Rattenfänger - S. B. Sasori - E-Book

Rattenfänger E-Book

S.B. Sasori

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Beschreibung

Hongkong 2037
Nach einer Pandemie liegt die Weltwirtschaft am Boden. Wer es sich leisten kann, flüchtet in die chinesische Metropole in der Hoffnung auf ein Leben in Überfluss und Reichtum.
Doch die Stadt birgt ihre Schattenseite – Kowloon.
Menschenhandel, Prostitution und Drogen bestimmen das Dasein der Gesichtslosen.
Im Begging Monk, einem Klub in dem verkommenen Bezirk, bieten Shivas das an, was sie besitzen – sich selbst. 
Joseph Wakane dirigiert das Geschehen im Grenzbereich von Menschlichkeit und Moral. Er kennt die Währung, mit der Träume erkauft und Existenzen zerstört werden.
 
Liam O’Farrell war ein erfolgreicher Arzt, aber die Eintönigkeit seines Alltags erstickte ihn.
Er kehrte der geordneten Sicherheit Hongkong Islands den Rücken und floh in das vor Dreck und Chaos überquellende Kowloon. Nun flickt er zusammen, was die Nächte im Monk von den Shivas übrig lassen. Als er Joseph zu einer Auktion im Hafen begleitet, erfährt er zum ersten Mal hautnah, wie aus Menschen Ware wird.
Er ist entsetzt.
Bis ihn ein junger Mann anfleht, ihn zu kaufen.

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Rattenfänger
Prolog
The Begging Monk
Ein überraschender Morgen
Nur ein Bad
Zwischen Blechwänden
Wasser auf fremde Mühlen
Zimmer drei
Leere im Chaos
Epilog
Weitere Romane von S.B. Sasori

Rattenfänger

HONGKONG STORYS

BAND 1

S.B. SASORI

Copyright © 2022 S.B. SASORI

Erstveröffentlichung 2015

Alle Rechte vorbehalten

Impressum:

www.sbnachtgeschichten.wordpress.com

Bildmaterial: depositphotos.com; imagerymajestic

Lektorat und Korrektorat: Alexandra Balzer

Covergestaltung: S.B. Sasori

Ich will das Leben, sagte der smarte Ire und überwies unaufgefordert zehntausend New-Hongkongdollar auf mein Geschäftskonto. Zeig es mir.

Es ist in jeder Ecke Kowloons zu finden.

Das Leben liebt Verkommenheit.

(Joseph Wakane, Inhaber des Begging Monk, Kowloon 2037, Hongkong)

Prolog

 – Dean –

»Puste die Kerzen aus, Junge!«

Es sind echte. Aus Stearin. Mein Vater ist stolz darauf, es mir erklären zu können. Er hält nichts von Leuchtsticks, obwohl deren Licht auch bei jedem Hauch flackert.

Wenn er von Glühlampen und Toastern erzählt, leuchten seine Augen ausnahmsweise Mal nicht vor Alkohol. Er kennt noch Telefonzellen. Aus seiner Kindheit. Man musste Münzen einwerfen, einen schweren Hörer abnehmen und die Stimme kroch durch Kabel.

Als ich klein war, dachte ich, er verarscht mich. Immerhin nutzte ich einen Hochfrequenz-LED-Modulator, um mir Spiele aus dem Netz zu laden. Allerdings sind diese Zeiten ebenfalls vorbei. Das Ding hat irgendwann den Geist aufgegeben und wir konnten uns kein neues leisten.

Unterm Dach gibt es einen Raum, in dem ich einen anständigen Internetempfang habe. Die Funklöcher über den Staaten sind riesig. Ständig fallen Satelliten aus und niemand bringt die nötige Kohle auf, sie zu ersetzen oder zu reparieren.

Die Internetzugangszeiten werden nach dem Anfangsbuchstaben des Nachnamens zugeteilt, um eine Überlastung zu vermeiden. Ich heiße Fitzgerald, also können Dad und ich von sieben bis halb neun morgens und nachts von zwölf bis zwei im Netz surfen, unsere Mails checken oder telefonieren. Ausnahmen sind Notrufe und sonstige dringende Nachrichten. Die gehen immer. Aber wehe, man meldet ein Klasse-A-Gespräch an und plaudert dann entspannt übers Wetter oder verabredet sich mit Freunden am Strand. Keine Minute später erreicht einen die erste Verwarnung. Bei drei Stück ist die Lizenz für ein Jahr gesperrt.

Die scannen den Inhalt nach Stichworten und Klangfarbe der Stimmen.

Ich benutze mit meinen Freunden Code-Sätze, die wir mit gehetztem bis panischem Unterton flüstern bis brüllen.

Einmal haben wir es übertrieben und die Polizei stand vor der Tür.

Vier Monate Stubenarrest, Multi-Kom-Verbot und die Teilnahme an einem Fernkurs zum Thema Die Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft hat mir der Richter aufgebrummt. Bisher meine einzige Jugendstraftat.

»Dean?« Mein Vater boxt mich an die Schulter. »Pusten!«

Richtig. Die Kerzen. Es sind achtzehn. Was nichts zu bedeuten hat. Laut Gesetz bin ich bis zu meinem einundzwanzigsten Lebensjahr ein Kind. Nirgends auf der Welt ist das so. Außer bei uns in den Südstaaten und das auch erst, seit Gouverneur Clark 2029 im Senat einen Sondererlass zum Schutz der Jugend vor unmoralischer Beeinflussung seitens des World Wide Web durchgesetzt hat.

Zwei Drittel der Seiten im Netz sind gesperrt und nur mit dem Referenzcode der ID-Card aufzurufen – wenn man volljährig ist.

Dafür möchte ich Clark verprügeln.

In Europa ist man mit achtzehn erwachsen, darf Alkohol trinken, Spielschulden machen, Sex haben. In Asien gilt dasselbe bereits mit sechzehn, und zwar pünktlich seit Ausbruch der Shanghai-Grippe.

Da wurde ich geboren. Inmitten des großen Sterbens.

Alle sagen, die Grippe hätte zur Weltwirtschaftskrise geführt. Kann sein. Mich hat’s als Kind nie gestört. Uns ging es bestens. Das hat sich erst vor fünf Jahren geändert.

Vielleicht hat Gouverneur Clark die falsche Entscheidung getroffen. Ist doch schlau, jemandem mit sechzehn schon zu erlauben, Geld zu verdienen und es möglichst großzügig wieder auszugeben. Das kurbelt die Wirtschaft an. Deshalb funktioniert das Leben in den meisten asiatischen Ländern. Trotz moralgefährdendem Internet.

Bei uns funktioniert nichts und unsere Moral ist auch mit dem bekackten Internetverbot im Arsch. Jeder denkt nur an sich und versucht das, was noch da ist, an sich zu raffen. Wer einen Job hat, verteidigt ihn bis aufs Messer, wer keinen mehr hat, probiert einen anderen mit allen Mitteln aus seinem raus zu drängen.

Die Kriminalitätsrate steigt immer stärker an und niemand unternimmt etwas dagegen. Dad sagt, die Polizei wäre mittlerweile bestechlicher als die Verbrecher.

Und Typen wie Clark sehen zu und machen sich Gedanken um pornografische YouTube-Videos.

Dad schiebt mir die Torte hin. Er hat sie selbst gebacken und das sieht man ihr an. Ich freue mich trotzdem. Ist nicht allzu lange her, da waren meine Geburtstagstorten dreistöckig und stammten vom Konditor. Mutter bestand darauf. Später hat sie keinerlei Geldverschwendung mehr zugelassen.

Sie weinte tagelang, als seine Firma Konkurs anmelden musste.

Geschieht häufig in den Staaten. Vor allem im Süden.

Die Armut schleicht sich wie ein Dieb in dein Leben und nimmt dir alles, was du liebst. Das hat Dad an dem Abend in sein Bourbonglas gelallt, als uns Mum verließ.

Sie war es gewohnt, reich zu sein. Auch dann noch, als der Rest des Viertels immer ärmer wurde. Als mein Vater die Teppiche und Gemälde verkaufte, erlitt sie einen Nervenzusammenbruch. Doch ihre Koffer hat sie erst gepackt, als ihr geliebter Flügel aus der Villa getragen wurde.

Manchmal telefonieren wir. Sie wohnt wieder in New Orleans bei meinen Großeltern. Die haben zumindest ein Klavier.

Ich hole Luft bis zum Anschlag.

»Wenn du es schaffst, darfst du dir was wünschen.« Dads Augen glänzen. Vor Alkohol. Er trinkt ständig. Dafür rasiert er sich selten.

Die Flammen erlöschen.

»Perfekt!« Er schlägt mir auf die Schulter. »Hast du dir etwas Schönes gewünscht?«

»Dass ich hierbleiben kann, Sir.« Ich will nicht nach China und mir ist egal, dass nur noch da in großem Stil Geld verdient wird. Vor allem in den Pharmakonzernen.

Was soll ich dort? Schon in der Schulzeit konnte ich kein Reagenzglas gerade halten.

»Das Thema ist geklärt.« Er zieht mich in seinen Arm. Der Geruch nach Schweiß und billigem Whiskey verschlägt mir den Atem.

Es stört mich nicht.

Früher hat er so etwas nie getan. Er war immer in seiner Firma, und wenn er heimkam, schlief ich längst.

»Peter Lemarque ist ein guter Freund. Wir studierten zusammen in Tulane.«

Wirtschaftswissenschaften. Dasselbe hätte mir auch geblüht, aber jetzt können wir uns die Studiengebühren nicht mehr leisten und die meisten Universitäten sind ohnehin pleite.

»Es ist ein Glücksfall, dass er dich bei Zendo Pharm unterbringt. Du wirst in seiner Abteilung arbeiten und eines Tages selbst Chef von vielen Mitarbeitern sein.«

»Ich bin dort Praktikant.« Bis zum Chef scheint mir der Weg zu weit, um darüber zu spekulieren.

»Vom Praktikant zum Millionär.« Er lacht mit traurigen Augen. Das macht er oft. Mir tut es jedes Mal weh, ihm dabei zuzusehen. »Du brauchst eine Herausforderung, sonst wirst du nie ein Mann.«

Ich hasse dieses Thema. Stark sein. Ein Mann sein. Verantwortung tragen. So tun, als wäre alles in Ordnung, obwohl es einen zerreißt. Was hat es meinem Vater gebracht? Einen Dauerrausch, eine Frau, die auf und davon ist, und eine großporige Nase.

Ein Stück Torte landet auf meinem Teller, dann legt er den Kuchenheber zur Seite.

»Und du?«

Dad zuckt die Schultern. »Ich habe keinen Hunger auf das süße Zeug.« Stattdessen gießt er sich einen weiteren Bourbon ein und stürzt ihn in einem Zug hinunter.

Irgendwas stimmt nicht mit der Torte. Sie bleibt mir im Hals stecken. Vielleicht liegt es auch an mir. Meine Kehle fühlt sich den ganzen Tag schon eng an.

Wenn ich zu dem Koffer sehe, der gepackt neben der Tür steht, wird es schlimmer.

»Ich komme bald nach.« Er wischt sich übers Gesicht. »Allerdings wird es dauern, bis ich das Geld fürs Ticket beisammenhabe.«

Das wird er niemals. Peter Lemarque hat es übernommen, meinen Flug zu bezahlen. Er muss wirklich ein sehr guter Freund sein. Die Preise sind astronomisch, weil Kerosin knapp ist und keine Sau mehr nach Alternativen forscht. Weshalb nur noch wenige Flugzeuge von Charleston aus starten. So circa alle drei Monate. Die ankommenden Maschinen sind wegen der unterbesetzten Lotsen ebenso rar.

Ich bekomme Heimweh bei dem Gedanken.

Ich werde mein Gehalt sparen. Stelle ich mich ausnahmsweise einmal schlau an, geben sie mir eventuell einen richtigen Job. Dann hole ich Dad zu mir.

Er schaut auf den Zimmermonitor, zieht die Nase hoch. »Es wird Zeit. Valentin kommt jede Minute.«

»Ich hätte den Bus nehmen können.« Mir ist es peinlich, dass er den Nachbarn gebeten hat, mich zu fahren. Ich vermisse unser E-Mobil. Dad hat es ein paar Wochen nach dem Flügel verkauft.

»Mein Sohn fährt nicht mit dem Bus in eine großartige Zukunft.« Er angelt ein Päckchen aus der Jackentasche. Das Seidenpapier ist zerknittert.

Ich reiße es ab.

Ein Multi-Kom. Zwar ein einfaches Model ohne Holo-Funktionen, aber es wird dennoch eine Menge gekostet haben.

Dad passt das Armband auf meine Größe an und streift es mir ums Handgelenk. »Peters und meine Nummer sind gespeichert. Ebenso wie deine Kontoverbindung, deine Sozialversicherungsnummer und deine Biodaten.«

»Ich besitze kein Konto.«

»Jetzt schon. Gefüllt mit fünfhundert New-Hongkongdollar.«

Mein Mund klappt auf. Woher hat mein Vater so viel Geld?

»Der Schlitzaugendollar ist siebenmal mehr wert als unserer«, sagt er mit einem zerknirschten Lächeln. »War früher mal andersherum.«

»Danke, Sir.« Würde gern etwas bedeutenderes sagen, doch meine Stimme klingt zittrig, also lasse ich es.

Draußen hupt es. Valentin.

»Ich winke vom Fenster aus.« Er schwankt, als er zur Tür geht und mir den Koffer in die Hand drückt. »Die besten Abschiede sind kurz und knackig, ohne viel Brimborium.«

Die besten Abschiede finden nicht statt.

Mein Herz wiegt Tonnen.

Warum muss dieses Scheißflugzeug ausgerechnet an meinem Geburtstag fliegen?

Dad meint, es sei Schicksal.

Ich will nicht weg.

»Es ist ein Segen, dass dich Peter in einem der größten Konzerne der Welt untergebracht hat.« Er nimmt mich an den Schultern, küsst mir auf die Stirn. »Mach mich stolz, Junge.«

Das schließt heulen aus. Schade, mir ist gerade danach.

Bevor ich den Kloß aus dem Hals wegräuspern kann, schiebt er mich auf die Veranda. »Und nun gute Fahrt.« Er strubbelt durch meine Haare, ohne mir dabei in die Augen zu sehen. »Egal was geschieht«, sagt er leise. »Ich habe dich lieb, okay?«

»Klar«, quetsche durch meine enge Kehle. Das ich dich auch bekomme ich nicht mehr raus. Traue mich nicht, ihn zu umarmen. Löse damit garantiert einen Wasserfall aus.

Dad dreht sich um, klappt die Tür vor meiner Nase zu.

Einfach so.

Ich starre auf das hellgrün gestrichene Holz und will nichts sehnlicher, als den Knauf drehen.

Valentin hupt erneut.

Stolpere die Stufen hinunter. Der Kies knirscht unter meinen Sohlen. Das Geräusch kriecht mir in den Nacken und stellt die Härchen auf.

Am Fenster seines Arbeitszimmers steht mein Vater. Er hebt die Hand.

Ich kann sein Gesicht nicht erkennen. Das Glas spiegelt.

Ich habe Charleston nie verlassen. Kaum eine Nacht woanders geschlafen als in der weißen Villa mit den Samtvorhängen und den knarrenden Treppenstufen. Auch wenn sie mittlerweile fast leer geräumt ist, ich werde sie furchtbar vermissen.

So wie Dad.

Er ist verschwunden.

Kurz und knackig.

Valentin nimmt mir den Koffer ab und verstaut ihn auf dem Rücksitz. »Wo geht’s hin?«, fragt er und hält mir die Beifahrertür auf.

»Nach Hongkong.«

The Begging Monk

 

 – Liam –

 

Ein Chinese mit Handkarren drängt sich an mir vorbei. Das klapperige Gefährt ist bis obenhin mit Kohl gefüllt. Die Hälfte der Köpfe sind welk, aber das stört seine Kunden nicht. Zerknitterte New-Hongkondollar wechseln im Sekundentakt ihre Besitzer. Der Händler fragt mich mit einer knappen Geste, ob ich mit ihm ins Geschäft komme.

Ich winke ab. Kochen gehört nicht zu meinen Hobbys. Magenschmerzen ebenfalls nicht.

Eine Frau mit Tuch um den Kopf ruft vom Straßenrand den Vorbeigehenden ihr Schicksal für die nächsten vierundzwanzig Stunden zu. Unterhalb ihres Knies sitzt eine Kunststoffprothese. In den Rissen wächst Schimmel. Die Firma, die diesen Mist auf den Markt wirft, würde ich gerne verklagen. Jeder, der Ahnung hat, weiß, dass billiges Recyclingmaterial weder für Prothesen noch Implantate taugt.

Dummerweise sind die Zeiten vorbei, in denen ich jemanden verklagen konnte. Als approbationsloser Arzt in Kowloon nimmt mich kein Anwalt der Welt ernst. Spätestens seit meiner Scheidung ist mir das klar.

Das Desaster meiner Ehe liegt zwei Jahren hinter mir. Ich hätte mir nie einreden dürfen, eine Frau glücklich machen zu können. Schon gar nicht in Hongkong, wo an jeder Ecke bildhübsche Asiaten ihren Charme versprühen.

Mandelaugen gepaart mit dieser speziellen Feingliedrigkeit lassen mich schwach werden. So gesehen lebe ich im Paradies, obwohl es viele als Hölle bezeichnen würden.

Als die Weltwirtschaftskrise ihren höchsten Punkt erreichte, flohen halb verhungerte Festlandchinesen und mittellose Europäer wie ich in diese Stadt, in der sich das Geld angeblich von selbst verdient. Durch die massive Zuwanderung schleppten wir nicht nur unsere Armut nach Hongkong, sondern auch unsere Hoffnungen und unsere Gier.

Die Stadtverwaltung wurde dem Strom der Menschen und der zunehmenden Kriminalität nicht Herr. Illegale Siedlungen sprossen über Nacht aus jeder freien Fläche Kowloons. Doch die Halbinsel war für mich nur ein Zwischenstopp. Ich wollte einmal in meinem Leben in Dollars baden dürfen, also zog es mich in die mit Ladengalerien und Büros gespickten Hochhausschluchten Hongkong Islands.

Bevor die Behörden es schafften, die reichste Insel Asiens von der Menschenschwemme abzuriegeln, gelang mir die Überfahrt auf einer der letzten unkontrollierten Fähren.

Ein junger Mediziner mit passablem Aussehen, einem aufgeblähten Ego und genügend Charme, um seinen Mangel an Erfahrung zu vertuschen, hatte es damals leicht, dort Fuß zu fassen. Die Angst vor einer Pandemie steckte den Leuten noch tief in den Knochen. Kein Wunder, der Ausbruch der Shanghai-Grippe lag bloß acht Jahre zurück und hatte neben meinen Schwestern auch meine Mutter ins Grab gelegt.

Als ob ich Grünschnabel etwas gegen solch ein Monstrum hätte unternehmen können. Selbst jetzt wäre mir das nicht möglich.

Niemandem.

Bei jeder Grippewelle fällt mir ein, dass Beten eine gute Sache ist. Wenigstens für die eigenen Nerven. Gott sei Dank hat sich der Albtraum von 2019 bisher nicht wiederholt. Weltweit drei Milliarden Erdenbürger weniger. Die Städte versanken in Rauchwolken, weil die Krematorien der Masse an Leichen nicht Herr wurden. Aus Angst vor Ansteckung verbrannten die Menschen ihre Angehörigen einfach vor der Haustür.

Bis es kein Benzin mehr gab.

Danach ging alles in die Knie. Die Welt, die Wirtschaft, wir.

China erholte sich am schnellsten von der Katastrophe. Dabei hatte sie dort begonnen. Aber wo sich die größten Konzerne der Lebensmittel- und Pharmaindustrie tummeln, wird auch in Ausnahmezuständen noch ein Vermögen verdient.

Es hat Metropolen wie Hongkong, Shanghai und Peking wieder auf die Beine geholfen. Weshalb sie nun aus sämtlichen Nähten platzen.

Mir war das recht, als ich ankam. Je größer die Bevölkerung, desto üppiger mein Patientenstamm. Vor allem die zugewanderten Europäer gehörten dazu.

Wie Charlotte. Meine Frau.

Ex-Frau.

Seltsamerweise stellte sich für mich heraus, dass eine gesicherte Existenz inklusive eines reichlich bestückten Bankkontos zwar die Nerven bis zum Absterben beruhigt, jedoch keinesfalls glücklich macht.

Ich kehrte vor einem Jahr Hongkong Island den Rücken und ließ damit meine Hightech-Praxis in Wan Chai hinter mir.

Inmitten des Chaos von Kowloon fühle ich endlich wieder meinen Puls.

Vielleicht bin ich verrückt, aber ich brauche die Herausforderung.

Eine Menschentraube bildet sich vor der Wahrsagerin. Einzelne bezahlen ein paar Münzen, um den Rest ihrer Zukunft zu erfahren. Angst erzeugt Neugierde auf ein hoffentlich besseres Morgen.

Jede Wette, dass es keiner hier erleben wird.

Die Regierung hat ihr Interesse am Schandfleck Hongkongs längst verloren. Niemand von Hongkong Island, Lantau oder einer der restlichen 261 Inseln schert sich einen Dreck um die Gesichtslosen in Kowloon. Es sei denn, er hat Geschmack an den zahlreichen Bordellen gefunden.

Die Shivas – die Glückverheißenden – erfüllen Wünsche, die überall außerhalb dieses Bezirks als schändlich und verachtenswert gelten. Der Zulauf ihrer Kundschaft verstopft an den Wochenenden die ohnehin schon überfüllten Straßen.

In Kowloon wird alles zu Ware. Insbesondere Menschen. Das ist das Einzige, an dem kein Mangel herrscht.

Die Frau mit der Prothese winkt mir zu. »Hey Langnase! Ich weiß, was dich …«

Ich lege den Finger auf meine Lippen. Mein Schicksal interessiert mich nicht. Es begann vor achtunddreißig Jahren in Tullamore, scheuchte mich nach Hongkong, verheiratete mich, erstickte mich in einem eintönigen Leben und stieß mich eines Tages ins Begging Monk. Das erste Bordell am Platz. Soll es dort enden. Es ist mir gleich.

Die Ausdünstungen zu vieler Menschen mischen sich mit dem Geruch scharf angebratenen Gemüses und einem Hauch Opium, den ich mir auch einbilden kann. Aber er passt zu dieser Gegend. Ebenso wie die grell geschminkten Mädchen mit den durchsichtigen Plastiktops und den Jungen mit den knallengen, abgeschnittenen Neonjeans.

Ein Freund hat mir gesagt, ich soll nur die vögeln, die mit freiem Oberkörper herumlaufen.

Ein guter Rat.

Die Kids mit den Shirts, vor allem, wenn sie trotz Hitze langärmelig sind, verbergen etwas. Einstichstellen, Ekzeme oder angefaulte Unterarme. Manchmal genügt ein schlichter Blick ins Gesicht. Fehlen die Lippen oder der Kieferknochen schimmert aus dem Fleisch, lässt man besser die Hände davon.

Opium ist teuer. Citric Smash nicht. Die Droge existiert seit Jahrzehnten mit dezenten Abwandlungen in Rezeptur und Bezeichnung. Um sie herzustellen, braucht man lediglich einen Gaskocher und eine Handvoll billiger Hustentabletten. Eventuell ist eine Plastikflasche sinnvoll.

Früher habe ich die Pillen meinen Patienten verordnet. Der Smog reizt die Atemwege und ich hielt das Mittel für verhältnismäßig harmlos.

Meine Meinung hat sich geändert.

Zum Glück auch der Zustand der Luft. Zumindest auf Hongkong Island.

Seitdem dort sämtliche Verbrennungsmotoren verboten worden sind, ist es wieder möglich, die Häuser ohne Atemmaske zu verlassen – allerdings auf eigene Verantwortung. Steht der Wind ungünstig, wehen die Abgase Kowloons durch die sauberen Häuserschluchten der Hochglanz-Insel. Unzählige Mofas und Uralttransporter sorgen ebenso für Nachschub wie die Müllfeuer, die an jeder Ecke schwelen. Gerät eine Leiche in einen der Haufen, riecht man das garantiert bis Macao.

Ich habe Regenschauer zu schätzen gelernt. In den Stunden danach ist die Luft zwar feucht wie in einer Waschküche, dafür kratzt sie beim Einatmen nicht in der Lunge.

Bloß noch die Straße hinunter, dann bin ich da. Mein neues Zuhause.

Der Klub thront inmitten von Tattoo-Studios, Läden für Recycle-Elektronik und vor Werbeleuchten blinkender Bars. Ein mit wenigen Tuschestrichen gezeichneter Mönch ziert die Fassade neben dem Eingang. Sein Kopf ist gesenkt und er hält eine Bettelschale vor sich.

Es ist nicht lange her, da wollte ein betrunkener Gast einen Dollarschein in die Schale legen. Er fluchte, als das Geld ständig hinunterfiel.

Ich fühlte mich geschmeichelt. Immerhin stammt das Fresko von mir. Eine Art Willkommensgeschenk für den Inhaber des Begging Monk.

Joseph Wakane.

Ich liebe Schönheit.

»Dr. O’Farrell!« Rodja winkt mich an einer Gruppe von Gästen vorbei, die darauf warten, kontrolliert zu werden. »Wie war Ihr Tag?«

»Soll ich dir etwas von einem Magengeschwür und offenen Brüchen erzählen?« Plus Verbrennungen dritten Grades und der Geburt eines Mädchens, über das sich weder Mutter noch Vater gefreut haben. Mein Instinkt sagt mir, dass die Kleine spätestens in zwölf Jahren an die Rattenfänger verkauft wird oder freiwillig einen Job in den unzähligen Bordellen des Bezirks annimmt.

Für Geld gefickt zu werden ist besser als zu verhungern.

»Offene Brüche?« Der Türsteher verzieht das Gesicht. »Ehrlich gesagt würde ich davon lieber nichts hören. Ich wollte nur höflich sein.«

»Ist mir klar.« Im Vorbeigehen lege ich ihm die Hand auf die Schulter. Joseph hat seine Leute im Griff. Ich schätze das.

Ehe ich mich für ein paar Stunden auf dem Bett ausstrecke, brauche ich einen Kaffee. Nirgends schmeckt er so köstlich wie hier – nachdem ich dem Barkeeper erklärt habe, auf welchem Schwarzmarkt er die besten Bohnen bekommt und Joseph überredet habe, in einen anständigen Automaten zu investieren.

Das ständige Teegeschlürfe schlägt mir auf den Magen.

Kun steht hinter dem Tresen. Noch bevor ich auf meinem Stammplatz sitze, hat er bereits die Kaffeemaschine angeschmissen und mir den Tagesglückskeks zugeworfen. Ich beiße ihn auf und ziehe den Zettel heraus.

17. Juni 2037.

Erst am Abend entfaltet der Tag seine Fülle. Harre geduldig.

Es gibt dämlichere Sprüche.

»Alles klar?«, frage ich Kun und meine seinen schlecht heilenden Kreuzbandriss.

»Bestens«, antwortet er mir, was bedeutet, dass er ohne Schmerzmittel nicht laufen kann.

»Wann hast du Feierabend?«, erinnere ich ihn an meine Verordnung, das Bein zu schonen.

»Um fünf«, sagt er munter.

Morgens. Das sind noch neun Stunden. Wir wissen beide, dass sich sein Knie bis dahin wie ein roher Klumpen anfühlen wird.

Ich muss mit Joseph sprechen. Wenn sich seine Leute über meine Anweisungen hinwegsetzen, brauche ich sie auch nicht behandeln und er kann sich mein überzogenes Honorar sparen.

»Bitte sehr, Dr. Liam.« Mit strahlendem Lächeln stellt er mir einen Kaffee vor die Nase.

Seit dem ersten Tag verwechselt er meinen Vor- und Zunamen. Liam O’Farrell. So schwer ist das nicht.

Für ihn schon.

»Meiner Schwester geht’s gut, Doc Liam. Der Ausschlag ist weg. Vielen Dank.«

Fein. Das Läusemittel hat demnach gewirkt. »Bedanke dich bei Mr. Wakane. Er hat mich bezahlt.« Das Pulver hat mich nur drei Dollar gekostet. Auf der Rechnung stehen allerdings hundertfünfzig. Eingehende Beratung, symptombezogene Untersuchung, mein Überleben als Europäer im Slumviertel Tai Kok Tsui. Das muss Joseph was wert sein.

Kun bringt mir meinen Zeichenblock und die Kohlestifte, die er für mich unterm Tresen deponiert.

Eine Marotte. Nicht mehr. Sie hilft mir abzuschalten. Hin und wieder riskiere ich deswegen eine Schlägerei. Nämlich dann, wenn einer der Gäste fürchtet, ich könnte sein Konterfei dazu verwenden, ihn bei seiner Familie oder seinem Chef anzuschwärzen. Das Monk genießt in den Geschäfts- und Bankenvierteln Hongkong Islands einen ganz eigenen Ruf, mit dem die wenigsten Besucher in Verbindung gebracht werden wollen.

Mir egal. Ich begnüge mich ohnehin meist mit meinem Lieblingsmotiv: Joseph Wakane.

»Ist der Boss da?«, frage ich deshalb den Barkeeper. Mein Tag war lang und noch ist kein Ende in Sicht. Ich will etwas Schönes, um mich bei Laune zu halten.

»Kommt gleich.« Kun haucht in eines der Gläser, bevor er es poliert.

Ich hasse das und bin froh, dass er die Kaffeetassen damit verschont.

»Da!« Er nickt zum Eingang.

Oh ja, bitte.

Genau das, was ich jetzt brauche.

Joseph ist ein Phänomen. Seine Schritte strotzen vor Dynamik, sein Blick vor Entschlossenheit. Selbst wenn er sich träge in einen Sessel fallen lässt, knistert die Luft um ihn. Ich kenne keinen Mann mit vergleichbarer Virilität. Allerdings weiß er um seine Qualitäten und spickt sie mit Arroganz.

Es stört mich nicht im Geringsten.

Ich spitze den Stift und schlage das Blatt um. Bin ich nicht schnell genug, habe ich Pech gehabt. Er hasst es angeblich, von mir gezeichnet zu werden. Ein überhebliches Grinsen ernte ich dennoch jedes Mal. Immerhin schmeichle ich seinem Ego mit meiner Kunst.

Gebe ich nicht acht, verschwindet er in seinem Appartement und taucht erst wieder um zehn Uhr abends auf.

Er wird ein Hemd tragen, Hände schütteln, mit den Stammgästen plaudern und seine Arroganz und Verschlagenheit hinter einem höflichen Lächeln verbergen, wie es sich für einen Mann von Welt gehört.

Er ist es nicht. Ich weiß das, seine Leute wissen das, er selbst ohnehin. Doch für die Gäste mimt er den kultivierten Japaner, um ihr Vertrauen zu gewinnen.

Für einen tadellosen Klubbesitzer arbeiten auch tadellose Shivas, was gut fürs Geschäft ist.

Sein wahres Wesen kommt zum Vorschein, wenn er sich von Fremden unbeobachtet in seinem eigenen Reich bewegt. Halbnackt stellt er seine Stärke und Schönheit zur Schau und genießt die Mischung aus Bewunderung und Angst in den Augen der anderen.

Ich bin süchtig nach dem Anblick seiner Hüftknochen. Sie ragen über den knapp sitzenden Hosenbund und ein breiter Ledergürtel mit Silberschnalle betont sie auf verboten anrüchige Weise.

Ein verknoteter Drache, der seine dreizehigen Vorderklauen einem imaginären Angreifer entgegenstreckt und sein Maul bis zum Anschlag aufreißt. Dass die Metallkrallen dabei in Josephs Haut stechen, wenn er sich nicht kerzengerade hält, scheint ihn nicht zu stören. Offenbar ist ihm die Betonung seines muskulösen Unterbauchs den zeitweiligen Schmerz wert.

Joseph ist ein Pfau. Der schönste und stolzeste, der mir je begegnet ist.

Ich fange mit dem Kohlestift seine nicht ganz so langen Beine ein, die kräftigen Schultern, den Rücken mit dem gigantischen Tattoo eines Samurais. Auch die hochgebundenen Haare. Dank des lockeren Knotens kommt der Nacken zur Geltung. Stark, unbeugsam, dennoch keineswegs steif. Kein Problem für mich, den Schwung bis hinunter zu den Schulterblättern zu skizzieren. Ich habe es bereits viele Male getan.

Jeder Muskel, jede Sehne unter der goldbraunen Haut ist mir vertraut. Gleichgültig, ob er schläft oder einen Shiva vögelt.

Ich liebe es, ihn dabei zu zeichnen. Er lässt es zu, wenn ich ihn darum bitte. Irgendwann sieht er mich an. Das Glühen in seinen Augen, kurz bevor er sich dem Rausch ergibt, ist mir ebenso heilig wie der verschwimmende Blick danach.

Er schenkt mir diese intimen Momente. Er weiß, dass ich sie wie die Luft zum Atmen brauche und keinen Deut mehr von ihm bekommen werde.

Ein einziges Mal habe ich mein Glück bei ihm versucht. Er hat mir ausgesprochen schlagkräftig klargemacht, dass niemand Joseph Wakane fickt. Nachdem ich meinen Kiefer wieder eingerenkt hatte, habe ich mich damit abgefunden.

Für Sex wird bezahlt. Wer das Geld nimmt, ist käuflich und demnach ein Shiva, wer das Geld gibt, ist ein Mensch und besitzt das Recht auf Freiheit und Stolz.

Es ist müßig, mit Joseph über diese archaische Einstellung zu streiten. Männer wie er trinken sie bereits mit der Muttermilch.

Joseph bleibt stehen, wendet sich zu mir. Langsam hebt er die Arme und dreht sich einmal um sich selbst.

Arroganter Mistkerl!

Sein Grinsen reicht bis zu den Ohren und sagt: Ansehen ja, anfassen nein. Dabei wollen meine Finger nichts sehnlicher, als über die runden Schultern streichen und die braunen Nippel necken.

Auch seine ein wenig zu breite Nase hat es mir angetan. Manchmal träume ich, dass ich sie küsse, während ich ihm meinen Finger zwischen die Lippen schiebe.

Er würde nicht daran lecken oder saugen.

Er würde ihn abbeißen.

Steve tritt ihm in den Weg. Er ist seine rechte Hand. Auf mich wirkt er loyal. Wahrscheinlich hängt er genau wie alle anderen an seinem Leben. Trotzdem ist er der Einzige neben mir, der Joseph nicht mit Sir anspricht. Die beiden gehen sehr vertraut miteinander um. Ab und an bin ich darauf eifersüchtig.

Ich sollte meine Gefühle besser im Griff haben. Joseph ist jünger als ich. Wie viele Jahre kann ich nur schätzen. Sechs bis acht sind es sicherlich. Dennoch hat er sich ebenso unter Kontrolle, wie den ganzen verdammten Klub.

Ich skizziere die Männer. Den Alten mit dem grauen Pferdeschwanz und dem Misstrauen im Gesicht, den Jungen mit der unfassbaren, stets präsenten Autorität. Sie strahlt ihm aus jeder Pore.

Der dünne Schweißfilm auf seiner Haut fasziniert mich. Es ist unmöglich, in Kowloon nicht zu schwitzen, aber Joseph schafft es auf eine Weise, die mir das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. Das Ziehen in meinem Unterleib ist ein Dauerbegleiter, wenn ich in seiner Nähe bin. Ich beginne mittlerweile, es zu genießen.

Joseph verabschiedet Steve und schlendert auf mich zu. Aus den dunklen Augen springt mir Spott entgegen – wie so oft.

Außer wenn es ihm kommt. Dann verschmelzen unsere Blicke über den Rücken eines keuchenden Shivas hinweg.

Anfangs begegnete er mir mit ausgesuchter Höflichkeit. Seit er weiß, was ich für ihn empfinde, hält er mich mit seinem rüden Verhalten auf Distanz.

Ich lächle ihn an. Ich kann nicht anders, angesichts seines nackten, sehnigen Oberkörpers.

Breitbeinig baut er sich vor mir auf.

Ich könnte mich hinstellen und würde ihn um einen halben Kopf überragen. Das würde an seinem stolzen Grinsen jedoch nichts ändern.

»Wird es dir nicht langweilig?« Er nimmt mir den Zeichenblock aus der Hand.

Ich lasse ihn gewähren, denn nur so komme ich in den Genuss der geschmeidigen Bewegungen, da er sich zu mir herunterbücken muss, um sich anschließend wieder aufzurichten.

»Ich bin ein langweiliger Typ.« Das Spiel seiner Muskeln lässt mich von verbotenen Dingen träumen.

Joseph schaut von der Zeichnung auf. Das Nussbraun wird vom Schwarz der Pupillen verschlungen. »O’Farrell.« Seine Mundwinkel zucken. »Männer wie du sind niemals langweilig.«

»Wenn du das sagst.« Ein Kompliment. Das tröstet mich darüber hinweg, dass er mich nie bei meinem Vornamen nennt. Diese Tatsache versetzt mir einen Stich ins Ego. Auf eine gewisse Weise fühle ich mich Joseph sehr vertraut. Ich wünschte, das würde auf Gegenseitigkeit beruhen.

Ich lege den Kopf in den Nacken und genieße seinen Anblick. Mir macht es nichts aus, zu ihm aufzusehen. Ich bin mir sicher, er selbst denkt anders über die umgekehrte Situation.

Der Duft seines Schweißes steigt mir in die Nase. Ich atme bewusst tief und geräuschvoll genug ein, damit er es bemerkt.

Sein Lächeln wird beinahe liebevoll. In seinem Bedürfnis nach Anerkennung, egal worin, gleicht er einem Kind.

Wenn ich ihm das sage, schmeißt er mich hochkant raus.

Obwohl ich entspannt sitze, spreize ich die Schenkel weiter. Ich habe etwas zu bieten. Es klemmt hinter zu viel Stoff, ist dank meiner Erregung allerdings gut zu erkennen. Außerdem berühre ich dadurch Josephs Bein mit meinem Knie.

Der Impuls fährt ihm durch den Körper.

Ich bin Arzt. Ich bemerke so was.

Auch wenn er nach außen hin keine Miene verzieht. Das minimale Zucken seines Oberschenkels entgeht mir ebenso wenig wie der veränderte Ausdruck in seinen Augen.

Nur einen Moment. Dann siegt der Spott über jede andere Regung. »Hier.« Er wirft mir den Block zu. »Nimm es mir nicht übel, aber du hast mich schon besser getroffen.«

Ich antworte ihm mit einem Lächeln. Es sagt das, was er weiß und wahrscheinlich verabscheut. Ich bin ihm nicht halb so gleichgültig, wie er es gerne hätte.

»Vielleicht versuche ich es später noch einmal«, setze ich eins drauf. »Oben bei dir.« … wenn du in den Leib eines Shivas stößt und davon träumst, dass ich dasselbe bei dir mache.

Erneut weiten sich seine Pupillen. Er schluckt und ich verbeiße mir ein Seufzen. Sein hoch- und runterhüpfender Kehlkopf ist gnadenlos sexy.

»Nein.« Seine Lider senken sich, bis bloß Schlitze übrig sind. »Du hast vergessen, bitte zu sagen.« Abrupt dreht er sich um und verlässt das Entree.

Mit einer Dynamik, die mein Herz gegen die Rippen pochen lässt.

 

 

– Joseph –

 

Noch ein paar Minuten, bevor ich bei den Gästen Männchen mache und mein Gewissen dem Teufel in den Rachen stopfe. Wenn es nicht rutscht, trete ich nach. Das stört mich nicht. Immerhin verdiene ich ein kleines Vermögen damit. Eine Seltenheit in Kowloon.

Ebenso wie Platz. Der ist rar und wird teuer gehandelt. Mit dem Begging Monk habe ich ihn mir gekauft.

Enge macht mich nervös.

Die Halbinsel versinkt täglich tiefer im Morast zu vieler Menschen und ihrer gestorbenen Träume. Mein Klub ragt fünfstöckig daraus hervor. Dafür produziert er seinen eigenen Dreck. Mit Erfolg. Die Leute kommen aus den entlegensten Gegenden, um sich darin zu suhlen.

Warum, verdammt, tigere ich dann zwischen Fensterfront und Tür hin und her und zerbreche mir den Kopf? Ich habe es weit gebracht für einen wie mich. Freunde und Feinde respektieren mich, das Monk ist auf jeder der Inseln ein Begriff und dennoch fühle ich mich wie eine Katze ohne Schwanz. Etwas fehlt. Keine Ahnung was, aber ich brauche es, um die Balance zu halten.

Mein Whiskykonsum steigt. Trotzdem finde ich in den Morgenstunden kaum Schlaf. Da ist eine Unruhe, die mich die Wände hochgehen lässt. Ich kann sie mir weder mit den Shivas austreiben noch in Arbeit ersticken. Sie wächst, wenn mich O’Farrell ansieht. Sein Blick gleitet über meinen Körper und ich weiß, was er am liebsten damit tun würde.

Ich hoffe, seine Wünsche genügen ihm. Mehr als Träume bekommt er nicht. Er arbeitet für mich, seit er Hongkong Island auf den Tod gelangweilt den Rücken gekehrt hat. Bevor der letzte Funke seines Geistes erlosch, besuchte er mich im Monk.

Ich will das Leben, sagte der smarte Ire und überwies unaufgefordert zehntausend New-Hongkongdollar auf mein Geschäftskonto. Zeig es mir.

Es ist in jeder Ecke Kowloons zu finden. Das Leben liebt Verkommenheit.

Wir verbrachten die Nacht mit einem Shiva und gegen Mittag führte ich O’Farrell durch die menschen- und müllverstopften Straßen. Er sah den Unrat nicht. Nur die Märkte, die Tattoos auf schwitzender Haut und die skurrile Schönheit authentischer Leiden.

Seitdem lebt er wie alle anderen meiner Leute im Monk und lässt sich von mir für seine Dienste bezahlen. Hin und wieder kommt er an mein Bett, um mich beim Ficken zu zeichnen. Schweigend zieht er einen Stuhl heran und beginnt. Die kaum kontrollierte Erregung in den eisblauen Augen bringt mich schneller zum Glühen, als es der Shiva unter mir schaffen könnte.

Ich denke zu oft über O’Farrell nach. Das ist nicht gut.

Die Leuchtreklamen werfen bunten Schatten an die Wände. Aus den Gassen schallt das Feilschen der Käufer und das Wettern der Händler.

Ich bin da raus. Habe meinen Platz gefunden. Warum kann ich nicht aufatmen und mich zurücklehnen?

Weil ich in Kowloon lebe. Wer sich hier ausruht, wacht am Morgen in der Gosse auf.

Mein Multi-Kom piept. Zehn Uhr. Wird Zeit, dass ich mich in der Bar sehen lasse. Ich schalte den Alarm aus und ziehe das Armband fester ums Handgelenk. Noch eine Zigarette auf den Weg und ein Blick in den Spiegel.

Meinem verschollenen englischen Vater verdanke ich die Lidfalten und die etwas größere Nase, meiner japanischen Mutter die dunklen Augen und meiner Jugend in Tai Kok Tsui eine tief greifende Abneigung gegen Käfige.

Manchmal träume ich von der mit Menschen überfrachteten Wohnung, in der die Gitterverschläge die Wände säumten. Drei übereinander. Wer unten schlief, atmete Gestank und Staub. Später kam virenverseuchter Auswurf dazu.

Als meine Mutter eines Morgens nicht mehr erwachte, küsste ich ihre kalte Stirn, packte meine Sachen und ging. Ich habe sie weder beerdigt noch verbrannt. Ich konnte ihr ihren Tod nicht verzeihen.

Jetzt bereue ich es.

Die anschließende Odyssee hätte ich mir gern erspart, wenn ich gewusst hätte, wie. Letztendlich habe ich es nur ein Viertel weiter geschafft. Aber meine wirtschaftliche Situation hat sich massiv geändert.

Selbst die Shivas müssen nicht in Käfigen schlafen. 120 Zimmer, ein weitläufiges Entree mit Bar, ein Saal mit Tanzfläche und ein Hinterhaus mit drei ganz besonderen Räumen.

Oase des duftenden Schmerzes. Der Name entsprang einer meiner alkoholisierten Stimmungen. Geblieben ist ein Spottgrinsen meiner Securitys und ein knappes Oase.

Die Shivas, die dort arbeiten, grinsen niemals wegen des Namens. Ihr Schmerz ist für sie eine elementare Angelegenheit. Auch ich nehme ihn ernst. Das tut jeder, der ihn kennt.

Ich überrede meinen Mund zu einem Lächeln. Es ist arrogant und verdeckt, dass ich unter Strom stehe.

Eine Runde plaudern, auf Schultern klopfen, Shivas empfehlen.

Ich hasse Small Talk, aber die Stammgäste lieben es, ein paar Worte mit mir zu wechseln, ehe sie mit ihren Spielzeugen hinter den violett gestrichenen Türen verschwinden. Da sie mein Leben finanzieren, habe ich das höfliche Geschwafel zumindest zu mögen.

Bevor ich die Flamme an die Zigarette halte, sehe ich ihr für einen Augenblick beim Brennen zu. Zündeln mit dem Feuerzeug beruhigt.

Ich bin versucht, mit dem Finger langsam durch die Hitze zu fahren. Ich will die Erinnerungen nicht, die der Geruch versengter Haut weckt. Doch ich sehne mich nach dem Zustand, in dem alles andere ins Unwichtige driftet.

Der New-Hongkongdollar ist nur eine Währung, mit der in Kowloon bezahlt wird. Schmerz eine andere.

Ich werfe mir ein Hemd über und lasse die oberen Knöpfe offen. Ich bin stolz auf meine makellose Erscheinung. Die Laserbehandlung hat mich ein Vermögen gekostet. Lediglich am Rücken drangen die Narben zu tief ins Gewebe. Das Tattoo eines Samurai verdeckt sie.

Meister Hiato war so freundlich, es mir zu stechen. Er war einer meiner Stammkunden gewesen und trauerte, als er erfuhr, dass ich meinem Dasein als Shiva ein Ende gesetzt hatte. Das Kunstwerk schenkte er mir dennoch. Eine Art nachträgliches Trinkgeld. Ich habe es mir verdient. Die Narben, die es kaschiert, stammen von ihm.

Vor meiner Tür poltert es.

»Mr. Wakane! Probleme in Zimmer drei!« Viktor klopft erst, als er schon in der Tür steht.

In der Oase gibt es ständig Probleme. Die Räume dort sind lukrativ und erfüllen spezielle Wünsche, kosten meine Shivas aber auch hin und wieder das Leben.

Viktor rennt vor zur Nottreppe, statt den unzuverlässigen Aufzug zu benutzen. Ich hetze hinter ihm her ins Erdgeschoss.

»Es sind zwei Typen aus Aberdeen«, japst der Russe über die Schulter. »Sie haben sich Juen ausgesucht. Abraham hat mich angepiept. Er hat komische Geräusche gehört und will deine Genehmigung, das Spiel zu unterbrechen.«

»Safeword?« Es gilt nicht den Gästen – sie halten sich nicht daran – sondern dem Security vor der Tür.

»Es ist Juen, verdammt! Der würde es nie verwenden. Der trägt stolz jede einzelne Narbe zur Schau.«

Verständlich. Sie steigern seinen Wert und zeigen, wie belastbar er ist.

»Ich brauche einen Grund, um einzugreifen.«

»Mr. Wakane.« Viktor bleibt vor mir stehen. »Abraham weiß, dass was faul ist.«

Juen ist erfahren. Er jongliert mit dem Schmerz. Bis zu einem gewissen Grad genießt er ihn sogar. Allerdings kann ich mich auf Abraham verlassen. Er arbeitet im Monk, seit ich es von Steve übernommen habe.

Wir traben durch den neu angelegten Garten, der das Vorder- mit dem Hinterhaus verbindet.

Abraham sieht uns entgegen. Er stammt aus Idaho, ist groß und breit wie ein Schrank, grobschlächtig und mitleiderregend hässlich. Er hat seine Gründe, sich an dem Ort aufzuhalten, der am weitesten von Gesetz und Ordnung entfernt liegt. Seine Finger umklammern die Klinke, doch ohne meine Erlaubnis wird er keinen Gast stören. Es sei denn, der Shiva fordert es. Deshalb sind Knebel in der Oase verboten.

»Ich will da rein, Boss.« Seine Miene strotzt vor düsterer Entschlossenheit. »Die spielen Juen kaputt. Vorhin hat er wie am Spieß geschrien, aber nicht um Hilfe. Ich dachte zuerst, es gehört zur Absprache.«

Viele Gäste erfreut es, wenn ihr Spielzeug offensichtlich leidet.

»Dann war es plötzlich still.« Er nickt zur Tür. »Bis auf das da.«

Aus dem Zimmer dringen erstickte Laute.

Juen und sein Stolz. Er ist ein Shiva, verdammt! Dieses Gefühl steht ihm nicht zu.

Ich nicke und Abraham stößt die Tür auf.

Juen hängt an Händen und Füßen gefesselt waagerecht im Raum. Stramm gespannte Seile halten ihn auf Hüfthöhe der zwei Männer. Die Haut ist mit Striemen und Brandwunden überzogen. Blut und Schweiß rinnen über den zierlichen Körper.

Das ist legitim. Dafür sind die Haken an den Wänden da. Was mich stört, ist der Lappen in seinem Mund und die dicken Nadeln in Achseln und Fußsohlen.

Zuerst muss der Knebel weg. Ein Fetzen eines der Handtücher, die zum schnellen Reinigen ausliegen. Der Rest davon befindet auf dem Boden.

Keuchend ringt Juen nach Atem.

Was zäh über sein Gesicht läuft, stammt nur teilweise aus ihm. »Mr. Wakane!« Aus dem Krächzen wird ein Wimmern. »Es ist zu viel!«

Versengtes Fleisch. Der Gestank verpestet die Luft und überdeckt den Angstschweiß von Juen ebenso wie die Gerüche von Sperma, Pisse und Zigarettenrauch.