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Eine Leiche in Langenthal - ausgerechnet jetzt, wo Urspeter Hugi als Leiter der Kriminalpolizei Bern in Pension gegangen ist. Welches Geheimnis birgt die Tote, die in der Langete entdeckt wurde und zu der die Ermittler keine Informationen finden können? Hugi juckt es in den Fingern. Als eine Spur zu einem seiner alten Fälle aus dem Jahr 2008 führt, ist seine Mitarbeit gefragt. Damals verschwand ein Mädchen spurlos vom Roggwiler Dorffest. Der Fall wurde nie aufgeklärt. Bis heute?
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Seitenzahl: 323
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Martin Geiser
Oberaargauer Geheimnisse
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Satz/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Jag9889, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Gedeckte_Holzbr%C3%BCcke_%C3%BCber_die_Aare,_Fulenbach_SO_%E2%80%93_Murgenthal_AG_20220825-jag9889.jpg
ISBN 978-3-7349-3186-4
Für Urspeter Geiser, der in Ischia eine neue Heimat gefunden hat.
Was ist ein wahres Geheimnis?
Etwas, das für jeden offen da liegt.
Der eine erkennt es, der andere jedoch nicht.
Laotse
Dies ist ein Kriminalroman, eine fiktive Geschichte, die in der realen Kulisse des Oberaargaus spielt. Die beschriebenen Orte existieren allesamt, die Ereignisse – zum Beispiel das Dorffest im Roggwil im Jahre 2008 – haben stattgefunden; allerdings habe ich mir die künstlerische Freiheit genommen, die eine oder andere Gegebenheit zu verändern. Beispielsweise verfügt der Bären in Langenthal schon seit Längerem über keinen Hotelleriebetrieb mehr, sondern ist ausschließlich ein Restaurant. Die aufmerksamen Leserinnen und Leser aus dem Oberaargau werden solch kleine Abweichungen bestimmt feststellen und mir hoffentlich nachsehen.
Und ganz wichtig ist: Die Orte sind zwar real, die handelnden Figuren sind es jedoch nicht. Die Personen und die Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die Oberaargauer bezeichnen den Nebel als Suppe. Und das meinen sie durchaus liebevoll, denn er gehört zu ihrem Alltag wie die Butter aufs Brot. Auch wenn sie getrost auf ihn verzichten könnten.
Trotzdem schätzen sie seine Vielfältigkeit, die Facetten, mit denen er die Umgebung verzaubern, sie aber auch verbergen kann. Er hüllt die Wälder in einen sanften Schleier, bricht die Kanten und zeichnet die Landschaft mit einem weichen Bleistift. Man taucht in eine Welt ein, in der Hektik ein Fremdwort zu sein scheint. Die Bewegungen werden langsamer, die Stille umschließt den Körper und füllt ihn mit einer angenehmen Ruhe.
Die feinen Wassertröpfchen schweben über dem Boden und werden als dünner Vorhang wahrgenommen. Man fühlt sich wie inmitten einer Wolke – ganz nach der Definition des Nebels. Nicht über den Wolken, sondern in den Wolken. Auch hier ist eine Form von Freiheit zu spüren, vielleicht ist sie nicht unbedingt grenzenlos, aber immerhin.
Wenn die Nebelschwaden sich verdichten und sich daraus ein diffuses Etwas bildet, so ist die Suppe angerichtet. Manchmal sieht man sprichwörtlich nicht mehr die Hand vor den Augen. Alles wird verschluckt, Bäume, Hügel, Straßen, Häuser. Und Leichen.
Die Vergangenheit holt dich wieder ein.
Mit diesem Gedanken hat sie vorgestern, begleitet von einem flauen Gefühl in der Magengegend, das Ortsschild passiert. Und auch jetzt, als sie zwei Tage später aus dem Hotel tritt und die nähere Umgebung betrachtet, stellen sich ihr die Nackenhaare auf.
Eine dicke Nebelschicht liegt über dem Städtchen. Die Sonne, die ein kleines bisschen zu erahnen ist, versucht vergeblich, den trüben Schleier zu durchdringen. Genauso hat sie diese Gegend in Erinnerung: farblos, träge und langweilig. Wie die Menschen, die hier leben. Engstirnig, misstrauisch, abweisend, zugeknöpft. Noch einige Attribute mehr würden ihr dazu einfallen. Deshalb ist sie vor 16 Jahren aus dieser Region weggegangen. Hat ohne einen Funken Wehmut alles hinter sich gelassen. Ohne es auch nur eine Sekunde bereut zu haben.
Und trotzdem – was sie sich verwundert eingestehen muss – ist sie nun neugierig. Was ist nach so langer Zeit anders geworden? Wie sehen die Orte, an denen sie sich früher häufig aufgehalten hat, heute aus?
Gewiss weiß sie genau, dass sie ihr Vorhaben mit Vorsicht angehen muss. Natürlich, sie hat sich stark verändert. Aber: Man könnte sie erkennen. Und das würde Fragen aufwerfen. Lästige Fragen, denen sie sich nicht aussetzen will. Sie hat dieses Kapitel ihres Lebens abgeschlossen, mit enormer Erleichterung hat sie damals diesen Flecken im Schweizer Mittelland verlassen und will nicht an ihre Vergangenheit erinnert werden.
Als man sie bat, kurzfristig einzuspringen, um ein Seminar hier abzuhalten, hat sie gezögert. Sollte sie absagen? Mit welcher Begründung? Julian, ihr Geschäftspartner, wäre misstrauisch geworden, hätte eine Erklärung gefordert. Also hat sie geschwiegen, den Anlass mit Unbehagen in ihren Kalender eingetragen. In der Nacht vor der Abreise hat ihr der Termin den Schlaf geraubt. Wie oft hat sie sich gewünscht, dass alles schon vorbei wäre. Und was ihr während der dreistündigen Autofahrt alles durch den Kopf gegangen ist!
Doch ihre Befürchtungen sind unnötig gewesen; dieses Fazit kann sie nun ziehen. Das Seminar ist wunderbar gelaufen. Die Teilnehmer haben begeistert mitgemacht und interessante Fragen gestellt. Ein voller Erfolg. Julian wird sich darüber freuen.
Und im Nachhinein fragt sie sich: Was hätte denn schiefgehen können? Die Geschichte ist vorbei, ad acta gelegt.
Nach dem zweiten Seminartag und dem Abendessen hat sie an der Bar in netter Gesellschaft ein Glas Rotwein getrunken und die Gelegenheit beim Schopf gepackt. Danach konnte sie zum ersten Mal seit Langem wieder durchschlafen.
Nun fühlt sie sich frisch und ausgeruht wie schon lange nicht mehr. Und neugierig. Und unternehmungslustig.
Die Schlüsselkarte ist bereits abgegeben, und eigentlich könnte sie nun die Heimfahrt antreten. Der Erfolg des Seminars beflügelt sie jedoch, und so entschließt sie sich spontan zu einem Spaziergang.
Ihre Absicht ist mit einem gewissen Risiko verbunden, das ist klar. Und man soll das Schicksal bekanntlich nicht herausfordern, vor allem nachdem alles so reibungslos abgelaufen ist. Und trotzdem.
Sie steckt sich die AirPods in die Ohren, startet »Easy Listening«, ihre Lieblingsplaylist, zieht die Wollmütze etwas tiefer ins Gesicht, schiebt die Hände in die Manteltaschen und macht sich auf den Weg.
Sie passiert einen Platz aus Pflastersteinen, gelangt zwischen zwei Lokalen hindurch auf einen Parkplatz und folgt dem Flusslauf bis zum Fußballfeld. Viel hat sich verändert, denkt sie. Nicht nur zum Guten. Den provinziellen Anstrich hat das Städtchen nicht ablegen können.
Sie bleibt stehen. Der Nebel ist noch dichter geworden; sie spürt feine, feuchte Partikel auf ihrem Gesicht. Jetzt kommt doch etwas Melancholie auf. Hier, auf diesem Pfad, ist sie oft mit dem Hund ihrer Eltern spazieren gegangen. Der Vater hat sie mit dem Wagen hergefahren, und sie ist ins Dorf zurückgelaufen. Wie hat das Tier geheißen? Irgendein biblischer Name wird es gewesen sein, ganz bestimmt!
Langsam setzt sie ihren Weg fort, rechts der Fluss, links eine mächtige Überbauung, wo zuvor ein großes Feld brachgelegen hat. Weit und breit ist kein anderer Fußgänger zu sehen. Sie ist allein. Ed Sheeran singt, dass er die Liebe in einem Foto festhalten will, und sie summt leise mit, als plötzlich wie aus dem Nichts ein Jogger auftaucht, an ihr vorbeirennt und ihr einen tüchtigen Schrecken einjagt.
Sie sieht kaum einen Meter weit, geschweige denn, dass sie einen entgegenkommenden Menschen frühzeitig erahnen könnte.
Sie hält den Atem an, als plötzlich im dicken Nebel schemenhaft die Silhouette einer Person zu erkennen ist.
Sie schärft ihren Blick und bleibt stehen. Sieht ein Augenpaar, das sie aufmerksam mustert und in ihr vage Erinnerungen aufsteigen lässt. Und weiß, dass sie nun ein Problem hat.
Es gab gute und schlechte Tage im Leben von Urspeter Hugi. Eine Randnotiz eigentlich. Wenn nicht gar zu vernachlässigen. In Anbetracht dessen, dass er bis vor Kurzem jedoch nur schlechte und sehr schlechte Tage gekannt hatte, war diese Feststellung durchaus erwähnenswert.
Die Wendung war einfach auszumachen und zu benennen. Positive Gedanken. Das sagt sich so leicht. Tatsächlich hatte er sie aber wieder zugelassen. Auf simple Art und Weise. Hugi hatte selbst gestaunt, wie sehr ihm die Anordnung seines Psychologen geholfen hatte. Auf Wunsch des Therapeuten hatte Hugi sein Notizheft in die letzte Sitzung mitgebracht. Darin die Gedanken, die er jeden Abend niedergeschrieben hatte. Dunkel waren sie. Anklagend. Voller Wut und Resignation. Die Grübeleien über den Tod seiner Frau waren seine ständigen Begleiter. 18 Monate war es her, seit Judith gestorben war.
Buchmüller hatte die Aufzeichnungen seines Patienten durchgeblättert und dabei die Stirn in Falten gelegt. Zehn Minuten lang. Stumm waren sie einander gegenübergesessen. Der Psychologe lesend. Hugi wartend. Hatte die Uhr auf dem Büchergestell fixiert. Mit jeder Bewegung des Sekundenzeigers, jedem Vorwärtsschreiten war ihm das Schweigen zäher erschienen. Unangenehmer.
Hugi hatte versucht, sich auf seinen Atem zu konzentrieren. Fünf Sekunden lang einatmen. Die Luft anhalten, dann ausatmen, dabei auf acht zählen. Das hatte er in einem Magazin gelesen. Eine Achtsamkeitsübung.
Endlich klappte Buchmüller das Heft zu. Trommelte mit den Fingern auf den Umschlag.
Man müsse etwas ändern, meinte er und schaute seinem Patienten eindringlich in die Augen. Das war noch übler als die Stille zuvor. Nach kurzer Zeit senkte Hugi den Kopf.
Es sei nun Schluss mit dieser Mischung aus Selbstmitleid und Vorwürfen. Buchmüllers Tonfall klang streng. Von nun an sollten nur noch Lichtblicke notiert werden. Mindestens drei, jeden Abend. Am besten in ein neues Heft. Die finstere Welt wegsperren.
Und wenn er keine optimistischen Ansätze finden könne, warf Hugi ein. Streckte fragend die Hände aus. Ein leichtes Zucken im Mundwinkel war die Reaktion seines Gegenübers. Fein und nur ganz kurz. Doch Hugi hatte es genau gesehen.
Das sei reine Einstellungssache, so die Antwort. Man könne sich über viele Dinge freuen. Achtsamkeit, nenne man das. Den Sonnenschein. Ein Lächeln. Ein berührendes Musikstück. Ein leckeres Stück Fleisch, auf den Punkt genau gebraten. Aber man müsse diese Glücksmomente erkennen, auch wenn sie noch so klein seien. Und vor allem müssten sie aufgeschrieben werden. Das sei sehr wichtig. Damit sie Hugi bewusst werden würden und er sie am nächsten Tag nochmals nachlesen könne.
Hugi schwieg. Überlegte. Irgendwie einleuchtend, der Vorschlag Buchmüllers.
Was er denn dazu meine, wollte dieser wissen. Ob es einen Versuch wert sei. Hugi nickte. Pflichtete ihm bei.
Zu Hause setzte er sich hin. Schlug ein neues Heft auf. Spitzte den Bleistift. Rief sich den Tag in Erinnerung.
1. Sitzung bei Buchmüller
2. Über mich selbst gelacht, als mir ein Glas aus
der Hand gefallen ist
3. …
Nichts mehr kam ihm in den Sinn. Er kaute am Bleistift und spuckte angewidert ein paar Holzfasern aus. Nach einer erfolglosen Viertelstunde notierte er schließlich:
3. Zwei positive Punkte aufgeschrieben
Man musste sich über bescheidene Dinge freuen. Hatte der Therapeut das nicht gesagt?
Das war vor zwei Monaten gewesen. Hugi fand, dass er seither Buchmüllers Tipp äußerst erfolgreich angewendet hatte. Mit erfreulichen Auswirkungen auf sein Seelenheil. Es ging ihm deutlich besser. Die Stimmungskurve war nicht steil nach oben verlaufen. Aber immerhin aufwärts. Kleine Erfolge. Schritt für Schritt. Der Therapeut war sehr zufrieden mit ihm. Und Hugi mit sich auch, wenn er ehrlich war.
Auf seinem täglichen Spaziergang bog er in die Waldhofstrasse ein, das Krankenhaus zu seiner Linken, weiter vorn der Fußballplatz. Dort entschied er sich für einen Kiesweg und spazierte die Langete entlang. Seine Lieblingsstrecke. Er könnte sie blindlings ablaufen. Auf Autopilot schalten und die Gedanken schweifen lassen. So war er schon mehr als einmal plötzlich in Roggwil gelandet. Die Zeit völlig vergessen, die Umgebung ausgeblendet.
Sein Atem bildete eine kleine Dampfwolke in der Luft, bevor er sich in die kalte Nebeldecke verflüchtigte. Die erste Oktoberwoche entsprach nahezu klischeehaft dem Oberaargauer Herbstklima. Ein grauer Schleier lag über der Landschaft, und wenn der Hochnebel sich nicht bis zum Mittag auflöste, so konnte man davon ausgehen, dass die Sonne heute kaum die Ehre erweisen würde.
Hugi war so aufgewachsen und hatte sich, wie die meisten Menschen, die hier lebten, mit dem Dunst versöhnt. Er sah in ihm etwas Mythisches, Geheimnisvolles und vermochte so, auch den Nebeltagen etwas Positives abzugewinnen. Wenn ihm nach Sonne war, so konnte er jederzeit in den nahegelegenen Jura fahren und zum Beispiel auf dem Stierenberg oder in der Bättlerchuchi der Gemeinde Farnern Wärme tanken.
Die Spaziergänge taten ihm gut und ließen ihn wieder zu Kräften kommen. Viel Bewegung war ihm empfohlen worden, von Buchmüller, aber auch von seinem Hausarzt. In ein Fitnesscenter wollte er sich nicht begeben. Die hechelnden Hausfrauen, die übergewichtigen Rentner, die Testosteron-gesteuerten Muskelprotze und die fragilen Studentinnen, die ständig ein Selfie knipsten, um in den sozialen Medien ihre Aktivitäten vor der Welt auszubreiten. So stellte er es sich zumindest vor, ohne je selbst einen Fuß in solch einen Gesundheitstempel gesetzt zu haben. Nein, das brauchte er nicht. Bewegung an der frischen Luft, das war sein Ding. Damit konnte er sich identifizieren.
Gestern vor dem Zubettgehen hatte er freudig sein Notizheft aufgeklappt. Mit schwungvoller Schrift hatte er notiert:
1. »Don Giovanni« im Stadttheater gesehen
2. »Don Giovanni« im Stadttheater gesehen
3. »Don Giovanni« im Stadttheater gesehen
Und weil es ihm so leicht von der Hand gegangen war, hatte er in absoluter Hochstimmung gleich noch hinzugefügt:
4. »Don Giovanni« im Stadttheater gesehen
5. »Don Giovanni« im Stadttheater gesehen
Es war ein Genuss gewesen! Schon lange war es ihm nicht mehr so gut gegangen. Erst jetzt war ihm bewusst geworden, wie sehr ihm Kulturveranstaltungen gefehlt hatten. Mit Judith war er das letzte Mal in der Oper gewesen. Lange war es her. Viel zu lange! Nahrung für die Seele. Das musste er unbedingt bald wiederholen.
Mozarts wundervolle und eingängige Melodien purzelten ihm durch den Kopf. Ließen ihn gedanklich zum gestrigen Abend zurückkehren. Wärmten sein Gemüt.
Hugi ließ sich auf einer Sitzbank nieder, gönnte sich eine Zigarette. Den Spazierweg vor sich, die Langete im Rücken. Er schlug die Beine übereinander, legte einen Arm auf die Lehne. Genoss den Moment. Der Morgennebel hatte sich inzwischen aufgelöst. Eine kalte Bise wehte Hugi ins Gesicht. Er empfand sie nicht als störend. Sie gehörte zu diesen Herbsttagen wie die bunten Blätter, die den Kiesweg fast komplett bedeckten.
Zwei ältere Damen gingen an ihm vorbei nach Langenthal. Aufgeregt steckten sie die Köpfe zusammen. Hugi grüßte höflich, doch sie nahmen keine Notiz von ihm.
Und da klagt man ständig über den fehlenden Anstand unserer Jugend, dachte er grimmig.
Noch zwei Stunden bis zum Mittagessen. Er beschloss, nach dem Spaziergang im Gasthaus Bären einen Zwischenstopp einzulegen. Einen Aperitif zu trinken. Zu Hause würde er die Reste von gestern Abend aufwärmen. Lasagne, dazu ein Schälchen frischen Salat. Anschließend ein kleines Nickerchen. Sich in den neuen Roman von John Irving vertiefen. Das war ein guter Plan. Hugi war zufrieden.
Er erhob sich und schlenderte weiter. Es war wenig Betrieb auf seiner Lieblingsstrecke. Zwei Joggerinnen kamen ihm entgegen, ein Radfahrer, ein älteres Paar mit einem Bernhardiner. Hugi grüßte und schenkte einem jeden ein Lächeln, das von fast allen erwidert wurde. Nur der Radfahrer raste mit verbissener Miene an ihm vorbei.
Bei der Feuerstelle, wo der Wald begann, wollte er umdrehen. Denselben Weg zurückspazieren, voller Vorfreude auf den Apéro, eine Stange oder einen Campari Orange. Er würde sich spontan entscheiden, auch das war eine gute Idee. Hugi atmete tief durch. Wenn der Tag sich weiter so positiv entwickeln würde, könnte er am Abend zehn Highlights im Notizheft vermerken.
Das Polizeiauto sah er schon von Weitem. Ebenfalls die Neugierigen, die daneben lauerten und in den Wald hineingafften. Das Fahrzeug stand genau an der Stelle, die er als Wendepunkt seines Spazierganges vorgesehen hatte. Gespannt beschleunigte Hugi seine Schritte. Am Ziel angekommen spähte er durch die Bäume.
Am anderen Ufer der Langete befand sich eine Grillstelle mit großen Steinblöcken, die als Sitzgelegenheiten gedacht waren. Emsiges Treiben war auszumachen. Der Platz war zweifelsohne ein Tatort, das erkannte er auf den ersten Blick. Kriminaltechniker knieten in weißen Schutzanzügen am Boden. Kleine Schilder mit Nummern waren überall verteilt. Unter einer Decke erahnte Hugi die Konturen eines Körpers.
Er war so in das Schauspiel vertieft, dass er die Aufforderung zum Weitergehen nicht wahrnahm. Auch nicht, dass er inzwischen allein dastand. Erst als ein Uniformierter ihm die Hand auf die Schulter legte, kehrte seine Selbstwahrnehmung zurück. Der Polizist wiederholte seine Weisung. Immer noch höflich, doch resoluter.
Hugi nickte. Ließ seinen Blick nochmals über die Szenerie am anderen Ufer schweifen. Fühlte ein Kribbeln in der Magengegend. Spürte die verloren gegangene Leidenschaft. Dieses Gefühl einer großen Herausforderung, das ihn während seiner Aktivzeit immer gepackt hatte, wenn er einen Tatort betrat. Etwas widerwillig drehte er sich um und wollte gerade den Rückweg antreten, als er eine laute Stimme hinter sich hörte.
»UP, warte doch!«
Verblüfft drehte er sich um. Eine Frau trat aus dem Wald. Roter Mantel, froschgrüne Hose und gelbe Gummistiefel, die vor Dreck standen. Die Hose hatte oberhalb des Schuhwerks einen feuchten Rand. Die Frau musste die Langete durchquert haben, deren Pegelstand an dieser Stelle ziemlich niedrig war.
Über ihren außergewöhnlichen Modestil hatte er schon früher grinsen müssen, vor allem, was die gewagten Farbenkombinationen betraf. Eine Farbblindheit ihrerseits hatte er öfter in Erwägung gezogen.
»Stefania Russo.«
Sie winkte ihm mit einem leicht verlegenen Lächeln. Eilte auf ihn zu, sodass ihr das lockige Haar um den Kopf wehte, und schloss ihn in die Arme. Verdutzt erwiderte Hugi die Umarmung. So nahe war sie ihm während seiner aktiven Dienstzeit nie gekommen. Sie war sein Protegé gewesen, auch als nach einem Jahr sein Mentorat abgelaufen war. Eine eifrige Schülerin, die gierig, wie ein Schwamm, alles Wissen in sich aufsaugte. Die Hugi häufig um seine Meinung gefragt hatte. Und die ihm einmal gestanden hatte, dass sie sich oft überlegte, was er in dieser Situation wohl tun würde, bevor sie handelte. Für ihn war sie wie eine Tochter gewesen. Als er ihr eröffnet hatte, dass er den Dienst bei der kriminalpolizeilichen Abteilung Leib und Leben quittieren werde, war sie tränenüberströmt aus seinem Büro gerannt.
Seine kleine Stefania. Aufgeregt stand sie nun vor ihm.
»Mit dir hätte ich zuletzt gerechnet, UP. Als ich dich auf der anderen Flussseite stehen gesehen habe, bin ich sofort durch das Wasser gewatet.« Sie kicherte. »Was tust du hier?«
Er hob etwas theatralisch die Arme. »Ich wohne in Langenthal. Schon vergessen? Und ich genieße meine Rente. Genieße es, mein Leben nicht mehr fremdbestimmt zu führen. Eher müsste ich fragen, was du in Langenthal verloren hast.«
Sie zog die Adlernase hoch. Kramte in ihrer Manteltasche. Hugi zauberte im Handumdrehen ein Papiertaschentuch hervor.
»Immer noch derselbe Gentleman.«
»Immer noch die gleiche Chaotin.«
»UP, du bist unmöglich!« Dankbar nahm sie das Taschentuch entgegen und schnäuzte sich geräuschvoll. Knüllte das Tüchlein zusammen und schenkte ihm ein warmes Lächeln. »Du hast mir so gefehlt.«
Hugi war gerührt. Auch er hatte sie vermisst. Doch er vermochte nicht, ihr das zu gestehen.
»Dass gerade du hier auftauchst, UP. Als ob du den Braten gerochen hättest.« Stefania zwinkerte ihm verschwörerisch zu.
»Die Katze lässt bekanntlich das Mausen nicht. Aber dein Kollege da vorn wollte mir keinen Sitzplatz anbieten.« Hugi schob spielerisch schmollend die Unterlippe vor.
»Recht so. Dann hat Luca einen guten Job gemacht.«
»Ihr habt eine Leiche.« Da war sie wieder, diese fieberhafte Anspannung. Er hatte sie nicht vermisst. Aber jetzt, wo ein Tatort in greifbarer Nähe war, zogen ihn magnetische Kräfte zu diesem Ort des Verbrechens hin. Er wollte mehr erfahren. Eine bessere Gelegenheit würde er nicht bekommen.
»Ist nicht schwer zu übersehen, nicht einmal für dich.« Sie grinste spitzbübisch.
»Mord?«
Stefania zuckte zusammen. Kniff ihre Augen zu Schlitzen zusammen und hob drohend ihren Zeigefinger. »Was hättest du, als mein ehemaliger Vorgesetzter, zu mir gesagt, wenn ich mit einer außenstehenden Person geplaudert hätte?«
»Ich hätte dich zusammengefaltet. Und das ordentlich.«
»Eben.«
»Aber mich kennst du ja, mir kannst du doch …«
»UP!«
»Schon gut, schon gut. Einen Versuch war es wert.«
»Er ist es tatsächlich!«
Sie drehten sich zum Waldrand um, wo etwas weiter hinten ein groß gewachsener Mann auf den Kiesweg getreten war.
»Der Monsieur nimmt natürlich die Brücke«, flüsterte Stefania. »Ist ja klar.«
»Hugi! Hol mich der Teufel. Das gibt’s doch gar nicht.«
»Herr Staatsanwalt. Lieber draußen, sur place, als am Schreibtisch.«
Staatsanwalt Nydegger trat strahlend auf die beiden zu. Schüttelte Hugi überschwänglich die Hand. Während Stefania fror, trug Nydegger seine dicke Daunenjacke offen. Kälte war für den Staatsanwalt ein Fremdwort. Darunter war ein maßgeschneiderter anthrazitfarbener Anzug zu erkennen. Dazu die passende modische Seidenkrawatte. Stilvolle Kleidung. Gepflegtes Äußeres. Nur die schwarzen Gummistiefel passten nicht zu seinem sorgfältig zusammengestellten Outfit. Die dunklen Haare, die nach Hugis Vermutung regelmäßig gefärbt wurden, waren akkurat zu einem Seitenscheitel gekämmt. Das Kinn glattrasiert. Das Rasierwasser schwer und teuer. Die braunen Augen unter den buschigen Augenbrauen wirkten vertrauensvoll und gelassen. Aber Hugi wusste, dass man sich davon nicht täuschen lassen durfte. Nydegger konnte knallhart sein. Und dann war es vorbei mit dem warmen Blick.
»Gut sehen Sie aus, Hugi. Das muss ich neidlos anerkennen. Der Ruhestand scheint wahrhaft ein Jungbrunnen für Sie zu sein.«
Der Angesprochene lächelte verlegen. Nydegger war nie um ein Kompliment verlegen. Und es waren keine hohlen Floskeln, er meinte es auch so. Ein offener, kommunikativer und direkter Mann, den Hugi immer noch sehr schätzte.
»Danke. So fühle ich mich auch, Herr Staatsanwalt. Und ich darf das Kompliment zurückgeben. Der Herr trägt einmal mehr den feinsten Zwirn.«
»Hugi, übertreiben Sie nicht.« Ein kurzes, bellendes Lachen, das seine strahlend weißen Zähne entblößte. Man munkelte, dass er sie sich bei einem Zahnarzt in Ungarn hatte verpassen lassen. »Meine Frau hat das feine Händchen für die passenden Kleider. Das habe ich Ihnen schon mehr als einmal erklärt.« Er musterte Hugi ausgiebig und blickte anschließend zu Stefania. Deutete mit dem Zeigefinger auf Hugi. »Das Glänzen in seinen Augen kenne ich. Sie auch, Frau Russo? Wie ein Hund, der Witterung aufnimmt.«
Schmunzelnd richteten sie ihre Blicke auf Hugi.
»Da hat’s schon ein paar Ameisen in der Bauchgegend, nicht wahr, Hugi?«
»Mea culpa.« Hugi hob die Arme, zeigte seine Handflächen. »Ich kann’s nicht abstreiten. Ein paar wenige Infos – weil ich’s bin?«
Erneut das charakteristische Lachen. »Hat er auch schon versucht, Sie um den Finger zu wickeln, Frau Russo?« Er legte Hugi seine Hand auf dessen Schulter. »Selbst wenn ich wollte, mein Lieber, wir wissen noch gar nichts. Kein Ausweis, kein Handy. Rien du tout! Wir haben eine ganze Menge Arbeit vor uns.« Er warf einen raschen Blick auf seine Armbanduhr. Eine »Patek Philippe«.
What else, dachte Hugi.
»Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Ich habe einen Termin in Burgdorf. War schön, Sie wiederzusehen, Hugi.« An Stefania gewandt sagte er, mit dem Zeigefinger auf den Lippen und verschwörerisch flüsternd: »Kein Wort zu ihm. Sonst haben wir ihn plötzlich erneut am Hals.« Er zwinkerte Hugi zu, tippte an einen imaginären Hut und war im nächsten Augenblick im Wald verschwunden.
»Immer noch derselbe Charmeur«, sagte Hugi grinsend.
»Da hast du recht. Und er ist ein Teamplayer. Das schätze ich enorm. Ich arbeite gern mit ihm zusammen.«
»Dem gibt’s nichts hinzuzufügen. Außer, dass wir mal einen Kaffee zusammen trinken sollten.«
»Was für ein abrupter Themenwechsel, UP.« Sie fuhr sich durch die dichten Locken, verfehlte dabei ein kleines Blatt, dass inmitten ihrer Haarpracht steckte. »Aber die Voraussetzungen dafür sind gut. Mein Team wird ein paar Tage hier stationiert sein. Kumi ist gerade daran, unser Einsatzbüro auf dem Polizeiposten einzurichten.«
»Die übliche Truppe?«
»Selbstverständlich. Kumi, Alain und Naomi.«
»Ich sollte mal bei euch vorbeischauen.«
»UP, untersteh dich. Du hast gehört, was Nydegger gesagt hat.« Sie umarmte ihn kurz, trat ein paar Schritte von ihm weg und drehte sich nochmals um. Schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln. »Ich melde mich bei dir für einen Kaffeeplausch.«
Im Bären angekommen, entschied sich Urspeter Hugi schließlich für ein Einerli des exquisiten Hausweins. Spontan, wie vorgesehen. Er saß an der Bar, den »Bund« ungelesen vor sich, und betrachtete sich im großen Spiegel.
Gut sehen Sie aus. Das Kompliment von Nydegger war ihm runtergegangen wie Öl. Und wenn er den Herrn, der ihm entgegenblickte, mit seinen sorgfältig frisierten, graumelierten Haaren und dem akkurat getrimmten Dreitagebart, aufmerksam studierte, so war er mit dessen Aussehen zufrieden. Sehr sogar. Es galt festzustellen, dass sein mentales Hoch sich angenehm auf sein Äußeres übertrug. Er hob das Glas. Prostete seinem Spiegelbild zu. Ignorierte das flüchtige Grinsen der Kellnerin.
Er mochte den Staatsanwalt und hatte gern mit ihm zusammengearbeitet. Etwas grobschlächtig und selbstverliebt, aber jederzeit fair und immer mit einem offenen Ohr für die Vorschläge und Ideen seiner Ermittler.
Der Weißwein putschte ihn noch mehr auf. Stieg ihm sofort in den Kopf. Bescherte ihm einen angenehmen Schwindel, der ihn hinderte, in der Zeitung zu schmökern. Die Präsidentschaftswahlen in den USA und die anderen Brandherde auf dieser Welt hingen ihm ohnehin zum Hals heraus.
Er stützte die Unterarme auf die Theke und sah sich um. Die Tische waren gedeckt, die Mittagsgäste wurden erwartet. Ein verführerischer Duft drang aus der Küche und umgarnte seine Nase. Die Lasagne in seinem Kühlschrank ging ihm durch den Kopf. Hugis Magen knurrte bedrohlich. Ob er sich hier einen kleinen Snack gönnen sollte? Er verwarf den Gedanken sogleich; die leckere Pasta lockte ihn nach Hause. Doch an Aufstehen war momentan nicht zu denken. Zunächst musste der schwere Kopf klarer werden.
Er ließ seine Gedanken schweifen. Eine Leiche in Langenthal. Das Prickeln im Nacken hatte sich noch nicht gelegt. Es würde ihm gewiss gelingen, einige Informationen aus Stefania herauszukitzeln.
Nydegger hatte nicht unrecht mit seiner Bemerkung. Hugis Jagdinstinkt war geweckt. Er fühlte sich herausgefordert. Er war interessiert und motiviert. So sehr wie schon lange nicht mehr. Es gab nur ein Problem: Er hatte seinen Dienst bei der Kriminalpolizei vor einem Jahr quittiert. War in Frührente gegangen. Ein Zurück stand auf keinen Fall zur Debatte. Er hatte den Entscheid sehr bewusst gefällt. Nächtelang hatte er wachgelegen und mit sich gerungen. Hatte sich eingestehen müssen, dass er nach Judiths Tod nicht mehr derselbe war wie zuvor. Die Arbeit war ihm zur Last geworden, hatte ihm keinen Spaß mehr bereitet.
Zudem hatten die zahlreichen administrativen Arbeiten, die ständig neu hinzukamen, seine Laune nicht gebessert. Er saß nicht gerne am Computer; die Arbeit draußen war ihm wichtiger. Der Kontakt mit Menschen, Gespräche, Stimmungen, Beziehungen, Milieus. Und dann die Erkenntnisse sorgfältig ordnen und nach Zusammenhängen suchen. Denkarbeit, das war ihm das Zweitliebste. Und dazu brauchte er keine Maschine. Und künstliche Intelligenz schon gar nicht.
Der Schwung, der ihn jahrelang als Dezernatsleiter von Leib und Leben angetrieben hatte, war nicht mehr vorhanden. Lange hatte er gehofft, dass ihm die Arbeit helfen könnte, zurück in die Spur zu finden. Ihn von den düsteren Gedanken abzulenken. Doch vier Monate nach seiner Rückkehr auf den Posten war ihm alles über den Kopf gewachsen. Er hatte sich in einer Sackgasse befunden. Und nur einen Ausweg gesehen: die Kündigung.
Die Arbeit war lange Zeit fast sein einziger Lebensinhalt gewesen. Er hatte sich reingekniet. War nächtelang weg gewesen. Hatte seine Frau vernachlässigt. Besonders nachdem die beiden Söhne ausgezogen waren. Bis zu Judiths Erkrankung. Da hatte sich sein Fokus verschoben. Was bisher gezählt hatte, war unwichtig geworden.
Und nach ihrem Tod hatte er sich eingestehen müssen, dass sein altes Leben der Vergangenheit angehörte. Er hatte versucht, die Arbeit wieder aufzunehmen. Hatte sich nach vier Monaten sein Scheitern eingestehen müssen. Er hatte sich von seinem Berater einen Finanzplan vorlegen lassen. Geld war genug vorhanden. Hugi stammte aus einer vermögenden Familie. Frührente als Lösung. Mit 57 Jahren.
Er hatte nicht gefragt, was dieser Entscheid in ihm auslösen würde. Wie schwierig es sein könnte, die inhaltsleeren Tage auszufüllen. Eine Tagesstruktur zu haben. Er hatte in dieser Zeit viel mit Buchmüller, seinem Therapeuten, zu tun gehabt. Schwierige Monate waren es gewesen.
Zusätzlich zur Trauer hatte Hugi noch ein anderes Thema beschäftigt: das schlechte Gewissen seiner Frau gegenüber, auch wenn das nicht mehr zu ändern war. Hätte er doch nur mehr Zeit mit ihr verbracht! Sie an erste Stelle gesetzt und der Arbeit weniger Priorität eingeräumt. Er hatte mit sich gehadert, und auch der Zuspruch seiner Söhne Damian und Leonardo hatte ihn nicht von der Schuld befreien können. Seine Arbeit sei nicht mit anderen Berufen zu vergleichen, hatten sie gemeint, und ihre Mutter habe ihm niemals etwas nachgetragen.
Judith hatte Teilzeit in einer Buchhandlung gearbeitet, die in derselben Straße lag wie Hugis Lieblingsrestaurant. In ihrer Freizeit hatte sie für ihre Leidenschaft, die Malerei, gelebt. Hatte in einigen kleinen Galerien ausstellen und die meisten Bilder zu einem anständigen Preis verkaufen können.
Hugi hatte lange Zeit keinen Trost gefunden, doch jetzt zeichnete sich langsam ein Fortschritt ab. Ein Lichtstreifen am Horizont.
Er überlegte, ein weiteres Glas Weißwein zu bestellen. Der leichte Rausch beflügelte ihn. Das Mittagessen konnte warten. Er würde ihm ein Nickerchen vorziehen.
Durch die offen stehende Tür neben der Bartheke konnte er die Rezeption sehen. Zwei Angestellte, die angespannt diskutierend mit den Händen fuchtelten. Was war da los? Hugi schärfte seine Sinne, was ihm ziemlich schwerfiel. Und lauschte. Und staunte. Und kombinierte.
Nachdem die beiden den Wortwechsel beendet hatten, ließ Hugi das Gehörte auf sich wirken. Fragte sich, ob die Promille, die er intus hatte, seine Auffassungs- und Kombinationsgabe einschränkten. Und entschied, dass dies nach nur einem Glas Wein auszuschließen war.
Somit war der Aperitif beendet. Ein zweites Glas stand nicht mehr zur Diskussion. Es gab zu tun!
Er legte eine Zehnernote auf die Theke, stand auf und kontrollierte kurz sein Gleichgewicht. Dann verließ er den Bären durch den Hintereingang, der auf einen kleinen Parkplatz für die Gäste führte. Dort blickte er sich um und fand schließlich, was er gesucht hatte.
Hastig holte er sein Smartphone hervor und lehnte sich an die Mauer der Bärenscheune.
»UP. Du schon wieder?« Ihr Erstaunen war nicht zu überhören.
»Stefania, wo bist du?«
»Auf dem Weg ins Büro. Mal sehen, ob Kumi inzwischen fertig ist mit Einrichten.« Sie war etwas außer Atem.
Hugi grinste. Genüsslich fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. »Es gibt Neuigkeiten.«
»Was meinst du?«
»News zu eurer Leiche. Ich glaube, ich kann dir weiterhelfen.«
Stille. Nur ihr Keuchen war zu hören. Dann ihre vorsichtige Frage: »UP. Bist du wieder im Dienst?«
»Quatsch. Aber ich habe im Bären soeben ein Gespräch mitgehört.«
»Mitgehört?«
»Na gut, gelauscht habe ich ein bisschen.«
»Gewisse Dinge verlernt man eben nie.«
»Willst du es nun hören oder nicht?«
»Schieß los.«
Hugi blickte sich um. Fixierte einen anthrazitfarbenen BMW. »Auf dem Parkplatz hinter dem Bären steht ein Auto mit Stuttgarter Kennzeichen.«
»Und?«
»Die Besitzerin des Wagens hat gestern Morgen ausgecheckt.«
Erneutes Schweigen. Aber es war eine andere Stille als zuvor. Hugi stellte sich vor, wie Stefania die Stirn in Falten legte. »Dann hat ihr Langenthal vielleicht so gefallen, dass sie beschlossen hat, noch eine Weile zu bleiben.«
»Stefania!« Hugi spielte den Empörten.
»Schon gut. Das ist in der Tat ein wenig merkwürdig.«
»Eine Leiche und ein verlassenes Auto. Das könnte doch zusammenpassen. Soll ich an der Rezeption nachfragen?«
»UP, untersteh dich!« Der drohende Unterton machte deutlich, dass ein weiteres Insistieren zwecklos war.
»Bitte. Ich will nur helfen«, versuchte Hugi es dennoch.
»Das hast du damit getan. Überlass den Rest getrost uns. Und ja – vielen Dank für deine Mitteilung.«
»Du hältst mich auf dem Laufenden?«
»UP!«
»Und vergiss nicht unsere Verabredung zum Kaffee. Ein paar Infohäppchen werde ich dir bestimmt dabei entlocken können.«
Ein Stöhnen am anderen Ende. »Du bist unmöglich.«
»Immer wieder gern.«
Zufrieden beendete Hugi das Gespräch. Anschließend fischte er aus seinem Mantel einen kleinen schwarzen Moleskine-Notizblock, den er immer bei sich trug, und wollte das Kennzeichen des BMWs notieren. Leicht irritiert stellte er fest, dass das Notizbuch mit den positiven Erlebnissen des Tages gefüllt war. Es widerstrebte ihm zutiefst, Buchmüllers Anweisungen mit ermittlungstechnischen Beobachtungen zu vermischen. Ordnung musste sein, da war er ein absoluter Pedant.
Ermittlungstechnische Beobachtungen!
Wie das klang. Als ob er erneut im Dienst wäre. Er durfte sich da nicht hineinsteigern.
Schweren Herzens und mit Widerwillen riss er eine Seite aus dem Moleskin und notierte sich das Kennzeichen, dazu Datum und Uhrzeit. Optimistisch gestimmt machte er sich auf den Heimweg.
Zu Hause angekommen, legte sich Hugi aufs Ohr. Erschöpft schloss er die Augen. Er schlief sofort ein und erwachte erst wieder, als Zorro, sein Kater, ihn fordernd anstupste. Erschrocken fuhr Hugi hoch. Sein Schlafzimmer lag in Dunkelheit. 17 Uhr. Er hatte den ganzen Nachmittag verschlafen. Benommen blieb er auf dem Bettrand sitzen und streichelte das pelzige Fell des Stubentigers. Nachdem er das Tier gefüttert hatte, ging er auf die Terrasse und zündete eine Zigarette an. Von Weitem hörte er ein Knattern, das rasch näherkam. Das rote Licht auf dem Dach des Krankenhauses, das etwa hundert Meter von Hugis Wohnung entfernt lag, drehte sich. Demnächst würde ein Rettungshubschrauber landen. Einen Patienten holen und nach Bern ins Inselspital fliegen.
Hugi sah sich um. Die Terrasse müsste endlich wintertauglich gemacht werden. Die Liegestühle nach unten in den Keller bringen. Die Topfpflanzen warm einpacken und auf Styroporplatten stellen. Die großen Thujasträucher am Geländer festbinden, damit ihnen die Winterstürme nichts anhaben konnten. Es gab viel zu tun!
Judith und er hatten ihr Haus im Allmen-Quartier verkauft, als die beiden Söhne ausgezogen waren. Hugi war nicht unglücklich darüber gewesen. Der große Garten hatte viel Zeit eingefordert. Rasenmähen, Unkraut jäten und Büsche in Form schneiden. Definitiv nicht seine Lieblingsaufgaben. Aber er hatte sich hartnäckig geweigert, einen Gärtner anzustellen. Teresa, die Putzfrau, die sie sich leisteten, sei genug Luxus. Hugis Worte. Sie kauften eine Eigentumswohnung in der Elzmatte. Ein prächtiges Penthouse mit direktem Liftzugang und Terrasse rundherum. Und unweit des Spitals, was im Alter nicht unwichtig sei, wie Hugi damals scherzte. Fünf Jahre war das her.
Er drückte die Zigarette aus. Musste aufpassen, sich nicht in der Vergangenheit zu verlieren. Seine Stimmung sank bei solch mentalen Ausflügen immer auf den Tiefpunkt. Er ging in die offene Küche zum Wohnzimmer und wärmte die Lasagne auf. Anschließend setzte er sich an den mächtigen Holztisch auf die Bank und stocherte lustlos in der Pasta herum. Zorro saß neben ihm, beobachtete aufmerksam jede Bewegung. Aufrecht, mit gespitzten Ohren und zitternden Schnurrhaaren.
Hugi seufzte. Was war das für ein Tag! Die Euphorie am Morgen, das Wiedersehen mit Stefania, der Wein, der ihn ermüdet hatte. Und dann der verschlafene Nachmittag. Am liebsten würde er sich gleich wieder hinlegen. Er stützte das Kinn auf die Handflächen, starrte ins Leere. Das Vibrieren seines Smartphones holte ihn in die Gegenwart zurück. Er warf einen Blick auf das Display und stöhnte.
»Mama!«
»Hör zu, Urspeter. Ich will gleich zur Sache kommen.«
Typisch Mutter. Hugi verdrehte die Augen. Geduld war noch nie ihre Stärke gewesen.
»Guten Abend, Mama. Wie geht es dir?«
»Prächtig, prächtig.«
»Schön.«
Seine Mutter war das beste Beispiel für eine rüstige Rentnerin. Nach dem Tod ihres Mannes war sie aufgeblüht. Hatte das biedere Leben, das die beiden geführt hatten, an den Nagel gehängt. Sich eine zweite Jugend gegönnt. Bunte Klamotten gekauft, das Reisen entdeckt, mit dem Internet Bekanntschaft geschlossen. Nun war sie 83, und ihr Elan war bewundernswert. Manchmal aber auch ziemlich lästig.
Mindestens einmal pro Woche rief sie ihn an. Und meistens drehte sich das Thema um Beziehungen. Sie drängte ihn, sich mit Frauen zu treffen, sein Single-Dasein zu überdenken und etwas dagegen zu unternehmen.
»Wie gesagt, ich habe eine Idee für dich.«
»Für mich?«
»Urspeter, es muss endlich eine Veränderung stattfinden. Es ist Zeit, dass du aus deinem Mauseloch rauskriechst.«
»Soll heißen?«
»Eine Frau, Urspeter. Du brauchst endlich wieder jemanden, der sich um dich kümmert.«
»Mama!«
So rasch war sie selten zu ihrem Lieblingsthema gekommen. Kein Geplänkel über ihre Reisen, die Weltpolitik, kein Schnöden und Maulzerreißen über Menschen in ihrem Alter, die im Altersheim auf den Tod warteten.
»Keine Widerrede! Ich habe die Sache in die Hand genommen.«
»Du hast was?« Hugi bemühte sich um Gelassenheit. Zog scharf die Luft ein.
»Angemeldet habe ich dich auf so einem Internetportal. Ich habe mich erkundigt. Sehr zuverlässig und erfolgversprechend. Gute Bewertungen. Das habe ich geprüft.«
Auf so einem Internetportal. Hugi musste sich einen Moment sammeln. Das Gehörte verarbeiten. Die Puzzlestücke an der richtigen Stelle fallen lassen. »Du kannst doch nicht einfach …« Das klang heftiger, als er gewollt hatte. Doch dann fehlten ihm die Worte.
Seine Mutter hakte ein: »Was? Natürlich kann ich. Ich bin vielleicht alt, aber nicht von gestern. Ein Profil erstellen, zwei schöne Bilder hochladen. Die aus deinem Urlaub in Südfrankreich, weißt du. Darauf siehst du sehr gut aus.«
Hugi merkte, wie die Wut langsam in ihm hochstieg. Von ihm Besitz ergriff. Wie seine Atmung kurz aussetzte. »Mama, die Fotos sind alt. Und Judith ist auch mit drauf.«
»Urspeter, ich bitte dich. Ich habe die Bilder natürlich bearbeitet und Judith weggeschnitten. Geht ganz einfach. Ich habe mir so ein Tutorial im Netz angesehen.«
»Ich möchte das nicht.«
»Blabla. Ist schon erledigt.« Elsa Hugi war nicht zu stoppen. Eifrig fuhr sie fort: »Du musst wieder nach dir schauen, Urspeter. Selbstfürsorge nennt man das. Habe ich in einer Dokumentation über Depressionskranke gelernt.«
»Ich habe meine Depression überwunden.«
»Das sagst du.«
»Mein Therapeut auch.«
»Ach, was weiß der schon. Deine Mutter kennt dich und deine Bedürfnisse am besten. Psychologiegeschwätz mag in gewissen Lebenssituationen meinetwegen nützlich sein. Aber jetzt musst du den Markt sondieren. Du wirst nicht jünger. Du brauchst eine vernünftige Frau.«
»Eine vernünftige Frau.«
»Ganz genau. Ich habe bereits Reaktionen auf dein Profil erhalten. Nicht alle sind vielversprechend, daher habe ich mal vorsortiert.«
»Mutter!« Das war der Moment, wo Hugi sich nicht mehr zurückhalten konnte. In was für eine Schmierenkomödie war er da hineingeraten!
»Nenn mich nicht so, Urspeter. Es gibt keinen Grund, wütend zu sein. Etwas Dankbarkeit wäre schon eher angebracht. Es sind tolle Frauen, gut aussehend, intelligent, empathisch.«
»Und woher willst du das wissen?«
»Auch sie haben Bilder hochgeladen.«
»Worauf Intelligenz und Empathie selbstverständlich ersichtlich sind.«
»Urspeter, ich bitte dich. Ich habe natürlich mit den Damen gechattet.«
Hugi betrachtete sein Handy. War nahe daran, einfach aufzulegen. Überlegte es sich dann doch anders. Das wäre zu viel für seine Mutter. Andererseits musste er ihr unbedingt klarmachen, dass sie eine Grenze überschritten hatte.
»Urspeter, bist du noch dran?«
»Ich bin sprachlos.«
»Siehst du, genau darum habe ich die Sache in die Hand genommen.« Sie klang zufrieden. Papierrascheln war zu vernehmen. »Hör zu, ich schicke dir Benutzernamen und Passwort zu deinem Account. Die betreffenden Kandidatinnen habe ich markiert. Du kannst den Chatverlauf nachverfolgen und dich einklinken. Ich habe mein Bestes gegeben, das kannst du mir glauben.«
»Du hast ihnen in meinem Namen geschrieben?«
»Was hätte ich denn sonst tun sollen? Das merkt doch niemand. Ich kenne schließlich deinen Schreibstil. Habe ihn mit einer tüchtigen Portion Charme garniert. Da können die Damen nicht widerstehen. Sieh sie dir an und gib Gas, Urspeter. Du bist nicht der einzige Mann auf dieser Plattform. Die Damen sind bestimmt begehrt.«
»Mama, jetzt hör mal zu …«
»Heute hörst du mir zu. Sie warten auf deine Antwort. Es ist alles angerichtet, sozusagen.«
»Mama, ich finde, das geht zu weit. Meinst du nicht, dass ich alt genug bin, um selbst zu entscheiden, was gut für mich ist?«
»Ein wenig Starthilfe kann nie schaden.« Ihr Ton wurde trotzig. »Ich kenne dich doch. Bis du beschließt, dich auf so was einzulassen, bin ich längst unter der Erde.«
»Blödsinn.«
»Wie auch immer, mehr kann ich nicht für dich tun. Mach etwas draus. Ach, und übrigens, die nächsten Tage bin ich mit Susanne im Schwarzwald. Ich werde mich bei dir melden und bin gespannt, ob du mir von Fortschritten berichten wirst. Bis dann, Urspeter.«