Schmerzmeister - S. B. Sasori - E-Book

Schmerzmeister E-Book

S.B. Sasori

0,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Während Kowloon nach wie vor unter den Repressalien der Regierung leidet, lastet die Verantwortung für das Begging Monk auf Deans Schultern. Trotz schwelender Konflikte und der angespannten wirtschaftlichen Situation, setzt er alles daran, den Status des Clubs zu erhalten. Gleichzeitig kämpft er gegen die Trauer, die Liam und ihn Tag für Tag gefangen hält.
 
Nach neun Monaten intensiver Suche hat Liam die Hoffnung aufgegeben, Joseph jemals wiederzusehen. Er flüchtet sich in den Gedanken, dass sein Geliebter tot und damit vor Schmerz und Leid sicher ist. Nur sein Pflichtgefühl Dean und den Shivas gegenüber zwingt ihn weiterzumachen.
Ein Umschlag mit einer sehr speziellen Einladung reißt ihn aus seiner Verzweiflung.
Um ihn kurz darauf noch tiefer hineinzustoßen.
 
"Schmerzmeister" ist der vierte Band der Hongkong Story - Serie und schließt an "Seelenfraß" an.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Schmerzmeister
Prolog
1. Ein Gott, viele Gesichter
2. Keine Welt hinter Gitterstäben
3. Der Blinde Shiva
4. Zu viel Gefühl
5. Ein Silberstreif Hoffnung
6. Tabubrüche
7. Schlechtes Omen
8. Und kein Morgen mehr
9. Der Ort dazwischen
10. Bittere Wahrheiten
11. Der Mann auf der Tür
12. Weitere Romane von S.B. Sasori

Schmerzmeister

HONGKONG STORYS

BAND 4

S.B. Sasori

Copyright © 2022 S.B. SASORI

Erstausgabe 2021

Alle Rechte vorbehalten.

E-Books dürfen nicht kopiert oder weiterverkauft werden. Bitte denkt daran und wertschätzt mit eurem fairen Verhalten die Arbeit der Autoren, die viel Mühe und Zeit in ihre Geschichten stecken.

Wie bei allen fiktiven Romanen gilt auch bei diesem: Sämtliche Personen und Ereignisse sind frei erfunden.

Das Impressum:

https://sbnachtgeschichten.com

Lektorat: Alexandra Balzer

Bildmaterial: shutterstock.com ©Eky Studio; depositphotos.com ©kanareva

Ich schwebe in eisigem Wasser, bin federleicht. Über mir verflechten sich meine Gedanken zu Mustern, steigen zur Oberfläche.

Würde ich die Hand ausstrecken, könnte ich sie mit den Fingerspitzen streifen.

O’Farrell steht am Ufer des Sees, sieht zu mir herab.

Ich wäre gern bei ihm, um ihn mit meinen kalten Lippen zu küssen und zu warten, bis sie sich an seinen erwärmen.

Vielleicht genügt es, ihm meine Gedanken zu zeigen.

Sie sind zu weit weg und ich sinke immer tiefer.

Ich würde ihn gern trösten.

Mit all den ungesagten Worten in mir.

(Joseph Wakane, Shiva der Morgenröte)

Prolog

– Joseph –

»Ich liebe dich, Joseph. Und du liebst mich. Das war immer so. Das weißt du.« Hao Jun streicht mir die nassen Haare zurück. »Deine Gefühle mir gegenüber sind zu tief, um sich zu ändern.« Über sein Gesicht rinnt mein Blut. Er macht sich nicht die Mühe, es abzuwischen. »Der Unfall hat deine Seele erschüttert, aber du darfst nicht zulassen, dass er dir die Wahrheit stiehlt.« Sacht tippt er mir gegen die Schläfe. »Sie ist da drin, Joseph.« Mit dem Finger gleitet er mir über die Wange, die Kehle, streicht sanft über die klaffenden Wunden auf der Brust. Darunter schlägt mein Herz. »Und sie ist dort.«

Ein grelles Licht. Es brannte sich durch meine Augen bis in mein Hirn, löschte alles aus, was ich war.

Nun weiß ich es wieder.

Aber es gefällt mir nicht.

Nach dem Unfall hielt ich jedes Wort aus Hao Juns Mund für eine Lüge. Der Gedanke, ich könnte ein Sklave sein, war unerträglich für mich.

Er ist es noch.

Hao Jun beteuert mir, dass ich seit jeher ungewöhnlich widerspenstig und stolz für einen Shiva gewesen wäre. Das hätte ihn an mir gereizt. Der Unfall hätte diese Eigenschaften noch weiter in den Vordergrund gedrängt. Meine Seele würde sich an den Wunsch klammern, ein freier Mann zu sein. Dabei wäre ich das nie gewesen.

Er hat für jede Frage eine plausible Antwort. Jeden Zweifel erstickt er in Fakten. Ich kann sie nicht nachprüfen. Sie sickern in meinen Kopf, umschlingen mehr und mehr die Erinnerungsfetzen, die zögernd zu mir zurückfinden. Alles passt zusammen. Alles ist logisch.

Der Gedanke zersetzt meinen Verstand.

»Ich werde nie unsere Spiele im Heaven vergessen.« Er seufzt. »Unvergleichlich. Du warst von Beginn an der talentierteste Shiva, der mir je begegnet ist.«

Seine Zärtlichkeit. Die Präzision, mit der er die Klinge durch meine Haut gleiten ließ. Seine Küsse trösteten mich und schenkten mir Lust. Ich genoss sie in seinen Armen, ebenso wie ich den Schmerz in ihnen ertrug. Es geschah immer in demselben Zimmer. Er hatte es nach seinem Geschmack einrichten lassen. Ein Kreuz, ein Diwan mit Brokat bezogen, Seidenbänder statt Ketten. Die Teekanne auf dem zierlichen Tisch, die Porzellanschale, die er mir während der Pausen an die Lippen hielt.

Ich vergötterte ihn.

»Gage nannte uns ein schönes Paar.« Er lächelt. »Dennoch zitterte er vor Zorn, als ich ihn zwang, dich an mich zu verkaufen.«

Nimrod Gage hat mich ersteigert. Bei einer Hafenauktion. Damals war ich fast noch ein Kind. Er lehrte mich das Spiel von Hingabe, Lust und dem Ertragen von Schmerz. Die Fähigkeiten eines Shivas. Ich wurde einer, blieb einer. Über viele Jahre hinweg füllte ich mit meinem Talent Nimrods Kassen.

Bis mich Hao Jun ihm abkaufte.

Gage verzieh es ihm nicht. Hinter Hao Juns Rücken zwang er mich zu Treffen mit fremden Spielern. Um mich zu besudeln und damit Hao Jun zu demütigen. Ich ertrug es nicht und floh. Ich schaffte es bis nach Kowloon. Wäre der Unfall nicht dazwischengekommen, wäre ich jetzt frei.

Noch bevor mich Hao Juns Männer zurückbrachten, verlor Nimrod Gage Zunge und Augen. Danach sein Leben. Alles durch Hao Juns Hand.

Dreimal erzählte mir Hao Jun diese Geschichte. Mit eindringlicher, vor Empörung bebender Stimme.

Ich glaube sie ihm.

Aber ich glaube ihm nicht seine Liebe zu mir.

Er reicht mich weiter wie ein Ding. An Männer mit Macht. Um sie zu erpressen, und ihnen seinen Willen aufzwängen zu können. Irgendwann, wenn er die Zeit für gekommen hält.

Würde er mich lieben, wäre ihm mein Körper heilig.

Er lässt ihn ausbluten. Ihn, meine Seele und meinen Geist.

Würde er mich lieben, wie er es beteuert, würde er mir die Freiheit schenken. Sie ist alles, was ich will.

Er verwehrt sie mir, also wähle ich den Tod. Bei jedem Spiel.

Auch den verwehrt er mir.

»All deine Erinnerungen sind zurückgekehrt.« Seine Lippen legen sich auf meine. Sie schmecken nach Blut. »Es wird Zeit, dass du auch deinen Gefühlen gestattest, wieder Einzug in dein Herz zu halten.«

In meinem Herz existieren nur zwei Gefühle. Hass und Sehnsucht. Der Hass trägt Hao Juns Gesicht, die Sehnsucht besitzt nicht einmal einen Namen. Sie ist nur da. Tag und Nacht. In meinen Träumen hält sie mich ebenso umfangen wie während der Spiele. Übersteigt der Schmerz meine Grenzen, lasse ich mich in sie hineinfallen wie in einen klaren See. Sie umfängt mich mit kühler Zärtlichkeit, wispert mir zu, geborgen zu sein.

Vielleicht ist es ihre Schuld, dass ich nicht sterben kann.

»Joseph.«

Warum hält Hao Jun an mir fest? Warum lässt er mich nicht totspielen? Die Gäste zahlen ein Vermögen für dieses Privileg.

Nicht einmal diese Freiheit gönnt er mir. Viele der Shivas entscheiden sich für ihr finales Spiel. Der Tod ist ihre einzige Chance, diesem Club zu entkommen.

Jenseits der Morgenröte. Welch verheißungsvoller Name für die Hölle.

»Wenn wir jetzt fortfahren, will ich, dass du mir sagst, wie sehr du mich liebst«, fordert der Mann, der mich zu kennen glaubt.

Meine Sehnsucht, mein Schmerz, mein Hass, meine Wahrheit. Mehr gehört mir nicht. Ich lasse mir nichts von einer Lüge stehlen.

»Sage mir, dass du mich liebst.«

Ein Armband mit siebenundzwanzig Perlen. Auch das gehört mir. Das Geschenk eines Spielers zu meinem dreißigsten Geburtstag. Er war einer meiner Stammgäste und hatte sich in mich verliebt. Ein Arzt. Er kam jedes Wochenende mit der Schnellfähre nach Kowloon. Eines Tages brach ihm das Herz, weil ich seine Vernarrtheit nicht erwiderte.

Ich kann mich nicht an seinen Namen oder sein Gesicht erinnern. Nicht an seine Stimme, nicht an die Spiele mit ihm. Wie so vieles ist er nur ein Teil von Geschichten, die mir Hao Jun erzählt.

Ich fragte ihn nach diesem Mann.

Hao Jun winkte ab. Er wüsste nur, dass Gage über den Arzt gespottet hätte. Wegen seiner Vernarrtheit in einen Shiva. Er hätte mich wie einen Prinzen behandelt und mir nie ein Haar während der Spiele gekrümmt. Ich hätte mich hinter seinem Rücken ebenfalls über ihn lustig gemacht. Über seine Behutsamkeit gelacht und ihn für einen Schwächling gehalten.

Ich würde nie über jemanden spotten, der freundlich und behutsam mit mir umgeht. Wie viele Lügen will mir Hao Jun noch auftischen?

»Joseph!«

Merkt er, wie seine Stimme zittert? Ein Mann von Macht darf sich fürchten, aber er darf es nicht zeigen.

»Gehorche mir, und ich werde das Spiel beenden und mich um deine Wunden kümmern.« Er nimmt das Tuch, bindet es mir um die Augen.

Die schattengefüllte Dämmerung des Zimmers verschwindet. Ich atme auf, gebe mich absoluter Dunkelheit hin.

Die Handschellen klirren, Hao Jun dreht mich mit dem Rücken zu sich.

Die Zeit der Seidenbänder ist vorbei, seit er sich vor mir fürchtet.

Der Gedanke lässt mich lächeln.

Ich schmiege meine Wange an das kühle Holz des Bettpfostens. Er dient nicht nur dem Baldachin, er ersetzt auch das Andreaskreuz. Meine spöttische Frage, ob Hao Jun auf seine alten Tage die staubige Romantik der Kolonialzeit für sich entdeckt hätte, ließ er mich bitter bereuen.

Er geht ein paar Schritte zurück, lässt die Peitsche in der Luft schnalzen, bevor sie mir ins Fleisch schneidet.

Der Schmerz erreicht mich nicht. Ich spüre ihn außerhalb. Jede Erschütterung bringt eine neue Woge zu mir, doch sie prallt an den Ufern des Sees ab.

»Sag es!«, zischt es hinter mir. »Sag mir, wie sehr du mich liebst!«

Es fällt mir leicht zu schweigen.

Hao Juns Keuchen, das immer lautere Schnalzen, die Hitze, die mir über den Körper fließt.

Nichts davon interessiert mich.

Er weiß es. Daher die Wucht der Hiebe. Sein Keuchen klingt schon lange nicht mehr nach Lust.

Zorn, Frustration. Weil ich fort bin, wenn er mich bespielt, weil ich ihm jede Erregung verweigere. Seine Berührungen sind mir lästig wie Fliegen auf der Haut. Ich kann sie nicht abwehren, also erdulde ich sie wie den Schmerz. Hao Jun überschüttet mich damit. Er ahnt nicht, dass ich dadurch nur noch schneller in die Obhut meiner Sehnsucht fliehe.

Außerhalb von ihr bin ich ein Ding, das zerbrochen und geflickt wird, um wieder zerbrochen zu werden. Ich warte auf den Tag, an dem sich niemand mehr die Mühe macht, die unzähligen Scherben zusammenzufügen.

Meine Beine geben nach. Die Handschellen an meinen Gelenken nicht. Das Reißen in den Schultern ist mir ebenso vertraut wie das taube Gefühl in den Händen. Es breitet sich in meinem gesamten Körper aus. Gleich wird es den Nacken erreichen, mein Denken wird aufhören, jede Empfindung wird erlöschen. Ich werde diesem alten Chinesen erneut entfliehen. Er kann mir nicht folgen, mich nicht einfangen lassen. Da, wo ich bin, ist kein Platz für ihn und seine Männer. Er weiß es. Er hasst es und bestraft mich dafür.

Ich tauche tiefer in meine Sehnsucht. Dorthin, wo mich Kühle umschließt. Verharren in der Illusion, von Wasser umgeben zu sein. Ein leises Glucksen, entferntes Rauschen. Das ist alles, was ich höre. Bis auch das verstummt.

Frieden umgeben von schimmerndem Blau.

Jemand sieht mich daraus an. Liebevoll, zärtlich. Seine Augen leuchten in der Farbe des Sees.

Ich gebe ihm alles, was ich bin. Den Schmerz in mir, der nichts mit Hao Juns Grausamkeit zu tun hat, den Hass, diese kaum zu ertragende Sehnsucht, den Wunsch, endlich sterben zu dürfen. Unter seinem Blick höre ich auf, rohes Fleisch und Blut zu sein. Ich werde zu einem Menschen.

Noch spüre ich das Lächeln auf den Lippen.

Die Tiefe unter mir öffnet sich.

Eisblau.

Ich sinke ihr entgegen.

~*~

1. Ein Gott, viele Gesichter

– Dean –

Unter unseren Füßen tanzen bunte Drachen. Der fettige Duft der Garküchen weht zu uns herauf, ebenso wie die Rufe, das Lachen, die einzelnen Raketen. Sie verwandeln den Smog in bunten Nebel.

Das chinesische Neujahrsfest. Mein zweites, seit ich in Kowloon gestrandet bin. Mum hat mir schon vor zwei Monaten ein frohes neues Jahr gewünscht. In Charleston ticken die Uhren anders.

Sie will immer noch, dass ich nach Hause komme, dabei gibt sie zu, dass sie sich den Flug nicht leisten kann.

Ich mir schon, aber das sage ich ihr nicht.

Liam braucht mich. Dringender als mich Mum je brauchen könnte.

Auf der zerfledderten Media-Folie am Haus gegenüber blinkt die Zahl 2039. Ich versuche mich zu freuen und hoffnungsvoll in die Zukunft zu schauen, wie es sich für ein Neujahrsfest gehört, aber es klappt nicht.

Seit fast einem Jahr bin ich Josephs Shiva. Seit neun Monaten ist er verschwunden. Manchmal fürchte ich mich beim Einschlafen davor, dass ich vergesse wie er aussieht, wie er sich bewegt, riecht, wie sich seine Berührungen anfühlen. Das sind die Nächte, nach denen ich morgens auf einem nassgeweinten Kopfkissen aufwache.

Hao Jun lässt ihn immer noch suchen, aber nur wegen Liam. Ob er ein schlechtes Gewissen hat oder Liam nur bei Laune halten will, weiß ich nicht. Wenn er ins Monk kommt, um Juen zu bespielen, was immer seltener geschieht, berichtet er uns von den Hinweisen, denen er nachgeht und den Sackgassen, in denen sich Josephs Spur verloren oder nie gefunden hat. Liam will ihm am liebsten Hausverbot erteilen oder wahlweise niederschlagen, aber er reißt sich zusammen. Hao Jun hat in Kowloon das Sagen und ohne seine Fürsprache geht gar nichts. Auch nicht die Suche nach Joseph.

Hao Jun ist schuld, dass er verschwunden ist.

Er und ich.

Ich will diesen Gedanken nicht denken und wenn er mir zehnmal die Wahrheit um die Ohren schlägt.

Hao Jun ist anders als früher. Schwermütiger, stiller. Manchmal bilde ich mir ein, dass er trauert. Genau so wie wir. Dann hasse ich mich dafür. Zum einen, weil ich einem Mafiaboss solche Gefühle zutraue, zum anderen, weil Josephs Leiche bisher nicht gefunden wurde und er also gefälligst noch am Leben zu sein und der knitterige Triadenfürst nicht zu trauern hat.

Hao Jun ist ein Arschloch. Ein kaltschnäuziges, machtgeiles, sadistisches Arschloch.

Es tut gut, das so deutlich zu denken, als würde ich jede einzelne Silbe ausspucken.

Nachher werde ich das. Wenn ich allein bin. Ich mache jede Menge seltsame Sachen im Moment. Hao Jun verwünschen zum Beispiel, oder um Josephs Rückkehr beten. Ich weiß nie, an wen konkret ich mich dabei wenden soll. Hier gibt es tausend Götter. Wahrscheinlich ist Kowloon für sich genommen ein Gott. Der Gott des Elends, der Ekstase, der Sinnlichkeit, des Lebens, der Freiheit und der Grausamkeit. Alles in einem. Versuche ich, mir ein Gesicht dazu vorzustellen, sehe ich Josephs. Die sexy, etwas breitere Nase, die mandelförmigen Augen, das arrogante Lächeln, das im Mundwinkel von einer Zigarette gebremst wird.

Bring ihn nach Hause, denke ich zum tausendsten Mal. Heim ins Begging Monk. Dahin, wo er hingehört und wo wir ihn so entsetzlich dringend brauchen. Jeder unter diesem Dach. Sogar Maybe. Seit er weg ist, schwingt sie ihren siffigen Wischmopp bloß noch mit halbem Elan. An manchen Tagen streitet Liam mit ihr und hält ihr Vorträge über Hygiene und der Gefahr resistenter Keime. Maybe zuckt dann nur ihre mageren Schultern. Sie hätte immer in Kowloons Staub gelebt und wäre nie krank gewesen.

Im Sanitätszimmer wische ich. Nicht, weil es mir einleuchtet, sondern weil Liam es zu meinem Job gemacht hat. In unserem Appartement wische ich auch. Und in Josephs. Dann riecht es nicht nach Staub und abgestandener Luft, wenn er zurückkommt.

Er muss zurückkommen.

Keine Leiche, kein Tod.

Steve meint, das hätte nichts zu bedeuten. Kowloon wäre gut darin, Menschen spurlos zu verschlucken.

Das weiß ich alles. Ich lebe nicht seit gestern hier.

Steve ist sicher, dass Joseph tot ist. Rodja auch, aber wenn er es ausspricht, haut ihm Abraham eins auf die Schnauze, und zwar so, dass es spritzt. Von Rodjas Nase ist kaum noch was übrig. Jedenfalls nichts, was hochstehen könnte. Wenn er atmet, klingt es wie das Grunzen von einem Mops. Liam kann ihm nicht mehr helfen. Er sagt, das wäre der Job eines Schönheitschirurgen, aber den gibt es hier nicht. Wahrscheinlich braucht den auch niemand. Die Halbinsel hat ihren eigenen Sinn für Ästhetik, und der reicht von zum Niederknien bis zu ich geh mich mal übergeben.

Kowloon. Ein Gott mit Millionen Gesichtern.

Josephs ist das schönste.

Viktor meint, Joseph wäre jetzt so etwas wie Schrödingers Katze. Weder lebendig noch tot. Einfach, weil er verschwunden ist und niemand etwas über ihn weiß. Dafür hätte er fast ebenfalls einen Schlag von Abraham abbekommen. Von wegen, wie er den Boss mit der Katze irgendeines Kerls vergleichen könnte?

Ich liebe Abraham für seine Loyalität. Er teilt sie mit Mr. Kun und Juen. Ein Mann wie Joseph Wakane würde nicht unbemerkt irgendwo sterben. Wenn, wüsste das ganz Kowloon. Was ihm auch geschehen wäre, eines Tages würde er heimkehren, weil das Begging Monk ohne ihn nicht das Begging Monk ist und weil er weiß, dass wir ihn brauchen. Jeder von uns. Vielleicht wäre er verflucht worden und würde nun umherirren, bis er jemanden findet, der den Fluch bricht. Von Monat zu Monat werden Juens Theorien verrückter, aber er klammert sich daran. Ich auch. Ich glaube, sogar Liam macht das.

Juen ist gut darin, Tränen vorzutäuschen, um seinen Willen zu bekommen, aber wenn sie ihm in diesen Momenten in die Augen steigen, nehme ich sie ihm ab. Wir gehen dann zu Mr. Kun und holen uns einen Zuckerschock. Seit dem Tag, als Joseph verschwand, übersüßt er jeden Tee und jeden Cappuccino, den er uns zubereitet. Das wäre gut für unser Chi.

Meinem ist das egal. Es will Joseph zurück.

Ich träume oft von ihm. Manchmal wie er mich gegen die Wand presst und mir den Verstand wegfickt, manchmal wie er mich zärtlich küsst. Dann wieder, wie er mich entsetzt anstarrt, bevor er aus Liams und meinem Leben flüchtet.

Wegen mir.

Ab dem Moment wird mir schlecht und mir geht die Luft aus.

Der Velocopter auf dem Dach des Monk. Das Arschloch, das Joseph irgendwelche Drogen in den Rachen gesprüht und ihn anschließend durchgefickt hat.

Und ich Idiot habe es gesehen und trotz Steves Warnung nicht meinen dämlichen Mund gehalten.

Josephs Stolz.

Zum Teufel mit ihm. Liam, er und ich. Zu dritt hätten wir alles aus der Welt räumen können. Auch beschissene Typen auf dem Dach. Nur ein Stoß vor die Brust und das wär’s gewesen. Ich hätte den Job übernommen. Kein Problem. Der Kerl hätte fliegen gelernt. Steil bergab. Erst der Asphalt hätte den Flug gebremst, und zwar endgültig.

Joseph hätte Liam vertrauen müssen. In allem. Ihm und mir. Stattdessen hat er uns vor Hao Jun beschützt.

Ich wusste die ganze Zeit, dass der Mafia-Boss ein Monster ist. Warum hat mir niemand geglaubt? Warum hat Steve nicht früher mit der Sprache rausgerückt, dass er das genau so sieht wie ich?

Macht keine Freude, sich das Hirn ranzig zu grübeln. Gehört seit Monaten zu meinen Standardbeschäftigungen. Als würde sich in all den traurigen Gedanken etwas Winziges, Helles verstecken. Die Lösung für alle Probleme. Vor meiner Nase, nur eben mittendrin im Dunklen, und deshalb sehe ich es nicht. Wenn ich nur gründlich genug danach suche, werde ich Joseph finden. Der absolute Hinweis. Er ist da. Ich weiß es.

Liam zieht die Beine von der Kante zurück. Jetzt baumeln nur noch meine über dem bunten Chaos unter uns. Das hier ist seine Mutprobe. Er bringt sie nie ohne mich hinter sich und nie länger als ein paar Minuten. Zumindest so dicht am Abgrund. Er sitzt genau an der Stelle, an der ihn Joseph vor einem Jahr weggezogen hat. Mit einer knappen Überdosis Opium im Blut. Joseph sollte ihm vom Dach stoßen, wenn sein Experiment nicht funktioniert.

Liam ist einer Lüge aufgesessen. Einer extrem schmerzvollen. Für Josephs und mein Wohl wollte er sich lieber selbst umbringen, als …

Lügen, Intrigen, Erpressungen. Als hätte es nie etwas anderes in meinem Leben gegeben.

Alles hat etwas mit Hao Jun zu tun.

Ein alter dünner Chinese lässt sich auch vom Dach stoßen. Abraham müsste vorher die Gorillas ausschalten. Steve würde mir vielleicht helfen, Liam auf jeden Fall.

Den Plan setze ich erst um, nachdem Hao Jun Joseph gefunden hat.

Liam rutscht etwas weiter nach hinten, versinkt in Gedanken. Seiner Miene nach sind sie dunkel und traurig wie meine. Vielleicht sogar noch ein bisschen dunkler und trauriger.

Das ist nicht gut für ihn. Das weiß ich, weil es auch nicht gut für mich ist. Wenn ich anfange zu glauben, dass Joseph tot ist, bleibt von meiner Luftröhre nicht genug übrig, um auch nur eine Spur Sauerstoff aus Kowloons Smog zu saugen. Liam geht es ähnlich, bloß dass es bei ihm die Bronchien sind. In den Wochen nach Josephs Verschwinden lief sein Asthma zur Höchstform auf. Wahrscheinlich sind wir beide nur deshalb noch nicht erstickt, weil wir den anderen nicht alleinlassen können. Wir haben nur noch uns und schieben uns gegenseitig das Mundstück des Inhalators zwischen die Lippen. Für Joseph, keuche ich jedes Mal und nicke Liam aufmunternd zu. Aus lauter Angst, er könnte auf die Idee kommen, dass ein Erstickungstod gnädiger als ein Sturz vom Dach sein könnte. Was nicht bewiesen ist.

Hoffentlich ist ihm das klar.

Ich sollte das Mum erklären. Dass mich ein vierzigjähriger Mann dringend zum Überleben braucht. Dann versteht sie mich vielleicht.

Nein. Wird sie nicht. Sie versteht gar nichts von dem, was in Kowloon abgeht und mich am Allerwenigsten.

Meine Bedürfnisse zu lieben, Sex zu haben, einen alten Mann zu töten, das Monk am Laufen zu halten, Liam zu beschützen, was am wichtigsten ist.

Er teilt seine Angst um Joseph nur mit mir. Nur bei mir erlaubt er es sich zu weinen. Es passiert nicht oft, aber wenn, bricht es mir das Herz. Manchmal entscheidet er, dass Joseph tot ist. Wer tot ist, hat’s hinter sich, sagt er und atmet auf. Kein Leid für einen Toten. Kein Schmerz, keine Angst, keine Sehnsucht, die einem das Herz zerfrisst.

Ich versuche dann diesen Gedanken zu denken und schlittere in meinen nächsten Erstickungsanfall. Ich will nicht, dass Joseph lebt und leidet. Natürlich nicht. Aber ich will, dass er zu uns zurückkommt oder wenigstens an einem Ort ist, an dem wir ihn finden können.

Mittlerweile hat Liam jeden noch so dunklen Winkel der Halbinsel durchforstet. Er verbindet es mit seinen Patientenbesuchen oder geht gezielt einem der hunderttausend Gerüchten nach.

Kowloon hat Joseph Wakane nicht vergessen. An allen Ecken wispert und flüstert es. Der eine will ihn in einem Käfig in Tai Kok Tsui gesehen haben, der andere behauptet, ein von Sun Haidong geschickter Auftragskiller hätte ihm das Gesicht mit einer neuartigen Laserwaffe zerschossen und Joseph würde jetzt unerkannt und als Monster gebrandmarkt sein Essen als Bettler verdienen. Warum sich der Politiker ausgerechnet wegen eines Bordellbesitzers in Unkosten stürzen sollte, sagt das Gerücht nicht.

Ich schätze, Liam kennt mittlerweile jeden Bettler weit und breit.

Das mieseste Gerücht ist, dass sich Joseph in den New Territories oder Zentralchina niedergelassen hat. Dort, wo ihn niemand kennt, würde er sein Erspartes verpulvern und sich einen Lauen machen.

Steve lacht darüber. Josephs Erspartes würde im Monk stecken, und zwar im Tresor im Büro und in bar. Es gäbe ein Alibi-Konto bei einer Bank, doch das hätte Joseph leer geräumt, als er mich vor zwei Jahren ersteigerte.

Ich glaube ihm und fühle mich schlecht bei dem Gedanken, dass Joseph sein Vermögen für mich hingeblättert hat.

Hätte er es nicht getan, wäre nichts mehr von mir übrig.

Mein Herz ist zu schwer.

Ich habe auch eine Theorie, aber die will mittlerweile niemand mehr hören. Joseph ist von den Rattenfängern aufgegriffen worden und arbeitet in Sun Haidongs Edel-Club, wo die Gäste garantiert Shivas schreddern dürfen. Liam hat meine Idee lang und breit mit Hao Jun diskutiert, aber der meint, niemand würde einen Shiva bespielen wollen, der die dreißig hinter sich hat. Außerdem würden die Rattenfänger Joseph erkennen, schon wegen des Samurai-Tattoos. Jeder wüsste, dass es den Rücken des berühmtesten Bordellbesitzers Kowloons schmückt.

Trotzdem versucht Hao Jun, diesen geheimnisvollen Club zu finden. Schon, um die Konkurrenz für die hiesigen Geschäftsleute aus dem Weg zu schaffen. Gerüchten nach würde er von Frederik Martin geführt. Sun Haidongs neuem Strohmann und damit direkter Nachfolger von Nimrod Gage.

Wenn Liam diesen Namen hört, knirschen seine Zähne. Mittlerweile hasst er ihn ebenso sehr wie Gage persönlich, nur dass der tot ist. Seine Augen und seine Zunge schimmelten in einer Schachtel, bis Liam sie ins Meer geworfen hat.

Hao Jun macht kurzen Prozess mit Leuten, die ihm ans Bein pissen. Genau das hat Gage getan, indem er Joseph gezwungen hat, sich von irgendwelchen Arschlöchern ficken zu lassen. Der Schmerzauslöser in Liams Nacken war das perfekte Druckmittel. Joseph hätte sicherlich alles getan, um Liam davor zu bewahren.

Hao Jun wollte Joseph für sich. Einmal im Monat. Ein Date mit seinem Ex-Lieblingsshiva. Danach war Joseph nicht mehr er selbst. Das ist er erst wieder in mir geworden.

Die härteten Ficks meines Lebens.

Ich hätte es dabei belassen sollen. Es war meine Chance, Joseph zu retten. Stattdessen knalle ich ihm vor den Latz, was ich auf dem Dach gesehen habe.

Hätte ich den Mund gehalten, wäre er noch hier.

Ich kann mir das nicht verzeihen, also versuche ich es erst gar nicht. Wenn ich in der Hölle lande, dann dafür. Hauptsache Hao Jun gibt die Suche nicht auf, weil ihm dieser Club von Sun Haidong wichtiger ist. Klar ist der Kerl ein Mistsack und gehört gestürzt. Das ist jeder Politiker, der heimlich Bordelle betreiben lässt und den Leuten gleichzeitig Moral predigt. Ist mir ein Rätsel, weshalb Hao das Ding noch nicht erledigt hat. Bei Marvin Jones hat er auch nicht lange gefackelt und der war immerhin der Boss eines Großkonzerns.

Liam und ich haben den Club auf eigene Faust gesucht. Liam ist sich sicher, dass er auf Lantau oder einer der benachbarten Inseln ist. Als Mr. Lin seinen Lotosgarten schließen musste, hat Gage die Shivas aufgekauft und per Schnellfähre dorthin gebracht. So viel wissen wir. Ob für sie die Reise danach weiterging, wissen wir nicht.

Wegen Liams Vergangenheit als Arzt auf Hongkong Island bekamen wir ein Visum für Lantau. Eine Woche. Keinen Tag länger und nur, weil die Insel zur gemäßigten Sicherheitszone gehört. Auf Hongkong Island hätten wir keinen Fuß setzen dürfen.

Es ist schwer, nach etwas zu fragen, was es offiziell nicht gibt. Niemand wusste irgendetwas von einem Bordell. Ob heimlich oder nicht. Stattdessen wurden wir mit erschrockenen bis amüsierten Mienen nach Kowloon verwiesen. Etablissements dieser Art gäbe es nur dort. Das wüsste jeder.

Und auf den anderen Inseln?

Die wären bis auf ein paar Fischerdörfer unbewohnt, aber wir dürften uns dort gern umsehen.

Haben wir getan. Mit einem schrottreifen Motorboot. Niemand wollte uns eine der zig solarbetriebenen Schnellboote leihen, die in jedem verdammten Hafen vor sich hindümpelten. Immer dieselbe Frage: Woher kommt ihr? Ausreden waren zwecklos. Jeder wollte Beweise und die standen auf dem beschissen diskriminierenden Visumwisch!

Aus Kowloon? Sorry Guys, aber in diesem Fall: Hände weg von unserem Eigentum. Jeder weiß, wie ihr Gesichtslosen tickt.

Mit den Fischern kamen wir besser klar, aber die halfen uns auch nicht weiter. Es gäbe kein geheimes Bordell. Weder hier noch sonst wo. Die Regierung wüsste alles. Das wäre immer so gewesen und sie hätte Bordelle verboten, also existierten sie auch nicht. Darauf könnten wir uns verlassen.

Bei den ersten beiden Malen hat Liam trocken gelacht. Bei den nächsten musste ich mich an seinen Oberarm hängen, um ihn am Zuschlagen zu hindern.

Eine Woche später wollten wir unsere Suche fortsetzen. Kein Visum mehr. Weder für mich noch für Liam. Die Begründung: Ohne einen implantierten ID-Chip wäre das verboten. Das erste Visum hätte nur auf einer Gefälligkeit beruht. Auf die Frage, wo wir diesen verdammten Chip herbekämen, hatte der Mann von der Ausreisebehörde bedauernd mit dem Kopf geschüttelt. Es wäre für die Regierung kostengünstiger, die Bewohner Kowloons nicht zu chippen, sondern einfach an der Ausreise zu hindern. Die Gesichtslosen hätten im Rest der Welt ohnehin nichts verloren.

Hätte der Kerl in Fleisch und Blut und nicht als Hologramm vor uns gestanden, wir wären ihm gemeinsam an die Kehle gegangen. So musste sich Liam damit begnügen, ihn in die Hölle zu wünschen. Dummerweise fiel dabei auch der Name des präsidialen Verwalters.

Jetzt sind auch die Grenzen hinter den New Territories für uns gesperrt. Wir gelten als Staatsfeinde, dabei wollen wir nur unseren Freund finden.

Werden wir nicht. Mein Kopf weiß das. Mein Herz hält sich die Ohren zu.

Nie wieder Joseph sehen, fühlen, riechen, berühren.

Meine Schnappatmung beginnt spontan. Klar bei solchen Gedanken.

Liam reicht mir sein Asthmaspray und legt den Arm um mich. Erst, nachdem ich mich beruhigt habe, stößt er mit mir auf den Jahreswechsel an. Mit Whiskey statt mit Sekt, aber das ist okay für mich, auch wenn das Zeug widerlich schmeckt. Sun Haidong hat das Einfuhrverbot selbst an Weihnachten nicht gelockert. Zwar funktioniert die Versorgung dank des Schmuggels, aber man bekommt das, was da ist und nicht unbedingt das, was man will.

Keine amerikanischen Zigaretten, aber vietnamesische. Keinen irischen Whiskey, sondern amerikanischen, keine Frühstücksflocken, dafür gepresste Mini-Briketts, die verdächtig nach Pappe schmecken. Die einzigen Konstanten sind japanischer grüner Tee, afrikanischer Kaffee, Tonnen an chinesischem Reis, der mir längst zu den Ohren rauskommt, und Mr. Kuns Würfelzucker. Entweder hat er beizeiten einen gigantischen Vorrat angelegt, oder er verfügt über eine verlässliche Quelle.

»Willkommen im Jahr des Schafes.« Statt zu trinken, legt Liam seine Lippen auf meine. Erst zögernd, dann drängender.

Wie immer, wenn wir uns küssen, schmecke ich seine Lust auf mich, seine Sehnsucht nach Joseph und seine Angst, ihn nie wieder zu sehen. Heute ist dieses spezielle Aroma besonders intensiv.

Wir vögeln nicht miteinander, aber wir verwöhnen uns fast jede Nacht. Mal blasen wir uns abwechselnd einen, manchmal auch gleichzeitig, oder wir wichsen uns einfach und küssen uns dabei, als gäbe es kein Morgen mehr. Sein großer schöner Schwanz kommt nie in die Nähe meines Lochs, dabei will ich das und habe mich endlose Male angeboten. Mir wäre egal, wenn er dabei das Tier rauslässt. Im Gegenteil. So ein richtig heftiger Fick ließe mich fliegen. So wie damals bei Joseph.

Liam will davon nichts hören.

Er wird von Tag zu Tag stiller.

Ich helfe ihm bei der Arbeit. Ihm und Steve. Ich nehme die Reservierungen entgegen, besuche die Shivas, die eine harte Nacht hatten, bringe ihnen Tee, etwas zu essen, erneuere ihre Verbände und nähe im Notfall sogar ihre Wunden, wenn Liam noch nicht zurück ist.

Er hat mir eine Menge beigebracht. Nur nicht, ohne Joseph glücklich zu sein. Er weiß selbst nicht, wie das geht.

»Ich bin ein bisschen betrunken.« Liam leert sein Glas. »War ich lange nicht mehr.«

»Ist okay. Jeder betrinkt sich an Silvester.« Nur ein Whiskey pro Tag. Seine persönliche Challenge seit der Nacht, in der Joseph verschwunden ist. Er will nichts weichzeichnen lassen, nichts vergessen und sich auch nicht trösten. Er will einen klaren Verstand und jederzeit handeln können.

Und er will seine Sehnsucht und seine Angst. Beides bindet ihn an Joseph.

Ich verstehe ihn und das weiß er. Deshalb kleben wir so oft es geht aneinander. Dann fällt keiner von uns um. Auch nicht seelisch.

»Wollen wir runter zu den anderen?« Ich warte sein Nicken nicht ab, sondern helfe ihm gleich auf die Beine. »Komm schon, wir sind die Bosse. Wir können uns nicht drücken.«

Offiziell ist das Steve. Die Organisation und die Finanzen, damit hat er kein Problem. Aber alles Zwischenmenschliche geht ihm ab. Er lässt es weder den Gästen noch den Shivas an etwas fehlen, es sei denn, Sun Haidong hat uns mal wieder einen Strich durch die Rechnung gemacht. Aber das Gefühl, im Monk geborgen und zu Hause zu sein, kann Steve nicht vermitteln.

Liam schon. Ich auch, nur auf meine Art. Keiner der Shivas spricht mich mit Boss oder Sir an. Aber bei Problemen kommen sie trotzdem zu mir.

»Ich will nicht zu den anderen.« Auf wackligen Beinen sieht sich Liam um. »Ich will ins Bett, kuscheln.«

»Und ich will ficken. Mit dir.« Meinetwegen können wir danach kuscheln.

Liam grinst auf seine traurige Weise. Er hebt die Hand samt Glas, spreizt langsam den Zeigefinger ab und tippt mir an die Nasenspitze. In seinem Blick liegt eine Mischung aus Das Thema ist durch und Ja, kann ich verstehen.

Mich überkommt das dumpfe Gefühl, dass es in diesem Leben nichts mehr wird. Dabei war das erste und einzige Mal mit ihm fast mehr, als ich verkraften konnte.

»Na los«, motiviere ich ihn halbherzig. »Männchen machen.« Jeder im Monk hat Verpflichtungen und so, wie ich Steve einschätze, drückt er sich vor dieser. Er hasst es, mit Gästen zu plaudern. Alles, was das knappe Gespräch zu einer Reservierung sprengt, überfordert ihn.

Heute stehen keine Reservierungen an. Die Oase ist geschlossen und in der Bar tummeln sich nur geladene Gäste. Zum Feiern und tanzen. Alles andere ist heute Nacht tabu. Die Idee stammt von Liam. An Weihnachten hatte er sie auch schon durchgesetzt und für Ostern hat er dasselbe vor. An moralisch erbauenden Feiertagen sollte niemand gequält werden. Nicht für Geld und auch nicht aus Lust. Dass den meisten Shivas solche Feste schnurzegal sind und sie lieber dicke Trinkgelder einstreichen wollen, hat er als Argument nicht gelten lassen.

Steve hat Liams Entscheidung zähneknirschend hingenommen. Er weiß, wie viel New-Hongkongdollar ihm bei der Aktion durch die Lappen gehen. Zumal alle anderen Clubs regulär für die Vergnügungspendler geöffnet sind.

Ein paar Stammgäste haben dem Monk den Rücken gekehrt, seit Joseph verschwunden ist. Auch ein paar der vertragslosen Shivas. Dafür sind andere nachgerückt. Das Monk ist immer noch das Monk. So sicher und seriös wie ein Bordell in Kowloon sein kann. Dennoch fehlt Josephs unschlagbares gewisses Etwas. Das ist der Grund, weshalb Madame Nikobes Fleur du Mal seit drei Monaten Platz eins einnimmt. Für Juen ist das ein Weltuntergang, für Kitao eine Versuchung, das Etablissement zu wechseln, aber Steve lässt ihn nicht vom Haken und Vertrag ist Vertrag.

Liam torkelt auf dem Weg zur Nottür. Auf der Treppe lehnt er sich gegen mich und scheint sich auf jeden Schritt zu konzentrieren.

Ein bisschen betrunken ist was anderes, aber ich merke den Whiskey auch. Ich mag das fusselige Gefühl in meinem Kopf. Es lässt mich traurig sein, ohne dabei seelisch abzustürzen zu müssen.

Im Treppenhaus, in den Fluren, im Entree. Überall erwarte ich, Joseph zu sehen. Es lässt einfach nicht nach. Wie er um die Ecke biegt und den Mund in dieser Mischung aus Spott und Freundlichkeit verzieht. Wie er am Tresen sitzt und sich von Mr. Kun einen Glückskeks aufschwatzen lässt. Das stolze Leuchten in seinen Augen, wenn er sich in der Bar umsieht.

In der Zeit nach Liams Genesung ist es immer seltener geworden. Damals war mir nicht klar, warum.

Im dritten Stock steht die Tür zu den Shiva-Unterkünften offen. Das Flurlicht brennt und ein stechender Farbgeruch weht uns entgegen.

»Da malt jemand«, stellt Liam mit schwerer Zunge fest. »Wo denn? Ist doch schon alles voll.«

Irgendwo findet sich immer ein Platz in Piaos Projekt bunte Wände gegen schwere Herzen. Er hat es begonnen, nachdem Joseph und ich den Flur saniert hatten. Die Bilder erzählen von Träumen, Sehnsüchten, Ängsten und Sex. Jeder Menge davon. Eines der Gemälde stammt von mir. Das einzige Mal mit Liam. Joseph hat ihn dazu verführt, sonst wäre es nie geschehen.

»Jana«, murmelt Liam und schleppt sich in den schmalen Flur. »Sie malt …«

Joseph. In Lebensgröße und feucht schimmernd an ihrer Zimmertür. Sie kniet davor und zieht mit dünnem Pinsel die Nähte seiner Jeans nach.

Liam bleibt stehen, starrt das Bild an.

»Ich vermisse ihn«, sagt sie, ohne hochzusehen oder ihre Arbeit zu unterbrechen. »Ich dachte, es wird mit der Zeit besser, aber heute wurde mir klar, dass das nicht stimmt.« Der Pinsel landet in einer zweckentfremdeten Linsendose. Das Wasser darin ist schon braun. »Würde er das Bild sehen, würde er darüber lachen.« Sie streicht sich die Haare hinters Ohr, zieht dabei eine blaue Linie über ihre Wange. »Es würde mich nicht stören. Hauptsache, er wäre wieder da.«

Ich weiß genau, was sie meint, aber ich kann nichts erwidern. Meine Stimmbänder fühlen sich zu dick an.

Liam geht einen Schritt zurück, atmet scharf ein. »Mal ihm diese verdammte Strähne.« Er klingt verdächtig gepresst. »Die, die ihm ständig aus dem Haarknoten rutscht.«

Jana steht auf, betrachtet ihr Werk mit gerunzelter Stirn. Schließlich nimmt sie den Pinsel, streicht ihn aus und gibt ihn Liam.

Der greift blind zu dem angeschlagenen Teller, der als Palette dient. Keine Sekunde verlässt sein Blick Josephs Gesicht. Auch nicht, während er die Farben zusammenmischt. Als müsste er nicht einmal hinsehen, um den richtigen Ton zu treffen. Ein paar flüchtige Schlenker aus dem Handgelenk, und an Josephs Schläfe und Wange entlang schmiegt sich die verloren gegangene Haarsträhne.

Ich bilde mir ein, dass sie sich im Durchzug bewegt.

Jana betrachtet das Bild, als sähe sie es zum ersten Mal. »Jede Wette, gleich schiebt er sie sich hinters Ohr.«

Liam nickt. Der Teller rutscht ihm aus der Hand, der Pinsel folgt. Er scheint es nicht zu bemerken, denn er dreht sich um und geht.

»Für ihn ist es am schwersten«, sagt Jana leise. »Lass ihn nicht zu lange allein. Das ist nicht gut.«

»Weiß ich.« Gleichgültig, was diese Nacht noch bringt, ich werde ihn keine Sekunde aus den Augen lassen.

Kurz vor der Hintertür zur Bar hole ich ihn ein. Er steht davor, als könnte er sich nicht entscheiden, durchzugehen. Ich bin mir sicher, dass er die Musik dahinter nicht hört und die Menschen hinter der Glasscheibe nicht wahrnimmt.

»Wollen wir?« Ich sollte ihn ins Bett bringen, statt ihn einem Haufen Leute auszusetzen.

Er fährt sich mit der Hand übers Gesicht, sieht sich um, bemerkt mich, nickt.

Also gut.

Mit einem tiefen Seufzen greift er mir in den Nacken und setzt seine Arztmiene auf. Er öffnet die Tür, schiebt mich vor sich her in die Bar und zieht mich wieder dicht an seine Seite, kaum dass es der Platz hergibt.

Die Musik der Band kommt gegen das Reden und Lachen der Feiernden nicht an. Mr. Liu Ren hat die Musiker spendiert, weil er mit Mingtong ins neue Jahr tanzen wollte. Genau das macht er. Eng umschlungen schieben sich die beiden übers Parkett. Wange an Wange und mit alkoholseligem Lächeln.

Keine Ahnung, wie alt der Mann ist, aber er gehört zu den Gästen, die das Monk erst verlassen, wenn normale Leute frühstücken. Mingtong verehrt ihn. Nicht nur wegen des stets großzügigen Trinkgeldes, sondern auch, weil sie zusammen Marathonficks hinter sich bringen.

»Hao Jun fehlt«, stellt Liam ohne jede Spur von Bedauern fest. »Ich habe ihn pflichtschuldigst eingeladen, den verfluchten Bastard.«

Er wird ihm niemals verzeihen. Jedes Mal, wenn er den Namen ausspricht, höre ich das. Zusammen mit Eifersucht und der Scham, genau das zu sein: eifersüchtig. Auf einen alten Mann, dem sich Joseph nur aus Zwang hingegeben hat. Zumindest rede ich mir das ein. Hao Juns Gerede, Joseph wäre von Grund auf der geborene Shiva, geht mir am Arsch vorbei. Ich kenne keinen dominanteren Mann als Joseph. Dass er sich von Liam hat ficken lassen, hat damit nichts zu tun. Liam ist etwas Besonderes.

»Da, Meister Hiato.« Liam nickt zu einem der Ecktische. »Was will er mit Piao? Sind Kitao oder Juen nicht eher was für ihn?«

Für eine Sekunde erinnern sich meine Fingerspitzen an die Narben auf Josephs Rücken. Ich will sie diesem Mann übelnehmen, aber ich will auch ein Phönixtattoo von ihm. Meine Haut ist dazu längst bereit. Mir fehlt lediglich die Zeit für die aufwendigen Sitzungen. Eventuell brauche ich auch noch ein bisschen Zeichentraining. Hiato hat sich in den Kopf gesetzt, dass ich die Vorlage für mein Tattoo selbst entwerfen soll.

Wenn ich Liam meine Skizzen zeige, beißt er sich jedes Mal auf die Lippen. Danach zuckt er mit den Schultern, um schließlich den Kopf zu schütteln.

Es gibt subtilere Möglichkeiten, mir klarzumachen, dass ich kein Talent besitze.

»Wir müssen ihn begrüßen.« Liam schiebt mich in Hiatos Richtung. »Er ist ein seltener Gast.«

Bis jetzt war er gar keiner. Ich habe ihn das erste und letzte Mal gesehen, als mich Joseph ihm vorgestellt hat, und das ist ein Jahr her.

»Meister Hiato.« Liam klappt in eine geschätzte 61,53°-Verbeugung und schwankt dabei so stark, dass ich ihn festhalten muss. »Willkommen im Begging Monk«, nuschelt er seinen Schuhspitzen zu.

Über Hiatos Gesicht huscht ein Lächeln, von dem Liam nichts mitbekommt. Er steht auf, verneigt sich ebenfalls.

Ich erwidere die japanischste aller Begrüßungen ohne Probleme.

»Leisten Sie uns Gesellschaft.« Hiato weist auf die freien Plätze. »Und erlauben Sie mir, mich für die Einladung zu bedanken.« Er verneigt sich erneut.

Und wieder antworte ich mit demselben Zinnober. Es ist wie der Schlag des kleinen Arzthammers aufs Knie. Das Bein schnellt nach vorn. Ob man es will oder nicht.

Liams Reflexe scheinen abgenutzter zu sein. Er sinkt auf den Stuhl, als hätte ihm jemand die Beine weggezogen. »Reine Höflichkeit. Ich dachte nicht, dass Sie kommen.« Er wedelt mit der Hand, wobei unklar bleibt, ob er eine Fliege verscheuchen oder auf den Niedergang jeglicher Kultur hinweisen will. »Aber wenn Sie schon mal hier sind, amüsieren Sie sich ruhig.«

Hiato lacht. Leise, vornehm, aber spontan. »Ich schätze Ihre Ehrlichkeit. Darauf sollten wir einen Tee zusammen trinken.« Er gibt Piao ein Zeichen, eben den auch für uns zu holen, und sieht ihm mit einem gewissen Glanz in den Augen nach.

Ich hätte Sake erwartet, aber es wundert mich nicht, dass ein Mann wie Meister Hiato abstinent ist. In seinem Dojo herrscht sicherlich genau so viel Disziplin wie in seiner Peitschen-Session mit einem Shiva.

Mich springt Mitleid für Piao an, doch der kommt mit einem Tablett zurück und wirkt kein bisschen wie ein potenzielles Prügelopfer. Schwungvoll füllt er den Tee in die Schalen, ohne dass seine Hände auch nur eine einzige unnötige Bewegung ausführen.

Hiato registriert es mit einem sanften Lächeln.

Piao lächelt zurück, senkt die Lider. Seine Wangen färben sich rosa.

Nicht zu fassen, er steht auf den alten Japaner.

Der lässt seinen Blick wohlwollend auf dem Shiva ruhen, während er an seinem Tee nippt.

Ich sollte Piao warnen. Das ist nur fair.

Liam bekommt von all dem nichts mit. Er starrt vor sich hin, schlürft ein paar Schlucke, starrt weiter. Wahrscheinlich hat er vergessen, dass wir auch noch am Tisch sitzen.

»Haben Sie etwas von Joseph gehört?«, fragt Hiato so unvermutet, dass sich Liam fast verschluckt. »Ich hoffe, Sie gaben die Suche nicht auf.«

Noch jemand, der an Josephs Überleben glaubt, auch wenn er damit in Liams Wunde bohrt.

»Er ist nicht mehr in Kowloon.« Liam stellt die Schale zu fest ab. Ob aus Absicht, oder weil ihm durch den Rausch die Kontrolle entgleitet, weiß ich nicht. Auf jeden Fall schwappt ihm der heiße Tee über die Finger, ohne dass er darauf reagiert. »Wenn, wüsste ich das.«

Ich sehe ihn schlucken, sehe, wie er die Faust ballt und versucht, Haltung zu bewahren. Das Zucken in seiner Miene, bevor sie jeden Ausdruck verliert, die zusammengepressten Lippen.

Ich sollte ihn schnappen und ins Appartement bringen. Dazu brauche ich eine Ausrede, die vor einem ständig gefassten Japaner wie Hiato Bestand hat und in dessen Augen nicht Liams Gesicht oder sonst etwas von ihm klaut.

Tut mir leid, Meister Hiato, wir müssen uns leider zurückziehen. Mr. O’Farrell benötigt dringend Trostsex.

Das ist die Wahrheit. Die Frage ist, ob Hiato Verständnis dafür hat.

Der legt den Arm um Piao. »Die Leute fragen sich, warum ein Mann wie Joseph Wakane seinem Lebenswerk den Rücken kehrt und einfach verschwindet.« Sein Lächeln wirkt plötzlich sehr viel weniger freundlich. »Es muss einen Grund geben und ich vermute, dass Sie ihn kennen.«

Liam sieht ihn schweigend an.

»Wären Sie bereit, ihn mir unter vier Augen anzuvertrauen?«

Nicht einmal eine Wimper von Liam zuckt.

Hiato seufzt. »Sie sind nicht der Einzige, der sich um Joseph sorgt. Meine Bemühungen gingen mir leichter von der Hand, wenn mir mehr Informationen zugänglich wären.«

Liam bleibt stumm.

Er wird Hiato niemals den Grund nennen. Ihm nicht und auch keinem anderen. Aber ich kann verstehen, dass er das Schweigen einer Lüge vorzieht. Ich würde es ebenfalls nicht über mich bringen, Hiato ins Gesicht zu lügen. Es geht einfach nicht. Ich wette, der erkennt jede noch so perfekte Lüge, noch bevor die auch nur zu Ende gedacht ist.

Hiato nickt, erhebt sich. »Auf mich warten wichtige Geschäfte, die sich weder von tanzenden Drachen noch von angenehmer Gesellschaft aufschieben lassen.« Sein Lächeln gilt Piao.

Dessen Wangen werden erneut von Rosa geflutet.

»Zukünftig würde ich das Monk allerdings gern öfter besuchen. Nach wie vor ist es ein ausgesprochen angenehmer Ort.« Er gönnt uns eine perfekte 45°-Verbeugung.

»Jederzeit.« Liam bleibt sitzen. Keine Verbeugung, kein Nicken.

Hiato nimmt es ihm offenbar nicht übel, denn er legt ihm beim Vorbeigehen die Hand auf die Schulter. »Manchmal ist es weise, eine Hoffnung aufzugeben.« Er neigt sich näher zu ihm. »Und manchmal ist es das nicht.«

Als würde die Berührung Liam zu Stein verwandeln.

Auch das nimmt der Japaner gelassen hin. Er wendet sich zu Piao, lächelt ihn freundlich an. »Würdest du mich zur Tür begleiten? Ich möchte noch für einen Moment das Leuchten dieser Nacht mit dir genießen.«

Piao springt auf. »Sehr gern, Sir.« Seine Augen leuchten heller, als es jede Silvesternacht jemals könnte.

Die beiden verlassen Seite an Seite das Monk.

Ich habe keine Ahnung, was ich davon halten soll.

»Dieser verdammte alte Bastard.« Liams Gesicht verschwindet hinter seinen Händen.

Hiato hätte die Sache mit Joseph nicht ansprechen dürfen. Nicht heute Nacht. Auch nicht morgen oder sonst wann. Er ist Japaner! Wo zum Teufel ist sein Taktgefühl?

»Lass uns hier verschwinden.« Wir hätten erst gar nicht kommen sollen.

Liam rührt sich nicht. Auch ohne dass er die Hände herunternimmt, weiß ich, dass er weint. An seinen Unterarmen rinnen einzelne Tropfen hinab. Sie verfangen sich in den Härchen, stoppen einen Moment und fließen weiter.

Es ist nicht nur der Gedanke, Joseph könnte längst tot sein, der ihn quält. Es ist die Angst, dass es Joseph so dreckig geht, dass er es gern wäre und dass er als sein Freund und Arzt nichts dagegen unternehmen kann. Ein Mann wie Liam muss helfen dürfen, wenn es etwas zum Helfen gibt. Vor allen den Menschen, die er liebt.

Ich kraule ihm durch die Haare, küsse ihn auf den Scheitel. »Tut mir leid, dass ich dich hierzu überredet habe.« Es war eine Scheißidee.

Er schlingt die Arme um meine Hüfte, lehnt die Stirn an meinen Bauch. »Lass es aufhören.«

Sein Schluchzen ist leise, aber ich höre es ganz genau. Daran können weder die Musik noch das Geschnatter der Gäste etwas ändern.

»Bitte, Dean, lass es endlich aufhören.«

– Joseph –

»Joseph, komm zu dir!«

Die vor Heiserkeit krachende Stimme ist jenseits des Sees.

»Joseph, komm schon!«

Frederik. Seine Angst ist mir gleichgültig.

Das Gefühl, gehalten zu werden, während sich mir ein Engel nähert. Himmelblaue Augen unter einem dichten Wimpernkranz, golden schimmernde Locken. Sie umschmeicheln meine Finger. Weiche Lippen schmiegen sich auf meine. Ich koste ihre Süße, den Hauch von Orange, den sie ausströmen.

Ein Traum. Ich bin mir dessen bewusst. Er meint es gut mit mir.

Ich will ihn nicht loslassen.

»Joseph!«

Er versinkt in der Tiefe unter mir, während ich aufsteige. Die Kühle wird zu Wärme, zu unerträglicher Hitze und einem Brennen, das mir die Tränen in die Augen treibt.

»Warte, ich dimme die Beleuchtung.«

Wo ist meine Augenbinde? Ich hasse es, wenn er sie mir abnimmt. Sie beschützt mich nicht nur vor der Helligkeit. Auch vor der Gier in den Blicken meiner Spieler und vor dem Pflichtmitleid in Frederiks.

Ich will nach ihr tasten, doch ich kann die Hände nicht heben. Es gelingt mir kaum, eine Faust zu ballen. Nach jeder Behandlung dauert es länger, bis ich wieder Herr über meinen Körper bin.

»Licht auf Stufe eins.«

Frederiks Maskengesicht taucht vor mir auf. An dem ungewöhnlich hohen Haaransatz schimmern Schweißtropfen. Einer seiner früheren Geschäftspartner hat ihm bei vollem Bewusstsein die Haut vom Gesicht geschnitten. Es geschah wenige Monate vor meinem Unfall. Kusmin hat ihm ein neues Gesicht aus Eigenhautzellen gezüchtet. Frederik behauptet, es ähnelt dem alten. Trotzdem wirkt es, als hätte er es sich übergezogen.

»Schau mich nicht so an.« Nervös streicht er sich über den Mund. »Ich mag es nicht, von dir gescannt zu werden, während ich in diesem Funzellicht kaum etwas sehen kann.«

Meinen Augen macht die Dämmerung nichts aus. Ich erkenne genug und sehr viel mehr als Frederik. Aber ich kann sie nicht an die Helligkeit gewöhnen. Der Sensor reagiert nicht auf meine Stimme und Frederik weigert sich, das zu ändern. Hao Jun will, dass ich der Blinde Shiva bleibe. Für ihn ist es eine beruhigende Tatsache, dass ich allein aufgrund der grellen Beleuchtung vor der Tür meinem Gefängnis nicht entfliehen kann.

Anfangs schmiedete ich selbst während der Spiele Fluchtpläne.

Jeder Versuch, der Morgenröte zu entkommen, scheiterte.

»Diesmal hat es lange gedauert. Ich musste zwischendurch sogar den Energiespeicher wechseln.« Er nickt zu dem Gerät, das Kusmins Meinung nach das Nonplusultra der Medizintechnik ist.

Es sieht aus wie ein gewöhnlicher Hautregenerator mit neuem Design. Frederik hat einige Mal den Vergleich zwischen einer Rikscha und einem Solarmobil bemüht, um mir die Unterschiede verständlich zu machen.

Für mich bedeutet es nur eines: Hao Jun kann mir dank dieses Gerätes Verletzungen zufügen, an denen ich noch vor wenigen Monaten gestorben wäre. Damit zögert es meine letzte Fluchtmöglichkeit hinaus.

»Wenn du einfach tun würdest, was deine Spieler von dir fordern, könntest du dir eine Menge Leid ersparen.«

Wenn er eine Antwort von mir will, muss er mir etwas zu trinken geben. Meine Kehle ist geschwollen und so trocken, dass ich keinen Ton hervorbringen kann.

»Durst?«, fragt er, als wäre dieses Bedürfnis nach einer stundenlangen Tortur ungewöhnlich.

Ich lasse meine Braue zucken.

»Warte, ich hol dir was.« Frederik verschwindet aus meinem Sichtfeld.

Der Versuch, mich aufzusetzen, scheitert.

Er kehrt mit einem Glas Wasser zurück, stützt meinen Kopf und hält es mir an den Mund.

Ich hasse es, mich von ihm füttern zu lassen. Es ist demütigend.

Bis auf die obligatorische Neige, die ich aus dem Winkel nicht trinken kann, was Frederik nie begreift, leere ich das Glas. Trotzdem brauche ich noch eine Weile, um reden zu können.

»Mach einfach, was deine Spieler von dir verlangen.« Er lässt mich wieder auf das Kissen sinken. »Was zur Hölle ist so schwer daran?«

»Ich soll schreien, wenn sie sagen: schrei?« Ich bin zu müde zum Grinsen. »Ich soll ihnen zusäuseln, dass ich sie liebe, obwohl sie mir die Haut von den Knochen peitschen?« Eher beiße ich mir die Zunge ab.

»Dass mit dem Lieben gilt nur für Hao Jun.« Sein Zeigefinger schnellt in die Höhe. »Lass dich niemals dazu hinreißen, diesen Satz zu einem anderen außer ihm zu sagen. Ich habe keine Ahnung, was dann geschehen wird, aber es wird furchtbar sein. Und zwar für dich und den armen Teufel, der dich dazu gebracht hat. Du weißt, dass Hao Jun nichts entgeht.«

Meistens ist er anwesend, wenn ich von seinen speziellen Gästen bespielt werde, hin und wieder überlässt er meinen Schutz einem Security. Doch auch ohne diese Sicherheitsmaßnahme weiß er, was in dem Spielzimmer geschieht. Es ist speziell und unterscheidet sich von den anderen. Das gilt sowohl für die variable Ausstattung als auch für die Mikrofone und Kameras.

Nicht jedem Gast der Morgenröte ist es erlaubt, mich zu reservieren. Das hat nichts mit der Höhe des Gebotes zu tun. Allein Hao Jun entscheidet, wer dieses Zimmer betritt. Das Spiel mit mir liefert ihm ein perfektes Druckmittel. Daran ändern auch die goldenen Masken nichts. Das Theater, das um Sicherheit und Diskretion veranstaltet wird, lässt die Gäste glauben, ihr Inkognito würde allein aus wirtschaftlichen Interessen seitens des Clubs gewahrt. Fakt ist, dass bereits am Eingang Iris-Scanner installiert wurden. Aus Vergnügungssüchtigen werden potenzielle Erpressungsopfer. Je grausamer sie bei mir agieren, umso besser für Hao Juns Ziele. Er verriet mir, dass sich diese Methode oft bewährt hat. Ich wäre erstaunt, wenn ich wüsste, wen er alles in der Hand hält.

Seine politischen Machenschaften sind mir gleichgültig.

»Überleg dir das mit dem Schreien noch mal. Die anderen Shivas machen es auch. Die wissen, warum.«

»Sie tun es, weil sie nicht anders können.« Als ich nach meinem Unfall im Krankenzimmer aufgewacht bin und nicht wusste, wer und wo ich war, hörte ich ihre Schreie. Nach einiger Zeit wurden sie hinter lärmgeschützten Türen erstickt. Auf Wunsch der Gäste. Jeder will nur der Qual lauschen, die er selbst verursacht.

»Daniel hat mit mir gewettet, dass du es dieses Mal nicht schaffst.« Sein Gesicht wirkt durch das Lächeln noch künstlicher. »Mann, bin ich froh, dass ich gewonnen habe.«

Der Security mit der leisen Stimme. Er hat Riu ersetzt, nachdem der sich in einem der Spielzimmer erhängt hat.

Die wenigsten können die Morgenröte ertragen. Das gilt für alle, die hier arbeiten.

»Sogar Hao Jun hast du einen gehörigen Schrecken eingejagt. Er hat endlich eingesehen, dass du eine längere Pause brauchst.«

»Ich will keine Pause.« Sie hält mich bloß vom Sterben ab.

»Ist mir klar.«

Es hat lange gedauert, bis ich mich an die krachenden Laute gewöhnt habe, mit denen Frederik lacht.

»Denkst du, Hao Jun merkt das nicht? Ihm ist nicht entgangen, dass du dein Essen verweigerst und er ist verdammt angepisst deswegen.«

»Ich verweigere es nicht.« Ich kann es nur nicht mehr hinunterwürgen. Mein Magen sperrt sich gegen jeden Bissen.

»Ach nein?« Wieder dieses Krachen. »Du bist sein Favorit. Was meinst du, was mir blüht, wenn ich dich verhungern lasse?«

»Du wirst meinen Tod nicht verhindern können.« Ich habe ihm längst die Hand gereicht. Er blickt mir freundlich vom Grund des Sees entgegen und wartet mit mir zusammen auf den richtigen Moment. Lange wird es nicht mehr dauern.

Noch vor wenigen Wochen wollte ich Hao Jun mit mir nehmen, doch das hat er nicht verdient. Mein Sterben ist mir heilig. Ich werde ihn nicht mit einem Mord besudeln.

»Bist du fertig mit mir?« Ich will, dass er verschwindet und mich endlich schlafen lässt.

»Rein äußerlich bist du wieder hergestellt, aber das war’s dann auch. Du weißt ja selbst, wie es dir geht.«

So, als müsste ich nicht mehr oft aufwachen und daran können auch Kusmins medizinische Tricks nichts mehr ändern. Bei jedem Spiel schwindet meine Kraft schneller.

Ich begreife nicht, wie ich so alt werden konnte. Keiner der anderen Shivas ist über zwanzig und keiner von ihnen wird es werden. Hao Jun kann mich niemals all die Jahre hinweg mit dieser Intensität bespielt haben. Ich wäre längst tot. Schon jetzt schaffe ich es kaum, ihm oder seinen Gästen aufrecht und Herr meines Körpers entgegenzutreten. Frederik spritzt mir ein Mittel, damit das Zittern aufhört. Sonst könnte ich kein Glas mehr zum Mund führen, ohne die Hälfte zu verschütten.

»Kopf hoch. Ich verbinde dir die Augen.« Frederik greift zu dem Tuch. »Noch ein bisschen, und ich kann deine Endversorgung auch im Dunkeln absolvieren.«

Ich genieße die kühle Seide auf meinem Gesicht.

»Drei Stufen heller«, befiehlt er dem Sensor. »Hör mal. Ich weiß, das Thema ist dir zuwider, doch du solltest ernsthaft in Erwägung ziehen, Big Glare …«

»Nein.« Die Droge weckt eine kaum stillbare Lust, wo zuvor Abscheu und Angst herrschten. Erst, wenn der Irrsinn nachlässt, schleudert einen die Erkenntnis, etwas Fremdes, Widerwärtiges zu sein, in einen Abgrund.

Hao Jun hat mich einmal dazu gezwungen. Als er mir das nächste Mal begegnete, traf ihn meine Faust, bevor sein Bodyguard auch nur mit der Wimper zucken konnte. Ich genoss das Geräusch seiner brechenden Nase und nahm die Strafe hin. Als ich zwei Wochen später wieder zu mir kam, versprach er mir, mich nicht mehr zu der Droge zu zwingen. Bis jetzt hat er sich daran gehalten.

»Daran, dass der Alte mich für deinen Starrsinn zur Verantwortung ziehen könnte, denkst du nicht, oder?« Fluchend zieht er mir die Nadel aus der Armbeuge. »Er steht unter Druck. Das macht ihn noch gefährlicher, als er ohnehin ist. Gestern kam schon wieder einer von Sun Haidongs Inspektoren. Das war das dritte Mal in diesem Monat. Langsam glaube ich, dass der Kerl von Hao Juns kleiner Intrige Wind bekommen hat und der Sache auf den Grund gehen will.«

Ich weiß nicht, was Sun Haidong mit Kowloon vorhat, aber Hao Jun gefallen weder die Restriktionen noch das Einfuhrverbot dringend benötigter Waren. Sollte der präsidiale Verwalter Hongkongs erfahren, dass der Geschäftsführer seines offiziell nicht existierenden Clubs in Wirklichkeit für die Mafia arbeitet und deren Oberhaupt jederzeit die geheimen Machenschaften rund um die Morgenröte auffliegen lassen kann, wird es für alle Beteiligten spannend.

»Er hat jedes Spielzimmer von rechts auf links gedreht und sich durch fast alle Serviceräume geschnüffelt. Wenn der auf die Idee kommt, sich das Basement genauer anzusehen, bin ich geliefert. Der muss nur fragen, weshalb wir zwei Serverräume benötigen und darauf bestehen, dass ich ihm den unter deinem Spielzimmer öffne. Schon steht er vor einer Reihe Hebebühnen und Überwachungselektronik, die von seinem Boss nie vorgesehen waren.«

Seine Nervosität schlägt in Angst um. Ich höre es nicht nur, ich rieche es auch.

»Weißt du, was Hao Jun gesagt hat, als ich ihn darauf hinwies, dass wir demnächst am Arsch sein werden?«

Nichts ist mir gleichgültiger, aber das hält Frederik nicht vom Reden ab. Unendliche Male habe ich mir gewünscht, ihm den Mund mit Panzerband zuzukleben wie es einige Spieler bei mir machen. Bei ihm würde es wenigstens einen Sinn ergeben.

»Er hat gelacht!« Etwas klatscht. »Ist es zu fassen? Entweder unterschätzt er Sun Haidong, oder er hält den Kerl ganz entsetzlich an den Eiern.«

»Frederik, verschwinde.« Ich muss schlafen. »Aber vorher sagst du mir, wie spät es ist.« Ich bin es leid, nach etwas so Selbstverständlichem wie der Uhrzeit fragen zu müssen.

Er stöhnt genervt. »Musst du jeden Tag auf dieses Ritual bestehen?«

»Gib mir einen Kommunikator mit dimmbarer Displaybeleuchtung und ich verzichte darauf.« Früher hatte ich einen besessen. Als ich nach dem Unfall aufgewacht bin, war ein blasser Streifen an meinem Handgelenk. Hao Jun meinte, er wäre mir während der Flucht offenbar gestohlen worden.

Immer wieder fordere ich einen neuen, doch er verweigert mir diesen Gefallen, ohne einen Grund zu nennen.

»Die Uhrzeit kann dir egal sein«, herrscht mich Frederik an. »Hao Jun hat angeordnet, dass du die nächste Zeit als Dekoration im Käfig verbringst. So lange, bis deine Blutwerte den Normbereich wenigstens schrammen.«

»Meine Werte sind ihm egal.« Er will mich mit dem Käfig bestrafen. Er weiß, wie sehr ich das Zur-Schau-gestellt-werden hasse.

»Nein, sind sie nicht. Der Alte ist vernarrt in dich und egal, was du anstellst, er wird es bleiben.« Frederik legt mir die Hand auf die Brust.

Meine Nerven brennen unter dem Druck seiner Finger.

»Nimm die Hände von mir.« Er weiß, dass ich Stunden brauche, um nach der Behandlung eine Berührung zu ertragen.

»Du bist empfindsamer als früher.« Seine Finger gleiten hinab zu meinem Bauch, streichen über meine Leiste.

Der Impuls sticht mir bis ins Rückgrat.

Frederik sieht meinen Beinen beim Zucken zu. Sein leiser Pfiff klingt beeindruckt. »Die extreme Übersensibilität verdankst du der Behandlung mit dem Regenerator. Die lässt keine Nervenabstumpfung mehr zu.« Er schließt die Faust um meinen Schaft.

Wenn er denkt, mir damit einen Schmerzlaut hervorzulocken, irrt er sich.

»Wann hattest du das letzte Mal normalen Sex?« Langsam beginnt er, mich zu reiben. »Simples Ficken. Ohne diese ganze blutige Sauerei.«

Vor zwei Jahren mit Gage, kurz bevor mich Hao Jun abkaufte. Er rief mich in sein Büro und fickte mich auf seinem Schreibtisch. Anschließend sollte ich ein neues Spielzeug an mir ausprobieren. Ich war sicher, es beißt mir den Schwanz ab. Er hat sich köstlich darüber amüsiert.

Eine der Geschichten, die mir Frederik gern und oft erzählt. Er und Nimrod Gage standen sich nahe. Vielleicht hat er deshalb so viel Angst vor Hao Jun.

»Ich kann es dir besorgen, wenn du willst.« Sein Griff wird fester. »Besser meine Hand als nichts. Seit dich Hao Jun jedes Mal anketten muss, um sich an dich ranzutrauen, fickt er dich ja nicht mehr.« Sein Fingernagel fährt über meine Länge. »Es muss dich fertigmachen, dass deine Spieler auf dir abspritzen, während du kaum noch in der Lage bist, ein- und auszuatmen.«

»Mir ist nicht nach Sex.« Ich ziehe seine Hand von mir. »Weder mit dir noch mit jemand anderem. Übernimm meinen Job, dann weißt du warum.«

»Inhalier dieses verdammte Zeug«, faucht er. »Die Spieler hassen es, wenn dein Schwanz schlaff bleibt. Das gilt insbesondere für Hao Jun. Glaub mir, er sieht sich das nicht mehr lange an. Dann reißt ihm der Geduldsfaden und er lässt dich in den Hafencontainern verramschen.«

Der Gestank unsäglicher Angst. Verschwitzte, halbnackte Körper, angekettet an Containerwände. Die gierigen Blicke der Bieter, die Kreidestriche auf dem Fußboden. Keine Menschen mehr. Nur in künstliche Lust getauchte Ware.

Mir läuft es eiskalt durch die Adern.

Es liegt so viele Jahre zurück, dennoch kann ich mich daran erinnern. Frederik besitzt keine Geschichte zu diesem Erlebnis. Nim schon, wäre er noch am Leben.

»Spiel ihm was vor«, dringt das Krächzen durch meine Angst. »Das wird ihn milde stimmen und du überlebst vielleicht noch ein paar Wochen.«

Zu überleben ist nicht mein Plan.

»Du verdammter Idiot!«

Stuhlbeine schrammen, seine Schritte entfernen sich. Eine Tür schlägt zu.

Endlich allein.

Ich taste mein Handgelenk ab, spüre die glatten Perlen unter meinen Fingerspitzen.

Vielleicht war dieser Arzt der einzige Freund, den ich hatte. Vielleicht war er der einzige Mensch, der es je gut mit mir gemeint hat.

Ich will ihm nicht das Herz gebrochen haben.

Ich wünschte, alle Wahrheiten Hao Juns wären Lügen.