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Carlo Masala

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Beschreibung

Deutschland hatte sich behaglich eingerichtet in der Welt der Globalisierung – einer Welt, die friedlich zusammenzuwachsen und für uns immer sicherer zu werden schien. Doch diese Welt gibt es spätestens seit dem russischen Überfall auf die Ukraine nicht mehr. Über ein Zeitenwendchen ist die deutsche Politik bisher dennoch nicht hinausgekommen. Nach einem ersten Schock hat das Land wieder in den Friedensmodus geschaltet. Carlo Masala zieht eine schonungslose Bilanz und beschreibt, wie wir resilienter werden können – gesellschaftlich, wirtschaftlich, politisch und militärisch. Denn ohne kluges, strategisches Handeln werden wir uns in der neuen Weltunordnung nicht behaupten.
Was kann die Bundeswehr, was muss sie können? Wo liegen strukturelle Probleme, und wie bekommt die bisherige Zeitlupenwende mehr Tempo? Was bedeutet der russische Krieg gegen die Ukraine für Deutschland? Wie ist der Angriff zu erklären? Und welche Wege führen zum Frieden? Wohin entwickelt sich das internationale System? Woher rührt die strategische Naivität der Deutschen, und wie können wir uns in der Welt der Zukunft behaupten?
Das sind die Fragen, denen Carlo Masala in diesem Buch im Gespräch mit Sebastian Ullrich und Matthias Hansl nachgeht, und es sind zugleich drängende politische Fragen, auf die nicht nur die Bundesregierung Antworten finden muss, sondern auch die deutsche Bevölkerung. Denn die Abwehrbereitschaft eines Landes bemisst sich nicht ausschließlich an den Fähigkeiten seines Militärs. Sie ist, gerade in Zeiten der Cyber-Kriegsführung, der Desinformation und der Verwundbarkeit ziviler Infrastruktur, eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Viel mehr externe Schocks als in den letzten drei Jahren kann die Bundesrepublik gar nicht erleiden – abgesehen von einem direkten Angriff auf das eigene Territorium. Wieviel dringlicher kann eine Situation sein? Wenn wir jetzt nicht aufwachen, wird die Fallhöhe umso größer sein.

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Carlo Masala

Bedingt abwehrbereit

Deutschlands Schwäche in der Zeitenwende

Ein Gespräch mit Sebastian Ullrich und Matthias Hansl

C.H.Beck

Zum Buch

Deutschland hatte sich behaglich eingerichtet in der Welt der Globalisierung – einer Welt, die friedlich zusammenzuwachsen und für uns immer sicherer zu werden schien. Doch diese Welt gibt es spätestens seit dem russischen Überfall auf die Ukraine nicht mehr. Über ein Zeitenwendchen ist die deutsche Politik bisher dennoch nicht hinausgekommen. Nach einem ersten Schock hat das Land wieder in den Friedensmodus geschaltet. Carlo Masala zieht eine schonungslose Bilanz und beschreibt, wie wir resilienter werden können – gesellschaftlich, wirtschaftlich, politisch und militärisch. Denn ohne kluges, strategisches Handeln werden wir uns in der neuen Weltunordnung nicht behaupten.

Was kann die Bundeswehr, was muss sie können? Wo liegen strukturelle Probleme, und wie bekommt die bisherige Zeitlupenwende mehr Tempo? Was bedeutet der russische Krieg gegen die Ukraine für Deutschland? Wie ist der Angriff zu erklären? Und welche Wege führen zum Frieden? Wohin entwickelt sich das internationale System? Woher rührt die strategische Naivität der Deutschen, und wie können wir uns in der Welt der Zukunft behaupten?

Das sind die Fragen, denen Carlo Masala in diesem Buch im Gespräch mit Sebastian Ullrich und Matthias Hansl nachgeht, und es sind zugleich drängende politische Fragen, auf die nicht nur die Bundesregierung Antworten finden muss, sondern auch die deutsche Bevölkerung. Denn die Abwehrbereitschaft eines Landes bemisst sich nicht ausschließlich an den Fähigkeiten seines Militärs. Sie ist, gerade in Zeiten der Cyber-Kriegsführung, der Desinformation und der Verwundbarkeit ziviler Infrastruktur, eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Viel mehr externe Schocks als in den letzten drei Jahren kann die Bundesrepublik gar nicht erleiden – abgesehen von einem direkten Angriff auf das eigene Territorium. Wieviel dringlicher kann eine Situation sein? Wenn wir jetzt nicht aufwachen, wird die Fallhöhe umso größer sein.

Über den Autor und seine Gesprächspartner

Carlo Masala ist Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr und gefragter Kommentator für deutsche und ausländische Medien sowie häufiger Gast in den großen Polit-Talkshows. Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen: Weltunordnung (82023).

Sebastian Ullrich ist Cheflektor des Verlags C.H.Beck.

Matthias Hansl ist Programmleiter von C.H.Beck Paperback und C.H.Beck Wissen.

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1: «Die Bundeswehr … steht mehr oder weniger blank da» – Alfons Mais

Ernstfall: Was Deutschland und die Nato einem russischen Angriff entgegenzusetzen hätten

Friedensdividende: Wie die Bundeswehr nach 1990 zur Pannenarmee wurde

Goldrandlösungen: Wie die Bürokratie die Bundeswehr lähmt

Zeitlupenwende: Was seit dem 24. Februar 2022 passiert ist und was es wirklich bräuchte

Kapitel 2: «Deutschland hat leider gerade versagt» – Marie-Agnes Strack-Zimmermann

Operation am offenen Herzen: Bilanz der deutschen Russland- und Ukrainepolitik vor und nach dem 24. Februar 2022

Sicherheitsdilemma oder imperiale Agenda? Russland, der Westen und die Vorgeschichte des Kriegs gegen die Ukraine

It Takes Two to Tango: Wege zum Frieden

Kapitel 3: «Die Deutschen wollen nicht wahrhaben, in welcher Welt sie leben» – Andrij Melnyk

Bipolarität oder Multipolarität: Was folgt auf die Weltunordnung?

Von Freunden umzingelt: Die strategische Naivität der Deutschen

Auf Kollisionskurs: China, die USA und der Kampf um die Vorherrschaft in Asien

Zielorientierter Pragmatismus: Deutschlands außenpolitische Optionen

Schluss: Woke und wehrhaft

Dank

Vorwort

Der Bundeswehr eine bedingte Abwehrbereitschaft zu attestieren, war schon mal riskanter als heute. Am 10. Oktober 1962 veröffentlichte das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» eine Titelgeschichte, die dieselbe Überschrift trug wie dieses Buch. Knapp zwei Wochen später rollte eine Verhaftungswelle durch die Republik. Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein landete ebenso in Polizeigewahrsam wie sein Redakteur Conrad Ahlers und weitere Mitarbeiter und Informanten des Magazins. Veranlasst hatte diese staatliche Überreaktion Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß, für den die Enthüllungen besonders peinlich waren. Doch auch Bundeskanzler Konrad Adenauer sprach im Bundestag von einem «Abgrund von Landesverrat», weil geheime Ergebnisse des Nato-Stabsmanövers «Fallex 62» verwendet worden waren. Die liberale Öffentlichkeit sah in der Aktion dagegen zu Recht einen schwerwiegenden Angriff auf die Pressefreiheit. Am Ende waren alle Verhafteten wieder auf freiem Fuß, doch die Bundesrepublik fand sich in einer schweren innenpolitischen Krise wieder. Die sogenannte «Spiegel-Affäre» kostete Strauß sein Amt und gilt in ihren Wirkungen als wichtiger Meilenstein für die Liberalisierung der Bundesrepublik. Heute muss auch deswegen niemand mehr mit dem unangemeldeten Besuch der Staatsanwaltschaft rechnen, der ausspricht, was längst zum Allgemeinplatz geworden ist: dass die Bundeswehr gegenwärtig nicht in der Lage ist, ihren Verteidigungsauftrag zu erfüllen. Eher schon irritieren die Gelassenheit, mit der diese Diagnose hingenommen zu werden scheint, und das fehlende Tempo bei der Behebung der Missstände.

Liest man den damaligen Artikel heute, finden sich Sätze, die einem erschreckend bekannt vorkommen. «Es zeigte sich, daß die Vorbereitungen der Bundesregierung für den Verteidigungsfall völlig ungenügend sind …», «Die neun mobilen Divisionen der Bundeswehr …, die bereits auf Nato-Kommando hören, waren personell nicht aufgefüllt; es fehlte zudem an Waffen und Gerät.» «Für die Hunderttausende von Bundeswehrreservisten, die ihre Wehrpflicht hinter sich haben und die sich – nach Annahme der Kriegsspieler – an den Wehrleitstellen meldeten, gab es keine Offiziers- und Unteroffizierskader, und erst recht keine Waffen.» Mit anderen Worten: Die Bundesregierung hatte der Nato Fähigkeiten gemeldet, die die Bundeswehr gar nicht besaß – Potemkinsche Dörfer in der Bonner Republik. Strauß wollte den Bundeshaushalt schonen («Wir können es uns nicht leisten, unseren Lebensstandard … einzuschränken.») und traf damit auf offene Ohren bei Bundeskanzler Adenauer. Dieser gab Strauß laut Spiegel gar den Rat, «die fehlenden Brigaden ganz einfach durch ‹Fähnchen auf der Landkarte› zu ersetzen; ob diese Brigaden erst 1966 oder 1967 bereitstünden, sei doch nicht so wichtig. Aber man müsse der Nato gegenüber wenigstens den Schein wahren.» Fazit: «Die Bundeswehr hat heute – nach fast sieben Jahren deutscher Wiederbewaffnung und nach sechs Jahren Amtsführung ihres Oberbefehlshabers Strauß – noch immer die niedrigste Nato-Note: zur Abwehr bedingt geeignet.»

Die «Spiegel-Affäre» ereignete sich in einer Hochphase des Kalten Krieges. Nahezu zeitgleich stand die Welt aufgrund der Kuba-Krise an der Schwelle zum Atomkrieg. Die heutige Bundesrepublik kommt dagegen aus einer historischen Ausnahmesituation. Sie kann auf drei Jahrzehnte Frieden zurückblicken, in denen die eigene Sicherheit in Europa nicht mehr bedroht schien und die Fähigkeiten der Bundeswehr zugunsten drängenderer Probleme vernachlässigt wurden. In den Merkel-Jahren war es noch möglich auszublenden, was in der Welt vor sich ging. Die Deutschen von den globalen Problemen abzuschotten, war bis zum Jahr 2015 geradezu ein unausgesprochener Deal zwischen Kanzlerin und Bevölkerung. Draußen mochte der Sturm toben, bei uns drinnen blieb es gemütlich warm. Doch es war eine Illusion, dass unsere Dämmung dauerhaft halten würde. Spätestens seit dem 24. Februar 2022, seit dem russischen Überfall auf die Ukraine, ist die Welt eine andere. Jetzt sind die Fensterscheiben zerborsten, und der eisige Wind fegt durchs Haus.

Seitdem ringt Deutschland um sein außen- und sicherheitspolitisches Selbstverständnis. Viele Gewissheiten stehen auf dem Prüfstand. Woran kann man festhalten, was muss man aufgeben? Was kann die Bundeswehr, was muss sie können? Gibt es eine Zeitenwende oder nicht doch eher ein Zeitenwendchen? Wohin entwickelt sich das internationale System, und wie können wir uns in der Welt der Zukunft behaupten? Wie gehen wir mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine um? Wie ist der russische Angriff zu erklären? Und welche Wege führen zum Frieden? Das sind die Fragen, denen dieses Buch nachgeht, und es sind zugleich drängende politische Fragen, auf die nicht nur die Bundesregierung Antworten finden muss, sondern auch die deutsche Bevölkerung. Denn die Abwehrbereitschaft eines Landes bemisst sich nicht ausschließlich an den Fähigkeiten des Militärs. Sie ist, gerade in Zeiten der Cyber-Kriegsführung, der Desinformation und der Verwundbarkeit ziviler Infrastruktur, eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Im ersten Teil geht es um den Zustand der Bundeswehr: um ihre Fähigkeiten und Probleme, um die Gründe für ihre gegenwärtige Misere und um eine Bilanz der sogenannten Zeitenwende. Der zweite Teil blickt auf den russischen Krieg gegen die Ukraine: auf die deutsche Russland- und Ukrainepolitik vor dem 24. Februar 2022, auf die Vorgeschichte und die russischen Motive sowie auf mögliche Wege zum Frieden. Der dritte Teil beleuchtet die Entwicklung des internationalen Systems und fragt, was sie für Deutschland und seine außenpolitischen Optionen bedeutet: im Hinblick auf die immer noch weit verbreitete strategische Naivität gegenüber China, in Bezug auf die innenpolitische Instabilität der USA und die Verlässlichkeit ihres militärischen Schutzes, aber auch angesichts einer Europäischen Union, die sich selbst in Zeiten äußerer Bedrohung schwertut, sicherheitspolitisch handlungsfähig zu werden.

Das Buch geht zurück auf Gespräche, die im Mai 2023 in München geführt wurden. Es bietet ein sehr langes Interview, aber zugleich auch mehr als das. Es bildet gewissermaßen die gesellschaftliche Gesprächssituation ab, in der wir uns gerade befinden. Durch die Möglichkeit des Nachfragens und des Widerspruchs wird der Text offener und lebendiger, als es ein Thesenbuch allein zu sein vermöchte. Gerade bei Fragen, die gegenwärtig auch im privaten Raum erhitzt debattiert werden, mag das auf einen Resonanzraum in der Realität treffen. Denn auch wenn viele hoffen mögen, möglichst bald in die «Welt von Gestern» zurückkehren zu können, und die schwierigen Fragen am liebsten ignorieren würden, die gerade wie ein ungebetener Gast am Küchentisch sitzen: Die Probleme verschwinden nicht, wenn wir die Augen vor ihnen verschließen. Wir werden mit ihnen umgehen müssen. Wie das geschehen kann und was sich deswegen ändern muss, darüber bedarf es einer gesellschaftlichen Debatte. Vielleicht können die Fragen und Antworten dieses Buches anregend wirken für all die Diskussionen, die es in Deutschland gegenwärtig zu diesen Themen gibt: am Küchentisch oder wo auch immer sie heute geführt werden.

Carlo Masala, Sebastian Ullrich und Matthias Hansl im August 2023

Kapitel 1

«Die Bundeswehr … steht mehr oder weniger blank da»

Alfons Mais

Ernstfall: Was Deutschland und die Nato einem russischen Angriff entgegenzusetzen hätten

Als Russland die Ukraine überfiel, schrieb der Inspekteur des Heeres der Bundeswehr, Generalleutnant Alfons Mais, in einem Beitrag auf dem sozialen Netzwerk LinkedIn: «Die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da.» Stellen wir uns ein hypothetisches Szenario vor: Was wäre passiert, wenn ein Aggressor wie Russland die Bundesrepublik – mit den aktuellen militärischen Kapazitäten der Bundeswehr – überfallen hätte? Schon der Ukraine haben die meisten Beobachter nicht viel zugetraut. Auch Sie selbst waren am Anfang skeptisch, ob das Land mehr als ein paar Wochen verteidigungsfähig sei. Diese Skepsis hat sich schnell verflüchtigt. Hätte die Bundeswehr eine ähnliche Leistung wie die ukrainische Armee hinbekommen können? Welche militärischen Fähigkeiten hätte die Bundesrepublik Deutschland, wenn sie in dieser Weise angegriffen würde?

Das ist schon rein geografisch ein irreales Szenario, aber spielen wir es ruhig einmal durch. Wenn wir am 24. Februar 2022 konventionell an unseren eigenen Landesgrenzen von Russland angegriffen worden wären, hätten wir uns in einer noch deutlich schlechteren Lage befunden als die Ukraine. Die Ukrainer kämpften seit 2014 im Donbas gegen die sogenannten Separatisten, aber auch gegen die russische Armee. Uns dagegen hätte man mitten im Frieden überrascht, mit einer Armee und einer Bevölkerung, die weder materiell noch psychisch auf die Landesverteidigung vorbereitet gewesen wären.

Meines Erachtens hätte die Durchhaltefähigkeit der Bundeswehr in diesem Fall zwischen drei Tagen und zweieinhalb Wochen betragen, nicht länger. Allein weil uns die Munitionsvorräte schnell ausgegangen wären: Während des Kalten Kriegs haben wir für 30 Tage Munition vorgehalten – was den Nato-Vorgaben entspricht –, heute für drei. Und dabei reden wir noch gar nicht vom eigentlichen militärischen Material. Wir hätten schlichtweg zu wenige Panzerverbände, um ernsthaft Widerstand leisten zu können: Ungefähr 300 deutsche Kampfpanzer hätten ca. 3000 russischen Kampfpanzern gegenübergestanden. Die kleinste deutsche Marine aller Zeiten wäre einer Kombination aus russischer Ostsee- und Nordmeerflotte ebenfalls hoffnungslos unterlegen. Möglicherweise hätten wir zumindest in der Luftverteidigung gegenüber der russischen Luftwaffe einen Vorteil gehabt, da es der russischen Armee auch nicht möglich war, die Lufthoheit in der Ukraine zu erlangen, und das gegen eine ukrainische Luftwaffe, die der russischen eigentlich, was die reinen Materialzahlen anbetrifft, unterlegen war.

Nun hat sich aber auch die Ukraine den russischen Angreifern anfangs nicht in einer großen, offenen Schlacht gestellt, weder zu Land noch zu Wasser, noch in der Luft. Die größten Verluste entstanden, weil die russischen Truppen ungeschützt vorgerückt sind und in Hinterhalte gerieten. Hätte die Bundeswehr nicht eine ähnliche Taktik anwenden können, oder anders gefragt: Hat nicht gerade auch ein solches Panzerzählen zu einer Unterschätzung der ukrainischen Armee geführt?

In der Tat hat der sogenannte Jagdkampf, also Operationen hinter feindlichen Linien, auch Sabotage, im Ukrainekrieg eine Renaissance erlebt: Mit kleinen Jäger-Verbänden konnten die Ukrainer den vorrückenden russischen Einheiten empfindlichen Schaden zufügen. Allerdings hat die Bundeswehr genau diese Fähigkeiten zuletzt kaum noch trainiert, weil man sie nicht zu benötigen meinte. Die Bundeswehr hat nur noch fünf aktive Jägerbataillone. Hinzu kommen noch die drei Gebirgsjägerbataillone und die beiden Fallschirmjägerregimenter, die ebenfalls zum Jagdkampf in der Lage sind.

Der entscheidende Punkt ist für mich hier aber ein anderer. Die Ukrainer waren der russischen Armee auf dem Papier klar unterlegen, als die Invasion begann. Insofern stimmt es, dass das reine Panzerzählen ein falsches Bild vermittelte und viele Beobachter in die Irre führte. Allerdings kompensierte die Ukraine diese Unterlegenheit durch eine erstaunliche Moral ihrer Soldaten, die wiederum auf einer umfassenden Selbstmobilisierung der Bevölkerung beruhte. Dies war sicher auch eine Folge der anhaltenden Kämpfe seit 2014. Der russische Angriff traf auf eine Gesellschaft, die abwehrbereit war – ganz anders, als es Putin erwartet hatte.

Bei uns sehe ich diese gesellschaftliche Abwehrbereitschaft, diese Resilienz und Zähigkeit in der Bevölkerung und die daraus resultierende Kampfmoral nicht. Aber das ist auch gar nicht überraschend nach einer so langen Ära des Friedens. Wir waren in Bezug auf das Militär eine weitgehend zivile und friedfertige Gesellschaft. Politik und Bevölkerung hielten die Bundeswehr im Grunde für obsolet. Es braucht Zeit, bis sich so etwas ändert. Und deswegen glaube ich nicht, dass wir eine ähnlich rasante Mobilisierung der Gesellschaft in Deutschland erlebt hätten im Falle eines überraschenden Angriffs. In gewissem Ausmaß schon, aber nicht in der Breite wie in der Ukraine. Insbesondere dann nicht, wenn Russland wie in der Ukraine gezielt aus der Luft gegen die Zivilbevölkerung vorgehen würde.

Was hätten wir denn solchen Luftangriffen entgegenzusetzen?

Wenn uns die Russen gezielt mit Raketen angreifen würden, hätten wir – außer etwa 12 Patriot-Batterien für ein riesiges Flächenland – keine Abwehrmöglichkeiten. Bei massivem Beschuss würden ca. 90 Prozent der russischen Raketen auf deutschem Boden einschlagen. Das wäre nicht nur für die Zivilbevölkerung verheerend, sondern ebenso für die ungeschützte militärische Infrastruktur unseres Landes sowie die Munitions- und Rüstungsproduktion. Die könnte Russland innerhalb kürzester Zeit in Schutt und Asche legen, was unsere Durchhaltefähigkeit zusätzlich beschränken würde. Daher gehe ich auch davon aus, dass Russland uns in so einem Szenario, wie wir es gerade durchspielen, zunächst nicht mit ihren Panzerverbänden angreifen, sondern zuerst auf massiven Raketenbeschuss setzen würde.

Kurzum: Mit Blick auf das ganze militärische Spektrum, das bei einem konventionellen Angriff aktiviert werden müsste, ist leider festzuhalten, dass die Bundesrepublik nicht in der Lage wäre, wirklich dagegenzuhalten, so wie es die Ukraine geschafft hat. Wir stünden also tatsächlich blank da. Mit ihrer gegenwärtigen Ausrüstung und ihrer gegenwärtigen Truppenstärke von ca. 180.000 Mann könnte die Bundeswehr das Territorium der Bundesrepublik Deutschland nicht verteidigen.

Nun hatte aber auch die ukrainische Armee zu Beginn des Krieges nur eine Mannschaftsstärke von knapp 200.000. Entscheidend war die schnelle Mobilisierung, die sie innerhalb kurzer Zeit auf 500.000 anwachsen ließ. Die Ukraine hatte 2021.900.000 Reservisten. Wahrscheinlich würde es also auch bei einem Angriff auf Deutschland eine Mobilmachung geben: Hätten wir eigentlich noch die Ausrüstung dafür, wie es zur Zeit des Kalten Kriegs der Fall war?

Wir haben kaum etwas vorgehalten für den Fall einer Mobilmachung zur Verteidigung unseres eigenen Territoriums, das gilt nicht nur bei der Munition. Auf der Ebene der Nato konzentrierte man sich in der Zeit von 1990 bis 2014 auf Auslandseinsätze. Deutschland tat sich damit lange schwer, aber schließlich stellte man um, von der Ausrichtung der Bundeswehr auf die Territorialverteidigung zu einer Armee, deren vorrangiges Einsatzziel in Auslandseinsätzen bestand. Dann erfolgte 2014 in der Nato nach der russischen Annexion der Krim und den durch Russland initiierten Aufständen im Osten der Ukraine ein Schwenk zurück auf die Landes- und Bündnisverteidigung. Aber letzten Endes hat die Bundesrepublik diesen Schwenk nicht richtig mitvollzogen: Landesverteidigung blieb für uns eine unwirkliche Kategorie. Wenn man die gesamte Geschichte der Bundeswehr seit 1990, also seit der Wiedervereinigung, betrachtet, sind im Rahmen der Bundeswehr zum einen essenzielle Fähigkeiten abgebaut und aufgegeben worden und zum anderen auch alle Reservestrukturen, die wir einst hatten. Ein zwischenzeitliches Gegensteuern hat bislang noch keine Früchte getragen. Uns fehlen momentan die strukturellen Voraussetzungen, um eine Generalmobilmachung – oder eine wie auch immer geartete Mobilmachung – in der Bundesrepublik Deutschland auszurufen. Ungeachtet der Frage, wen man denn mobilisieren soll. In Deutschland haben heute nur noch Männer in einem eher fortgeschrittenen Alter irgendwann mal ihren Wehrdienst geleistet und rudimentäre Kenntnisse erlernt. Gleichzeitig existieren keine Strukturen, um große Mengen jüngerer Männer oder auch Frauen – je nachdem, wie diese Mobilmachung verlaufen würde – in relativ kurzer Zeit ausbilden zu können, um sie dann effektiv einzusetzen.

Von dem wenigen Material, das wir haben, ist zudem auch nur ein geringer Prozentsatz einsatzfähig, wie es heißt. Wie ist denn das Verhältnis von einsatzfähigem zu nicht einsatzfähigem Material?

In den Berichten zur Einsatzfähigkeit der Bundeswehr, die jährlich erscheinen, werden Werte zwischen 71 und 77 Prozent angeführt, je nach Waffensystem. Allerdings wird ein Trick angewandt, damit wir auf solche noch relativ hohen Werte kommen. Ein Beispiel: Wir verfügen in der Bundeswehr etwa über 300 Panzer, aber davon fließen lediglich diejenigen Exemplare in die Berechnung ein, die sich aktuell in der Truppe befinden, nicht jedoch die Panzer, die von der Industrie gewartet werden. Durch diese Milchmädchenrechnung kommt man zu einer Einsatzfähigkeit des Waffensystems Panzer von 77 Prozent, die tatsächlich, mit Blick auf die Grundgesamtheit der 300 Panzer, viel niedriger liegt.

Dass so wenige Waffensysteme tatsächlich einsatzbereit sind, hat viel damit zu tun, dass kaum noch in der Truppe gewartet wird. Zugespitzt formuliert: Dort ist die Fähigkeit zur einfachen Wartung kaum noch vorhanden, seit man sie – Stichwort Outsourcing – komplett auf die Industrie verlagert hat. Teilweise macht das Sinn, weil die Waffensysteme, die wir haben, hochkomplex und hochtechnisiert sind. Dadurch sind sie auch viel störanfälliger. Hochmoderne Panzer fallen beispielsweise häufiger aus als traditionelle, klassische Panzer, die noch mit viel weniger Elektronik ausgestattet waren. Wenn dann in der Truppe auch noch die einfachen Wartungskapazitäten abgebaut werden, die es früher noch gab, sind auf einmal sehr viele Waffensysteme nicht mehr einsatzfähig, weil sie wegen jeder Kleinigkeit aufwändig in die Industriebetriebe gebracht werden müssen.

Sind diese wartungsbedürftigen Systeme denn prinzipiell nicht einsatzfähig? Oder wären sie unter Kriegsbedingungen einsatzfähig und sind es jetzt nur nicht, weil es bestimmte vorgeschriebene Wartungsintervalle gibt? Müssen diese Panzer, um im Beispiel zu bleiben, also laut Dienstvorschrift zu einem bestimmten Zeitpunkt regelmäßig zur Wartung irgendwohin gebracht werden, obwohl sie eigentlich funktionieren würden?

Wenn man sie bräuchte, wäre ein Teil der Systeme, die man jetzt als nicht einsatzfähig deklariert, durchaus einsatzfähig. Auch in der Bundeswehr herrscht mittlerweile leider so eine Art TÜV-Mentalität vor. Das heißt, dass der Panzer, der in Deutschland fährt, nur fahren darf, wenn er alle Bedingungen erfüllt, die der TÜV ihm auferlegt. Das würde sich in Kriegszeiten sicherlich anders darstellen. Da würde man, hoffe ich, diese Vorschriften aussetzen. Und dann könnte auch der Panzer, der in Friedenszeiten zur Wartung müsste, auf deutschen Straßen fahren. Das würde die Einsatzbereitschaft dann schon etwas erhöhen.

Und wie steht Deutschland im internationalen Vergleich da? Gibt es etwa in Frankreich ähnliche Vorschriften, oder ist diese TÜV-Mentalität eine deutsche Spezialität?

Das ist eine deutsche Spezialität. Allerdings stehen die drei wichtigsten europäischen Nato-Länder alle nicht besonders gut da, was die Einsatzfähigkeit ihrer Streitkräfte anbelangt. In Großbritannien und Frankreich sieht es also nicht viel besser aus. Frankreich hatte 2022 ein Verteidigungsbudget von 53,64 und Großbritannien von 62,3 Milliarden Euro. Beide Staaten finanzieren aus diesem Budget aber auch ihre Nuklearstreitkräfte, so dass für den konventionellen Bereich nicht mehr Geld zur Verfügung steht als in der Bundesrepublik Deutschland.

Ist das, wie angedeutet, eine Folge immer komplexerer, hochtechnisierter Systeme? Und ist es dann vielleicht sogar ein Irrweg, immer anspruchsvoller, immer vernetzter werden zu wollen, weil man damit auch immer anfälligere Systeme schafft? Die Devise könnte stattdessen lauten: Wir wollen in der Breite robustere Systeme, die nicht immer die neueste Computertechnik haben müssen, mit einfacheren Mechaniken, die weniger anfällig sind.

Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr Eberhard Zorn hat vor wenigen Jahren tatsächlich robustere Systeme gefordert, und damit hatte er natürlich einen Punkt. Eine Armee wie die Bundeswehr muss die ganze Spannbreite an Systemen abdecken. Der Schützenpanzer Puma zum Beispiel ist ein gepanzerter Computer, der – genauso wie alle anderen Computer auch – eine hohe technisch bedingte Störanfälligkeit aufweist. Man braucht jederzeit auch Waffensysteme, die den Puma ersetzen können, wenn er ohne Feindbeschuss ausfällt. Dafür bedarf es robusterer, weniger komplexer Systeme. Der Wunschtraum wäre ein hochkomplexes System, das jederzeit in einen sehr rudimentären, weniger störanfälligen Modus umschalten kann. Das ist oft unrealistisch, dennoch gilt: Wir brauchen beides, also das Hochkomplexe und das Robuste. Wer nur auf Hochtechnologie setzt, handelt sich Probleme ein, insbesondere im Zeitalter der hybriden Kriegsführung.

In Deutschland hält man sich ja gerne für besonders fähig und gut organisiert, aber wenn Ihre Prognose zutrifft, dann wäre die Bundesrepublik zu einer solchen militärischen Leistung wie die Ukraine gar nicht in der Lage. Doch zu unserem Glück handelt es sich bei dem Szenario eines direkten und isolierten russischen Angriffs auf Deutschland um ein sehr unrealistisches Planspiel, wie Sie ja schon gesagt haben. Zum einen stehen die russischen Divisionen nicht an der deutschen Grenze, da wir im Gegensatz zur Zeit des Kalten Kriegs kein Frontstaat mehr sind. Und zum anderen kämpfen wir – wie ja auch schon während des Kalten Kriegs – nicht allein, sondern im Verbund der Nato mit unseren Verbündeten und Partnern. Wie würde denn ein realistischeres Planspiel aussehen, also wenn ein russischer Angriff auf Nato-Gebiet erfolgte, etwa auf Polen oder das Baltikum?

Im Bereich der Luftverteidigung hat die Nato im Großen das gleiche Problem wie die Bundesrepublik Deutschland im Kleinen. Wenn der Angriff auf Polen oder auf die baltischen Staaten durch massiven Raketenbeschuss erfolgen würde, wären nicht genügend Luftverteidigungssysteme vorhanden, um die europäischen Bürger zu schützen. Das ist die Achillesverse des Bündnisses, staatenübergreifend. Man muss immer dazu sagen: in Europa. Die Amerikaner haben noch einmal ganz andere Verteidigungskapazitäten. Aber in Europa haben die einen Nato-Partner ein bisschen mehr, die anderen ein bisschen weniger, insgesamt ist es zu wenig. Deshalb hat Deutschland im August 2022 eine große europäische Initiative (European Sky Shield Initiative) zum Schließen dieser Lücke angekündigt.

Im konventionellen Bereich der Panzer, Flugzeuge, Hubschrauber und Fregatten ist die Nato auch innerhalb Europas der Russischen Föderation eindeutig überlegen. Aber der Angriff auf Polen oder die baltischen Staaten würde zunächst durch Raketen erfolgen, gegebenenfalls auch taktische Nuklearwaffen. Aus historischen Quellen wissen wir, dass es innerhalb des Warschauer Pakts Planungen gab, in der ersten Welle eines Angriffs bis zu 400 taktische Nuklearwaffen im Kriegsgebiet Mitteleuropa bzw. Deutschland einzusetzen.

Ist Russland in dieser Hinsicht verteidigungsfähiger als die Nato in Europa?

Soviel wir wissen, haben sie keine bessere Luftverteidigung. Aber sie haben mehr Raketen als wir.

Aber warum hat die Ukraine ihren Luftraum dann bisher so gut verteidigen können?

Nun hätte die Nato auch eigene Luftstreitkräfte, also Kampfflugzeuge, die den ukrainischen deutlich überlegen sind. Wenn die Russen es schon über der Ukraine nicht schaffen, wären sie doch noch weniger in der Lage, die Lufthoheit über Nato-Territorium zu erlangen?

Nein, dazu wären sie nicht imstande. Im konventionellen Bereich – und dazu zählen auch die verschiedenen Luftwaffen der Nato-Staaten – sind wir der Russischen Föderation klar überlegen. Das wissen die Russen auch. Deswegen haben sie in den letzten Jahren so viel in Raketen investiert, weil sie sehr klar sehen, dass sie eine konventionelle Auseinandersetzung mit der Nato wohl nicht gewinnen können.

Wenn die einzige Chance Russlands darin besteht, mit massivem Raketenbeschuss und gegebenenfalls taktischen Atombomben eine Einschüchterung zu erzielen, weil die Russen wissen, dass sie im konventionellen Bereich klar unterlegen sind – kann man innerhalb der Nato-Staaten dann überhaupt von einer realistischen Bedrohungslage sprechen?

Ich glaube nicht, dass eine realistische Bedrohung für Nato-Territorium existiert – mit einer Ausnahme. Die baltischen Staaten könnten aufgrund ihrer geografischen Lage und geringen Größe tatsächlich relativ schnell von den Russen eingenommen werden. Deshalb hat die Nato auf ihrem Gipfel in Warschau im Juli 2016 auch eine Beistandshilfe für das Baltikum beschlossen, die aus multinationalen Kampfverbänden bestehende Enhanced Forward Presence. Sie ähnelt dem «Stolperdraht», den die Nato einst an der innerdeutschen Grenze installiert hatte. Dabei handelt es sich um eine nur geringe Truppenpräsenz: ein Bataillon von maximal 1500 Mann, die bei einer großangelegten russischen Invasion, wie wir sie in der Ukraine beobachtet haben, schnell überrannt würden. Allerdings wären dann deutsche, französische und Soldaten anderer europäischer Nato-Mitgliedstaaten sofort in die Kämpfe verwickelt, was wiederum die Wahrscheinlichkeit erhöhen würde, dass diese Staaten das Baltikum anschließend auch rückerobern.