

»Maßt man sich etwa an, ein Prophet zu sein, nur weil man seinen Namen annimmt? Nein! Man bezeugt lediglich Treue gegenüber einer Idee, einem Ideal.«

Mit gerunzelter Stirn erhob sich Siegfried von seinem Sitz. Dieser Kerl war zweifellos merkwürdig. Gleichzeitig aber auch eindeutig das interessanteste Individuum, das ihm seit langem untergekommen war.

»Siegfried Tegethoff, sehr erfreut«, stellte er sich vor und fasste mit entschlossenem Griff die immer noch ausgestreckte Hand. Julianus erwiderte den Händedruck exakt so fest, wie schon sein Erscheinungsbild erwarten ließ.

»Darf ich mich zu Euch gesellen, mein Herr?«

»Natürlich«, antwortete Siegfried zerstreut und setzte sich. Seine Gedanken kreisten um Julianus‘ Gleichnis, als dieser ihm gegenüber Platz nahm.

»Sie erwähnten Propheten«, sagte er schließlich vorsichtig. »Glauben Sie an Gott?«

»Gott ist tot«, entgegnete Julianus prompt.

Die Antwort schien überraschend, aber doch vorhersehbar. Mit aufeinandergepressten Lippen drehte Siegfried den Kopf in Richtung seines jungen Sitznachbarn.

»Tja, aber die Technikgläubigkeit lebt«, presste er hervor. Julianus winkte ab.

»Pha, das ist kein Glaube. Glaube braucht Verachtung. Die gute Seele blickt voller Ekel auf das sündige Fleisch.«

Naserümpfend wies Julianus auf Siegfrieds Sitznachbarn.

»Am verächtlichsten aber ist der Mensch, der sich selber nicht mehr zu verachten vermag. Er hat alles Moralische, alles Schöpferische in sich geopfert – für ein falsches Gefühl der Sicherheit und Bequemlichkeit. Er kann mit dem Pfeil seiner Sehnsucht nicht mehr zielen, und die Sehne seines Bogens verlernte zu schwirren.«

Siegfried hob die Augenbrauen. Nicht, dass er die Worte seines Gesprächspartners nicht verstand. Er konnte sich nur nicht entsinnen, wann er das letzte Mal jemanden in dieser Weise hatte reden hören.

»Nietzsche?«, murmelte er und hob fragend die Augenbrauen. »Ich hätte nicht gedacht, jemanden zu treffen, der noch alte Philosophen zitiert.«

»Paraphrasiert«, verbesserte Julianus. »Aber glaubt mir, die Überraschung beruht auf Gegenseitigkeit.«

Einige Atemzüge lang starrten sie sich wortlos an. Schließlich brach Julianus das Schweigen.

»Seid denn Ihr etwa gottgläubig, mein Herr?«

»Nun, ich glaube an eine höhere Macht. An universelle Prinzipien. Mein Mentor nannte es die Allnatur.«

»Ah!«, der andere lächelte verständnisvoll. »Also meint Ihr, jegliches geschehe aus einem bestimmten Grunde?«

Der ehemalige Polizist zuckte mit den Schultern.

»Ja. Auch wenn ich ihn nur selten verstehe.«

Julianus hob mahnend die Hand.

»Sklavenmoral ist gefährlich.«

Siegfried war nicht sicher, worauf sein Gesprächspartner hinauswollte, doch ein unangenehmes Gefühl stieg in ihm auf, dass er nicht so recht einzuordnen wusste.

»Sie erinnern mich an jemanden«, wechselte er das Thema.

»Doch nicht etwa an Euren Mentor?«

Julianus‘ gleichgültiger Tonfall verriet nur zu deutlich die rhetorische Natur seiner Frage.

Statt zu antworten, musterte Siegfried seinen Gesprächspartner. Ja, so sehr sich auch das Aussehen unterschied, so sehr glich sich das Auftreten: Diese de facto identische, gleichsam belehrend wie freundliche Gestik. Die sich ähnelnden tiefen Stimmen.

Sah man von der unterschiedlichen Wahl ihres Lieblingsphilosophen ab, so war die Ähnlichkeit zwischen den beiden Persönlichkeiten tatsächlich verblüffend. Ja, würde Siegfried die Augen schließen, so hätte er das Gefühl, Fjodor Pirow gegenüberzusitzen – oder dessen verschollenem Bruder.

Ob es womöglich eine verwandtschaftliche Verbindung gab? Doch schon einen Wimpernschlag später kam ihm dieser Gedanke absurd vor.

Julianus blickte ihn fragend an.

»War er es, der Euch die Philosophien der alten Meister nahebrachte?«

»Unter anderem.« Siegfried schmunzelte. »Leider haben seine Lateinlektionen dem Anschein nach etwas weniger gefruchtet.«

»Seid nicht zu streng mit Euch. Ihr habt Euren Mitmenschen Einiges voraus.«

Mit verächtlicher Miene nickte er abwertend in Richtung des geistig abwesenden Sitznachbarn, dem Siegfried daraufhin einen kurzen Blick schenkte.

»Nun, trotz aller sicherlich berechtigter Kritik würde ich davor warnen, die Jugend zu unterschätzen. Mit der heutigen Technologie zumindest, kommt sie deutlich besser zurecht als unsereins. Für sie ist es auf diesem Wege ein Leichtes, beispielsweise binnen kürzester Zeit die korrekte lateinische Deklination zu ermitteln.«

Lächelnd registrierte Siegfried Julianus‘ strenge Miene. Gespräche dieser Art führte er früher mit Fjodor. Auch ihm gegenüber verteidigte er oft die jungen Menschen. In Siegfried wich das vage Unbehagen allmählich einer beruhigend wirkenden Vertrautheit.

»Durchaus, durchaus«, stimmte Julianus zu.

Sein Tonfall aber stellte klar, dass er alles andere als überzeugt war.

»Doch was nützt ein grammatikalisch korrekter Satz, wenn sein Sinn unverstanden bleibt?«

Siegfried ahnte, worauf Julianus abzielte, zog es jedoch vor, zunächst schweigend abzuwarten. Auch Fjodor hatte sich nie auf einfache Weise überzeugen lassen. Es erwies sich aber immer als bessere Alternative, seine kritischen Einwände vollständig anzuhören, bevor man zur Gegenrede ansetzte.

»Was meint Ihr, würde geschehen, wenn Ihr Eurem Sitznachbarn die Frage „Quo vadis humanus?“ stellen würdet?«, fuhr Julianus fort.

»Nun, er würde Inoline gehen und nach einer Übersetzung suchen.«

Siegfried hatte sich bemüht, den inzwischen – laut Juliette – ja antiquierten Begriff Datenstrom zu vermeiden, um den Eindruck zu erwecken, zumindest sprachlich auf der Höhe der Zeit zu sein. Irgendwie fühlte er sich genötigt, sich Julianus gegenüber zu beweisen – wie ein Schüler, der sich vor seinem Lehrer keine Blöße geben wollte. Seltsam. Es war tatsächlich wie damals, als Siegfried erstmals auf seinen Mentor traf.

»Ino. Hm.«

Julianus runzelte die Stirn, als höre er den Ausdruck zum ersten Mal.

»Na, wohl vielmehr inops.« Er schnaubte amüsiert. »Mentis inops.«

Mentis, mental …, Siegfried durchforstete sein Gehirn nach der möglichen Bedeutung des Begriffs. Mittels Ino hätte er sie umgehend gefunden, doch erschien es ihm unpassend, vor den Augen dieses strengen Gesellen jetzt in den Strom zu steigen.

»Interessanterweise nennt man eine bestimmte Anwendung Inos heutzutage Inopt«, erklärte er, um von seinem Unwissen abzulenken.

Als erkläre er Siegfrieds Überlegungen für nichtig, vollführte Julianus eine wegwerfende Handbewegung und fixierte ihn mit eindringlichem Blick.

»Verzeiht, ich schweife ab. Wie Ihr richtig sagtet: Er würde im Datenstrom die korrekte Translation suchen. Und dann? Dann würde er auf die ihm gestellte Frage etwas antworten wie beispielsweise „zum Bahnhof“, oder „in die Außenbezirke“.«

»Ja, stimmt schon, für philosophische Anspielungen besitzen heute nur noch die wenigsten ein Gehör, fürchte ich.«

Julianus schnaubte angewidert.

»Nicht nur dafür. Bemerkt dieses Subjekt denn überhaupt, dass wir über es sprechen?«

»Tja, schwer zu sagen …«

Siegfried fragte sich, ob Julianus schon einmal von Inodive gehört haben mochte und entschied sich in dieser Hinsicht für ein »Nein«.

»Man nennt es Inodive – Eintauchen. Das Bewusstsein übergibt in diesem Zustand einen Großteil seiner Funktionen an Ino, um sich ausschließlich auf wesentliche Dinge zu konzentrieren.«

Scheinbar kraftlos hob Julianus abwehrend eine Hand und sackte auf seinem Sitz zusammen.

»Wahrlich – der verächtlichste aller Menschen.«

Trotz gemurmelt undeutlicher Aussprache ließ sich der darin vorhandene Ekel nicht überhören. Aber schon im nächsten Augenblick nahm er wieder eine sehr aufrechte Haltung ein.

»Ihr habt recht! Nicht Gott ist tot. Der Mensch ist es.«

Siegfried schmunzelte.

»Sie möchten doch nicht etwa durch die Lande ziehen und die Menschheit durch Predigten zum Glauben erziehen?«

Julianus winkte geradezu entrüstet ab.

»Nein, das wäre keine Lösung. Der Glaube hatte seine Chance – und hat sie verspielt. Es gilt zurückzukehren: Zu Werten, die jünger als die Religion zu sein scheinen, jedoch grundlegender sind.«

»Sprechen Sie vom Übermenschen?«, erkundigte sich Siegfried, noch immer amüsiert.

»Seit jeher bemühte sich die Menschheit, etwas zu erschaffen, das über sie hinauswies. Diese Verlorenen aber wünschen lediglich, die Ebbe dieser großen Flut von Errungenschaften zu sein. Sie wollen die Früchte des Fortschritts ernten, ohne sich selbst weiterzuentwickeln.«

»Interessantes Zitat«, kommentierte Siegfried.

Sein Amüsement verblasste. Er hätte lieber eine echte Meinung gehört. Allerdings waren Julianus‘ Worte recht vielsagend. Siegfried beugte sich zu seinem Gegenüber vor.

»Sie blicken wirklich auf die Menschen der heutigen Zeit herab, nicht wahr?«

Julianus nickte.

»Und das mit Recht. Für den Übermenschen soll der Mensch ein Gelächter, eine Scham sein.«

In Siegfried regte sich Trotz, als er sich nun wieder zurücklehnte.

»Auch ich bin ein Mensch. Also schämen Sie sich gleichfalls für mich?«

Bedächtig schüttelte Julianus den Kopf.

»Nein. Euch will ich ein Geschenk machen.«

Siegfried vermochte nicht zu entscheiden, ob er sich geschmeichelt oder beleidigt fühlen sollte. Jedoch erwies sich unabhängig davon seine Faszination für Julianus als ungebrochen – obwohl, oder vielleicht weil dieser Mann eine solch eigenartige Selbstsicherheit an den Tag legte.

»Sie wollen mir doch wohl nicht helfen, zu einem Übermenschen zu werden?«

»Wahrlich, das werde ich! Euer Herz ist noch nicht durch das Gift der Entmündigung verdorben.«

Erneut wies er auf den jungen Sitznachbarn.

»Die aber sind verloren. Sie hören meine Worte nicht. Ich müsste ihnen die Ohren zerschlagen, damit mich ihre Augen wahrnehmen.«