Bedürfnisse eines Gentleman - S. B. Sasori - E-Book

Bedürfnisse eines Gentleman E-Book

S.B. Sasori

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Beschreibung

»Darf ich Ihnen helfen, Sir?« Patrick sollte diese Frage nicht stellen. Erst recht nicht seiner Zielperson. Inkognito zu bleiben ist die wichtigste Regel eines Detektivs und er braucht den Job, um sich und seine drei jüngeren Brüder über Wasser zu halten. Aber der Mann befindet sich in Not. Auch sonst ist der Auftrag, den Universitätsprofessor zu observieren, kein Routinejob. Der distinguierte Gentleman führt ein ungewöhnliches Doppelleben.
 
Gefangen in einem Labyrinth aus gesellschaftlichen Erwartungen und Lügen droht Ethan an seinem Alltag zu zerbrechen. Gequält von Schuldgefühlen gibt er sich Bedürfnissen hin, für die er sich in seinem Leben als Dozent und Ehemann schämt. Zumal sie ihn in die Arme seines sadistischen Schwagers getrieben haben.
Als er erfährt, dass ihn seine Frau überwachen lässt, stellt er den Spitzel zur Rede.
Er kennt den jungen Mann, der ihn bereits einmal aus einer unerträglichen Situation gerettet hat.
Er muss es wieder.

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Bedürfnisse eines Gentleman
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Epilog
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Bedürfnisse eines Gentleman

S. B. Sasori

Copyright © 2024 S.B. SASORI

Alle Rechte vorbehalten.

Ersterscheinung 2020

E-Books dürfen nicht kopiert oder weiterverkauft werden. Bitte denkt daran und wertschätzt mit eurem fairen Verhalten die Arbeit der Autoren, die viel Mühe und Zeit in ihre Geschichten stecken.

Wie bei allen fiktiven Romanen gilt auch bei diesem: Sämtliche Personen und Ereignisse sind frei erfunden.

Und last but not least: Viel Vergnügen beim Lesen ;)

1. Kapitel

»Mrs Winter weiß Bescheid!« Jessicas Stimme hallte durch das gesamte Haus. »Leg ihr einen Zettel hin, was du essen willst.« Das Klacken ihrer Absätze näherte sich.

Ethan warf die Decke beiseite, setzte sich auf. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Jess würde erst Ruhe geben, wenn sie im Taxi saß. Er war ohnehin spät dran. Wenn er zu seiner Vorlesung pünktlich erscheinen wollte, musste er sich beeilen.

Die Tür zur Bibliothek flog auf.

»Hast du schon wieder auf der Couch geschlafen?« Kopfschüttelnd schritt Jess durch das Zimmer und drückte ihm beim Vorbeigehen eine Tasse Tee in die Hand. »Mir ist unverständlich, warum du nicht mehr in deinem Schlafzimmer übernachten willst.«

Weil dort Dinge geschehen waren, die er vergessen musste. Mit ihrem Bruder. Jedes Mal, wenn sie auf Geschäftsreise gewesen war.

»Langsam werden mir deine Marotten zu viel, Ethan.«

»Marotten?« Ein harmloser Ausdruck für das, was er empfand.

»Wie soll ich es sonst nennen?« Jess öffnete beide Fensterflügel und sah in den Garten. »Derek hat die Rosen beim Schneiden ruiniert. Wir können froh sein, wenn sie ein paar Blüten treiben.«

Ihr ging es nicht um die Rosen, sondern um den Antrag auf seinem Schreibtisch. Sie starrte nur in den Garten, um ihn nicht wahrnehmen zu müssen.

»Der Mann ist der schlechteste Gärtner in ganz London.« Ihr Seufzen war so übertrieben wie die Perfektion ihrer Frisur oder die makellos nachgezogene Kontur ihrer Lippen.

Ihr ins Haar greifen, die gebändigten Locken befreien, den bemalten Mund so lange küssen, bis er seine wahre Farbe zeigte. Das Rouge von den Wangen lecken, während sie ihn in sich einführte, um ihn zu reiten.

Jess war nicht mehr die Frau, die sich auf diese Weise vereinnahmen ließ. Er kannte kaum noch ihren Geruch, geschweige denn ihren Geschmack.

»Ein Bett ist gemütlicher und rückenfreundlicher als das durchgesessene Sofa.« Ihre Finger trommelten auf dem Fenstersims. »Eines Tages wirst du mit einem Bandscheibenvorfall aufwachen.«

»Meinem Rücken geht es gut.« Dem Rest von ihm nicht.

»Du hast in der Jeans geschlafen«, stellte sie nach einem kurzen Blick über die Schulter fest. »Hast du jetzt auch ein Problem mit Pyjamas?«

Er war dankbar, wenn er überhaupt einschlief. In was, spielte keine Rolle.

»Wann kommt dein Taxi?« Er massierte seinen verspannten Nacken, was Jessica zum Thema Bett recht gab. Trotzdem würde er nie wieder darin schlafen.

»In ein paar Minuten.«

Ethan atmete auf. Er sehnte sich nach der Stille, die nur herrschte, wenn Jess fort war. Dass die Augenblicke, in denen er ihre Anwesenheit brauchte, in letzter Zeit zunahmen, verdrängte er. Er musste einen Weg finden, allein mit ihnen zurechtzukommen. Der Grund lag auf dem Schreibtisch und wurde von Jess nach wie vor ignoriert.

»Hast du den Scheidungsantrag unterschrieben?« Sie hatte ihm versprochen, es vor ihrer Abreise zu erledigen.

Seufzend wandte sie sich um. »Ethan, lass uns in Ruhe darüber reden, wenn ich wieder zurück bin.«

Also nicht.

»Diese übers Knie gebrochenen Entscheidungen passen nicht zu dir. Inwiefern siehst du unsere Ehe als zerrüttet an?«

Weil ich dich mit deinem Bruder auf eine Weise betrogen habe, die dir die Haare zu Berge stehen lassen würde. Hier, unter deinem Dach. Und weil du dich geweigert hast, es zu bemerken, und weil ich dir nicht einmal mehr meine Scham darüber anbieten kann.

Sie setzte sich auf den Sessel, sah ihn an, als wäre er ein unartiges Kind. »Ich bin nicht länger bereit, dieses seltsame Verhalten zu akzeptieren. Lass dir von Dr. Plummer einen zweiten Termin geben.«

Ethan schnaubte, ehe er mit einem großen Schluck Tee den Sarkasmus zusammen mit der Enttäuschung hinunterspülte. Die verständnisvolle Miene dieses Mannes war eine beflissen lächelnde Lüge. Plummer würde nicht im Ansatz begreifen, was Ethan umtrieb. Er versuchte lediglich die Symptome in ein ihm bekanntes Muster zu pressen.

»Ich sehe doch, dass es dir schlecht geht. Weshalb sträubst du dich gegen Hilfe?«

Er hatte es so lange wie möglich vor ihr verborgen. Bis zu dem Morgen, als sie ihn vor dem Kamin gefunden hatte. Danach hatten die Diskussionen begonnen.

Er konnte Jess nicht ewig hinhalten. Sie war hartnäckig. Die Gespräche zwischen ihnen waren schärfer geworden, ähnelten immer mehr einseitigen Drohungen. Jess ahnte, dass er ihr etwas vorenthielt, und ertrug den Gedanken nicht. Selbst zu einer Erpressung hatte sie sich hinreißen lassen. Würde er nicht endlich den Grund für sein Verhalten nennen, würde sie jemanden engagieren, der ihn herausfand.

Sein Lachen hatte sie erschreckt. Schließlich hatte sie sich entschuldigt und es als Scherz abgetan. Sein Recht auf Rückzug akzeptierte sie nicht. Dabei brauchte er nur Zeit und keine drängenden Fragen und in Vermutungen gebettete Vorwürfe.

Vielleicht brauchte er tatsächlich Hilfe. Nicht jedoch von Jess. Selbst wenn sie dazu in der Lage wäre, könnte er sich ihr nicht anvertrauen. Dafür hatte ihr Bruder gesorgt.

Gregorys Schatten verfolgte ihn Tag und Nacht. Seit beinahe drei Jahren. Zwei davon hatte er als Paradies empfunden, das dritte als Hölle und es endete nicht.

Sechs Monate, und immer noch hörte er Gregorys Stimme in seinen Träumen, fühlte den strafenden Blick, spürte diese Mischung aus Scham, Begehren und Wut, die zu Angst wurde und schließlich erstarrte.

Ein Ort ohne Handlung. Als wäre er ein Zuschauer. Unfähig, einzugreifen.

»Hat dein Scheidungswunsch etwas mit deinen neuen Vorlieben zu tun?« Jess faltete die Hände im Schoß, krampfte sich ein Lächeln ab. »Du weißt, dass mich das nicht stört.«

»Jess, jede Frau würde es stören, wenn ihr Mann …«

»Ich habe es akzeptiert«, fiel sie ihm ins Wort.

Sie war eine Meisterin auf dem Gebiet, sich etwas vorzumachen.

»Es darf nur niemand anderes erfahren. Das musst du mir versprechen.«

»Bis jetzt habe ich noch keinen meiner Studenten dort getroffen.« Und selbst wenn, war es fraglich, ob er von ihm erkannt werden würde. Schon weil ihn niemand an so einem Ort erwartete.

Jess räusperte sich verhalten. »Ich habe Gregory gegenüber nichts davon erwähnt. Er hält so viel von dir. Es wäre furchtbar, würde eure Freundschaft wegen dieser Sache zerbrechen.«

Er war zerbrochen. An Gregory. Jess hätte es bemerken müssen. Sie achtete auf jedes Detail, das ihre Ordnung stören könnte, doch das war ihr entgangen. Ein blinder Fleck in ihrer Aufmerksamkeit.

Wie sollte er dieser Frau die Wahrheit über ihren Bruder verraten? Nur er kannte Gregorys andere Seite. Die, die er der restlichen Welt vorenthielt.

Er war süchtig danach gewesen.

Er war es noch. Doch er durfte nicht daran zugrunde gehen. Das war er seinem Bruder schuldig. Auch seinen Eltern.

Alles, was er brauchte, war Zeit.

Draußen hupte das Taxi.

Jess sprang auf. »Denk an die Alarmanlage«, ermahnte sie ihn wie jedes Mal, bevor sie abreiste. »Und iss genug und arbeite nicht bis spät in die Nacht.« Sie wollte an ihm vorbeigehen.

Er griff nach ihrer Hand, hielt sie fest. »Bitte unterschreib die Papiere, Jess.« Er musste aufhören dürfen, ein Teil dieser Familie sein zu müssen.

»Wenn ich zurück bin.« Mit der freien Hand strich sie ihm durchs Haar. »Ich hoffe immer noch, dass du es dir in den zwei Wochen anders überlegst.« In ihren Blick kehrte ein wenig der Zärtlichkeit zurück, die sie lange Zeit füreinander empfunden hatten. Ihre Berührung glitt an seiner Wange entlang zum Kinn, hob es an. »Sei nicht zu streng zu deinen Studenten. Sie lieben dich.«

Ein sanfter Kuss. Er wäre eine Wohltat gewesen, hätte er nicht nach Hektik und Lippenstift geschmeckt.

Sie eilte aus der Bibliothek, ließ Stille und den Geruch ihres Parfums zurück.

Zwei Wochen ohne ihre sondierende Aufmerksamkeit, ohne die Verpflichtung, seine Bedürfnisse zu unterdrücken. Zwei Wochen, in denen er Gregorys Gebote mit Füßen treten würde, bis sie sich in klebrigen Lachen auflösten.

Nur der Gedanke daran ließ seinen Schaft anschwellen.

Er stellte die Tasse beiseite, gestattete seiner Hand, sich zum Hosenbund zu verirren. Allein sie in die Enge der Jeans zu drängen tat gut.

Bleib anständig.

Die einzige Regel seines Vaters. Ethan hatte sie nicht brechen wollen, es war einfach geschehen. Gregorys Unerbittlichkeit hatte ihn zahllose Male dafür bestraft.

In Gedanken floh er zu gesichtslosen Männern, deren Schweiß seine Haut streifte. Er glitt mit den Händen darüber, kostete ihn, ließ zu, dass sie ihn besudelten.

Unter seinen Fingerspitzen begann es zu pulsieren.

Wie er dieses Gefühl begehrte.

Es hatte ihn an Gregory verraten, ihn direkt in dessen Falle gelockt.

Es war vorbei. Er durfte mit sich machen, was er wollte.

Ethan rieb sich, stellte sich vor, dabei einen fremden Intimduft zu inhalieren. Es war gut, doch es genügte ihm nicht. Er wollte Arme um sich spüren. Sie mussten nichts weiter tun, als ihn halten. Alles andere oblag allein ihm.

Er riss den Reißverschluss auf, schob die Pants tiefer. Am Rande registrierte er, wie ihm der harte Schaft gegen die Hand klatschte. Er schloss so fest die Faust darum, dass ihm ein Stöhnen entkam. Niemand hörte es. Auch nicht das Wimmern, das anschwoll, je näher er sich zum Höhepunkt trieb.

Sein Mund suchte Widerstand. Fordernde Lippen, die sich auf ihn pressten.

Sie waren nicht da. Sein Handrücken musste genügen.

Er saugte, biss, keuchte auf, als es ihm heiß auf die Brust spritzte. Sein Herz schlug ihm gegen die Rippen, doch seine Gedanken ordneten sich. Die latente, kraftzehrende Anspannung, die ihn ständig verfolgte, ließ endlich nach.

Vor Erleichterung stöhnend sank er zur Seite. Während er das abklingende Beben genoss, zog er träge mit den Fingern Bahnen durch die Schlieren.

Für das Recht, sich selbst anzufassen, hatte er gekämpft. Nur ihm stand es zu, über seinen Körper zu verfügen. Ob er sich hingab oder sich verweigerte, ob er schluckte oder ob er ausspuckte. Ob er besudelt einschlief oder duschte. Es oblag ihm allein, wie tief er die Demütigung sinken und wann er sie abstreifen wollte. Es war seine Entscheidung, wem er sich zu welchen Bedingungen auslieferte. Es stand ihm frei, sich im Dreck ficken zu lassen oder in einem frisch bezogenen Bett und ob er danach rauchte, ging ebenfalls nur ihn etwas an.

Gregory hatte alles getan, um ihm diese Freiheit zu nehmen.

Fast hätte er dafür mit dem Leben bezahlt.

~*~

Das monotone Piepen kam ihm bekannt vor.

Der Kerl vor ihm stand auf, zuckte enttäuscht mit den Schultern. »Vielleicht klappt’s das nächste Mal.« Eben hatte er noch an Patricks Schwanz gesaugt.

Das Piepen wurde lauter.

Sein Handywecker.

Fluchend kämpfte sich Patrick in die Realität. Er war weit davon entfernt, wach zu sein.

»Mach den Wecker aus.« Die Beule unter der Decke sprach und bewegte sich mit Lees Stimme.

Wieso lag sein Kollege bei ihm im Bett?

Weil es nicht sein Bett war. Es war nicht einmal sein Zimmer. In dem höhlenähnlichen Konstrukt stapelten sich die Monitore sämtlicher Jahrgänge gefühlt bis unter die niedrige Decke. Dazwischen lagen Chipstüten und Bierdosen.

Lee hatte ihm seine Technikschrottsammlung gezeigt und im Anschluss hatten sie gezockt. Bis in den Morgen.

Patrick kroch aus dem Bett. Irgendwo schepperte etwas.

»Nicht drauftreten«, brummte Lee. »Egal, was es ist.«

»Geht klar.« Patrick schaltete den Wecker aus.

Kurz nach acht.

Kurz nach acht?

»Scheiße!« Wie oft hatte er auf die verdammte Schlummerfunktion gedrückt?

Susan hatte einen neuen Auftrag für ihn. Eine Vierzehn-Tage-Observierung, die er sich mit Gerrit teilen sollte. Ihrem Augenrollen nach war der Job speziell, was nichts heißen musste.

Und er verpennte, und das zum zweiten Mal in dieser Woche.

»Fuck!« Er raffte seine Sachen zusammen. »Wer hat gewonnen?«

»Ich«, murmelte Lee, ohne mehr als die Nase aus der Decke zu stecken. »Wer sonst?«

Ja, wer sonst.

»Vielleicht klappt’s das nächste Mal.«

»Mit dem Satz hat mich gerade ein heißer Kerl getröstet.« Wo war sein Rucksack? »Ich steckte schon in seinem Mund.« Er musste dringend wieder losziehen, sein letzter Blowjob war fast nicht mehr wahr.

Lee rappelte sich auf, fuhr sich durch die in alle Richtungen abstehenden Haare. »Wenn du irgendetwas Schräges mit mir gemacht hast, war’s das letzte Mal, dass du hier schlafen durftest.«

»Hab ich nicht.« Nebenbei stieg er in die Jeans und versuchte, gleichzeitig mit den Füßen in die Sneaker zu flutschen. »Ich vögele aus Prinzip nicht mit Kollegen und mit Nerds schon gar nicht.« Er versüßte die Ansage mit einem Zwinkern.

»Warum nicht?«, fragte Lee für seine Verhältnisse geradezu betroffen.

»Leute wie du fahren mitten beim Poppen plötzlich hoch und hetzen zur Tastatur, weil ihnen durch das Erschüttern die Lösung eines Problems eingefallen ist, von dessen Existenz ich nicht einmal wusste.«

Lee sah ihn betroffen an. »Ich unterbreche Sex nie.«

»Weil du keinen hast.«

»Hab ich doch.« Gelangweilt streckte er seine rechte Hand in die Luft. »Mit mir und den Pornostars dieser Welt. Dagegen stinkt dein Rumgeficke ab.«

»Weil es dank der ständigen Nachtschichten nicht stattfindet.« Er brauchte ein paar Tage Urlaub.

»Letzte Nacht hattest du frei.«

»Du siehst ja, wo ich gelandet bin.« Er schnappte sich seine Jacke, tastete nach dem Autoschlüssel und trabte los.

Trotz des Adrenalins hing ihm bleischwere Müdigkeit in den Knochen. Die letzten Wochen waren hart gewesen. Im Job und zu Hause. Er hätte sich ausschlafen sollen, statt sich mit Lee die Nacht um die Ohren zu schlagen.

Er schwang sich in den schmucklos unauffälligen Firmenwagen. Ein Volvo in Dunkelblau. Da er der Einzige in der Detektei war, der kein eigenes Auto besaß, war er heilfroh, dass ihm Susan ein paar Privatkilometer zugestand.

Bis nach Hackney waren es knappe fünfzehn Minuten. Ihm blieb eine Turbodusche und was zu essen auf die Hand.

Bis zur Kingsland Road fluchte er sich durch den Verkehr. Erst als er in die Orsman abbog, versuchte sein Hirn nach Entschuldigungen für sein Zuspätkommen zu suchen. Mit mäßigem Erfolg. Susan kannte mittlerweile die Standardausreden. Auch die Gründe, weswegen er die Ausreden vorschob.

Er parkte neben der Einfahrt der ehemaligen LKW-Garage und rannte über den einem Hinterhof täuschend ähnelndem Vorhof. Aus der verbeulten Stahltür kämpfte sich ihm Rorys 3-D-Versuch eines Leprechauns entgegen. Kaum hatte er sie aufgerissen, empfing ihn die gewohnt heimische Mischung aus Altöl, Kanalduft und Zigarettenrauch.

Zu Hause.

Patrick atmete auf.

Er streifte sich die Schuhe von den Füßen, schob sie zu denen seiner Brüder.

Ferris saß in der Küche, den Kopf in vertraut schwermütiger Weise auf die Hände gestützt und aus dem Fenster blickend. Die Anwesenheit seines ältesten Bruders registrierte er lediglich mit einem schweren Seufzen.

»Tee, sofort, ins Bad!« Patrick zerrte die Jacke von sich. »Und schmier mir ein Sandwich dazu, ich hab’s eilig!« Nur aus den Augenwinkeln bekam er mit, dass sich Ferris erhob und zum zusammengestückelten Küchentresen schlich. »Auf einer Skala von eins bis …«

»Sieben«, drang es kraftlos aus dem für ihn blinden Winkel der Küche. »Tyler bleibt bei mir und später kommt Onkel Larry vorbei. Keine Angst. Es wird keine Neun oder so.«

Oder so war eine Zehn.

Zehnen waren verboten.

»Kannst zum Job.«

Gut. Hätte die Antwort anders gelautet, hätte er Susan und den neuen Auftrag vom Tagesplan gestrichen und die komplette Familie zu einer Rund-um-die-Uhr-Bewachung eingeteilt.

Mums Tod hatte eine elementare Stütze aus Ferris’ Seele gerissen, was sie meist nur wackeln, manchmal aber auch kippen ließ. Bis die Phasen acht und neun überstanden waren, ersetzten er und seine restlichen Brüder genau diesen tragenden Pfeiler. Dazu war Familie da. Susan wusste von Ferris’ Problemen und akzeptierte es zähneknirschend, wenn Patrick deshalb blaumachen musste. Aber sie verstand nicht, wie ein chronisch schwermütiger junger Mann einen derart ausgeprägten Hang zu Kriminalität aufweisen konnte.

Familientradition. Patrick war die einzige Ausnahme.

Er stürmte ins Bad, prallte dabei fast gegen seinen jüngsten Bruder.

Rory stand vorm Waschbecken und kontrollierte seinen spärlichen Bartwuchs. »Nachtschicht?« Er strich den Witz am Kinn gegen die Wuchsrichtung. »Haste gar nicht angekündigt.«

»Ich war bei Lee.« Er pellte sich aus der Kleidung, trat sie Richtung des ständig überfüllten Wäschekorbs. »Rutsch ich in der Dusche aus oder hast du die zentimeterdicke Schmierschicht endlich weggeputzt?«

Rory verdrehte seufzend die Augen. »Zu viel Hygiene ist schlecht fürs Immunsystem, alter Mann.«

Dieser faule Mistkäfer! Patrick wollte ihn ihm Genick packen, aber Rory schnellte herum und hob beide Hände.

»Ist erledigt, Boss!«

»Echt?« Nach bloß fünf Ermahnungen in drei Tagen?

Rory nickte genervt. »Tyler hält mich am Haken. Er hat mich bei einer X-Sache erwischt und gedroht, es an die große Glocke zu hängen, wenn ich nicht für einen Monat seine Putzeinsätze übernehme.«

»Sehr gut.« Nicht die Heimlichtuerei, aber die Chance, sich duschen zu können, ohne einen Genickbruch zu riskieren. »Bei dieser X Sache«, fragte er, während er das Wasser aufdrehte. »Gibt es Zeugen oder irgendjemand, der auf die Idee kommen könnte, dich anzuzeigen?«

Sein jüngster Bruder schüttelte geduldig den Kopf.

Immerhin. »Und warum lässt du dich von Tyler erpressen?« Rory war Druck gegenüber eher resistent.

»Weil eventuell jemand anderes deswegen angezeigt werden könnte.«

»Wer?« Verdammt, das Wasser war immer noch nicht heiß.

Rory blickte absolut untypisch zu Boden. Seine Wangen nahmen einen Hauch Farbe an. »Ms Fletcher.«

»Deine Englischlehrerin?«

Für einen siebzehnjährigen Kleinkriminellen biss sich Rory zu verschämt auf die Lippen.

Moment. Eine X-Sache mit der Fletcher?

»War was Einmaliges«, beantwortete er Patricks nächste Frage. »Hab ich schon geklärt.«

»Ich kämpfe seit Monaten darum, dass du trotz der Scheiße, die du baust, nicht von der Schule fliegst, und du fängst was mit deiner Lehrerin an?« Nur einen friedlichen Tag ohne Krisenmanagement!

Er würde ihn nicht mehr erleben.

»Rate, weshalb ich nicht geflogen bin«, fauchte sein jüngster Bruder. »So was kommt nicht von ungefähr!«

»Ich dachte, es wäre was Einmaliges gewesen?«

Rorys Wangen färbten sich zwei Nuancen dunkler.

Himmel noch mal! Wenigstens war das Wasser endlich warm.

Patrick zog den Duschvorhang zu, fischte die ihm entgegengefallene Spinne aus dem ums Siphon strudelnde Nass und warf sie aufs Trockene.

Rory quietsche auf.

»Hol ein Glas und setz sie raus.«

»Die passt unter kein Glas!« Dem Schatten hinter dem Vorhang nach war Rory auf den Badezimmerhocker gesprungen. »Ferris! Bring mir den Staubsauger!«

Als Patrick fünf Minuten später aus der Dusche stieg, stand Rory immer noch auf dem Hocker und starrte auf die Spinne. Die saß unter der Heizung und wartete auf ihr Schicksal.

Ferris betrat den kaum drei Quadratmeter kleinen Raum, reichte Patrick eine Teetasse, auf der ein Sandwich balancierte, und wandte sich mit ausdrucksloser Miene dem Krabbeltier zu. »Die ist groß«, stellte er wenig überrascht fest. »Wenn ich die aufsauge, macht es fump und sie ist tot.« Traurig schüttelte er den Kopf. »Das mache ich auf keinen Fall.«

»Solange die hier drin ist, könnt ihr euch einen anderen Sklaven suchen, der das Bad wischt!« Rory sprang vom Hocker, quetschte sich an Ferris vorbei durch die Tür und floh aus dem Bad.

Während Patrick das Sandwich hinunterschlang und versuchte, sich nebenbei abzutrocknen, sammelte Ferris das Tier vorsichtig mit seinen geschickten und durch die unterschwellige Kleptomanie geschulten Fingern ein und trug es hinaus. Ein spitzer Schrei verriet, dass er es unterwegs noch einmal seinem Bruder gezeigt hatte.

Ein normaler Morgen im Hause Brennan.

Patrick prostete seinem Spiegelbild zu.

Es war noch nicht rasiert.

Scheißegal. Er musste los.

An der Haustür rannte er Tyler in die Arme und wurde von dessen unverrückbarer Masse zwei Schritte nach hinten geschleudert. Für seine einundzwanzig Jahre wirkte sein Bruder von Tag zu Tag breiter und seltsamerweise auch größer. Kein Wunder, dass Onkel Larry stolz auf die neue Trainingsmethode war.

»Hast du den Job noch?« Die Standardfrage. Auch wenn Tyler sie hasste. Sie brauchten das Geld, das er als Parkplatzwächter verdiente.

»Sicher«, gähnte Tyler, als wäre es das tatsächlich. Was es keinesfalls war. Er hatte ein Händchen dafür, schneller gefeuert zu werden, als normale Menschen blinzeln konnten. »Hat schon irgendwer Pfannkuchen gebacken?« Schwer seufzend ließ er sich mit dem Rücken gegen die Wand sinken und trat sich die Schuhe von den Füßen.

»Motiviere Rory dazu.« Patrick zog seine eigenen an. »Und danach prügele ihn in die Schule. Da sollte er seit einer Stunde sein.« Die Frage, weshalb er es nicht war, verkniff er sich. »Und erinnere ihn daran, dass ich einen Rausschmiss wegen Verführung eines Lehrkörpers nicht hinnehmen werde.«

Tyler stoppte mitten in der Bewegung. »Du weißt von der X-Sache?«

Warum wunderte ihn das? In dieser Familie hatten Geheimnisse nie eine faire Chance besessen.

»Scheiße, Mann!« Genervt warf er die vom Boxtraining beeindruckend kräftigen Hände in die Luft. »Ich dachte, ich kann ihm noch ein paar Wochen Hausarbeit aufdrücken.«

»Du hast ihn mit mir erpresst?«

Tyler zuckte mit den monströsen Schultern.

»Ich dachte, du wolltest die Sache an den Rektor oder so verpfeifen.«

»Und riskieren, dass Sarah ihren Job loswird?«

Wer war Sarah?

»Das würde sie mir nie verzeihen.«

Ihm schwante Übles. »Sarah Fletcher? Rorys Lehrerin?«

Tyler nickte. »Sie ist süß.«

»Sag mir nicht, du bist auch an ihr dran.«

Das breite Grinsen sprach Bände.

Gott im Himmel! »Weiß dein Bruder davon?«

Während Tyler nickte, kratzte er sich mit beiden Händen über die Bürstenfrisur. »Wir sind Sharing-Partner in der Sache«, erklärte er die Tatsache, dass er sich mit seinem kleinsten, noch minderjährigen Bruder eine Frau zum Vögeln teilte. »Ich habe ihm eingeredet, du würdest austicken, wenn du von ihm und Sarah erfährst und ihm versprochen, den Mund zu halten, wenn er für mich ab und zu mal das Putzen übernimmt.«

»Das letzte Mal bin ich bei dir ausgetickt und das liegt Monate zurück.« Eine Prügelei biblischen Ausmaßes. »Ich würde mich nie an Schwächeren vergreifen. Das weiß Rory.«

»Ist das Bad sauber?«

»Ja.«

»Dann hat es funktioniert.« Tyler schlug ihm grinsend auf den Rücken und schlurfte an ihm vorbei Richtung Küche. »Du kommst zu spät zur Arbeit«, rief er ihm über die Schulter zu. »Nicht, dass du deinen Job verlierst.«

Scheiße!

Patrick sprintete zum Wagen. Elf Minuten danach fuhr er auf den Witz von Parkplatz, der zur Detektei gehörte. Rubys schlammgraues und Gerrits anthrazitfarbenes Auto drängten sich bereits auf den Schattenplätzen. Patrick quetschte seines dazwischen, schlängelte sich aus dem Türspalt und trabte durch die Hintertür in das schmale Haus, das lediglich aus Susans Privatwohnung und der Detektei bestand.

»Du bist zu spät«, empfing ihn Molly, kaum dass er die Nase zur Tür reingesteckt hatte. »Gerrit ist schon bei ihr.« Die Sekretärin wies mit dem Daumen über die Schulter und damit direkt zu Susans Büro.

Patrick strich sich die Haare ordentlich, räusperte sich und klopfte.

»Herein«, forderte seine Chefin weniger genervt als angenommen. »Deine Ausrede höre ich mir später an.« Sie nickte zu dem freien Stuhl neben Gerrits. »Was ich für euch beide habe, hatten wir so noch nie.« Sie reichte jedem von ihnen eine Akte. »Die Klientin möchte, dass wir zwei Wochen lang ihren Mann observieren.«

Was war daran ungewöhnlich? So was machten sie ständig. Nachweis von Untreue war der Punkt auf Susans Agenda, der die meiste Kohle einspielte.

Patrick öffnete die Akte.

Den Fotos nach war der Mann ein Gentleman. Zumindest auf den ersten Blick. Auch auf den zweiten. Um dem dritten standzuhalten, musste er ihn leibhaftig vor sich sehen.

Die dunkelbraunen Haare waren leicht gewellt und aus der Stirn gekämmt. An den Schläfen schimmerte Silber, gerade genug, um die Fältchen in den Augenwinkeln und die Linien um den Mund zu rechtfertigen. Die Frisur war rausgewachsen, was einen interessanten Kontrast zur akkuraten Garderobe darstellte, und …

Fantastische Augen. Nicht nur wegen des warmen Kastanientons. Es war ihr Blick. Versonnen, schwermütig, definitiv sanft. Doch da war noch etwas anderes. Etwas, das in ihm den Wunsch weckte, seine Hände über diesen Mann zu halten.

Kein gutes Zeichen.

»Alles klar?«, fragte Gerrit, ohne von seinem Exemplar der Akte aufzusehen. »Oder fürchtest du dich vor neuen Nachtschichten?«

»Übernimm du sie. Dann muss ich mich nicht fürchten.«

Gerrit lachte freudlos. »Sagt dir der Satz Ich bin zum zweiten Mal Vater geworden irgendetwas?«

»Nein.« Als er für Dad einspringen musste, waren seine Brüder schon länger aus dem Säuglingsalter rausgewesen. »Aber es klingt nach Spaß.«

Gerrit streckte schweigend den Mittelfinger in die Luft.

Patrick zog die Fotos wieder zu sich ran. Sie zeigten die Zielperson vor einer Limousine, auf einer Parkbank und an einem Kiosk. Jedes Mal im Businesslook inklusive Krawatte und akkurater Haltung. Bis auf das letzte Foto. Auf dem trug er einen weich fallenden Rollkragenpullover und hielt lässig eine Zigarette in der Hand, während er jemandem oder etwas nachzusehen schien. Die Umgebung sah nach Privatgrundstück aus.

Und wieder dieser Wahnsinnsblick. Dem Mann lag eine Sehnsucht in den Augen, die sich nicht in Worte fassen ließ.

»Professor Dr. Ethan Sattler«, drang Susans Stimme durch beginnende Tagträume. »Dozent für Wirtschaftsphilosophie an der University of London. Verfasser zahlreicher Bücher zum Thema und Gastdozent an diversen europäischen Universitäten. Tadelloser Ruf, außerhalb seiner Seminare eher menschenscheu, seit vierzehn Jahren verheiratet, keine Kinder, mit etwas Fingerspitzengefühl zu ergoogeln, aber kein Mensch des öffentlichen Lebens, akademische Kreise ausgenommen. Erstklassiger Leumund, keinerlei Feinde, nicht einmal unter seinen Kollegen. Regelmäßige Spenden für Umweltschutzprojekte und Amnesty International, keine Mitgliedschaften in Clubs oder Sportvereinen, was mich angesichts der akademischen Laufbahn erstaunt.« Sie unterbrach ihren Redefluss nur, um einen Schluck ihres grauenvollen Lieblingskaffees zu trinken. Fast weiß vor Milch und mit so viel Zimtsirup gewürzt, dass ein penetranter Weihnachtsgeruch um ihren Schreibtisch waberte.

Patrick schüttelte sich.

»Jedem Tierchen sein Pläsierchen«, ermahnte ihn Susan wie jedes Mal, wenn er aus Versehen ihren Geschmack kritisierte. Denselben Satz hatte sie auch Ruby auf die Stirn gebügelt, als der mitbekommen hatte, dass Patrick lieber über eine pralle Eichel leckte, als seine Zunge in eine nasse Möse zu tauchen. Mittlerweile arbeitete Ruby freiwillig mit ihm. Anfangs musste es Susan anweisen.

»Beide Elternteile früh und kurz hintereinander verstorben«, fuhr sie mit ihrer Zusammenfassung fort. »Sein älterer Bruder hat sich seitdem um ihn gekümmert und dafür gesorgt, dass Sattler die Universität besuchen konnte.«

Kam ihm bekannt vor. Allerdings war ihm das Studieren seiner Brüder bisher erspart geblieben.

Verdammt, was wäre er stolz, wenn Rory sich dazu entschließen würde, aber der vögelte ja lieber seine Lehrerin, statt zu lernen.

»Und jetzt kommt’s, meine Herren.« Susan sah Gerrit und ihn ungewohnt ratlos an. »Es handelt sich hierbei um eine Observierung aus Fürsorglichkeit.«

Das war neu.

»Mrs Jessica Sattler fürchtet, ihr Gatte könnte seinen selbstzerstörerischen Tendenzen erliegen. Die Aufgabe, ihn im Auge zu behalten, will sie keinem seiner Freunde anvertrauen, vor denen er das Bild eines renommierten und mit seinem Leben zufriedenen Universitätsprofessors aufrechterhalten muss.«

Was waren das denn für Freunde?

»Normalerweise kümmert sie sich um ihn, da sie jedoch beruflich für besagte zwei Wochen unterwegs ist, hat sie uns diesen Auftrag erteilt.«

»Wir sind keine Babysitter.« Gerrit schob die Akte von sich. »Was genau erwartet sie von uns?«

»Nur, dass wir ihn im Auge behalten.« Susan wischte sich mit dem Daumen zuckrigen Milchschaum aus dem Mundwinkel. »So gesehen ist es nichts Besonderes für uns.«

»Der Mann hat einen Bruder. Warum kümmert der sich nicht um Sattler?« Der musste doch Übung darin haben, wenn er ihn erzogen und zur Uni geschickt hatte.

»Dieser Punkt war nicht Gegenstand unseres Gesprächs.« Ein weiterer Schluck der süßen Brühe verschwand hinter Susans Lippen. »Letztendlich spielen ihre Beweggründe, eine Detektei damit zu beauftragen, auch keine Rolle. Sie wünscht eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung ihres Gatten, und die bekommt sie.«

Gerrit schnaubte. »Und wenn der Kerl auf der Brücke steht oder wir durchs Badezimmerfenster sehen, dass er dabei ist, sich die Pulsadern aufzuschneiden?«

Patrick wurde flau. Die sich aufdrängenden Bilder hielt er ein paar Atemzüge aus, bevor er aufspringen und hin und her laufen musste.

»Sorry«, murmelte Gerrit und schnappte ihn beim Vorbeilaufen am Jackenzipfel. »Setz dich wieder hin, Mann. Ich hab nicht dran gedacht.«

»Schon gut.« Er war der Falsche für diesen Job.

»Wir reden nicht von einer Suizidgefahr«, versuchte ihn Susan zu beruhigen. »Sonst hätte ich den Fall abgelehnt.«

Ein langer Blick von ihm genügte, um sie schuldbewusst seufzen zu lassen. »Zumindest hätte ich ihn nicht dir zugeteilt.«

Sie brauchte jeden einzelnen Auftrag. Er wusste das. Seit sie die bis über beide Ohren verschuldete Firma von ihrem Vater übernommen hatte, kämpfte sie gegen die roten Zahlen.

»Was versteht die Sattler unter selbstzerstörerischen Tendenzen?«, fragte Gerrit und ließ Patricks Jacke los. »Koksen? Spielsucht? Komasaufen?«

Susan hob ratlos die Hände. »Sie will kontaktiert werden, sobald ihr Mann ein sonderbares Verhalten zeigt, sich mit seltsamen Leuten trifft oder auf die Idee kommt, während ihrer Abwesenheit auszuziehen.«

»Das klingt für mich eher nach Selbstschutz«, murmelte Gerrit und überflog die Zusammenfassung. »Was wissen wir über die Klientin?«

»Sie führt mit ihrem Bruder zusammen eine Beraterfirma.« Susan linste auf ihren Notizblock. »J. G. Walsh Consulting. Sitz in London, Filiale in New York. Sie ist beruflich oft unterwegs und hat ihren Mann an der Uni kennengelernt.«

»Die Ehe ist zerrüttet.« Gerrit verschränkte die Arme vor der Brust. »Es mangelt an gegenseitigem Vertrauen und emotionaler Nähe. Stattdessen herrscht ein übertriebenes Maß an Kontrollsucht, die auf Mrs Sattlers Konto geht, und eine Atmosphäre resignierten Rückzuges, mit der ihr Mann reagiert. Fakt: Sie will wissen, was er treibt, wenn er sturmfrei hat, und ist zu stolz, das zuzugeben.«

»Sehe ich ähnlich.« Susan stand auf und öffnete das Fenster. »Manchmal frage ich mich, ob es überhaupt noch funktionierende Ehen gibt.« Mit einem resignierten Seufzen schüttelte sie sich eine Zigarette aus der Packung.

Patrick zückte die Streichhölzer.

Susan grinste, während sie sich zu ihm hinabbeugte, um sich Feuer geben zu lassen. »Oldschool«, stellte sie nach dem ersten Zug fest.

»Mein jüngster Bruder besteht seit ein paar Wochen darauf, seinen Teil zur Weltrettung beizutragen.« Ein YouTube-Video über Plastikinseln hatte Rory den Rest gegeben. »Seitdem gibt es im Hause Brennan weder Einmalfeuerzeuge noch Zellophanfolie.« Was ihn nicht störte. Er mochte den leicht schwefeligen Geruch beim Anzünden.

Susan grinste breiter. »Ich meinte die höfliche Geste.«

Jemandem Feuer zu geben? Das gehörte sich so.

»Wie gehabt.« Sie setzte sich wieder. »Du übernimmst Sattler tagsüber«, sagte sie zu Gerrit gewandt, »und du nachts.« Ihr Blick schweifte zu Patrick.

»Pro Schicht ist das eine Ein-Mann-Observierung. So was machen wir nur, wenn es nicht drauf ankommt.« Oder der Klient zu knauserig für was Ordentliches war. Bei Sattler kam es jedoch darauf an. Das sagte ihm sein Bauchgefühl und das Stichwort selbstzerstörerische Tendenzen.

»Sie will es so.« Susans Geste warf etwas Unsichtbares auf den Tisch. »Ich habe ihr erklärt, dass unter diesen Bedingungen eine lückenlose Observierung unmöglich ist.«

»Klingt für mich nicht, als ob sie vor Sorge um ihn nicht mehr schlafen könnte.« Gerrit überflog die Übersicht. »Seinem Dienstplan nach ist er heute und morgen bis sechs Uhr abends an der Uni. Danach kann sich der Gute über ein paar Wochen freie Zeit freuen. Die Semesterferien beginnen.«

»Was maßgeblich zur Entscheidung seiner Frau beigetragen hat«, sagte Susan zwischen zwei Schlucken ihres Kaffees. »Sie hat es nicht direkt ausgesprochen, aber oft genug angedeutet. Ihre Betonung, dass ihr Mann normalerweise nach der Arbeit nach Hause fährt, versteckt die Tatsache, dass sie fürchtet, genau das könnte er in ihrer Abwesenheit nicht tun.«

Patrick schielte auf die angegebene Adresse.

Kingston. Noble Gegend.

»Dieses Fürsorge-Larifari-Ding ist lächerlich.« Gerrit seufzte, als würde ihn der Fall schon jetzt langweilen. »Sie will wissen, mit wem ihr Mann vögelt, wenn sie weg ist. Basta.«

»Dann werden wir es herausfinden und es ihr mitteilen.« Susan setzte ihr Geschäftslächeln auf. »Wer zahlt, bekommt die Informationen, die er will. Auch wenn er mit ihnen unglücklicher ist als ohne sie, also häng dich an Sattlers Fersen.« Ihr Schwenk ging nahtlos zu Patrick. »Du übernimmst ab dem Moment, wenn er ins Auto steigt. Auf der Übersicht findest du das Parkhaus, in dem er für gewöhnlich seinen Wagen abstellt.«

Bis dahin blieb noch ausreichend Zeit, um sich für ein paar Stunden aufs Ohr zu legen.

Patrick sortierte die Fotos von Sattler zurück in die Mappe.

Der Mann hatte unglaublich schöne Augen.

~*~

Hank Summer. Ein aufgelesener Niemand. Ende dreißig, übermotiviertes, nahezu hündisches Gebaren, akzeptable Figur, willig, seit er ihm gezeigt hatte, welche Hand es zu beißen und welche es zu lecken galt.

Der Mann war langweilig und bedeutungslos wie sein Name.

Gregory unterdrückte ein Seufzen. Diese durch und durch unbefriedigende Situation hatte er selbst zu verantworten. Ein gescheiterter Versuch, die Leere zu füllen, die Ethans Verweigerung in ihm ausgelöst hatte.

Hanks Haare waren zu hell. Ein mittleres Braun statt Ethans dunklem Ebenholzton. Die Finger waren zu kurz, wirkten plump und so agierten sie auch an seinem Reißverschluss. Die gesamte Haltung des Mannes war beklagenswert. Die nach vorn sackenden Schultern, der angedeutete Rundrücken, die gänzlich fehlende Anmut.

Gregory fasste in die dünnen Haare, wartete, bis das debile Grinsen aus dem gewöhnlichen Gesicht verschwand.

Es wies nicht einmal annähernd Ethans Züge auf.

Ein Fehler, sich mit Ersatz abzugeben. Er hatte ihn in den vergangenen Monaten zu oft wiederholt, war jedes Mal enttäuscht worden. Ethan war nicht zu ersetzen. Er hätte sich das vergegenwärtigen müssen, ehe er sich dazu entschlossen hatte, die Filiale in New York zu übernehmen.

Die Finger, die eben noch an seinem Hosenstall gestümpert hatten, pfriemelten seinen Schwanz hervor. Immerhin ohne hinzusehen.

Dieses Mal ließ Gregory das enttäuschte Seufzen zu.

Hanks fragender Blick war eine Zumutung.

Ethans Blick fragte nie. Er ergab sich oder rebellierte, bis er jeglichen Ausdruck verlor.

Ethan in diesem sensiblen Moment in die Augen zu sehen, war, als würde man einen Sterbenden beobachten.

Bei ihrem letzten Treffen hatte es lange gedauert, bis das Leben in die braunen Augen zurückgekehrt war. Ein Kontrollverlust seinerseits. Nicht zu entschuldigen, aber die Phase der Vergebungen, Beteuerungen und Versprechen lagen hinter ihrer fragilen und dennoch so elementaren Beziehung.

Ethan hatte ihn von seiner Seite geschickt und er hatte die Dummheit begangen, ihm diesen Gefallen zu tun. Aus reiner Vernunft und Sympathie heraus. Ethan hatte eine Erholung gebraucht. Gregory wusste nur zu gut, wie anspruchsvoll ihre Interaktion im Laufe der Zeit geworden war.

Ein halbes Jahr war eine Herausforderung für seine Selbstdisziplin und ein Liebes- und Vertrauensbeweis Ethan gegenüber.

Dennoch war es ein Fehler gewesen. Er würde ihn nicht wiederholen. Ethan gehörte ihm. Seine Angst, seine Lust, dieses gequälte Wimmern, wenn er ihm erlaubte, seinen Trieben nachzugeben. Es sollte erleichtert klingen, aber das war nur selten der Fall.

Hank traten Tränen in die Augen und verwässerten das glutlose Grau zu etwas Abstoßendem.

Gregory lockerte den Griff.

Gleichgültig, was Hank tat, es würde Gregory nicht befriedigen.

Hank war nicht Ethan. Niemand war wie er, niemand sah wie er zu ihm auf. Mit dieser hilflosen, verzweifelten Wut im Blick. Auf sich selbst und den Verrat des eigenen Körpers, auf denjenigen, der ihm bewies, dass Stolz und Selbstachtung Illusionen waren. Sie lösten sich auf wie Nebel in der Morgensonne, wenn Geilheit und Angst ihren wilden Tanz begannen.

Ethan war seine rebellische, schöne, durch und durch verdorbene Muse. Getrieben von Selbstzweifeln und einem kaum zu sättigenden Verlangen nach Erniedrigung. Er war eine sprudelnde Quelle der tiefsten, sattesten Befriedigung, die Gregory je erleben durfte. Ein Fest. Berauschend vom ersten bis zum letzten Moment.

Er bohrte die Finger in die Wangen des Mannes, stopfte seinen halb steifen Schwanz in den sich öffnenden Mund. »Du hast zehn Minuten.« Dann musste er seine Sachen packen. New York hatte ihn genug gelangweilt. Er freute sich auf Zuhause.

Dass er damit ein Versprechen brach, würde ihm Ethan verzeihen.

Spätestens wenn sich die Schlafzimmertür hinter ihm schloss.

~*~

2. Kapitel

 

 

Die Gesichter der Studenten begannen vor seinen Augen zu verschwimmen. Ethan legte die letzte Folie auf, blinzelte, doch seine Sicht wurde nur klar genug, um die Überschrift entziffern zu können.

Es wurde Zeit, dass der Tag zu Ende ging. Er hatte ihn vor allem mit Examensseminaren und dem Korrigieren von Klausuren verbracht. Die Vorlesung über Unternehmensethik war der krönende Abschluss eines endlosen Donnerstags.

Nachdem er die wichtigsten Quellen genannt und wie immer darauf hingewiesen hatte, sich tiefer in die Themen einzulesen, entließ er seine Zuhörer.

Ihn fröstelte vor Müdigkeit.

Morgen stand ihm ein ähnlicher Marathon bevor. Danach begannen die Ferien. Zwei Wochen davon gehörten ihm allein. Strukturlose Zeit, ohne dass Jessica von ihm forderte, ein Teil ihres Alltags zu sein. Sie wollte den Mann zurück, der sich problemlos in ihre Abläufe integrieren ließ. Der sie fickte, wenn ihr danach war. Der lächelte und sagte, alles wäre in Ordnung, denn nur so konnte sie ihr gewohntes Leben weiterführen. Es galt ihrem Job, definierte sich über Anerkennung und Erfolg. Seit ihr Vater gestorben war, noch mehr als sonst. Als würde sie ihm täglich beweisen wollen, wie tough sie war.

Kenneth Walsh.

Ethan hatte seinen Schwiegervater kaum zu Gesicht bekommen.

Wenige Wochen nach dessen Tod hatte Gregory ihn verführt. All die Male danach war das nicht mehr nötig gewesen. Er hatte sich ihm freiwillig angeboten.

Ethan nickte bekannten Gesichtern zu, wechselte im Vorbeigehen ein paar Worte mit Kollegen und Studenten. Draußen empfing ihn eine Abendsonne, deren Licht die Mauern der Gebäude leuchten und aus der Zeit driften ließ. Er blieb einen Moment stehen, genoss die Wärme auf seinen Wangen.

»Erliegst du der Magie des Augenblicks?« Edgar trat neben ihn. »Oder traust du dich nicht nach Hause?« In den freundlichen Augen glomm Spott.

Edgar hielt nicht viel von Jess. Er sagte es nie offen, dafür war er zu höflich, aber seine Andeutungen genügten.

»Jess ist für ein paar Tage in Plymouth.« Das Grinsen seines Freundes ließ ihn lächeln. »Ich erwähne das nur, falls du Lust haben solltest, mich auf ein Bier einzuladen.«

»Und ob ich das habe.« Edgar zog sein Handy hervor, tippte eine Nachricht. »Ich grüße Emmi von dir. Das stimmt sie milde. Zwar gibt sie es nicht zu, aber sie steht auf dich.«

»Sie ist bezaubernd. Würdest du ihr das ebenfalls hin und wieder sagen, würde sie auch auf dich stehen.«

»Ich weiß«, murmelte Edgar und steckte das Handy zurück. »Aber ich kann’s nicht so charmant wie du.« Er nahm Ethan am Arm, dirigierte ihn über den Campus. »Na los, lass uns die Nacht nutzen.«

Das würde er sicherlich, doch nicht auf die Weise, die Edgar vorschwebte. Der Besuch im Pub überbrückte lediglich die Zeit, bis er einen Ort aufsuchte, der in der Wahrnehmung seines Freundes nicht existierte.

»Du solltest die Ferien nutzen, um dich gründlich zu erholen.« In Edgars Seitenblick lag die Art Sorge, mit der Ethan im Moment nicht umgehen konnte. »Ich weiß, dass du viel arbeitest und nebenbei noch an deinen Veröffentlichungen schreibst, aber so langsam sieht man es dir an. Du musst mal wieder ausgiebig schlafen.«

Guter Witz.

Edgar blieb stehen. »Du weißt, dass du mir vertrauen kannst.«

Im Moment vertraute er sich selbst nicht. Das war einer der Gründe für seine Schlaflosigkeit.

»Jess und ich lassen uns scheiden.« Es war bei Weitem nicht sein Hauptproblem, aber Edgar konnte es nachvollziehen und es würde guttun, mit ihm darüber zu reden.

Seinem Freund entglitten die Gesichtszüge. »Will ich die Gründe wissen?«

Sicherlich nicht.

 

~*~

 

Schicke Limousine. Sicherlich eine Menge Hightech an Board. Wäre Tyler hier, würde er sich herausgefordert fühlen. Fraglich nur, ob er mit der klassischen Methode bei diesem Baby landete. Wahrscheinlicher war, dass die Alarmanlage ihm ein hohes Pfeifen in die Ohren zauberte.

Patrick seufzte über den Gedanken hinweg, dass sich sein Bruder selten von Alarmanlagen abhalten ließ. Meistens brachte er das Ding schnell genug zum Schweigen, um mit seiner Beute unbehelligt und entspannt lächelnd zum Autoschieber seines Vertrauens zu fahren und im Anschluss die Miete für drei bis sechs Monate auf den Küchentisch zu legen.

Es war so viel leichter, mit krummen Dingen Geld zu verdienen als mit geraden. Wie sollte er unter diesen Umständen seinen Brüdern Moral einbläuen? Noch dazu mit Onkel Larry im Nacken, der jedem von ihnen ein professionelles Pick-Set geschenkt hatte, und das zu Weihnachten nach Mums Tod.

Es ist wichtig, die Familie ernähren zu können, hatte er in feierlichem Brustton verkündet und auch Patrick ein in Sternchenpapier eingewickeltes Päckchen überreicht. Zum Brot gehört die Butter. Also lass dich nicht von Leuten mit weniger abspeisen, die schon zum Frühstück Kuchen essen. Die sind ohnehin versichert.

Autos waren keine Butter und Surround-Anlagen und Brieftaschen kein Kuchen. Dasselbe galt für Schmuck und Laptops.

Sinnlos, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Bei diesem Punkt hatte er bei der Erziehung seiner Brüder versagt.

Das Display seines Handys leuchtete auf.

»Ich dachte schon, der versumpft in dem Pub«, schimpfte Gerrit. »Ich hau jetzt ab. Die Zielperson betritt gerade das Parkhaus.«

»Alles klar. Mach dir einen schönen Abend.« Kurz nach elf. Allzu viel war davon nicht mehr übrig.

»Beim Kinderhüten?« Gerrit schnaubte, ehe er das Gespräch beendete.

Das von den Betonwänden verstärkte Klacken von Ledersohlen näherte sich.

Patrick rutschte tiefer in den Sitz.

Sattler tauchte in seinem Blickfeld auf. Korrekt vom Krawattenknoten bis zu den auf Hochglanz geputzten Schuhen. Der Schritt so energisch, dass die Schöße des Sommermantels flatterten, die Miene ernst und entschlossen. Keine Spur von Melancholie oder gar Sehnsucht.

Er war größer, als Patrick angenommen hatte. Nach Augenschein überragte er ihn um eine Handbreit.

Seltsam, trotz der klassisch eleganten Garderobe und des selbstbewusst lässigen Auftretens ging ein Hauch Used-Look von ihm aus. Ein wenig zu dünn, etwas zu dunkle Schatten unter den Augen, die Haare noch stärker aus der Frisur gewachsen, als es auf den Fotos den Anschein gemacht hatte.

All das milderte die Attraktivität dieses Mannes nicht im Geringsten.

Sattler entriegelte die Limousine, verstaute seine Aktentasche im Kofferraum.

Patrick griff zur Kamera und schoss ein paar Fotos.

Reine Gewohnheit. Sie bewiesen nur, dass Sattler in sein eigenes Auto stieg. Wenn auch später, als von seiner Frau prophezeit.

Anmutig schwang er sich hinters Steuer und parkte trotz der allgegenwärtigen Enge souverän und flott aus, um den Exit-Markierungen zu folgen.

Patrick wartete fünf Sekunden, ehe er den Motor startete und die Pirsch aufnahm. »Fährst du nach Kingston in deine bestimmt todschicke Villa und zwingst mich, auf eine geschlossene Haustür zu starren?« Solche Nummern hatte er viel zu oft.

Er folgte der Limousine bis zur entscheidenden Kreuzung. Wollte Sattler nach Hause, musste er links abbiegen.

Er blinkte rechts.

Patrick grinste. Mit etwas Glück stand ihm eine interessante Nacht bevor.

Sattler fuhr nach Holborn, bog in die Cary Street ein. Vor einem schäbigen Backsteingebäude setzte er erneut den Blinker und die Limousine verschwand in einer Einfahrt.

Patrick hielt am Straßenrand, ebenfalls mit tickerndem Blinker, und googelte sich zu der Adresse schlau.

Ein Appartementhaus. Zwei Wohneinheiten standen noch frei. Die Bewertungen der Verwaltungsfirma waren katastrophal. Absteige, Abzocke, Mietwucher, desolate Sanitäranlagen. Sollte das der Wohnsitz von Sattlers Geliebten sein, gehörte die Dame zur preisgünstigen Kategorie. Oder er traf sich dort mit einer Prostituierten und ersparte sich damit den Schmus und Stress einer Affäre.

»Deine Frau hat das hier geahnt, mein Hübscher.« Von wegen selbstzerstörerische Tendenzen.

Und wenn es nicht um Sex, sondern um einen Ort ging, an dem Sattler in Ruhe eben jenen Tendenzen nachgehen wollte? Drogen zum Beispiel. Das wäre eine Erklärung für die Augenschatten und fiel definitiv in die Kategorie Selbstzerstörung. Andererseits konnten die ebenso gut von Schlafproblemen oder einer Erkältung stammen.

Patrick stieg aus, überquerte die Straße und warf einen Blick auf die Klingelschilder. Sattler tauchte auf keinem auf. Dafür waren drei unbeschriftet.

Interessant. Entweder besuchte er nur jemanden oder er hatte erst vor Kurzem ein Appartement gemietet und war noch nicht dazu gekommen, das Schild zu beschriften. Vielleicht wollte er es auch nicht, weil niemand klingeln sollte. Ein geheimer Unterschlupf, um seiner kontrollsüchtigen Frau zu entkommen und sich in Ruhe bei ein paar Pornos einen runterzuholen. Mit Pizza und Bier und allem Drum und Dran.

So oder so. Im Moment blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten. Auf den Pizzaboten, die Geliebte oder auf beides.

Gerade als er einen Blick in die Einfahrt und damit auf einen eventuell unverschlossenen Hintereingang werfen wollte, hielt ein Taxi neben ihm.

Patrick schlenderte unauffällig zu seinem Wagen zurück und legte sich hinter den getönten Scheiben auf die Lauer. Keine Minute später verließ Sattler das Haus.

Patrick musste zweimal hinsehen. Wo war die Stütze des Bildungsbürgertums geblieben?

Er schnappte sich die Kamera vom Beifahrersitz und zoomte ran.

Die dunklen Haare waren streng zurückgekämmt. Da sie hielten und leicht glänzten, hatte Sattler mit Gel nachgeholfen.

Was für sinnliche Lippen. Und das auf beinahe verruchte Weise.

Weshalb war ihm das nicht auf den Fotos aufgefallen?

Weil etwas Verruchtes nicht ins Bild eines Gentleman passte.

Als wäre Sattler ein anderer Mann.

Seine ausgesprochen schlanke Gestalt steckte komplett in Schwarz. Der dünne Mantel, eine Jeans, die jeden Blick wert war, ein eng anliegendes Hemd. Die nur leicht knochig wirkende Brust lugte hervor, aber keinesfalls auf die unterernährte Ex-Junkie-Weise. Oh nein, dazu sah sie zu verlockend aus.

Und erst die Augen. Hatte er sie dunkel umrahmt? Sie wirkten magisch.

»Junge, was machst du?« Patrick musste schlucken. »In der Aufmachung kriegst du mich im Handumdrehen um den Finger gewickelt.«

Sattler stieg ein, das Taxi fuhr los.

Patrick legte die Kamera zurück. Er musste wenden, und zwar schnell, ehe ihm Sattler aus dem Sichtfeld verschwand.

Seine Finger trommelten auf dem Lenkrad, während er langsam bis fünf zählte. Der Zeitraum lieferte eine gute Distanz, damit sich die Zielperson nicht verfolgt fühlte. Susan hielt nichts von seiner Zähl-Methode, aber sie irrte sich. Die meisten bemerkten, wenn sie beobachtet wurden, und zwar dann, wenn man zu dicht auflief, oder zu oft und zu nah ihm Rückspiegel auftauchte.

Fünf. Patrick setzte den Wagen zurück, um ihn in der Einfahrt des Appartementhauses zu wenden.

Wo wollte Sattler in der Aufmachung hin?

Spontan tippte er auf Soho. Zehn Minuten später bestätigte sich sein Verdacht. Eine wilde Nacht. Genau das hatte Sattler vor.

Das Taxi irrte durch die schmaleren Straßen, als wüssten weder die Zielperson noch der Fahrer, wo es hingehen sollte. Schließlich wurde es langsamer und hielt vor einem Laden, auf dessen Leuchtreklame eine stilisierte Seife inmitten von Schaum und Wasserspritzern aufblinkte.

Das Old Soap Dreams. Ein Schwulenclub der ersten Stunde. Er versprühte einen Wehret den Anfängen-Charme, den Patrick ab und zu mochte. Heruntergekommen, unspektakulär, aber gemütlich, eher eine Bar mit Tanzfläche und zu wenig Platz, um von einem Darkroom auch nur zu träumen.

Er hätte Sattler einen der edleren Clubs zugetraut. In Soho gab es genug Glitterläden. Allerdings hatte das Soap den Vorteil, dass die jeweiligen Türsteher eher Attrappen waren und jeden reinließen. Einfach, weil der Laden sonst nicht voll wurde. Von daher war es kein Drama, dass Patrick für den Anlass nicht aufgehübscht war. Schwarzes Shirt, Jeansjacke und Turnschuhe. Nicht unbedingt ein Hingucker, aber es würde reichen.

Sattler stieg aus, sah an der bröckeligen Fassade empor und zog tiefenentspannt eine Zigarettenpackung aus der Sakkotasche.

Ein perfektes Motiv.

Patricks Seufzen untermalte das Klicken des Auslösers.

Dennoch, es wurde Zeit, die verdammte Karre loszuwerden.

Überall Parkverbot. Das nächste Parkhaus war geschätzte sieben bis zehn Gehminuten entfernt. Drei hin, im schlimmsten Fall zehn zurück plus ein paar, um den Wagen abzustellen. Rund fünfzehn Minuten ohne Sichtkontakt. In der Zeit konnte es sich Sattler anders überlegen und sich zum Beispiel zu einem Club-Tingeln entscheiden. In dem Fall würde er ihn verlieren.

Ein-Mann-Observierungen.

Professionalität sah anders aus.

Patrick legte einen Zahn zu. Zeit war der maßgebliche Faktor.

Als er endlich wieder vor dem Club stand, keuchte er vor Anstrengung. Er hatte halb Soho in einem Dauerlauf hinter sich gebracht.

Von Sattler keine Spur. Hoffentlich war er schon drin.

Er fuhr sich durch die Haare, wollte gerade seinen Ich komme überall rein-Blick aufsetzen, als ihm einfiel, dass das hier nicht nötig war. Die Schlange bestand aus zwei Leuten, die erwartungsgemäß durchgewinkt wurden.

»Der Typ in Schwarz mit Zigarette«, fragte er, als er an der Reihe war. »Ist der reingegangen?«

Der Türsteher checkte ihn kurz und nickte, ehe er ihn mit einer knappen Geste ins Innere schickte.

»Patrick!« Silver tauchte aus dem Kabuff mit rostigen Haken und wackeligen Garderobenständern auf. Seine gedrungene, durch und durch muskulöse Gestalt hätte Onkel Larry Freude bereitet. Allerdings nur aus sportlicher Sicht. »Du warst lange nicht hier.«

»Das letzte Mal warst du noch der Boss und nicht der Garderobenboy.« Er zog Silver in eine kurze Umarmung. »Personalmangel?«

»Dennis löst mich später ab.« Silver nahm seine Jacke entgegen und hing sie an einen der freien Haken. »Weshalb hast du dich so lange nicht blicken lassen?«

»Zu viel zu tun.« Er würde ihm nicht auf die großporige Nase binden, dass er auch jetzt im Job war.

»Na dann viel Spaß.« Silver kassierte den Eintritt und drückte ihm den Stempel auf die Innenseite des Handgelenkes.

Hinter dem Kälteschutzvorhang, der eher dem Lärmschutz galt, schlug ihm tanzbare, etwas düstere Elektropopmusik und eine schwere Mischung aus versagenden Deos entgegen. Dafür, dass der Laden erst halb voll war, war das beeindruckend.

Er musste nicht lange suchen. Sattler war auf der Tanzfläche.

Wow.

Patrick lehnte sich mit dem Rücken gegen den Tresen, um perfekte Sicht auf das Ziel zu haben. So unauffällig wie möglich zückte er sein Handy und machte ein Foto. Nicht optimal, aber mit der Nikon hätte er hier schlecht rumlaufen können.

Weder als er sich ein Wasser bestellte noch als er es bekam und erst recht nicht, als er es bezahlte, trennte sich sein Blick länger als eine Sekunde von Sattler.

Dieser gottverdammte Hüftschwung. Zum Verrücktwerden. Wie konnte der Mann derselbe sein, der tagsüber ein langweiliges Akademikerdasein führte? Er hatte es komplett hinter sich gelassen. Die Schwermut war aus seinem Blick verschwunden, dafür lauerte ein Hunger in ihm, den Patrick in den Augen von Menschen gesehen hatte, die absolut nicht in Sattlers soziales Umfeld passten.

Aber hierher.

Das also war Sattlers Geheimnis.

Was seine Frau dazu sagen würde, wenn sie erfuhr, dass sich ihr Mann während ihrer Geschäftsreise in einem Schwulenclub die Seele aus dem Leib tanzte?

Die Arme lässig erhoben, die Hüften kreisten verboten heiß und lockend.

Patrick nippte an seinem Mineralwasser. Obwohl das Glas trotz der Hitze im Raum noch beschlagen war und die Eiswürfel darin klirrten, kühlte es ihn kein bisschen.

Etwas an der Ausstrahlung des Mannes traf ihn an einem empfindlichen Punkt. Zum einen war da die erotische Aura. Niemand konnte sie ihm absprechen. Sie drang Sattler aus jeder Pore, aber auf eine unerwartete Weise. Er wirkte nicht wie jemand, der auf einen Fick aus war. Trotz des provokanten Tanzstiles. Wäre er scharf auf eine schnelle Nummer, hätte er wahrscheinlich den Ehering ausgezogen und den blassen Streifen auf dem Finger mit einem breiteren Ring überdeckt.

Auch der Rest passte nicht ins Bild.

Sattler suchte keinerlei Blick- oder Körperkontakt. Statt in die Mitte vorzustoßen, war er am äußersten Rand geblieben. Die Musik war das Einzige, auf das er sich zu konzentrieren schien. Er gab sich ihr hin, drehte sich wild um die eigene Achse, wenn es der Rhythmus forderte, fing sich im ruhiger werdenden Part und tauchte erneut in seine Welt aus Bewegung und Klang. Als wäre er allein. Als würde ihn niemand stören, ihn niemand beobachten und als wollte er nichts anderes als genau das tun: tanzen.

Sattler steckte tief im Flow.

Patrick lächelte. Es gab wenig, was auf diese konzentrierte, unaufgeregte und dennoch elektrisierende Weise berauschender war.

Seltsam, er hatte sich eben erst an die Fersen dieses Mannes gehängt und spürte bereits einen Draht zu ihm. Normalerweise brauchte er länger, um sich in die Zielperson einzufühlen.

In seiner Hosentasche vibrierte es.

Eine Nachricht von Ferris.

Sein Bruder wusste, dass er im Job war. Wenn er sich trotzdem meldete, war es wichtig.

Ein spontaner Sturz in eine Acht? Schlimmer konnte es nicht sein. Auf neun war keine Kommunikation möglich. Egal auf welche Weise. Und eine Zehn …

Zehnen waren verboten.

Mit einem flauen Gefühl im Magen rief er sie auf.

Tyler hat sich mit einem von Smartboy-Jos Gorillas geprügelt und die Hälfte seiner Nase steht jetzt zur Seite ab.

Patrick fiel ein Stein vom Herzen. Gedanklich hatte er den Auftrag bereits abgebrochen und sich ins Auto geschwungen.

Rory meint, er bekommt das ohne Arzt hin, aber Tyler droht mit Schlägen, wenn wir dich nicht vorher fragen.

Es wäre zu schön gewesen, wenn sich seine Brüder auch nur einen Tag aus Ärger rausgehalten hätten.

Rory soll die Nase nicht anrühren!, tippe er zurück. Ab ins Krankenhaus mit Tyler. Sollte morgen die Polizei vor der Türe stehen, seid ihr alle drei fällig und eine gebrochene Nase ist ein Dreck gegen das, was ich euch überbraten werde!

Aus Reflex fasste sich Patrick an die eigene Nase. Damals hatte er in einem Anfall blinden Vertrauens Rory rangelassen und das Ergebnis trug er seitdem mit sich herum. Jeder außerhalb der Familie hielt es für die Folge eines Boxkampfes, was es letztendlich auch gewesen war. Allerdings mit Tyler und nicht zu Wettkampfzwecken.

Ich bin im Dienst, schickte er sicherheitshalber hinterher. Wenn keiner von euch im Sterben liegt, lasst mich verflucht noch mal in Ruhe!

Verdammt! Die drei waren eine Plage!

Und hütet euch, im Sterben zu liegen!

Ein unguter Stich fuhr ihm durchs Herz. Auch wenn er seine Brüder täglich übers Knie legen wollte und genau das früher oft hatte tun müssen, sollte einem von ihnen etwas geschehen …

Gott hatte was übrig für verlorene Schafe. Besonders für die schwarzen. Granny hatte nicht umsonst Tag und Nacht für ihre missratenen Enkel gebetet. Bei ihm hatte es funktioniert, doch seine Brüder waren Spätzünder. Sie würden noch begreifen, dass ein Leben abseits krimineller Machenschaften nicht nur möglich, sondern auch erstrebenswert war.

Hoffentlich.

Patrick steckte das Handy wieder ein.

Sattler kannte solche Sorgen wahrscheinlich nicht. Jüngere Brüder zerbrachen sich nicht den Kopf, sie sorgten für Kopfzerbrechen. Andererseits mussten die selbstzerstörerischen Tendenzen ja von irgendwoher stammen. Was ein früher Verlust der Eltern anrichtete, war Patrick mehr als bewusst. Er sah es täglich an Ferris. Allerdings spielte bei ihm nicht das Was, sondern das Wie die entscheidende Rolle.

Welche Steine schleppte Sattler in seiner Seele?

Im Moment beschwerten sie ihn nicht. Er tanzte alles um sich her locker an die Wand. Die paar Schweißtropfen, die ihm dabei übers Gesicht rannen, standen ihm verdammt gut.

Selbstzerstörerische Tendenzen.

Fielen nächtliche Tanzorgien darunter oder kam noch etwas anderes ins Spiel? Soho war ein guter Ort für eine Menge Möglichkeiten, seinem Leben mehr abzuverlangen, als es freiwillig hergab. Sattler wirkte nicht umsonst feierdünn.

Was für ein Drahtseilakt, diese beiden Existenzen unter einen Hut zu bringen. Allein das musste anstrengend sein.

Ein Twink schmuste sich an Patrick heran. Auf den ersten Blick im Alter seiner Orgelpfeifenbrüder, also zwischen siebzehn und einundzwanzig. Noch ehe der Junge den Mund aufmachen konnte, scheuchte er ihn mit einem entschiedenen Kopfschütteln davon.

Der Kleine zog mit einem Flunsch ab.

Patrick war zum Arbeiten hier. Nicht um sich zu vergnügen, und selbst wenn, würde er sich keinen in dieser Altersklasse greifen. Alles unter fünfundzwanzig wollte er erziehen, und zwar auf die altmodische Tour, und die hatte nichts mit Sex zu tun. Bei dem Thema hatten ihn seine Brüder konditioniert. Manchmal fühlte er sich mit seinen achtundzwanzig Jahren uralt.

Ein Mann wie Sattler hingegen …

Patrick wischte den Gedanken beiseite.

Sattler war aus seinem Tanzmodus noch nicht rausgefallen. Er verfügte über eine gute Kondition und einen bewundernswerten Rhythmus. Ein verträumtes Lächeln ließ sein Gesicht jünger und ihn losgelöst von allem Irdischen wirken. Als hätte er etwas genommen. Vielleicht genügte ihm das Tanzen auch, um auf diese sanfte Weise abzuheben.

Verlockend.

Stopp. Der Mann war sein Ziel.

Patrick trank einen großen Schluck Wasser. Er sollte sich besser einen Kaffee bestellen. Wahrscheinlich wurde es eine lange Nacht. So wie Sattler drauf war, hielt er noch eine Weile durch und danach war ihm sicherlich nach einem Drink.

Der verrückte Gedanke, ihn in ein unverbindliches Gespräch zu verwickeln, sprang ihn an.

Absolute Unauffälligkeit. Die eiserne Regel seines Berufes. Ein Gespräch würde Sattlers Fokus auf ihn richten und ihn damit unsichtbar markieren. Sobald er erneut in Sattlers Umfeld auftauchte, würde der ihn bemerken und erkennen. Solange er jedoch nur ein Gesicht in der Masse war, nahm ihn die Zielperson nicht wahr.

Er wäre gern von Sattler wahrgenommen worden. Allerdings auf privater Ebene.

Auf sehr privater.

Ein Kerl schlich sich an Sattler heran. Ein Beatle-Verschnitt, nur in unreif.

Sattler hatte die Lider gesenkt und ignorierte ihn, was den Jungen nicht davon abbrachte, es weiter zu versuchen. Zu ihm gesellte sich ein zweiter und deutlich älterer Anwärter. Breit wie Onkel Larry zu seinen besten Wettkampfzeiten. Als hätte er den Twink weggeschnippt, huschte der in die Mitte der Tanzfläche zurück.

Kein Wunder, dass Sattler Begehrlichkeiten weckte. Die einen wollten ihn oben, die anderen unten. Interessante Frage, was er selbst bevorzuge.

Der Mann war seine Zielperson. Seine sexuellen Vorlieben hatten ihm egal zu sein.

Eventuell ein bisschen devot. Auf jeden Fall hatte er etwas Sanftes, Anschmiegsames an sich. Andererseits gäbe er in ein paar Jahren einen fantastischen Silverdaddy ab. Gentlemanlike. Freundlich, zuvorkommend, rücksichtsvoll, ab und zu eine Rose auf dem Kopfkissen und ein Abend im Theater. Zwischendurch auch mal eine konkrete Ansage, um zu klären, wer der Boss war.

Patrick war nach Schnurren.

Im Prinzip bedeutete ihm die hohe Kultur nichts, aber für Sattler würde er sich auch in einen geliehenen Smoking werfen, um dicken Frauen beim Singen zuzusehen.

Und zum brüllenden Gespött seiner Brüder werden.

Patrick strich die letzten Gedanken.

Der massige Kerl rückte Sattler nach wie vor auf die Pelle. Mittlerweile mit einer Penetranz, die an Aggression grenzte.

Sattler öffnete die Augen, sah den Mann zuerst erstaunt, dann erschrocken an. Er versuchte auszuweichen, was im Gedränge nicht funktionierte. Schließlich hob er abwehrend die Hände, sagte etwas und schüttelte dabei den Kopf.

Dem anderen schien das gleichgültig zu sein. Er hob die Arme über die Tanzenden, streckte sie aus und ließ sie wie zwei Bahnschranken langsam um Sattler hinabsinken.

Der wurde blass, versuchte sich unter der Bedrohung wegzuducken. Keine Chance. Der Mann packte ihn und zog ihn in eine enge Umarmung.

Sattlers Gegenwehr erschlaffte. Die Panik spiegelte sich allein in seinem Blick. Für ein bis zwei Sekunden, dann erlosch sie und hinterließ …

Nichts. Keine Emotion. Rein gar nichts.

Der Kerl drängte ihn von der Tanzfläche, hielt ihn eng umschlungen, während er mit ihm Richtung Toiletten verschwand.

Verflucht. Manche begriffen es einfach nicht.

Patrick stellte das Glas beiseite und folgte den beiden Männern.

Und wenn es zehnmal unprofessionell war, sich der Zielperson zu zeigen. Er würde nicht zulassen, dass Sattler etwas geschah, was der nicht wollte. Im Notfall musste Susan den Job an Ruby weiterleiten und Patrick würde sich als zufälliger Retter ausgeben.

Statt zu den Toilettenkabinen abzubiegen, nahm der Kerl Kurs auf die Hintertür. Der Hof zwischen dem ehemaligen Fabrikgebäude und dem leer stehenden Bürokomplex aus den sechziger Jahren war definitiv ein geeigneter Ort, um jemandem seinen Willen aufzuzwingen. Auch für freiwillige Nebenbei-Ficks. Meist waren die Zigarettenpausen dort recht interessant.

Die Tür fiel hinter den Männern zu, ohne dass Sattler auch nur einen Pieps von sich gegeben hätte.

Patrick zog die Zigarettenschachtel hervor, fischte nach den Streichhölzern und setzte eine gleichgültige Miene auf. Wenn er die beiden bei was auch immer störte, musste es rein zufällig aussehen.

Bevor er ebenfalls ins Freie trat, lauschte er nach draußen.

Umsonst. Die Feuertür war zu dick.

Er drückte sie auf, lehnte sich nur einen Schritt weit daneben an die Wand. Während er die Flamme an die Zigarette hielt, checkte er die Lage.

Im Schatten hinter dem Müllcontainer bewegte sich etwas. Eine raue Stimme drang zu ihm. Patrick schlenderte in die Richtung, ohne dass sie verstummte.

Der Kerl hielt Sattler an die Mauer des Nachbargebäudes gepresst und überschüttete ihn mit gerauntem Dirty Talk. Nebenbei rieb er sich an ihm und versuchte mit der freien Hand Sattlers Hemd aus der Hose zu zerren.

Sattler reagierte nicht. Den Kopf so weit es seine Lage zuließ, abgewandt, der Blick leer und die Mimik völlig eingefroren.

So sah niemand aus, der das Geschehen genoss. Sattler hatte abgeschaltet wie eine Maus im Maul der Katze. Er würde alles über sich ergehen lassen und der Kerl hoffte darauf, denn er agierte immer brutaler und das mit dem Hemd hatte er ebenfalls hinbekommen.

Ein schauderhafter Anblick, wie sich die Pranke samt Saum über die sichtbaren Rippenbögen nach oben walzte.

Patrick verabschiedete sich von dem Job. Er würde bei diesem Spiel nicht länger den unbeteiligten Beobachter mimen.

Er lehnte sich neben Sattler an die Wand, wartete, bis der Bulldozer ihn fassungslos anstierte.

»Verschwinde!«, zischte der. »Sofort!«

»Nach dir.« Es machte Spaß, ihn anzugrinsen. »Nimm deine Hände von dem Mann. Er scheint nicht sonderlich amüsiert über dein Verhalten zu sein.« Tatsächlich reagierte Sattler nicht.

Stand er unter Schock?

»Einen Dreck werde ich!«