Befreiungsschlag - Stefan Gemmel - E-Book

Befreiungsschlag E-Book

Stefan Gemmel

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Beschreibung

Damit hatte Maik nicht gerechnet. Geprügelt hat er sich schon oft, immer folgenlos, aber nun wurde er zu einer Jugendstrafe auf Bewährung verurteilt. Er hat die Wahl: Knast oder ein Anti-Gewalt-Training. Klar, dass Maik solch ein Training für völlig überflüssig hält, auf Psychogeschwätz kann er verzichten. Doch weil das Training besser ist als Gefängnis, willigt er ein und macht erstaunliche Erfahrungen. Seine Umwelt und vor allem seine Freundin Julia beginnen gerade, ihn mit anderen Augen zu betrachten, da droht der Rausch der Spielkonsole ihn vom Weg abzubringen …

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Seitenzahl: 279

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Stefan Gemmel · Uwe Zissener

Befreiungsschlag

Ein ganz besonderer Dank gilt den Teilnehmern des Antigewalt-Trainings, das von Uwe Zissener und Thomas Konschak sowie der Cotrainerin Sandra Kappes geleitet wurde und das der Autor Stefan Gemmel ein ganzes Jahr lang begleiten durfte. Aus den Erfahrungen, den Berichten und den Erlebnissen innerhalb dieses AGTs entstand dieser Roman.

Beiden Autoren dieses Buches ist klar: Ohne die offenen und ehrlichen Aussagen der AGT-Teilnehmer und ohne ihre entgegenkommende, auf gegenseitigem Interesse beruhende Unterstützung wäre dieses Buchprojekt nicht denkbar gewesen.

Daher sagen die Autoren Stefan Gemmel und Uwe Zissener diesen jungen Erwachsenen von ganzem Herzen »Danke«:

Dominik H., Sebastian M., Gzim D., Dirk A., Kevin R., Marvin P., Özgür D., Tim W.

 

 

 

 

 

 

Stefan Gemmel, Jahrgang 1970, ist einer der erfolgreichsten Kinder- und Jugendbuchautoren im deutschsprachigen Raum. Der Leseweltrekordler 2012 und 2015 wurde für seine herausragenden Autorenlesungen und sein Engagement in Sachen Leseförderung als Lesekünstler des deutschen Buchhandels und mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Mit seiner Familie lebt er in Lehmen an der Mosel. www.gemmel-buecher.de

Uwe Zissener, Jahrgang 1966, Dipl.-Sozialarbeiter (FH), Erlebnispädagoge, Mediator und AGT-Trainer/CT, arbeitet seit 1995 in der Gewaltprävention und seit 2003 als Antigewalt-Trainer. Seit 2005 ist er freiberuflicher Referent und Trainer für Sozialkompetenztraining, Gewaltprävention (AGT), Konflikt- und Kommunikationsmanagement. Er lebt mit seiner Familie in Vallendar bei Koblenz. www.sOLe-trainings-tools.de

 

Der Roman »Befreiungsschlag« wurde 2016 mit dem Martha-Saalfeld-Förderpreis des Landes Rheinland-Pfalz ausgezeichnet.

 

Zu diesem Titel stehen Unterrichtserarbeitungen zum kostenlosen Download zur Verfügung.

Originalausgabe 1. Auflage als Arena-Taschenbuch 2017 © 2017 Arena Verlag GmbH, Würzburg Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Castle/ Gate Agency, Schriesheim, www.castlegate-agency.comAlle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Clara Nagel unter Verwendung von Umschlaggestaltung: Carla Nagel unter Verwendung von Bildmaterial von Shutterstock/aslysun 134632226; 123RF Corporate/sharpshutter 25106460 ISSN 0518-4002 ISBN 978-3-401-80651-8

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Inhaltsverzeichnis

1

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Epilog

1

Das leise Quietschen gehörte für Maik zum Frühlingsanfang wie der Duft von frischen Blumen oder die Rückkehr der Zugvögel. Jedes Jahr nach dem Winter ließ sich das Tor zu Großvaters Schrebergarten nur mit einem lauten Quietschen öffnen. Maik lachte. So wusste er immer schon, was er als Erstes zu tun hatte.

»He, mein Freund«, erklang es aus dem Schuppen. »Hörst du? Das Tor schreit schon nach dir und einem Tropfen Öl.«

Maik schloss das Tor mit einem erneuten Quietschton. »Klar, Großvater«, gab er zur Antwort. »Ich kümmere mich gleich darum.« Schon wollte er sich auf den Weg in den Schuppen machen, als er abgelenkt wurde. Zöpfe. Zwei dunkelbraune Zöpfe, die wie verspielt am Gartenzaun vorbeihüpften.

Julia!

Maik konnte seinen Blick nicht abwenden. Und das nicht nur wegen der Zöpfe. Nein, diese Julia, sie besaß so viele besondere Dinge, die Maik jeden Tag in ihrer Klasse neu entdecken durfte: das winzige Grübchen neben dem rechten Auge, wenn sie lachte. Die beiden nebeneinanderliegenden Sommersprossen, die selbst im Winter nicht verschwanden. Und die beiden abgekauten Nägel an ihren Daumen. An den anderen Fingern kaute sie nie. Bloß an ihren Daumen. Und das auch nur, wenn sie gleich an die Tafel musste oder wenn sie einen Teil der Hausaufgaben vergessen hatte.

Maik beobachtete sie gern und wünschte sich, dass sie sich mal zu ihm umblickte. Und er war sich sicher, dass sie es noch nie bemerkt hatte.

Plötzlich wurde er aus seiner Träumerei gerissen: »Bitte erheben Sie sich!«, tönte es in Maiks Gedanken. Und er stutzte: Diese Stimme gehörte nicht seinem Großvater und auch nicht Julia. Diese Stimme, sie kam nicht aus seinen Gedanken und aus seiner Erinnerung. Nein, sie kam …

Mit einem Mal wurde Maik wieder bewusst, wo er sich gerade befand.

»Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: Der Angeklagte erhält ein Jahr, sechs Monate auf drei Jahre Bewährung. Darüber hinaus werden ihm achtzig Sozialstunden auferlegt und die Teilnahme an einem Antigewalt-Training. Die Strafe wird so hoch angesetzt, weil das Gericht eine klare schädliche Neigung bei dem Angeklagten erkennt. Er zeigte weder Reue noch …«

Aus den Augenwinkeln heraus erkannte Maik, wie sein Verteidiger neben ihm zusammenzuckte. Er selbst stand völlig ungerührt an seinem Platz. Die Worte der Richterin zogen an ihm vorbei. So wie früher die immer wiederkehrenden Sprüche seiner Lehrer oder heute die Pädagogen in der sinnlosen Berufsförderungsmaßnahme und natürlich auch die seiner Mutter und seines Großvaters. Er grinste. Ja, genau so klang die Stimme der Richterin: trocken, langweilig monoton.

Von seinem Verteidiger erhielt er einen Stoß in die Rippen. »Hör auf zu grinsen!«, zischte er ihm zu.

Maik tat ihm den Gefallen. Er versuchte, ein interessiertes Gesicht zu machen, doch es fiel ihm schwer. Das, was da vorn am Richtertisch gesprochen wurde, wollte er gar nicht hören. Das kam von Leuten, die keine Ahnung von seinem Leben hatten.

Er blickte auf die Uhr. Lange würde das Ganze hier nicht mehr dauern. Vielleicht konnte er sich noch einmal in seine Erinnerungen stürzen, in die Szenen seiner Kindheit: das quietschende Tor, die Blumen in Großvaters Garten. Julia. Eine kleine Flucht aus diesem erdrückenden Saal. Aber nur kurz. Denn gleich würde diese Richterin wohl ihr dummes Gelaber beenden und Maik käme endlich raus.

Und darauf kam es doch letztendlich an: Raus hier!

2

Und, wie ist es gelaufen?«

Die Tür war noch nicht ins Schloss gefallen, als seine Mutter bereits die erste Frage stellte. Doch bevor Maik antworten konnte, redete sie schon weiter: »Hätte bestimmt besser ausgesehen, wenn ich dabei gewesen wäre. Hab meinen Chef heute Morgen noch mal gefragt, ob ich nicht wenigstens die zwei Stunden freibekommen könnte. Doch er meinte, dass ich ihm dafür einen triftigen Grund nennen müsste. Na ja, und …« Jetzt sah sie Maik an. »Was hätte ich ihm denn …?«

Maik hörte gar nicht hin. Seine Blicke ruhten auf der Einkaufstasche, die seine Mutter gerade auf dem Küchenstuhl abgesetzt hatte und aus der langstielige Kohlblätter herausschauten. Kohl! Ausgerechnet. Maik drehte sich der Magen um. Gleich würde die ganze Bude wieder nach Gemüse stinken. Er hasste alles, was …

»Hörst du mir überhaupt zu?« Die schrille Stimme seiner Mutter riss ihn aus den Gedanken.

»Was …? Ja klar. Ich … Alles gut gelaufen. Bin gut davongekommen.«

Sie seufzte. »Gut davongekommen. Was heißt denn das? Nun mach doch mal den Schnabel auf. Und lass dir nicht alles aus der Nase ziehen.«

Maik dachte an die Richterin, Frau Tünsch. Oder wie alle sie nannten: Lynch! Der Begriff Lynchjustiz hatte unter den Jugendlichen eine ganz eigene Bedeutung. »Sozialstunden gab’s. Nichts weiter.«

»Wirklich? Sonst nichts?« Sie sah ihn überrascht an. »Nach dieser heftigen Aktion gab es nur Sozialstunden?«

Er merkte ihr an, dass sie ihm nicht glaubte. Er kannte diesen Blick, diese Angst vor seinen Wutausbrüchen, wenn er sich angegriffen fühlte.

»Wie viele Sozialstunden sind es denn?«

»Achtzig«, antwortete Maik knapp und wunderte sich, dass er sich daran erinnerte. Womöglich hatte er sich das Gelaber von der Lynch doch angehört.

Die Mutter griff nach der Tasche und fischte den Kohl heraus. Sie blickte Maik nicht an, während sie fast tonlos fragte: »Wie willst du das jetzt laufen lassen?«

Maik drehte sich auf dem Stuhl herum. Was für eine beschissene Frage! Darum ging es ihr doch gar nicht. In Wahrheit fragte sie doch, ob er sich wieder um die Sozialstunden drücken würde, so wie bisher. Das dachten sie doch alle von ihm. Die Richterin, der Verteidiger, die Pädagogen in der Maßnahme, seine Mutter, sein Großvater. Sie alle hatten das gleiche Bild von ihm: Maik, der ewig Mist baute und sich dann vor den Konsequenzen drückte. Maik, der nichts Vernünftiges auf die Reihe brachte. Um seine Mutter nicht anzufahren, sagte er lieber gar nichts.

Natürlich hatte er nicht vor, diese Sozialstunden abzuleisten. Und auf dieses – wie nannte die Lynch das noch – Antigewalt-Training hatte er auch keinen Bock. Er wusste zwar nicht, was das war, aber sicherlich wieder nur so pädagogisches schwachsinniges Gelaber. Was hatte das mit ihm zu tun? Was sollte der Scheiß bringen?

»Nun?«, hakte sie nach. »Wirst du die Stunden machen?«

Maik sprang von seinem Stuhl auf. »Klar. Wieso denn nicht? Was ist ’n das für ’ne Frage?«

Er ging in den Flur und schnappte sich seine Jacke.

»Du gehst weg?«, rief sie ihm nach. »Ich dachte, wir könnten mal reden. Ich wollte heute Abend für uns kochen und dachte, wir setzen uns mal zusammen. Viel Zeit hatten wir ja nicht füreinander.«

Maik ließ die Tür hinter sich zufallen. Sprechen uns mal richtig aus? Zeit füreinander? Was sollte das denn! Mutter-Sohn-Abende, wie er so etwas hasste!

In seinen Gedanken klang sie schon wie die Lynch: »Ich verdonnere dich zu achtzig Stunden Kohlgemüse und einem Antischweig-Training.« Er grinste in sich hinein. Das war Schwachsinn. Das hatte nichts mit ihm zu tun.

Nicht mit ihm.

Zum ersten Mal an diesem Tag besserte sich seine Stimmung, als er in der Ferne die Silhouetten seiner Freunde auftauchen sah. Gegen das Licht der untergehenden Sonne wirkten sie beinahe wie ein Denkmal, dort auf den Treppen des alten Sportplatzes. Ein Denkmal der Freundschaft und des Respekts voreinander. Woher kamen denn solche Gedanken? Doch je mehr er darüber nachdachte, desto richtiger erschien ihm dieser Einfall: Respekt. Freundschaft. Davon hatte die Gerichtstante heute Morgen nicht gesprochen. Und seine Mutter auch nicht. Keiner in seiner Familie sprach davon. Sie hatten keine Ahnung von seiner Welt. Und doch glaubten sie, ihm Vorschriften machen zu können. Seine Clique hielt zu ihm, so wie neulich, als Maik von einem Ultra-Fußballfan angepöbelt worden war. In Sekundenschnelle hatten sie um ihn gestanden und der Typ war kleinlaut abgezogen. Natürlich hatte Maik dafür eine Runde Bier spendiert. Aber niemand hatte ein Wort darüber verloren. So lief das eben bei ihnen. Zumindest bei den meisten von ihnen.

»Hey, seht mal, wer da kommt!« Alex’ Stimme war ein echter Wohlklang, mit Alex hatte er schon eine Menge Scheiße gebaut, aber Alex kannte Maik und wusste, wann es zu viel war oder wann man aufhören musste. Maik spürte, wie sich die Anspannung löste, als er vor seine Freunde trat.

»Tach auch!«

Julia sprang auf ihn zu. »Na, wie war’s?«, fragte sie hastig und in ihren Augen stand echtes Interesse.

Maiks Gesicht hellte sich auf. Jetzt bekam dieser Tag doch noch etwas Gutes.

»Hey, Julia«, grüßte er zurück und umarmte sie kurz. Und mit einem Mal erinnerte er sich an den Moment im Gerichtssaal, als er sie so gesehen hatte wie damals, in ihrer Grundschulzeit. Die hüpfenden Zöpfe waren inzwischen natürlich verschwunden. Doch das Grübchen war geblieben, ebenso wie die beiden Sommersprossen.

Sie knuffte ihn ungeduldig an. »Jetzt sag schon, wie war’s?«

Doch bevor Maik antworten konnte, hielt sich Alex die Bierflasche vor den Mund und sprach wie in ein Mikro hinein: »Hier sehen Sie Maik. Neulich noch in der Schlägerei im Stadtpark, jetzt bei uns auf der Showbühne. Erleben Sie ihn, wie er heulend und jammernd zusammenbricht und dem Richter schwört, nur noch Gutes zu tun. Nur noch die Reichen bestehlen und den Armen abgeben. Und nie wieder ein Bier anfassen!«

Die anderen auf der Treppe grölten. Sie kannten sich zum größten Teil schon aus der Grundschulzeit. Mit einigen von ihnen hatte Maik seit der fünften Klasse in der Gesamtschule-Mitte seinen Hintern platt gesessen. Einige gingen mittlerweile in die Berufsschule, andere wie Maik in die einjährige Berufsförderung, zwei von ihnen versuchten sogar, ihren Realschulabschluss zu schaffen.

Maik drückte das Bierflaschenmikrofon vor seinem Mund zur Seite. »Was soll ich schon erzählen? Da war die Lynch, die sich für was Besseres hält, ein Verteidiger, der keinen Bock auf so einen Mist hat, und dazu jede Menge Schlipsträger. Kennt ihr doch.«

»Und das Urteil?«, hakte Julia nach.

»Sozialstunden«, brummte Maik. »Achtzig!«

Alex pfiff hörbar durch die Zähne. »Wow, die scheint dich gernzuhaben, die Roben-Tussi. Da verbringst du ja beinahe die Hälfte deines Lebens in der Altenbude zum Urin-Kellnern.«

Die anderen kicherten zwar über Alex, starrten aber wegen der hohen Anzahl der Sozialstunden verblüfft auf Maik. Doch der winkte ab. »Quatsch. Die sitze ich locker ab. Wie sonst auch. Für drei oder vier Stunden tauche ich auf, dann geh ich zum Arzt, um mich krankschreiben zu lassen. Das hat bisher jedes Mal geklappt.«

»War das denn alles?«, hakte Julia nach. Sie war die Einzige von ihnen, die nichts auf dem Kerbholz hatte, aber zu Hause ging es ihr einfach beschissen. Ihre Mutter hatte immer nur mit sich selbst zu tun, da war für Julia kaum Platz. Und ihren Vater kannte sie gar nicht. Also hatte die Gruppe um Alex wortlos beschlossen, sie schützend in ihren Kreis aufzunehmen. Sie fühlte sich wohl bei den Jungs. Und vor allem: Sie war hier respektiert. Zwischen Maik und ihr hatte es von einem Tag auf den anderen gefunkt, aber scheinbar grundlos zog sich Julia an manchen Tagen zurück und Maik wusste dann nicht, wie er an sie rankommen sollte.

»Das war doch eine heftige Aktion dieses Mal, oder?«, bohrte sie weiter. »Da muss es doch mehr gegeben haben als …«

Maik begann herumzudrucksen. »Bisschen was gab’s schon noch.« Er spürte die erwartungsvollen Blicke der anderen auf sich. Jetzt war er nicht mehr locker.

»Also.« Maik zögerte kurz, dann platzte es aus ihm heraus: »Ein Jahr, sechs Monate auf drei Jahre Bewährung. Und ein AGT-Training. Was auch immer das ist …«

Julia stand der Mund weit offen. Auch Alex hatte es die Sprache verschlagen. Er pfiff nicht mal durch die Zähne.

»Alter, das sind achtzehn Monate!«, flüsterte jemand betroffen von der Treppe herunter.

Julia schossen Tränen in die Augen. »Das nennst du ein bisschen? Du hast … du bist … du … Ach!!« Es schüttelte sie, dann drehte sie sich um und rannte davon.

»Hey! Jetzt warte halt mal.« Maik wollte ihr schon hinterher, doch Alex hielt ihn am Arm fest. »Lass sie. Das muss sie erst mal verdauen.«

Maik starrte ihr hinterher. »Was hat sie denn? Bewährung hat doch fast jeder von uns.«

Alex schüttelte den Kopf. »Aber keine drei Jahre. Mensch, Maik, du bist gerade siebzehn. So ein Urteil, das ist schon heftig.«

»Da winkt schon fast der Knast«, unkte es von der Treppe herunter und jetzt erst erkannte Maik die Stimme: Paul saß auf der obersten Stufe und drehte sich einen Joint.

»Nicht, wenn er zum AGT geht«, antwortete Alex mahnend, doch von oben erklang nur ein herablassendes Schnauben.

»AGT?« Paul spuckte auf den Boden. »Das ist nicht dein Ernst. AGT – das ist Psychokacke für Anfänger.«

Maik setzte zu einer Antwort an, doch dann verstummte er schnell. Klar hatte er von diesen Antigewalt-Trainings schon einmal gehört, aber konkret konnte er sich nichts darunter vorstellen.

Paul war nicht mehr zu bremsen. »Einmal die Woche Zwangsheulen in der Gruppe.« Jetzt stand er auf und kam zu Maik und Alex herunter: »Oh, ich hatte eine fürchterliche Kindheit, lieber AGT-Trainer, die ich nur mit Gewalt füllen konnte«, spottete er mit verstellter hoher Stimme. »Unser Vater hatte uns verlassen. Und er hinterließ in meinem Leben eine Lücke, die ich nur mit Gewalt füllen konnte.« Ein paar der anderen kicherten vor sich hin, was Paul noch mehr anstachelte: »Und – oh – meine Mutter hatte mich mal mit einem Titten-Heftchen erwischt. Das hat in meiner Sexualität eine Lücke verursacht, die …«

»… ich nur mit Gewalt füllen konnte«, beendeten die Zuhörer auf den Treppenstufen grölend den Satz.

Paul legte den Kopf sichtbar zufrieden in den Nacken und blies Rauch in den Himmel: »Auf so einen Dünnpfiff kannst du verzichten, Maik. Glaub mir!« Er stieß Alex in die Seite und sagte: »War doch richtig, dass wir den Mist abgebrochen haben, was?«

Alex gab ein zustimmendes Knurren von sich, doch Maik bemerkte, dass er dabei verlegen auf seine Füße blickte.

Paul trat wieder den Rückzug auf die oberste Treppenstufe an. »Hey, Maik, lieber in den Knast als zu so einem Psychokram. Klar, Mann?« Damit war die Sache für ihn erledigt.

Alex wartete, bis Paul sich gesetzt hatte, dann zog er Maik am Ärmel zur Seite. »Lass uns mal quatschen.«

Maik war so verwundert, dass er seinem Freund kommentarlos folgte. Kaum, dass sie einige Schritte gegangen waren, redete Alex eindringlich auf ihn ein: »Mensch Maik, hör nicht auf Paul. So locker solltest du das Ganze nicht sehen.«

»Aber er hat doch recht, oder nicht? Ihr beiden habt doch vor knapp zwei Jahren so ein AGT abgebrochen. Ich weiß noch genau, wie ihr beiden darüber gelästert habt und …«

»Dann weißt du auch sicher noch, dass ich damals für einen Monat in den Knast bin«, erwiderte Alex aufgebracht.

»Klar. Ich hör dich noch reden: ›Lieber einen Monat Bau als ein ganzes Jahr lang diesen Käse.‹«

Alex sah zur Seite. Seine Hände klammerten sich fest und fester um die Bierflasche in seiner Hand. »Das war mein größter Fehler damals. Echt!«

»Quatsch! Du hast immer gesagt, dass diese vier Wochen wie Ferien für dich …«

»Schwachsinn«, stieß Alex zwischen seinen Zähnen hervor. Er sah auf und blickte Maik direkt in die Augen. »Die Zeit im Knast war scheiße, Maik. Und jeder, der was anderes sagt, lügt. Du sitzt da, Tag für Tag, und brütest und grübelst. Wochenlang. Und erst die Blicke meiner Eltern, als sie ihren Verlierer-Sohn abgeliefert haben. Als die Tür zufiel. Dieses Geräusch. Davon habe ich nachts geträumt. Das vergisst du nicht. Keine Minute.« Er stellte seine Bierflasche auf dem Boden ab und packte Maik an den Schultern. »Der Richter heute …«

»Es war die Lynch!«

»Ist doch egal! Sie hat dir noch eine Chance gegeben. Deine Aktion vor neun Monaten, das war echt krass. Das ist der letzte Ausstieg vor der Endstation. Zieh das AGT durch. Ich hab mich damals von Paul reinquatschen lassen. Er hatte keinen Bock auf den Kram und anfangs war es bei mir genauso. Aber dann … Manchmal kommt man schon ins Grübeln. Und … vielleicht hast du ja Glück und du landest bei Tom und Jerry.«

»Häh? Was laberst du da?«

Alex kicherte kurz. »Tom und Jerry, so nennen wir die beiden AGT-Leiter, die …«

Maik sah Alex überrascht an. »Was? Du stehst auf so ’ne Psychokacke?«

Alex bohrte seine Fingernägel in Maiks Schultern. »Verdammt noch mal, hörst du mir überhaupt zu? Bell doch nicht den Mist von Paul nach. Geh zum AGT. Du hast drei Jahre Bewährung bekommen. Drei Jahre, in denen du dir nichts, aber auch gar nichts zuschulden kommen lassen darfst. Sonst gehst du eineinhalb Jahre in den Bau. Das war doch das Urteil, oder? Achtzehn Monate auf drei Jahre Bewährung?«

»Ich krieg das hin«, verteidigte sich Maik. »Das neulich, das war halt eine dumme Situation. Ich musste diesem Typ nur eine reingeben, weil …«

»Ja, danke, geschenkt!« Alex musterte Maik skeptisch. »Du denkst also, du hast dich im Griff?«

»Klar.«

»Dann gib mal acht«, meinte Alex, und bevor Maik reagieren konnte, schnappte er sich die Bierflasche vom Boden, zerschlug sie mit einer einzigen pfeilschnellen Bewegung an der Parkbank hinter ihm und hielt Maik die abgebrochenen Spitzen der halben Flasche vors Gesicht.

Im Reflex zog Maik beide Fäuste nach oben und holte mit einer Hand aus, als Alex einen Schritt zurückging und zu lachen begann. Maik sah ihn verwirrt an. Dann ließ er beschämt seine Arme sinken.

»Wunderbar, wie du dich im Griff hast«, lachte Alex spöttisch. »Bin beeindruckt. Noch nicht einmal bei mir, deinem besten Freund, vor dem du nichts zu befürchten hast, kannst du dich beherrschen. Voll die Fäuste. Dicker Bizeps. Und das, obwohl ich dir nichts tun würde. Wow!!«

Maik starrte auf die zerbrochene Flasche. Die Spitzen der Glasscherben glitzerten im Licht der eingeschalteten Parklaterne. Alex’ Spott tönte in seinen Ohren. Er wusste keine andere Lösung, als sich umzuwenden und davonzurennen.

3

Während Maik durch die Straßen rannte und um irgendwelche Ecken bog, dachte er nicht an Alex. Julias enttäuschter Blick ging ihm nach. Ihre echte Anteilnahme, als er in den Park gekommen war, die ihm so gutgetan hatte. Und dann ihre Enttäuschung. Sie mochten sich. Sehr sogar. Aus seiner frühen Grundschulschwärmerei für sie war schließlich Freundschaft geworden und jetzt waren sie irgendwie zusammen und er genoss jeden Moment mit ihr. Ihr Lachen und ihre fröhliche Art.

Auch wenn es meist nur auf Händchenhalten und gemeinsame Spaziergänge hinauslief, wenn sie sich trafen. Maik hätte sich mehr gewünscht, doch außer ein bisschen Rumgeknutsche, wenn die beiden etwas getrunken hatten, war bisher nichts geschehen. Der Grund dafür lag bei Julia. Zwar betonte sie immer wieder, wie sehr sie ihn mochte, doch in ihren Augen erkannte Maik immer wieder den Blick, den er von seiner Mutter gewohnt war – dieser zweifelnde Blick.

»Ich kann nur mit jemandem fest zusammen sein, der mir Sicherheit gibt«, hatte sie vor einiger Zeit zu ihm gesagt. »Und der ganze Mist, den du baust, hat mit Sicherheit nichts zu tun.«

Maik schüttelte den Kopf. Auch sie verstand ihn einfach nicht. Mehr Sicherheit als er konnte ihr niemand bieten. Maik würde jedem, der Julia auch nur schief ansah, den Kiefer brechen. Mehr Sicherheit ging doch gar nicht.

»Typisch Weiber«, zischte er jetzt voller Zorn. »Verstehen nie was. Wollen aber alles besser wissen!«

Er blieb stehen und nahm erstmals seine Umgebung wieder in sich auf. Er war so mit den Gedanken und Bildern in seinem Kopf beschäftigt gewesen, dass er gar nicht darauf geachtet hatte, wohin er gerannt war. Nun ging er auf das kleine hölzerne Tor zu. Seine Füße hatten den Weg hierher wie von selbst eingeschlagen. Wie ein treuer Schäferhund, der den Weg nach Hause von selbst fand. Er öffnete die kleine Tür und trat hindurch. Der Vergleich mit dem Hund gefiel ihm. Hier war er zu Hause. Also: richtig zu Hause.

Er atmete tief ein. Jetzt, Ende Mai, stand der Holunder in voller Blüte. Maik erkannte den typischen Geruch der kleinen weißen Blüten sofort. Auch den starken Duft der Fliederbüsche, die er im letzten Jahr vor dem Gartenhaus gepflanzt hatte, konnte er von hier aus riechen. Er schloss das Tor – geräuschlos. Vor wenigen Wochen erst hatte er die Scharniere neu geölt.

Erschöpft trat er zu dem Gartenhäuschen, das er mit seinem Großvater gebaut hatte. Maik lächelte. Es war eine der schönsten Erinnerungen seines Lebens: Er als Fünfjähriger, wie er ganze Tage an der Seite seines Großvaters beim Aufstellen dieses Hauses geholfen hatte. Den Umgang mit dem Hammer hatte er üben dürfen. Und viele verschiedene Werkzeuge kennengelernt.

»Aus dir wird später mal ein guter Handwerker«, hatte der Großvater ihn jeden Abend gelobt, wenn sie Arm in Arm ihr Tagwerk betrachtet hatten. »Oder vielleicht ein Ingenieur oder Architekt, Maik. Du bist wirklich sehr geschickt.«

Nun stand Maik im Dunkeln vor der Gartenbank und ließ sich wie ein nasser Sack darauffallen. Maik strich mit den Fingerspitzen über das Holz der Gartenbank. Könnte er die Zeit nur zurückdrehen. Er würde keine Minute zögern.

Zurück.

Zurück in eine Zeit, die so unbeschwert war.

Er grübelte. Wie weit müsste er die Zeit zurückdrehen? Einige Schuljahre waren es schon. Nein – mehr noch: Er müsste bis in die Grundschulzeit reisen. Bis zum Ende der Grundschule.

Maik nickte. Ja, es stimmte. Bis zu seinem neunten Lebensjahr war alles in Ordnung gewesen.

Der ganze Mist hatte am Ende der vierten Klasse begonnen. Mit dieser Lüge. Mit dieser einen Lüge. Und mit Bjarne, der diese Lüge aufgedeckt hatte.

Er sah sich in der Schule stehen. Im Klassenraum des vierten Schuljahres. Er sah sich dort an seinem Tisch stehen, mit hochrotem Kopf. Und da war Bjarne, der sich vor ihm aufgebaut und ihn angeschrien hatte. Ihn vor allen anderen zur Rede stellte und ihn einen Lügner nannte.

»Du lügst doch!«

Maik blickte auf den Boden. Er spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Vor der ganzen Klasse. Ausgerechnet hier und jetzt musste Bjarne ihn angreifen. Maiks Blick wanderte zur Tür. Wo blieb nur Frau Schmieder, die Klassenlehrerin? Sie war doch sonst schon vor dem Klingeln im Raum.

Bjarne wiederholte seine Anschuldigung: »Das ist alles gelogen, was du sagst! Ich habe Beweise. Es stimmt nämlich nicht, dass dein Großvater krank ist und ihr euch in den nächsten Wochen um ihn kümmern müsst. Ich hab deinen Opa vorgestern noch gesehen. Auf dem Fahrrad kam er aus der Schrebergartenkolonie. So wie fast jeden Tag. Und jemand, der so krank sein soll, radelt nicht durch die Stadt. Oder?«

Maik schwieg.

Aber Bjarne kam gerade erst so richtig in Fahrt: »Ich weiß auch, warum du lügst«, brüllte er durch die Klasse. »Ihr habt kein Geld für unsere Klassenfahrt. Meine Mutter ist im Förderverein der Grundschule. Und ich habe es am Telefon gehört. Deine Mutter wollte die ganzen hundertzwanzig Euro für die Klassenfahrt vom Förderverein. Aber so viel kann der Verein nicht rausrücken. Deshalb fährst du nicht mit. Stimmt’s?«

Maik hatte das Gefühl, als platze sein Kopf gleich, bei all dem Blut, das sich darin ansammelte.

Bjarne kreischte beinahe: »Stimmt es?«

»Ja«, brachte Maik hervor. »Es stimmt.«

Bjarne machte ein zufriedenes Gesicht. »Dann bist du also ein Lügner. Und du hast bestimmt nicht zum ersten Mal gelogen, oder? Neulich wurden doch Radiergummis vermisst und Lineale und Stifte und …«

Maik schrak auf: »Das war ich nicht. Ich hab nichts geklaut.«

»Hab ich was von Klauen gesagt?«, widersprach er arrogant, bevor er sich in der Klasse umblickte. »Wer von euch glaubt, dass Maik die ganzen Sachen gestohlen hat?«

Wenn sein Puls vorher schon raste, so überschlug sich jetzt alles in Maik. Angst, Panik, Wut. Mit seiner ruhigen Art war er ohnehin keiner der beliebtesten Jungs in der Klasse. Aber er war auch nicht unbeliebt – so dachte er zumindest immer. Doch jetzt …

Bevor allerdings jemand die Hand hätte heben können, öffnete sich die Klassenzimmertür und mit dem Eintreten von Frau Schmieder fand die Auseinandersetzung erst einmal ihr Ende.

Erst einmal. Denn in der folgenden Zeit kam es immer wieder zu Anschuldigungen durch Bjarne. Warum gerade er zu Bjarnes Zielscheibe geworden war, das konnte sich Maik nicht erklären, doch in den wenigen Wochen bis zu den Sommerferien hatte sich Bjarne immer wieder einen Spaß daraus gemacht, ihn vor der ganzen Klasse bloßzustellen. Es war egal, ob es darum ging, dass Maik keine Markenklamotten trug, oder darum, dass niemand seinen Vater kannte. Bjarne fand immer wieder einen Weg, Maik anzugehen.

Maik fand keinen Weg, sich dagegen zu wehren. Bjarne war der zweitbeste Schüler der Klasse. Er stammte aus einem angesehenen Elternhaus. Sein Vater war sogar stellvertretender Leiter einer Bankfiliale in der Stadt. Bjarne war einer der absoluten Lehrerlieblinge. Und er startete seine Angriffe so geschickt, dass kein Lehrer etwas davon mitbekam. Selbst Frau Schmieder nicht, denn Bjarne nutzte die Pausen oder die Zeit im Umkleideraum vor dem Sportunterricht für seine Attacken gegen Maik. Also immer dann, wenn keine Lehrperson in der Nähe war.

Ein einziges Mal hatte Maik es versucht. Er hatte all seinen Mut zusammengenommen und war zu Frau Schmieder gegangen, um ihr von den Vorfällen zu berichten. Doch sie war ihm ins Wort gefallen. »Da hast du bestimmt nur was falsch verstanden«, hatte sie erklärt und ihm eine Hand auf die Schulter gelegt. »Bjarne hat das bestimmt nicht so gemeint. Du kennst ihn doch. Er ist kein Junge, der andere bloßstellt. Am besten, du nimmst das alles nicht so wichtig. Vielleicht sprecht ihr beiden euch mal aus.«

Doch genau das hatte Maik zu verhindern versucht. Auf keinen Fall hätte er mit Bjarne reden wollen. Zu groß war die Angst, dass Bjarne ihm wieder das Wort verdrehte oder ihn bloßstellte.

Die letzten Wochen des vierten Schuljahres waren daher ein einziger Spießrutenlauf gewesen. Besonders schlimm war die Zeit während und nach der Klassenfahrt gewesen. Maiks Mutter hatte es nicht geschafft, das Geld zu besorgen, und so hatte Maik die ganzen vier Tage in der Parallelklasse verbringen müssen. Natürlich hatte Bjarne dafür gesorgt, dass alle in der Klasse informiert waren. In den Wochen danach hatte Bjarne die Gespräche immer wieder auf die wunderbaren Ausflüge und Erlebnisse der Fahrt gelenkt, um Maik eins auszuwischen.

Doch schließlich war der letzte Schultag gekommen. Bjarne ging anschließend ins Gymnasium, während Maik die Hauptschule besuchte. Und so hatte die Qual endlich ihr Ende gefunden – hatte Maik zumindest gedacht. Seine Hoffnungen lagen nun auf einem Neubeginn in einer anderen Schule. Hier sollte alles anders werden, doch da hatte er sich getäuscht. Sehr sogar …

4

Als der Wecker auf seinem Nachttisch ihn schrill aus dem Schlaf klingelte, vergrub Maik seinen Kopf unter dem Kissen. Der klirrende Ton schoss ihm wie Messerstiche ins Hirn. Als hätte er einen Kater.

»Und dabei hab ich doch gar nichts getrunken«, murmelte Maik. Er wusste natürlich, woher dieses Gefühl in seinem Kopf stammte: Er hatte bis um drei Uhr in der Nacht auf der Gartenbank gesessen und über seine Zeit in der Grundschule nachgedacht. Nun saß er wie ein begossener Pudel auf der Bettkante und rieb sich die Stirn. Die Zeiger des Weckers standen auf kurz nach halb sieben.

»Mitten in der Nacht!«, stöhnte Maik. Kurz überlegte er, ob er sich nicht krankmelden sollte. Gerade heute, wo es ihm ja tatsächlich nicht so gut ging. Und ehrlich: Es würde ihn sowieso niemand vermissen in dieser Berufsförderungsmaßnahme. Allein schon dieser Begriff: Berufsförderung. Als müsse er gefördert werden. Bloß weil er mit Mühe und Not seinen Berufsreifeabschluss geschafft hatte. Mit einem Zeugnis voller Noten, mit denen er keine Lehrstelle finden konnte. Deshalb sollte er gefördert werden?

Alles Schwachsinn. Ob er dort saß oder hier zu Hause, das war doch … so …

Mühsam erhob er sich von seinem Platz. Okay, er würde gehen. Er hatte schon so oft gefehlt und würde es in den kommenden Wochen noch einige Male mehr tun, sodass er sich heute besser auf die Socken machen sollte.

Schnell hatte er sich einige Klamotten gegriffen, die überall in seinem Zimmer verstreut herumlagen, und zog sie an. Nur wenige Minuten später stand er in der kleinen Küche.

»Frühstück?« Es war eher ein Murmeln. Bevor seine Mutter nicht ihre erste Zigarette und die Tasse Kaffee am Morgen hatte, war sie kein richtiger Mensch, wie sie es selbst immer ausdrückte.

Maik nickte. Ihm ging es ebenso. Er nahm aus dem Schrank zwei Kaffeetassen und stellte sie neben den Aschenbecher auf den Küchentisch, während seine Mutter die Kanne aus der Maschine zog und das Fenster kippte. Schweigend saßen sie sich gegenüber, während der Qualm sie allmählich einnebelte. Für Maik war dies ein angenehmer Start in den Tag. Er mochte die stillen Momente. Und er mochte auch die Anwesenheit seiner Mutter. Allerdings nur, wenn sie nicht quatschte und Forderungen stellte. Doch genau das war bei diesen morgendlichen Frühstücken nie der Fall. Dann saßen sie bloß einander gegenüber, starrten in ihre Kaffeetassen und warteten darauf, dass Koffein und Nikotin ihre Wirkungen entfalteten. Nach dem letzten Zug aus der Zigarette drückte seine Mutter den Rücken durch. Das war das Zeichen für Maik aufzustehen. Wenn seine Mutter vom Tisch aufstand, würde sie zu reden beginnen. Normalerweise schnappte er sich dann seine Jacke und flüchtete aus der Wohnung. Heute nicht. Er ging in sein Zimmer, schnappte sich den Strauß Flieder und brachte ihn in die Küche.

»Hier. Für dich«, sagte er nur knapp, bevor er die hohe Blumenvase vom Fensterbrett nahm.

»Oh, das ist nett.« Sie strahlte ihn an. »Warst du gestern noch am Gartenhaus? Hast du mir von dort die Blumen mitgebracht?«

»Flieder«, verbesserte er wortkarg. »Das ist Flieder.«

Sie lachte. »Weiß ich doch.«

Maik spürte, dass sie kurz davor war, ihn in den Arm zu nehmen. »Muss los«, brummte er, schnappte sich endlich die Jacke und rannte aus der Wohnung.

Mit der S-Bahn waren es nur zwanzig Minuten. Die Zeit zog sich wie Gummi. Allerdings nicht nur die Zeit in der S-Bahn, sondern der gesamte Tag, den er in dieser Berufsförderungsmaßnahme verbringen musste. Und das nur, weil das Arbeitsamt es vorschrieb.

»Schlecht bezahltes Eierschaukeln«, nannte Alex das. Jede Minute in diesem Gebäude war verlorene Zeit. Hier sollten sie lernen, wie man sich erfolgreich auf eine Stelle bewarb. Auch ein paar Computerkurse wurden angeboten. Unnötige Zeitverschwendung, fand Maik. Er hatte bereits Bewerbungen verschickt. Zwei Stück. Nicht einmal eine Antwort hatte er bekommen. Mit seinem Zeugnis hätten weitere Bewerbungen eh nichts gebracht. Und das, was er für den PC brauchte, das konnte er schon. E-Mails schreiben, Google befragen und Internetseiten auffinden – alles kein Problem. So Sachen wie Texte verarbeiten und Tabellen erstellen, was sie einem hier beibringen wollten, das würde er in seinem ganzen Leben nie wieder brauchen.

Er seufzte. Nun saß er schon einige Monate in diesem Bau und es würden noch weitere Monate folgen. Immer in dem Wissen, dass es ihm nichts brachte. Aber politisch sahen solche Maßnahmen natürlich gut aus. Dass weder die Teilnehmer noch die meisten Pädagogen einen Sinn in dieser Veranstaltung sahen, das interessierte niemanden.

Lustlos öffnete Maik die schwere Eingangstür und mühte sich die Treppenstufen hinauf. Die meisten waren schon da. Mit langen Gesichtern schlurften sie wie Zombies durch die Gänge – die Teilnehmer und die Pädagogen. Dieses Haus war ein einziger Ort der schlechten Laune. Künstliches Licht an der Decke, künstliche Luft durch die Klimaanlage, künstliche Freundlichkeit durch die Mitarbeiter. Sogar die Pflanzen vor den Fenstern wirkten depressiv.

Maik trug sich in die Anwesenheitsliste ein. Mit Datum und Unterschrift, so wie sich das gehörte. Und bevor Frau Massem ihm ein Angebot für den heutigen Tag unterbreiten konnte, brummte er schnell: »Muss noch was am PC fertig machen. Geh da direkt mal hin.«

Die Antwort wartete er nicht ab. Das war der große Vorteil, den die Fördermaßnahme hatte: Es gab keine Klassen oder Gruppen. Man sollte lernen, sich selbst zu organisieren, und die Pädagogen standen hilfreich zur Seite. Hilfreich – Maik lachte kurz auf. Hilflos wäre der passende Begriff. Hier war alles so trostlos, dass er Julias Wunsch, ihn einmal hierher zu begleiten, abgeschmettert hatte. Es wäre Maik regelrecht peinlich gewesen, wenn sie ihn hier besucht hätte.