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Lars van Loon und sein Zwillingsbruder Gregor haben sich vor Jahren aus den Augen verloren, jeder hat seinen eigenen Lebensweg gewählt. Während der eine als eigenwilliger Pianist und Dirigent um die Welt reist, hat der andere sein Leben komplett umgekrempelt und lebt jetzt auf der Strasse. Ein grosses Geheimnis schwebt über den beiden. Führt das Schicksal die beiden Brüder wieder zusammen...?
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Seitenzahl: 504
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Martin Geiser
Beethoven in Sneakers
Roman
Titelbild:
Brooke Fishwick: »A pair of black Converse sneakers«, 2010
Autorenfoto: © Bernhard Jörg
Beethoven in Sneakers
Martin Geiser
Copyright: © 2018 Martin Geiser
Lektorat: Bruno Wegmüller
Druck: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
Printed in Germany
Bibliografische Information der
Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar
www.martin-geiser.com
www.facebook.com/martingeiser.autor
Für Gabriela, in Liebe
Dies Geschöpf der Finsternis erkenn’ ich
Für meines an.
William Shakespeare – Der Sturm, 5. Aufzug
Inhalt
Danksagung
Anhang
1
Zweifel
Februar 2017
Das Unerreichbare liegt unmittelbar auf der nächsten Stufe.
Mit solchen, zum Teil provozierenden Maximenhatte sich Lars van Loon, der bekannte Pianist und Dirigent, einen Namen gemacht – weit über den kleinen Kreis von Liebhabern klassischer Musik hinaus. Er liebte es, mit solchen Aussagen herauszufordern und seine Zuhörer zum Nachdenken anzuregen. Mit seinem quirligen und rastlosen Wesen ließ er ihnen aber gar nicht viel Zeit, um sich mit seinen Äußerungen auseinanderzusetzen und darüber zu reflektieren.
Am liebsten stapfte er während seinen Betrachtungen von einer Ecke in die andere, klatschte dabei in die Hände oder hatte sie hinter dem Rücken verschränkt, und spann seine Gedanken weiter, führte aus, worüber die anderen noch im Begriff waren, sich den Kopf zu zerbrechen, stets mindestens zwei Züge voraus:
»Doch wie gelangen wir bloß auf die nächste Stufe – und ist es überhaupt wünschenswert, sie zu erklimmen? Sollte das Unerreichbare für uns nicht immer in weiter Ferne liegen? Erstrebenswert, sich daran anzunähern? Vielleicht, gewiss sogar, und jeder Schritt, mit dem man ihm näherkommt, ist mit Freude und Genugtuung begleitet. Aber eben auch immer mit der Gewissheit im Hinterkopf, dass man die Distanz stets nur halbieren kann.«
Wenn er dann in die verblüfften Gesichter seiner meistens nicht mehr ganz nüchternen Zuhörer blickte und darin ihre Überforderung beinahe ablesen konnte, so brach er in schallendes Lachen aus, schlug sich auf die Oberschenkel und griff nach einem weiteren alkoholischen Getränk. Am liebsten war ihm ein Gin Tonic, den er sich vorzugsweise mit einer in frischem Pfeffer eingelegten Gurkenscheibe servieren ließ, und böse Zungen behaupteten, dass ihm dabei der Anti-Aging-Effekt, welcher dem kalorienarmen Getränk nachgesagt wurde, ebenso wichtig sei wie das genussvolle Trinken.
Lars van Loon verstand es vortrefflich, seine Zuhörerschaft mit provozierenden Aussagen, schrägen Anekdoten und skurrilen Geschichten zu unterhalten und wurde nicht müde, immer wieder von Neuem weitere Episoden aus seinem reichen Erfahrungsschatz hervorzuzaubern, die richtiggehend aus ihm heraussprudelten. Und wenn er in seiner wilden Fabulierlust keinen passenden Anschluss fand, so liebte er es, Herrmann Hesse zu zitieren – irgendeine Stelle aus dessen Gedichten oder Prosawerken, die Lars van Loon scheinbar alle auswendig aufsagen konnte und von denen er immer ein passendes Zitat zur Hand hatte:
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.
Und dann war es aber auch möglich, dass seine Stimmung von einer Sekunde zur anderen komplett kippen konnte; wo vorher noch Lachfalten in seinen Augenwinkeln gesessen hatten, übernahmen strenge, ernste Züge plötzlich die Oberhand, und wie aus dem Nichts, völlig zusammenhangslos, meinte er zum Beispiel:
»Dort, wo ich herkomme, kann man den Menschen keine größere Freude bereiten, als wenn man scheitert!«
Dann war es vorbei mit seiner Ruhelosigkeit, und man hatte das Gefühl, eine völlig andere Person vor sich zu haben. Verschwunden war der Derwisch, der noch vor wenigen Augenblicken alle Anwesenden bestens unterhalten hatte – auf hohem und anspruchsvollem Niveau notabene. Zurück blieb ein kleiner, feingliedriger Mann, der plötzlich enorm zerbrechlich wirkte, und dem man die Energie, die er zuvor noch versprüht hatte, nicht im Entferntesten zusprechen würde.
Die dunklen, dichten Haarlocken, die sein schmales Gesicht säumten und ihm zuvor wild um den Kopf geflogen waren, fielen nun schlaff in die Stirn und bildeten eine Art Vorhang, sodass sich seine Augen, aus denen das aufgeregte und elektrisierende Leuchten völlig verschwunden war, dahinter verbargen.
Die Worte, die wohlmoduliert und in einem überbordenden Tempo aus seinem Mund geströmt waren, wurden plötzlich leise und eintönig und waren durchtrieft von einer stumpfen Traurigkeit. Seine ohnehin stets etwas gebückte Haltung wurde dabei noch ausgeprägter, und man musste sehr gut hinhören und aufmerksam seinen Ausführungen lauschen, um ihn überhaupt noch zu verstehen.
Wer Lars gut kannte, der wusste, dass es in diesem Zustand zwei Möglichkeiten gab, wie der weitere Verlauf des Beisammenseins verlaufen sollte: Entweder kippte die Stimmung plötzlich wieder auf die andere Seite (und er würde noch quirliger und aufgedrehter seine Anekdoten aus dem Hut zaubern) oder es würde nicht mehr lange dauern, bis der Maestro den Anlass verlassen würde – aber nicht bevor er mindestens noch zwei Gin Tonic runtergestürzt hatte, was bei ihm sehr selten viel Zeit in Anspruch nahm.
Seine schwankende Gefühlsverfassung war bekannt und wurde auch meistens toleriert, der Künstlerbonus war dabei sehr hilfreich. Gelegentlich wurden ein paar höhnische Stimmen laut, die Lars van Loon sämtlichen Anstand absprachen und seine Auftritte scharf verurteilten, doch das störte ihn selber am allerwenigsten.
»Man kann’s nicht allen recht machen!«, war einer seiner Leitsätze, und um die Meinungen anderer kümmerte er sich in der Regel keinen Deut. Kritik prallte an ihm ab, auch positive Rückmeldungen ignorierte er weitgehend. Die einzige Stimme, auf die er hörte und auch Wert legte (neben seiner eigenen, selbstverständlich), war diejenige seines Managers und Freundes Sergio Carbotti, den Lars liebevoll Signor Carbonara nannte. Ein sehr nachvollziehbarer Spitzname, da der Italiener gefühlte zweihundert Kilogramm wog und Pastagerichte sowie sahnige Saucen über alles liebte – dementsprechend mächtig war sein Bauchumfang.
Obwohl den fülligen, liebenswerten Mittfünfziger beinahe nichts aus der Ruhe bringen konnte, hielt ihn Lars mit seinem fahrigen und flatterhaften Wesen ständig auf Trab und schaffte es immer wieder, dass dieser das Kreuz schlug und ein Stoßgebet gegen den Himmel sandte.
»Oddio! Salva questa povera anima!«
»Der da oben kann dir nicht helfen, Signor Carbonara«, wies ihn Lars in solchen Moment schalkhaft zurecht. »Du musst das Problem schon selber in die Hand nehmen.«
»Welch frevelhafte Worte, mio figlio«, flüsterte Sergio darauf ehrfürchtig, zog den Kopf ein und schlug erneut das Kreuz. »Auf Gott können wir uns immer verlassen. Du solltest ihm etwas mehr Respekt entgegenbringen!«
»Ach, Papa Carbonara, du weißt, ich hab’s nicht so mit der Religion. So häufig, wie du betest, das reicht locker für uns beide.«
In der Tat schloss Sergio Carbotti Lars van Loon nicht nur in seine Gebete ein, manchmal, wenn sein Schützling einmal mehr kopflos durch die Welt irrte, hatte er auch das Gefühl, für beide denken zu müssen. Auf der anderen Seite hatte er aber absolut nichts dagegen, wenn er für beide essen durfte – was nicht selten vorkam, wenn bei Lars nämlich der Hunger plötzlich verflogen war und er von seinem Teller fast gar nichts anrührte.
Sergio führte sorgfältig Lars’ Agenda, koordinierte Konzerte, Proben und Termin, arrangierte die Reisen und war ständig bemüht, über den aktuellen Aufenthaltsort des Musikers informiert zu sein, um ihn jeweils pünktlich an den richtigen Ort zu leiten. Eine Sisyphusarbeit, da dieser den Akku seines Handys ständig aufzuladen vergaß, wenn er in die Welt der Musik versank, und somit für seinen Manager nicht zu erreichen war.
Manchmal wusste Lars van Loon in seinen geistigen Verwirrungen selber gar nicht genau, wo er sich eigentlich befand.
So auch an diesem Morgen.
Das Erste, was Lars beim Öffnen seiner Augen wahrnahm, hing an der weiß getünchten Wand gegenüber und war eine lineare Engelszeichnung von Paul Klee. Außerdem wurde er von den Sonnenstrahlen, die auf seinem Gesicht herumtänzelten, empfindlich geblendet, sodass er den Kopf ins Kissen zurücksinken ließ und mit stark zitternden Händen vor den Augen sämtliche optischen Sinneseindrücke wieder von seinem Bewusstsein aussperrte.
Dann wurde ihm klar, dass er keine Ahnung hatte, wo er sich eigentlich befand, und gleichzeitig war er erstaunt über seine rasche Auffassungsgabe, mit der er das Bild, das nur aus wenigen Linien bestand und eigentlich den Charakter einer Skizze hatte, erkennen und dessen Urheber eindeutig zuordnen konnte.
Er spreizte seine Finger ein wenig und blinzelte mit halb geschlossenen Lidern nervös durch die daraus entstandenen Zwischenräume. Da hing immer noch der Engel an der Wand, und Lars erinnerte sich, dass er Klees Bilderserie nie gemocht und sie als Kinderzeichnungen verschrien hatte. Außerdem hasste er Engel!
Die Sonne schien immer noch unerbittlich in den Raum und hatte sich als Zielscheibe zweifelsohne sein Gesicht ausgesucht.
Das musste geändert werden – Jalousie runter, Engel weg!
Lars wollte sich aus dem Bett erheben, doch es gelang ihm nicht. Verwundert betrachtete er seine Bettdecke und stellte fest, dass sie mit der Matratze verbunden und dass darin, längs über seinen Körper, ein Reißverschluss angebracht war, sodass er am Aufstehen gehindert wurde. Durch zwei Öffnungen waren seine Arme nach draußen gelangt, doch dem Rest des Körpers blieb die Freiheit verwehrt. Die Einrichtung erinnerte ihn stark an eine Zwangsjacke, und er versuchte verzweifelt, den Reißverschluss nach unten zu ziehen. Ohne Erfolg. Es gelang ihm nicht, den kleinen Schlitten mit Daumen und Zeigfinger zu ergreifen; seine Hand zitterte zu stark.
Jetzt erst sah er sich etwas genauer in dem Raum um, in dem er aufgewacht war und in dem er sich seines Wissens nach noch nie zuvor aufgehalten hatte. Er erinnerte ihn stark an ein Krankenzimmer, allerdings fehlten die dazu notwendigen Apparaturen. Aber zum Bettgestell, er drehte seinen Kopf verzweifelt nach links und rechts, gehörte ein zaunartiges Gebilde, über welches er klettern müsste, wenn er aus dem Bett steigen wollte.
Er hob seinen Oberkörper, soweit es ging, und versuchte erneut mit verzweifelter Kraft, sich zu befreien. Seine Aufregung war zu groß, um sich des feinen Reißverschlusses wieder anzunehmen, und so krallte er seine Finger in die Decke hinein und versuchte mit aller Kraft, sie entzwei zu reißen.
Auch dieser Versuch misslang.
Er betrachtete das schlichte Nachttischchen aus weißem Holzfurnier, das von ihm aus gesehen rechts vom Bett stand. Doch außer einer Leselampe und einem Plastikbecher, der wahrscheinlich mit Wasser gefüllt war, befand sich nichts auf der matt schimmernden Tischfläche.
Er ließ sich ins Bett zurücksinken und blickte zur Decke. Wo war er bloß? Und dann tauchte noch eine zweite Frage auf, über die er bisher völlig hinweggesehen hatte: Wie war er hierhergekommen? Er kramte in seinem Gedächtnis nach den letzten Erinnerungen. Da war eine Orchesterprobe gewesen. Ravel oder Debussy – etwas Impressionistisches auf jeden Fall. Und die Musiker waren zu wenig auf seine Ideen eingestiegen. Daran vermochte er sich zu erinnern, denn er war ziemlich aufgebracht gewesen und hatte ihnen mit klaren und deutlichen Worten zu verstehen gegeben, was er von ihrer Leistungsbereitschaft hielt.
Aber war das wirklich erst gestern gewesen? Es kam ihm vor, als ob diese Probe viel länger her wäre. An etwas anderes vermochte er sich jedoch im Moment nicht zu erinnern.
Erneut fiel sein Blick auf die gegenüberliegende Wand, und nun hatte er den Eindruck, dass der Engel ihn mit mitleidiger Miene auslachte. Die wenigen Linien waren in Bewegung geraten, sodass die Figur plötzlich animiert wirkte. So schlicht und einfach sie dargestellt war, plötzlich vermochte sie ganz einfache Gefühle auszudrücken. Lars kniff die Augen zusammen und versuchte, seinen Blick zu schärfen. Das bildete er sich doch bloß ein!
Er fühlte, wie er von einer ohnmächtigen Wut übermannt wurde, die bei ihm ungeheure Kraftreserven mobilisierte. Laut schreiend zerrte er an der Bettdecke, wälzte seinen Körper zur Seite, zog die Beine an, so gut es ging, und versuchte, sich irgendwie aus seiner Gefangenschaft zu befreien.
Keine Chance.
So blieb ihm nichts anderes übrig, als seine Hilferufe zu intensivieren und zu hoffen, dass sie irgendwo auf Gehör stoßen würden. Und tatsächlich dauerte es nicht lange, bis die Tür mit einer ruckartigen Bewegung aufgestoßen wurde und eine kleine, stark untersetzte und kräftig wirkende Frau in einer weißen Jacke eintrat und ihn mit stechendem Blicken musterte.
Lars war von der Erscheinung so überrascht, dass er das Schreien komplett vergaß und sich wieder ins Kissen zurücksinken ließ. Die Frau näherte sich dem Bett mit energischen Schritten und blieb daneben stehen. Ohne ein Wort griff sie nach seinem Handgelenk und fühlte den Puls.
»Herr van Loon, wie geht es Ihnen?«
Er schaute in ein rundes, faltiges Gesicht und starrte wie hypnotisiert auf die gewaltige Warze, die sich auf der rechten Wange erhob und die der mächtigen und dicken Brille eine zusätzliche Stütze zu bieten schien. Die fleischigen Lippen, die knollige Nase und die dichten Augenbrauen ließen auf eine osmanische Abstammung schließen. Dann ging sein Blick nach unten, und er entdeckte auf Hüfthöhe einen Clip mit Schriftzug, doch die kleinen Buchstaben machten es ihm unmöglich, den Namen zu entziffern.
Die Frau legte mit einer beinahe zärtlichen Geste, die er ihr überhaupt nicht zugetraut hatte, seinen Arm wieder auf die Bettdecke zurück und nickte zufrieden.
»Es scheint Ihnen deutlich besser zu gehen als letzte Nacht, Herr van Loon. Ich bin Schwester Hanife.«
Im Nu hatte sie den Reißverschluss nach unten gezogen, die beiden Seitengitter nach unten geklappt, und ehe Lars es sich versah, hatte sie ihn mit sicherem Griff aufgesetzt und auf die Bettkante gezogen, sodass seine Beine hinabbaumelten.
Sie drückte ihm einen Becher mit Wasser in die Hand und reichte ihm dazu ein paar Tabletten. Er hatte immer noch kein Wort herausgebracht.
»Damit«, erklärte sie, »werden wir Ihren Kreislauf wieder etwas stabilisieren. Außerdem müssen Sie ja einen Höllendurst haben.«
Gehorsam schluckte er die Medikamente und leerte den Becher in einem Zug. Schwester Hanife füllte nochmals auf, und Lars trank auch die zweite Runde bis auf den letzten Tropfen leer.
»Wollen wir versuchen aufzustehen?« Behutsam legte sie ihre Arme um seinen Oberkörper und half ihm auf die Beine. Doch als sie ihn losließ und er einen Schritt vorwärts machen wollte, wurde ihm augenblicklich schwindlig, und er sank ohnmächtig aufs Bett zurück.
Als er die Augen wieder aufschlug, war es ihre große, dunkle Warze, die er zuerst erblickte und vor welcher er sich plötzlich zu ekeln begann.
»Das war etwas zu rasch, Herr van Loon. Ich schlage vor, dass wir es gleich nochmals versuchen.«
Lars hob abwehrend die Hände. Da war etwas, was Schwester Hanife vorhin gesagt hatte und das ihm nicht aus dem Kopf gehen wollte. Doch es war für ihn zunächst nicht greifbar, und verzweifelt zermarterte er sich das Hirn nach ihrer Bemerkung. Dann erinnerte er sich plötzlich.
»Letzte Nacht.« Seine ersten Worte, die er an sie richtete. »Sie sprachen vorher von letzter Nacht. Was meinten Sie damit?«
»Naja.« Sie half ihm, sich wieder aufzusetzen. »Was genau geschehen ist, das wissen wohl nur Sie alleine. Sie werden bestimmt noch mit dem Doktor darüber sprechen. Eine Polizeistreife hat sie hierhergebracht, und ich kann Ihnen versichern, dass es zwei kräftige Pfleger gebraucht hat, um Sie einigermaßen in den Griff zu kriegen und ruhigzustellen.«
»Der Doktor?« Lars sah sich erneut im Zimmer um. »Wo bin ich denn hier überhaupt?«
»Ach so.« Schwester Hanife kratzte sich am Kinn und zum ersten Mal zeigte sich der Anflug eines Lächelns auf ihrem strengen Gesicht. »Sie befinden sich in der Psychiatrischen Klinik Langenegg. Letzte Nacht, so um Mitternacht herum, wurden Sie hier eingeliefert und konnten mit Ach und Krach beruhigt werden. Sie haben gut und gerne mehr als zwölf Stunden geschlafen. Erinnern Sie sich denn an gar nichts mehr?«
Lars drehte den Kopf nachdenklich zur Seite und erblickte dabei wieder Klees Engelzeichnung. Die tiefstehende Sonne zwang ihn, die Augen zuzukneifen.
»Nein.« Blinzelnd schüttelte er den Kopf. »Ich weiß weder wie ich hierhin gekommen bin, noch was der Anlass dafür war. Ich bin einfach nur müde.« Er vernahm seine eigene Stimme wie durch eine Watteschicht. »Lassen Sie mich doch bitte wieder schlafen, Schwester Hanife.«
»Sie werden noch genug Zeit zur Erholung haben, Herr van Loon.« Hatte sich die Warze in ihrem Gesicht etwa gerade bewegt? »Aber der Doktor hat angeordnet, dass er sofort informiert werden will, wenn Sie aufwachen. Ich denke, dass er ein kurzes Eintrittsgespräch mit Ihnen geplant hat.«
»Ein Eintrittsgespräch?« Bevor die Pflegerin reagieren konnte, schoss Lars in die Höhe. »Was soll denn der ganze Quatsch?« Für einen kurzen Moment glaubte er, dass ihm wieder schwarz vor Augen werden würde. Doch schien sich sein Kreislauf beruhigt zu haben, und jetzt, als er stand, sah er an sich hinunter und stellte fest, dass er ein Krankenhaushemd trug. »Wo, zum Teufel, sind denn meine Kleider?«
Schwester Hanife drückte ihn wieder aufs Bett zurück und warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Ganz ruhig, Herr van Loon. Der Doktor wird Ihnen alles erklären. Bitte warten Sie doch einen Moment. Ich bin gleich wieder zurück.«
Sie entfernte sich aus dem Zimmer, und Lars nutzte die Gelegenheit, um sich erneut zu erheben und das Bild mit dem Engel von der Wand zu nehmen.
»Herr van Loon! Was machen Sie denn da?«
Er hatte Schwester Hanife nicht eintreten hören und zuckte erschrocken zusammen, sodass ihm das Bild aus den Händen fiel und das Glas zerbrach.
»Ich mag keine Engel«, murmelte er und setzte sich trotzig wieder aufs Bett.
»Kommen Sie.« Sie reichte ihm eine Sporthose und einen Schlabberpullover. »Ziehen Sie das an. Der Doktor möchte Sie heute noch sehen.«
»Und wenn ich den Doktor nicht sehen will?« Trotzig verschränkte er die Arme und blickte sie angriffslustig an.
»Herr van Loon!« Ihre langsam aufsteigende Ungeduld war deutlich zu erkennen. »Wir sind doch alle hier, um Ihnen zu helfen. Ich bitte Sie. Sie möchten doch auch wissen, was geschehen ist und wie es weitergehen soll, oder etwa nicht?«
Über seine Zukunft war sich Lars eigentlich völlig im Klaren: Er wollte sofort raus hier und wieder nach Hause zurück. Doch die Neugier überwog tatsächlich, und so ergriff er willig die gereichten Kleidungsstücke.
»Ich warte draußen auf Sie.« Schwester Hanife nickte ihm aufmunternd zu, und ein paar Minuten später folgte er ihr durch einen langen Korridor. Schmale Fenster ganz oben an der rechten Wand sorgten für natürliches Licht, und gegenüber hingen in regelmäßigen Abständen Bilderrahmen, in denen sich rabenschwarze Exponate befanden.
Lars runzelte die Stirn, hielt kurz an und musterte die Kunstwerke. Er erkannte eine feine Struktur, und das Schwarz schien plötzlich Leben eingehaucht zu kriegen.
Schwester Hanife hatte bemerkt, dass er vor einem Bild angehalten hatte und blieb ihrerseits stehen. Nachdem sie ihm ein paar Augenblicke zur genauen Betrachtung gegönnt hatte, erklärte sie:
»Das sind Felle. Wahrscheinlich von schwarzen Rindern. Ziemlich eigenwilliger Künstler. Ein guter Freund des Doktors. Gehen wir weiter?«
Vor einer Tür blieb sie stehen, klopfte kurz an, öffnete sie und lud Lars mit einer einladenden Geste zum Eintreten ein.
»Ich hole Sie wieder ab, wenn der Doktor mit Ihnen fertig ist.« Bevor er etwas darauf erwidern konnte, hatte sie sich bereits umgedreht und eilte mit raschen und energischen Schritten den Korridor entlang.
Lars trat in ein mit hellem Fischgrätparkett ausgelegtes Zimmer, das sehr geschmackvoll eingerichtet war. Dominiert wurde es von einem mächtigen Schreibtisch aus geöltem Nussbaumholz, der sauber poliert im Licht der untergehenden Sonne schimmerte. Akkurat ausgerichtet, verloren sich darauf lediglich eine Schreibunterlage, ein zugeklapptes MacBook und eine Ablage mit ein paar wenigen Akten. Der teure Seidenperser vor dem Tisch wirkte wie ein roter Teppich, der dem Eintretenden die Richtung wies.
An der linken Wand türmte sich vom Boden bis zur Decke eine gewaltige Bibliothek, komplett vollgestopft, und auch hier waren die Bücher sorgfältig geordnet und exakt auf einer Linie ausgerichtet, als wären sie, mit dem Lineal ausgerichtet, in Reih und Glied aufgestellt worden.
Rechts, gegenüber des Bücherregals, stand ein dreistöckiges USM-Aktenmöbel an der Wand, das strahlte, als wäre es soeben angeliefert und zusammengesetzt worden.
Davor befand sich eine Besucherecke mit zwei Sitzgelegenheiten, die vom Rest des Raumes durch eine große Birkenfeige abgetrennt war.
Alles war blitzblank poliert, so als hätte vor wenigen Augenblicken die Putzfrau ihre Arbeit abgeschlossen. Dadurch wirkte der gesamte Raum aber auch etwas steril und unbewohnt. Lars fühlte sich beinahe wie in einem Museum, und trotz seiner Bewunderung für die Sauberkeit und Ordnung fühlte er sich etwas unwohl und wagte fast nicht, einen weiteren Schritt in diese Meister-Proper-Oase hinein zu machen.
Erst als er hinter der Pflanze eine Bewegung wahrnahm, realisierte er, dass er nicht alleine im Raum war. Ein Mann von mächtiger Körpergröße, Lars schätzte ihn auf mindestens zwei Meter, trat auf ihn zu und reichte ihm die Hand. Seine elegante Kleidung passte zur stilvollen Einrichtung des Raumes. Zu teuren Markenjeans trug er ein frisch gestärktes Hemd und ein maßangefertigtes Sakko, das zweifellos das Etikett eines bekannten Modedesigners auf der Innenseite tragen musste. Die Schuhe wirkten schlicht, hatten aber bestimmt eine Stange Geld gekostet.
Das dunkle Haar war etwa auf die gleiche Länge geschnitten wie der sorgfältig getrimmte Dreitagebart, und hinter einer randlosen Brille (Lars war sich sicher, dass auch hier auf dem Bügel der Schriftzug eines bekannten Labels zu finden war) leuchtete ihm ein Ruhe ausstrahlendes Augenpaar entgegen.
»Herr van Loon, ich begrüße Sie herzlich hier bei uns in der Klinik Langenegg. Gestatten Sie mir, mich vorzustellen. Mein Name ist Bengt Fleischhauer.«
Zögerlich ergriff Lars die entgegengestreckte Hand und verzog für einen kurzen Moment das Gesicht wegen des starken Händedrucks des Arztes.
»Merkwürdiger Name«, stellte er fest und musterte den Hünen von Kopf bis Fuß. »Nomen est omen, nehme ich mal an.« Er konnte sich den imposanten Fleischhauer bildhaft vorstellen, an einem gedeckten Tisch sitzend und ein Steak um das andere lustvoll verzehrend.
»Ich bin Vegetarier«, entgegnete der Arzt, ohne eine Miene zu verziehen. Die imaginäre Szene löste sich in Lars’ Vorstellung mit einem lauten Knall auf, und anstelle der Fleischstücke erschien ein Teller, vollgefüllt mit Rohkost.
»Sie sind Vegetarier!«, prustete Lars los und konnte sich kaum mehr zurückhalten. »Mein Gott, wie passend! Das ist ja wohl ein Witz.«
»Das ist es in der Tat«, meinte Fleischhauer, ohne auch nur das geringste Anzeichen eines Lächelns im Gesicht. »Aber Sie müssen zugeben: Seine Wirkung ist beeindruckend und lockert jegliche Anspannung im Nu auf.«
Lars blieb der Mund offenstehen, und er folgte mit den Augen seinem Gesprächspartner, der sich umgedreht hatte und um den mächtigen Schreibtisch herum zu seinem Bürosessel zu schritt. Er setzte sich geräuschlos hin, faltete seine Hände und stützte die Ellbogen auf die Schreibtischoberfläche.
Nachdem man sich gegenseitig ausführlich gemustert hatte, nahm Lars die gewaltige Bücherwand ins Visier und beäugte interessiert die Buchrücken. Die meisten Publikationen waren in englischer Sprache verfasst, die Autoren ihm gänzlich unbekannt. Am Ende eines Regals erkannte er ein paar Titel von Sigmund Freud und Carl Gustav Jung und fragte in den Raum hinein, ohne sich von der Bibliothek umzudrehen:
»Sind Sie Freudianer?«
Als die Antwort ausblieb, wandte er den Kopf dem Arzt zu und nahm dessen anerkennendes Nicken wahr.
»Die Theorien von Freud sind eine wichtige Grundlage unserer Wissenschaft. Haben Sie etwas von ihm gelesen, Herr van Loon?«
Lars zuckte die Achseln. »Kann schon sein. Ich kann mir nicht alles merken.«
»Dann werden seine Theorien Sie nicht besonders beeindruckt haben.« Doktor Fleischhauer saß immer noch in unveränderter Pose hinter seinem Schreibtisch. »Sonst würden Sie sich gewiss daran erinnern.«
»Wahrscheinlich«, brummte Lars und kratzte sich im Haar.
»Wollen wir uns nicht gemeinsam hinsetzen, Herr van Loon?« Der Arzt war aufgestanden und wies in die Besucherecke, wo zwei Freischwinger mit verchromtem Gestell und schwarzem Lederbezug in einer Distanz von etwa zwei Metern einander gegenüber aufgestellt waren. Er griff nach einem Klemmbrett aus Aluminium und begab sich an die vorgeschlagene Stelle. Vor seinem Stuhl blieb er stehen und wartete, bis Lars schließlich der Aufforderung Folge leistete und sich in penetrant langsamem Schlendergang der Sitzgelegenheit näherte. Er blieb allerdings vor dem Stuhl stehen, nachdem Fleischhauer sich mit lässig übereinander geschlagenen Beinen bereits hingesetzt hatte und schielte aufs Papier, das unter der Klammer befestigt war. Es war ein blankes, leeres Blatt, das ihm jungfräulich entgegenstrahlte.
Der Arzt deutete ihm mit einer Handbewegung an, doch auch Platz zu nehmen, und so ließ sich Lars seufzend auf das Leder sinken. Mit weit gespreizten Beinen testete er den Stuhl, indem er leicht hin und zurück wippte. Plötzlich verharrte er in seiner Bewegung und starrte Doktor Fleischhauer mit weit aufgerissenen Augen an.
»Ich gebe diese Woche ein Konzert. Ich sollte schon lange in der Probe sein.«
Aufgeregt schoss er aus dem Sessel hoch und eilte zur Tür. Draußen auf dem Korridor blickte er nach links und nach rechts und senkte resigniert seinen Kopf. Er hatte keine Ahnung, in welche Richtung er fliehen sollte.
»Herr van Loon«, hörte er die ruhige, sonore Stimme Doktor Fleischhauers in seinem Rücken. »Bitte beruhigen Sie sich doch und setzen Sie sich wieder hin. Ich verspreche Ihnen: Sie werden bestimmt nichts verpassen.«
Lars stützte sich am Türrahmen ab und ließ den Kopf hängen. Er empfand völlige Leere, kam sich vor, wie in einem gewaltigen Vakuum, in dem er kopfüber und komplett orientierungslos schwebte. Dieses Nichts schien sich langsam aber bestimmt in seinem Kopf breit zu machen und sein Gehirn kontinuierlich in Luft aufzulösen.
»Herr van Loon.« Hatte die Stimme des Arztes eine leicht bedrohliche Nuance angenommen oder bildete sich Lars das bloß ein? Noch immer hatte er das Gefühl, dass er sich Schritt für Schritt aus dieser Welt entfernte und an einem Ort eingetroffen war, an dem keine Entscheidungen getroffen werden mussten und keine Gedanken zu fließen brauchten. Es war einfach nur noch ein Dahingleiten ohne einengende Konventionen und Ansprüche. Fühlte sich so das Sterben an?
Als er eine schwere Hand auf seiner Schulter fühlte, schrie er laut auf und glaubte zunächst, in das Gesicht von Gevatter Tod zu blicken. Doch dann konnte er die randlose Brille und den gepflegten Dreitagebart einwandfrei Doktor Fleischhauer zuordnen und entspannte sich ein wenig.
»Bitte, Herr van Loon.« Der Arzt deutete mit eindringlicher Geste in die Richtung der Besucherecke. »Wir wollen doch endlich unser Gespräch aufnehmen.«
Lars ließ sich widerstandlos wieder auf den Stuhl setzen und beugte sich vornüber, die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt.
Wie war er nur hierhergekommen? Wenn er sich doch bloß erinnern könnte!
»Sie sprachen von einem Konzert, Herr van Loon.« Doktor Fleischhauer hatte sich wieder ihm gegenübergesetzt und schrieb eine kurze Notiz. Danach hatte Lars wieder seine volle Aufmerksamkeit. »Erzählen Sie mir mehr darüber. Wo werden Sie auftreten?«
Noch immer schien sich anstelle des Gehirns eine große, leere Blase in Lars’ Kopf eingenistet zu haben. Verwirrt blickte er in Fleischhauers graublaue Augen, die ihn aufmerksam musterten, und suchte verzweifelt nach einer geeigneten Antwort.
»In der Philharmonie«, brachte er schließlich hervor.
»Naja.« Der Arzt kratzte sich am Kinn. »Da gibt es einige davon. Wir sind hier in Bern, Herr van Loon. Sie befinden sich in einer Psychiatrischen Privatklinik und wurden gestern von einer Polizeistreife bei uns eingeliefert. Haben Sie irgendeine Erinnerung daran?«
Polizei. Lars’ Blick ging durch Doktor Fleischhauer hindurch. Verzweifelt kramte er in seinen Erinnerungen. Da war nichts. Es war wie ein leergeräumter und klinisch sauber geputzter Raum, in dem nicht die geringste Kleinigkeit an die Bewohner erinnerte.
»Herr van Loon?« Die Stimme wurde eindringlicher. »Erinnern Sie sich?«
Lars schüttelte langsam den Kopf. Wenn er aus diesem Albtraum nur aufwachen könnte!
Der Arzt erhob sich erneut, trat zu seinem Schreibtisch und nahm eine Akte zur Hand. Er schob seine Brille in die Stirn und vertiefte sich für einen Moment in das Dokument. Dann nickte er wissend und begab sich zu Lars zurück. Erneut notierte er sich etwas, nachdem er sich gesetzt hatte.
»Wie geht es Ihnen denn?«
Lars beugte sich nach vorne.
»Mir geht es hervorragend, Doktor. Ich habe zwar keine Ahnung, wie ich hierhergekommen bin, aber ich fühle mich ausgezeichnet. Wie bereits gesagt, bin ich daran, ein Konzert vorzubereiten. Wann kann ich also nach Hause gehen?«
Fleischhauer ging nicht auf Lars’ Frage ein. Er machte sich weiterhin Notizen und meinte, ohne aufzublicken:
»Ist Ihnen das schon häufiger passiert?«
»Was meinen Sie?«
»Gedächtnisverluste, Erinnerungslücken.« Er hob den Kopf und sah Lars direkt in die Augen. »Wutanfälle. Hat es das schon öfters gegeben?«
Lars hielt dem Blick des Arztes stand, und wie aus dem Nichts sprudelte es aus ihm heraus:
»Wenn man darüber redet, wird auch das Einfachste gleich kompliziert und unverständlich.«
Fleischhauer legte den Stift auf den Schreibblock und zog die Brille von der Nase.
»Was war denn das?«
Lars grinste. »Hesse. Herrmann Hesse. Großartiger Schriftsteller. Sollten Sie auch mal lesen. Da steckt mehr Lebensweisheit drin als in den unsäglichen Theorien Ihres Doktor Freuds.«
Nach wie vor war keine Regung im Gesicht des Arztes festzustellen. Er setzte sich die Brille wieder auf, griff zum Stift und begann zu schreiben, während er sagte:
»Es wird alles immer gleich ein wenig anders, wenn man es ausspricht.«
Lars blieb der Mund offenstehen.
»Ebenfalls Hesse«, fügte der Psychiater hinzu und blickte Lars wieder an. »Lassen wir doch die Spielereien, Herr van Loon, und lassen Sie uns weitermachen. Einer der beiden Beamten, Wachtmeister Gasser, hat zu Protokoll gegeben, dass Sie auf der Fahrt hierher eine lebendige Diskussion mit Beethoven gehabt haben sollen.«
Da war doch irgendwas! Lars schaute auf. Ein Erinnerungsfetzen, ein Gedanke, den er unbedingt festhalten musste, bevor er ihm wieder entglitt. Er spürte Doktor Fleischhauers Blick auf sich ruhen und stellte fest, dass eine Erklärung notwendig war.
»Ich tausche mich häufig mit old fucking Louis aus.« Leicht amüsiert beobachtete er die angehobenen Augenbrauen des Arztes, der tatsächlich ein klein wenig seine Fassung verloren zu haben schien. »Man hat nämlich ein völlig falsches Bild von ihm. Er ist gar nicht so grob und griesgrämig, wie er ständig beschrieben wird. Auf jeden Fall nicht mir gegenüber.«
»Ich verstehe das schon richtig, Herr van Loon.« Doktor Fleischhauer hatte die Lippen geschürzt und tippte mit seinem Schreibutensil nachdenklich dagegen. »Sie führen regelmäßig Gespräche mit Ludwig van Beethoven, dem Komponisten.«
»Unter anderem«, nickte Lars.
»Will heißen?«
»Mit Mozart, Schubert, Mahler, Wagner.« Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Wen man eben gerade so trifft, nicht wahr? Aber die Diskussionen mit old Louis sind bei weitem die interessantesten.«
»Worüber sprechen Sie denn mit ihm?« Die Notizen des Arztes wuchsen kontinuierlich.
»Über dies und das. Er ärgert sich häufig, wenn er Interpretationen seiner Werke hört, die mit seinen kompositorischen Absichten überhaupt nichts mehr zu tun haben. Zu große Formationen, falsche Intonationen, selbstverliebte Interpreten, na, Sie wissen schon.«
Fleischhauer nickte langsam und sah von seinem Klemmbrett hoch. »Ich verstehe.«
Lars grinste schelmisch. »Tun Sie das wirklich, Herr Doktor?« Er lehnte sich nach hinten und schlug die Hände zusammen. »Fleischhauer, der Vegetarier. Der war wirklich gut!«
Etwas verärgert verzog der Arzt den Mundwinkel. »Wie ist es denn mit Ihnen, Herr van Loon? Sind Ihre Wiedergaben dem Komponisten genehm?«
»Deshalb sprechen wir ja zusammen. Old fucking Louis ist es sehr wichtig, dass es wenigstens eine Person auf diesem Erdball gibt, auf die er sich verlassen kann, was das Verständnis für seine Werke betrifft. Wir hören uns häufig Aufnahmen der verschiedensten Musiker an. Er kann es manchmal gar nicht glauben. Soll ich das tatsächlich geschrieben haben?, erzürnt er sich dann, und hops geht’s los mit den Diskussionen. Ich kann Ihnen sagen, Herr Doktor, Sie können sich nicht vorstellen, wie wertvoll diese Streitgespräche für meine Arbeit sein können.«
»Und diese ... Begegnungen haben Sie schon lange?« Fleischhauer zögerte einen kurzen Moment, um nach dem treffenden Begriff zu suchen.
Lars blies die Backen auf und tippte mit den Fingerkuppen gegeneinander. Er schien angestrengt nachzudenken. »Kann man so sagen. Mit Mozart spiele ich von Zeit zu Zeit eine Partie Billard, und manchmal gelingt es mir sogar, ihn zu schlagen. Ich sage Ihnen, der Kerl spielt verdammt gut. Und mit Brahms treffe ich mich zu einer gemütlichen Trinkrunde im Gasthaus. Da bleibt es nie bei nur einer Flasche Wein, der Hannes hat einen Zug, das glaubt man nicht. Ein wahrer Schluckspecht!«
»Soso.« Der Arzt musterte seinen Patienten mit ernstem Blick. »Darüber werden wir uns später noch unterhalten. Sehr interessant. Doch vorerst wäre es aufschlussreich, wenn Sie mir etwas mehr von Ihnen erzählen könnten. Über Ihre Eltern beispielsweise. Waren diese auch so musikalisch wie Sie, Herr van Loon?«
»Nun.« Lars rutschte auf seinem Sessel etwas nach vorne, spreizte die Beine und faltete die Hände vor seinem Bauch. Die Müdigkeit war von ihm abgefallen. »Da gibt es schon einiges zu erzählen. Wie viel Zeit haben Sie eingeplant, Herr Doktor?«
2
Ein Schwein namens Churchill
August 1975
Die erste Begegnung mit Mozart hatte Lars van Loon mit vier Jahren im Schweinestall seines Großvaters Willy.
Dieser hieß eigentlich Wilhelm Friedrich, benannt nach dem letzten deutschen Kaiser, da Willys Eltern glühende Verehrer des Herrschers und leidenschaftliche Anhänger der Monarchie waren. Durch ihren Fanatismus waren sie dem Kaiser kritiklos zugeneigt und zeigten uneingeschränkt ihre volle Begeisterung.
Opa Willy dagegen konnte diesem Enthusiasmus wenig Positives abgewinnen. Er hatte Laufbahn und Karriere des Monarchen aufmerksam verfolgt. Zunächst hatte die Bewunderung seiner Eltern noch auf ihn abgefärbt, doch mit zunehmendem Alter und einer etwas weniger eingeschränkten Sichtweise wurde seine Kritik dem Kaiser gegenüber immer grösser, bis schließlich nur noch Verachtung übriggeblieben war. Sein Taufname war ihm peinlich, und wenn ihn jemand mit Wilhelm ansprach, so konnte dieser, wenn er den falschen Moment erwischte, sich in Teufels Küche begeben.
»Man nennt mich Willy!«, pflegte er in solchen Situationen grummelnd von sich zu geben. »Einfach Willy! Nicht zu verwechseln mit diesem Pseudonazi Wilhelm II. Meine Eltern hätten mich genauso gut auch Adolf taufen können.«
Er lebte bei seiner Tochter Astrid und deren Mann Claas van Loon auf einem alten, etwas abgelegenen Hof in Eichhausen im Bundesland Bayern. Das Gut war seit Generationen im Besitz seiner Familie, wurde aber schon lange nicht mehr landwirtschaftlich genutzt und war von seinem Schwiegersohn zu einem schmucken Wohnhaus umgebaut worden. Ein großer Teil der Arbeiten hatte Claas mit seinem handwerklichen Geschick, das ihm als Schreiner gegeben war, selber erledigt.
Er war in den Niederlanden aufgewachsen, in eine Handwerkerfamilie hinein geboren. Auf einem Wochenendausflug hatte er in München Astrid kennen gelernt und sich Hals über Kopf in das junge Mädchen verliebt. Bereits beim dritten Treffen hatten sie sich verlobt, und Claas war nach Deutschland gezogen. In Eichhausen gründete er eine eigene Schreinerei, in der er inzwischen zwei Angestellte beschäftigte. Für seine sorgfältige Arbeit war er weit über die Dorfgrenze hinaus bekannt und konnte sich über mangelnde Arbeit nicht beklagen.
Seine Frau Astrid erledigte derweil den Haushalt, eine nicht zu unterschätzende Arbeit auf dem großen Hof, und verdiente sich als Aushilfe in einer Schneiderei einen kleinen Zustupf.
Bis vor wenigen Jahren hatte Opa Willy Schweine gehalten. Aus dieser Zucht war allerdings bloß noch ein Eber übriggeblieben, und für den hatte er in der Scheune, die bisher von den Sanierungsarbeiten verschont worden war und sich in einem jämmerlichen Zustand befand, eine kleine Bucht eingerichtet, in der sich das Tier im wahrsten Sinne des Wortes sauwohl fühlte.
Churchill, so hieß das Schwein, war Opa Willys Augapfel, wurde von ihm verhätschelt und umsorgt und bildete mit den Katzen Ginger und Pedro sowie der Hündin Sally den tierischen Haushalt der Familie van Loon.
So sehr Opa Willy seinen Taufnamen hasste, so sehr verehrte er Winston Churchill, in dem er den Retter Europas sah.
»Ich möchte nicht wissen, wie unsere Welt heute aussehen würde, wenn nicht der clevere Sir Winston sich mit aller Kraft gegen die Nazis gestemmt hätte. Mit seiner taktischen Klugheit und strategischem Fingerspitzengefühl hat er den Weg für die Alliierten geebnet und uns für immer von dieser Brut befreit. Und deshalb«, und damit kratzte er Churchill hinter seinen Öhrchen, »ist dies genau der richtige Name für meinen kleinen Freund hier.«r Musik für einen Moment verlor. hinter den idenschaft seinen Lieblingsballie in die Scheune und präsentierte ihnen voller Stol
Nun, klein war Churchill allerdings mitnichten; das Schwein wurde im gleichen Jahr geboren, als die Familie van Loon mit Zwillingen beschenkt worden war. Lars und Gregor vergötterten ihren Opa und verfolgten schon von klein auf die sorgfältige Pflege, welche dieser seinem Liebling zukommen ließ.
»Er ist hochintelligent«, dozierte der Alte jeweils mit ernster Miene, wenn die Rede auf das Hausschwein kam, »wie die meisten Schweine übrigens. Churchill ist klüger als unsere Katzen und der Hund zusammen und ist zudem ein unverbesserlicher Optimist!«
Und wenn er in die zweifelnden Gesichter der Zuhörer blickte, so befahl er sie in die Scheune, wo er ihnen voller Stolz seinen Liebling präsentierte und ihn ein paar Kunststücke vorführen ließ. Zum Beispiel apportierte der Eber mit großer Leidenschaft seinen Lieblingsball oder setzte sich auf Kommando hin.
Churchill war Willys Lebensinhalt – neben seinen beiden Enkeln natürlich, und wenn er sich nicht gerade um das Schwein kümmerte oder mit den Jungs spielte, so verfolgte er aufmerksam das Weltgeschehen. Stundenlang konnte er am Küchentisch sitzen, eine Schale mit Kaffee vor sich, den er jedoch erst zu trinken begann, wenn sich auf der Oberfläche eine Milchhaut gebildet hatte. Dies rief bei den Zwillingen jeweils so mächtigen Ekel hervor, dass sie laut schreiend aus der Küche stürmten. Dazu las er die Tageszeitung Wort für Wort und unterließ es dabei nicht, zu jedem Artikel seinen Kommentar abzugeben (egal, ob sich jemand in der Küche befand oder ob er ganz alleine war).
»Das ist doch unglaublich! Unser Bundeskanzler trifft den Honecker in Helsinki. Was er diesem Verbrecher wohl zu sagen hat? Er wird sich doch nicht etwa gar mit ihm verbrüdern wollen?«
Auch beim Fußball hielt er mit seiner Meinung nicht hinter dem Zaun:
»Es wird endlich Zeit, dass unsere Buben« (damit meinte er natürlich den FC Bayern) »den Drecksborussen wieder mal den Rang ablaufen. Na, der Gerd und der Franzl werden’s schon richten!« Zu seinem großen Ärger sollte die Borussia aus Mönchengladbach allerdings auch die nächsten beiden Meisterschaften gewinnen, da konnten auch Willys Lieblingsspieler Müller und Beckenbauer nichts dagegen ausrichten.
Zusätzlich zum Zeitungsstudium spazierte er fast jeden Abend zu seinen Nachbarn, den Richters, um gemeinsam mit ihnen die Tagesschau zu verfolgen. Tochter Astrid und Schwiegersohn Claas weigerten sich standhaft, ein Fernsehgerät anzuschaffen, was beinahe täglich zu hitzigen Diskussionen im Hause van Loon führte. Der knapp viertelstündige Spaziergang, den Willy unter die Füße nehmen musste, wurde von den Richters jeweils mit einem erstklassigen Sofaplatz und einem gscheiten Weizen belohnt. Der Besuch war nach der Tagesschau natürlich noch nicht beendet, da die Nachrichten reichlich Stoff für Diskussionen lieferten (und da das Bier noch in aller Ruhe ausgetrunken werden musste).
Manchmal wurde auch noch ein zweites oder gar drittes Bier vertilgt. Opa Willys Zustand am darauffolgenden Tag war folglich meistens verkatert und seine Laune dementsprechend – das musste sogar Churchill leidvoll erfahren – dann nämlich, wenn die Fütterung nicht termingerecht vonstatten ging und der Geruch im Stall etwas streng wurde.
Als nun im August 1975 der kleine Lars vier Jahre alt war und seinen Großvater und Churchill im Stall besuchte, blieb er plötzlich mitten im Raum stehen und lauschte aufmerksam den Klängen, mit welchen der Schuppen ständig beschallt wurde, die er aber bisher gar nicht richtig wahrgenommen hatte. Opa Willy hatte seine Musikanlage in der alten Scheune aufgebaut und den Lautsprecher gegen Churchills Wohnzimmer ausgerichtet. So nannte er die Ecke, die er für das Schwein mit Stroh eingerichtet hatte. Aufopfernd hatte er aus seiner riesigen Schallplattensammlung mit klassischer Musik ausgewählte Werke auf Kassetten überspielt (»Ich kann meinen Platten die Kälte und Feuchtigkeit im Stall nicht zumuten!«) und spielte die Tonträger tagsüber ohne Unterbruch rauf und runter.
Wenn sich dabei jemand über Willys außergewöhnlichen Musikgeschmack wunderte, der so gar nicht zur volkstümlichen und skurrilen Erscheinung des Alten passen wollte, so zuckte dieser mit provozierender Gleichgültigkeit mit den Schultern und holte anschließend zu einem gewaltigen Loblied auf die klassische Musik aus.
»Und außerdem« präzisierte er dabei, auf Churchill deutend, »muss ich auch Rücksicht auf meinen kleinen Freund hier nehmen. Er ist ein riesiger Musikliebhaber. Vor allem Mozart und Beethoven gehören zu seinen Favoriten. Brahms findet er grenzwertig, und Wagner ist ihm zu pompös und schwülstig.«
Nun stand also sein Enkel Lars vor ihm und lauschte aufmerksam der musikalischen Untermalung im Saustall. Es war, als hätte sich bei Lars eine Tür geöffnet, von deren Existenz er bisher gar nichts gewusst hatte. Die Klänge ließen seinen Körper erzittern und breiteten sich in ihm mit einem wohligen Schaudern bis in die Fingerspitzen aus.
»Was hast du denn, mein Kleiner«, fragte der Alte, der nicht begriff, weshalb der Bub bewegungslos und mit offenem Mund stehengeblieben war.
Mit großen Augen blickte Lars seinen Großvater an, der sich zu ihm herunter bückte und ihn aufmerksam musterte. Der Geruch von Zwiebeln, Knoblauch und Tabak schlug ihm entgegen, die unverkennbare Duftmarke von Opa Willy. Äußerlichkeiten waren dem Alten unwichtig, seine Standardkleidung bestand aus einem Paar verfilzter Cordhosen, die unter seinem mächtigen Bauch bloß dank den Hosenträgern nicht die dünnen Beine runterrutschten. Im Sommer trug er dazu nur ein geripptes Unterhemd, dessen Verfärbung Rückschlüsse auf das Alter des Kleidungsstückes zuließen. Wenn es kälter wurde, zog er sich ein dickes, kariertes Baumwollhemd über, und wenn die Temperaturen ins Bodenlose sanken, griff er nach seinem alten Militärmantel, ein Relikt aus seiner aktiven Dienstzeit, ebenso wie die schweren Schuhe, das einzige Paar, das er besaß. Er zog es aber nur dann an, wenn seine Zehen kurz vor dem Erfrieren waren, was relativ selten vorkam, sodass man ihn meistens barfuß antreffen konnte, selbst dann, wenn er sich für wichtige Besorgungen ins nahe gelegene Dorf begab.
»Musik«, brachte der kleine Lars hervor und verfiel augenblicklich wieder den Klängen, die das alte Gemäuer in eine verträumte Stimmung tauchten und die Zeit aufzuheben schienen.
»Ach so.« Opa Willy nickte zufrieden und schenkte seinem Enkel ein zahnloses Lächeln. Ächzend erhob er sich wieder und lauschte selber ein paar Augenblicke den Klängen. »Das ist Mozart. Churchill schwört darauf und ist ganz verrückt danach.«
Als ob er die Worte verstanden hätte, ließ der Eber ein zustimmendes Grunzen ertönen und furzte anschließend genüsslich. Opa Willy klagte häufig über Verdauungsprobleme seines Lieblings und fachsimpelte leidenschaftlich mit seinem Freund Doktor Jansen, dem Tierarzt von Eichhausen, über die möglichen Ursachen der Blähungen und den damit verbundenen Konsequenzen auf die ideale Futtermischung.
»Ozat«, echote der kleine Lars und strahlte über das ganze Gesicht.
»Mmmoooozaaarrrrrrrt«, korrigierte ihn der Alte. »Wolfgang Amadeus. Das größte Genie, das diese Welt jemals gesehen hat!«
»Mozahr«, flüsterte Lars und lauschte weiterhin dem langsamen Satz des Klarinettenkonzerts, der gerade in seiner ganzen Schönheit aus dem Lautsprecher strömte und dessen Wirkung auch von Churchills Gefurze nicht beeinträchtigt werden konnte.
»Jaja, von mir aus«, lenkte Opa Willy ein. Er wusste, dass Lars verhältnismäßig spät mit Sprechen begonnen hatte, ganz anders als sein Zwillingsbruder Gregor, und noch häufig Mühe mit der korrekten Aussprache bekundete. »Gefällt es dir?«
Der Kleine nickte eifrig und horchte weiterhin mit gespitzten Ohren den Melodien und Harmonien, die er soeben zum ersten Mal so richtig wahrgenommen hatte und die ihn in einen Zustand völliger Glückseligkeit versetzten.
Opa Willy strich ihm durchs dunkle, gelockte Haar und tätschelte dann liebevoll Churchills Flanke, worauf das Schwein ein langgezogenes Quieken erschallen ließ. Lars zuckte zusammen und verlor die Fokussierung auf die Musik für einen Moment.
»Hat Schwein Schmerzen?«, fragte er ängstlich, doch sein Großvater konnte ihn mit einer abwinkenden Geste beruhigen.
»Nein, mein Kleiner. Er zeigt damit bloß seine Begeisterung für Mozart.«
»Ozat«, wiederholte Lars und klatschte entzückt in die Hände.
Opa Willy seufzte, holte seine Pfeife hervor und stopfte sie mit Tabak, dessen Geruch die beiden Zwillinge so sehr mochten, solange er nicht von der penetranten Knoblauchfahne ihres Großvaters übertüncht wurde. Als er sie angezündet hatte, verbreitete sich der aromatische Duft so rasch, dass es nicht lange dauerte, bis sich die Holztür öffnete und Gregor in die Scheune trat.
»Da seid ihr ja«, stellte er fest, streckte die Nase in die Luft und beobachtete anschließend mit gerunzelter Stirn seinen Bruder, der Gregors Erscheinen noch gar nicht bemerkt hatte, so sehr hatten ihn Mozarts Klänge bereits wieder eingenommen.
Die Zwillinge konnte man nicht voneinander unterscheiden, waren in ihrem Wesen allerdings komplett verschieden. Während Lars eher der Zurückhaltende und Stille der beiden Brüder war, so zeichnete sich Gregor durch Tatendrang und Wildheit aus. Die markante Hakennase und das mächtige Kinn hatten sie von Claas erhalten. Meistens trugen sie auch die gleiche Kleidung, so wie heute.
Trotz der Wärme hatte Mutter Astrid ihnen selbergestrickte Kniesocken und kurze Hosen sowie ein einfarbiges Hemd angezogen. Gregor trug seines, das an der einen Schulter bereits wieder zerrissen war, geöffnet. Er hasste Hemden und brachte nicht die Geduld auf, sie sorgfältig zuzuknöpfen, das überließ er seiner Mutter und maulte jeweils, weshalb er nicht ein Shirt anziehen dürfe.
Lars hingegen hatte schon früh die nötige Feinmotorik entwickelt, knöpfte seine Hemden sorgfältig und war ohnehin bemüht, seine Kleider nicht schmutzig werden zu lassen. Ein schwieriges Unterfangen, wenn er mit Gregor im Wald herumtobte. Er war viel feinfühliger und sensibler als sein Bruder, was gerade in dieser Situation im Schweinestall wieder deutlich zum Ausdruck kam.
Gregor hatte kein Gespür für den angespannten Zustand des kleinen Lars, merkte nicht, dass in diesem Moment zwischen dem Großvater und dessen Enkel ein zartes Band der Musik geknüpft worden war, das die beiden von nun an ein Leben lang noch fester aneinander binden sollte. Mit erst vier Jahren war dieses fehlende Einfühlungsvermögen bei Gregor durchaus erklärbar. Umso erstaunlicher war die bereits früh erkennbare sensible und feinfühlige Ausprägung bei Lars, die sich später noch in viel stärkerem Ausmaß zeigen sollte.
»Was willst du denn hier drinnen bei diesem schönen Wetter?«, raunzte Gregor seinem Bruder zu und zerstörte mit seiner fehlenden Sensibilität die vorherrschende zauberhafte Stimmung, als ob er in eine Seifenblase gestochen hätte. »Komm mit, wir müssen am Fluss den Staudamm noch fertigbauen!«
Etwas unsanft wieder ins Hier und Jetzt zurückversetzt, erinnerte sich Lars an ihre gemeinsame Baustelle am nahen Bach, die sie heute unbedingt noch hatten vollenden wollen. Mozart trat langsam in den Hintergrund, und trotzdem blieben noch einige Klangfetzen in seinen Ohren hängen, sodass er fragend zu seinem Opa hochblickte, als ob er von ihm eine Erlaubnis bräuchte, um sich aus der Scheune entfernen zu dürfen.
»Natürlich, der Staudamm!«, rief der Alte so laut, dass selbst Churchill erschreckt zusammenzuckte. Die Tabakpfeife war ihm dabei aus dem Mund geglitten und lautlos auf dem mit Stroh übersäten Boden gelandet, ohne dass Opa Willy davon Kenntnis genommen hätte. Seine beiden Enkel hatten ihm am Vortag haarklein von ihrem Bauwerk erzählt, mit dem sie einen schmalen Seitenarm des Flusses in einen kleinen Sandtümpel umlenken wollten, den sie in mühsamer Kleinstarbeit mit ihren Plastikschaufeln ausgehoben hatten. »Mensch, Lars, den hast du wirklich komplett vergessen.« Theatralisch schlug er die Hände über dem Kopf zusammen und wandte sich an Gregor. »Herr Baumeister, brauchen Sie noch einen fähigen Architekten, der Ihnen gute Tipps geben kann.«
»Opa, was redest du da für einen Blödsinn!« Gregor schüttelte verärgert den Kopf. »So was können wir doch alleine. Aber du wirst unseren See als Erster anschauen dürfen.«
»Natürlich, ich freu mich schon darauf!«, antwortete Willy und setzte eine wichtige Miene auf. »Wir werden euer Meisterwerk gebührend einweihen. Ich werde einen schönen Krug mit eiskalter Limonade mitbringen. Ist das ein Wort?«
»Ja, Opa!«, schrien die Zwillinge wie aus einem Mund. Lars’ Prioritäten hatten sich bereits wieder verschoben, und er konnte es kaum erwarten, seinem Großvater das Ergebnis ihrer Bemühungen zu präsentieren.
So verbrachten die beiden Jungs den Rest des Tages am Fluss, dessen Ufer von Bäumen gesäumt war, die ihnen angenehmen Schatten spendeten, und tummelten sich auf der Sandbank, wo sie das Loch für ihren kleinen See noch tiefer gruben und von überallher Steine anschleppten, um den Staudamm auszubauen.
Sie waren so in ihre Arbeit vertieft, dass sie gar nicht bemerkten, wie die Zeit verflog. Auch die zahlreichen Mückenstiche, die sie sich dabei zuzogen, ignorierten sie weitgehend. Erst als Mutter Astrid vor ihnen stand und sie mit vorwurfsvoller Miene aufforderte, mitzukommen und das Abendbrot einzunehmen, entfernten sie sich völlig verschmutzt von ihrer Baustelle.
Während Lars sich der dreckigen Kleidung bewusst wurde und eine Schelte von Mama erwartete, kümmerte Gregor sich keinen Deut darum. Nachdem sie der Aufforderung, sich zunächst einmal gründlich zu waschen und neue Kleider anzuziehen, Folge geleistet hatten, stürzten sie sich mit Heißhunger auf das Abendessen. Bei Würstchen und Kartoffelsalat, ihrem gemeinsamen Leibgericht, mussten sie ihren Großvater in Bezug auf ihr Bauwerk nochmals um einen Tag vertrösten.
»Aber morgen werden wir bestimmt fertig, Opa, ganz sicher!«, erklärte Gregor eindringlich, und Lars nickte eifrig.
Und als Vater Claas auch noch in ihr Bauvorhaben eingeweiht werden wollte, überboten sich die Zwillinge mit Erzählungen und Beschreibungen über ihren selbstgebauten See. Es war beinahe unmöglich, sie in ihrem Redefluss zu unterbrechen und zur Nachtruhe zu mahnen. Maulend zogen sie ihr Nachthemd an und schlüpften unter die Decke.
Nach dem Gutenachtkuss der Eltern und einer kurzen, aber haarsträubenden Geschichte von Opa Willy, wurde das Licht gelöscht. Im Dunklen dachten die beiden Jungs aber nicht im Geringsten ans Schlafen. Sie flüsterten sich gegenseitig zu, was es morgen noch alles zu erledigen gab und schmiedeten bereits neue Pläne.
Am nächsten Morgen aß Lars sein Marmeladenbrot auf und machte sich für die anstehenden Arbeiten bereit. Gregor saß immer noch am Frühstückstisch und trödelte herum.
Während er auf seinen Bruder wartete, fiel sein Blick auf das alte Klavier, das völlig unbenutzt im Nähzimmer seiner Mutter stand und bloß wegen Opa Willys beharrlichem Entgegenhalten noch nicht weggeschafft worden war. »Wer weiß schon, vielleicht werden Lars oder Gregor einmal darauf spielen wollen!«, hatte der Alte ständig gemahnt, als es wieder einmal darum ging, das Instrument zu entfernen.
Lars kletterte auf den Stuhl, hob den Deckel und blickte auf die weißen und schwarzen Tasten, die ihn zum Ausprobieren aufforderten. Mit beiden Zeigefingern bearbeitete er unter glucksendem Lachen das Instrument – und erinnerte sich plötzlich wieder an die wundervolle Melodie, von der er am Vortag im Schweinestall so ergriffen gewesen war. Er hatte die Töne noch genau im Ohr und versuchte mit höchster Konzentration, die Tonfolge wiederzugeben, was ihm nach vielen verzweifelten Versuchen ansatzweise und seiner Meinung nach vortrefflich gelang.
»Das Klavier muss unbedingt gestimmt werden. Es ist ja nicht zum Aushalten!«, grummelte Opa Willy aus der Küche, wo er Gregor ermahnt hatte, endlich vorwärts zu machen.
»Mit dem Essen spielt man nicht, mein Kleiner! Deine Mutter möchte schon lange den Tisch abräumen, und dein Bruder wartet auf dich.«
Nachdem seine Anweisungen endlich von Erfolg gekrönt waren, lauschte er Larsʼ ersten musikalischen Versuchen und meinte danach: »Ich werde jetzt mal bei Siggi vorbeischauen. Seine Frau haut auch mal in die Tasten. Da wird er doch bestimmt wissen, wo man so ’nen Klavierstimmer herbekommen kann.«
Sprach’s und machte sich bereit, um gemeinsam mit Churchill bei der Bäckerei Siegfried vorbeizuschauen.
»Wo hab ich denn nur die verflixte Leine hingetan?«, wetterte er aus der Scheune, während das Schwein aufgeregt in seiner Bucht umhertänzelte. Es liebte Spaziergänge ins Dorf und spürte genau, wann es wieder soweit war.
Lars dagegen war völlig versunken in das Klavierspiel und testete fleißig neue Tastenfolgen aus, woraus neue Melodien entstanden. Mit Erstaunen stellte er fest, welche Klänge durch das Drücken von mehreren Tasten erzeugt wurden und konnte sich gar nicht mehr vom Instrument losreißen.
Erst als Gregor laut schreiend ins Nähzimmer stürmte und ihn an die noch anstehenden Arbeiten am Fluss mahnte, beendete er mit ziemlichem Widerwillen seinen Ausflug in die Welt der Musik und verließ gemeinsam mit seinem Bruder das Haus, um den Staudamm fertigzubauen. Doch er war nicht mit ganzem Herzen bei der Arbeit – die Melodien und Klänge verfolgten ihn den ganzen Tag über, und er freute sich bereits auf den Abend, wenn er sich wieder ans Klavier setzen konnte.
So übte Lars von nun an fleißig auf dem Instrument Mozarts Melodie, entdeckte ständig neue Varianten und Tonfolgen, und nachdem das Klavier endlich gestimmt worden war, wurden seine Versuche auch akustisch einigermaßen erträglich. Allerdings vergaß er meistens, dass auch die schwarzen Tasten mit einbezogen werden müssten.
»Fis!«, schrie Opa Willy aus dem Badzimmer, als sein Enkel wieder einmal einen Halbton danebengehauen hatte und wurde dabei von grunzender Zustimmung unterstützt.
»Vater!« Astrid van Loon stürmte die Treppe herunter. »Du hast das Schwein doch nicht in unser Haus gebracht?«
Nahe an einem Schwächeanfall hielt sie sich am Holzrahmen fest, nachdem sie die Badezimmertür aufgestoßen hatte, die nur leicht angelehnt worden war. In der Badewanne räkelte sich zufrieden Churchill und genoss den Strahl der Duschbrause, mit welchem er von Opa Willy gewissenhaft abgespritzt wurde.
»Ich weiß gar nicht, wo das Problem ist, Tochter«, meinte der Angesprochene, hielt in der anderen Hand eine Flasche Shampoo und überlegte sich, ob er seinen Liebling damit einseifen sollte. »Es ist so heiß draußen, da hat Churchill sich durchaus eine kleine Abkühlung verdient.«
»Vater, du erinnerst dich doch gewiss an den Fluss. Am Fuß der Böschung, keine hundert Meter von hier entfernt. Dort, wo die Zwillinge so gerne spielen.« Astrid verwarf die Hände. »Dort kann sich das Schwein wälzen und austoben, wie es will. Mein Gott, es gehört doch nicht in die Badewanne!«
»Tochter!« Opa Willy schüttelte den Kopf und studierte aufmerksam das Fläschchen. »Wir sind doch keine Landstreicher. Auch ein Schwein hat ein Recht auf gründliche Körperpflege. Verdammt, wo habe ich bloß meine Brille wieder hingelegt?« Genervt schaute er sich um, und als er sein Lesegerät nicht finden konnte, zuckte er die Schultern und schraubte das Shampoo auf. »Egal, die leidgeplagten Borsten können durchaus ein wenig Seife vertragen. Nicht wahr, mein Schatz?« (Damit war nicht etwa seine Tochter gemeint.)
Churchill hatte es sich inzwischen in der Badewanne gemütlich gemacht und sich hingelegt. Als sein ganzer Körper eingeschäumt wurde, entledigte er sich allerdings seiner Lethargie, indem er sich quiekend erhob und sich ausgiebig schüttelte.
»Aber Churchill!« Der Alte stemmte die Hände in die Hüfte und setzte, von dem quer durchs Badezimmer fliegenden Schaum keine Notiz nehmend, zu einer Gardinenpredigt an. »Sei doch nicht so bockig. Wir wollen ja alle nur dein Bestes.« Und Richtung Nähzimmer schrie er: »Fis, Lars, Fis! Die schwarze Taste! Churchill und ich sind dir dankbar dafür!«
»Ozat!«, krähte Lars aus der Stube und erwischte unter lautem Glucksen prompt den falschen Ton, während Churchill erneut ein erbärmliches Quieken von sich gab, was allerdings wohl eher mit seiner ungemütlichen Situation als mit der schrägen Melodie zu tun hatte.
»Vater!« Astrids Stimme war eine Oktave höher gerutscht. »Ich bitte dich, hör auf damit! Das Schwein setzt das ganze Bad unter Wasser!«
Verärgert drehte sich Opa Willy um und zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf seine Tochter. Ein deutliches Zeichen dafür war, dass er sich auf keine Diskussionen einlassen wollte.
»Ich habe hier alles im Griff. Schließ die Tür von außen und lass mich mit Churchill allein. Kümmere dich gescheiter darum, dass Lars die schwarzen Tasten trifft. Sonst wird’s nichts mit Mozart.«
Und als die Angesprochene keine Reaktion auf seine Anweisung zeigte, erhob er sich zu seiner vollen Größe und komplementierte sie mit seinen schaumigen Händen aus dem Badezimmer.
»Die Verwandtschaft kann man sich nicht aussuchen«, hörte sie ihn hinter verschlossener Tür grummeln, bevor er sich wieder mit zärtlicher Stimme dem Eber zuwandte. »Und nun zu dir, mein Lieber! Sag mal, Churchill. Was soll das eigentlich?«
Ja, was soll das eigentlich?, dachte sich Astrid und beschloss, dass es sinnlos wäre, sich mit ihrem Vater zu streiten. Und so setzte sie sich zu Lars ans Klavier, blendete den Lärm aus dem Badezimmer aus, und strich dem Jungen über seine dichten Locken.
Lars genoss die Aufmerksamkeit seiner Mutter und übte beharrlich an Mozarts wundervoller Melodie, bis er sie fließend und korrekt wiedergeben konnte. Als er sie stolz am Abend nach dem Nachtessen der versammelten Familie vorspielte, klopfte ihm Opa Willy anerkennend auf die Schulter und meinte:
»Glaub mir, mein Kleiner. Aus dir wird einmal ein ganz großer Musiker werden, das spüre ich im Urin.«
»Ozat!« Lars strahlte seinen Großvater an, wandte sich wieder dem Klavier zu und probierte neue Tonfolgen aus.
Fasziniert beobachtete die ganze Familie den Jungen, der ganz in die Musik vertieft war und sich von seiner Umwelt abgenabelt hatte.
»Wenn seine Locken blond wären, dann sähe er wie ein Engel aus«, flüsterte Astrid ihrem Mann zu.
Claas lächelte verträumt.
»Ein Engel auf einer Wolke, der anstelle der Harfe auf dem Klavier spielt.«
»Ich bin so stolz auf ihn«, seufzte die Mutter.
Auch Gregor betrachtete aufmerksam seinen Bruder und dessen Fähigkeit, mit der er die Eltern in Glückseligkeit verfallen ließ.
»Ein Engel«, murmelte er und streichelte die Katze, die sich auf seinem Schoss niedergelassen hatte. »Mein Bruder ist ein Engel.«
3
Signor Carbonara
Februar 2017
»Ihre Kindheit muss sehr harmonisch gewesen sein, Herr van Loon.« Doktor Fleischhauer hatte sein Klemmbrett auf den Beistelltisch gelegt, die Brille in die Stirn geschoben und mit wachsender Faszination den Schilderungen des Musikers gelauscht. Er würde anschließend noch genügend Zeit haben, um sich Notizen zu machen und das Gehörte zu analysieren. Ohne auch nur einmal zu unterbrechen, hatte er seinem Gegenüber ausreichend Raum geboten, um dessen Vergangenheit nochmals aufleben zu lassen.
Lars hatte diese Freiheit ausgiebig genutzt und war tief in seine Kindheit eingetaucht. Wie ein Film waren die Bilder vor seinem inneren Auge durchgezogen, manchmal beinahe zu rasch, und am liebsten hätte er die eine oder andere Erinnerung für einen Moment festhalten wollen, um sie mit den aufkeimenden Emotionen anzureichern.
Doch er drängte vorwärts, die Worte sprudelten nur so aus seinem Mund. Er bemerkte mehr als einmal, dass er sich selber ein wenig zügeln musste, damit der Arzt den Anschluss nicht verpasste und die Sätze in ihrem überbordenden Tempo auch verständlich blieben. Es war das erste Mal, dass er jemanden in seine Kindheitserinnerungen einweihte, aber er stellte fest, dass sie ihm problemlos über die Lippen flossen, wohl dadurch bedingt, dass er in ruhigen Stunden ständig wieder an die für ihn so schwerelose und liebevolle Zeit zurückdachte.
Sogartig wurde er in die Vergangenheit hineingezogen. Da fiel ihm noch ein zusätzliches Detail ein und dort wäre noch eine weitere Geschichte zu erzählen gewesen. Doch er bemühte sich, den roten Faden nicht zu verlieren und zielstrebig auf seine ersten Erfahrungen mit dem Klavier zuzusteuern. Erst später sollte er sich selber die Frage stellen, durch wie viel romantisierende Verklärung seine Erinnerungen getrübt gewesen sein könnten.
Nach der Episode mit Schwein Churchill in der Badewanne merkte er, wie erschöpft er war, wie ihn das Eintauchen in die Vergangenheit ausgelaugt hatte und wie froh er um eine Pause war, die ihm der Arzt mit einem zustimmenden Nicken gewährte.
Wie aus dem Nichts hatte Doktor Fleischhauer eine Karaffe mit Wasser und zwei Gläser hervorgezaubert, füllte diese randvoll auf und reichte Lars eines davon. Er prostete ihm zu.
»Zum Wohl, Herr van Loon. Diese Erfrischung haben Sie sich redlich verdient.«
In hastigen Zügen leerte Lars sein Glas bis auf den letzten Tropfen und streckte es dem Arzt entgegen. Dieser schenkte nach und beobachte, während er an seinem Getränk nippte, wie sein Gegenüber auch das zweite Glas gierig austrank.
Mit einem Seufzer der Erleichterung wischte sich Lars über den Mund und lehnte sich in den Sessel zurück. Mit lauerndem Blick musterte er den Arzt.
»Ist dies das übliche Prozedere bei Ihnen? Man startet ganz harmlos in der Kindheit und tastet sich dann langsam an die Neurosen und Phobien der Patienten ran?«
»Nun, Herr van Loon, ich hatte nicht den Eindruck, dass ich Sie zu irgendetwas gezwungen hätte. Sie haben aus freien Stücken erzählt, und, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Sie haben dies auf eine sehr lebendige und anregende Weise getan.« Nachdenklich nahm er einen Schluck Wasser. »Aber ich denke, das ist nun genug für heute. Wir werden morgen noch genug Zeit finden, um weiter in ihr Leben vorzudringen.«
»Morgen?« Lars schoss aus dem Stuhl empor und stemmte die Arme in die Hüfte. Plötzlich war ihm wieder bewusst geworden, wo er sich überhaupt befand und dass sein oberstes Ziel darin bestand, so rasch wie möglich hinaus zu gelangen und nach Hause zu kommen. »Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst, Herr Fleischwolf.«
»Fleischhauer«, korrigierte ihn der Arzt, ohne eine Miene zu verziehen, und parierte den wild flackernden Blick des Musikers. »Sie brauchen im Moment sehr viel Ruhe, Herr van Loon. Und wenn Sie schon mal hier sind, so wollen wir doch die Gelegenheit nutzen und Sie gründlich untersuchen.«
Die Nennung des Namens hatte Lars bereits wieder von seiner Situation abgelenkt; kichernd setzte er sich in den Stuhl zurück. »Fleischhauer, richtig. Der vegane Fleischhauer. Was für ein Witz!«
Der Arzt wartete geduldig, bis Lars sich beruhigt hatte und wollte gerade zu einer Frage ansetzen, als dieser ihm zuvorkam:
»Nun denn, Doktor. Quid pro quo.