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Emilys und Liams Geschichte geht weiter! Die beiden haben mittlerweile schon einiges zusammen erlebt, doch es waren nicht nur schöne Erfahrungen, die die beiden machen mussten. Allerdings sieht es im Moment nicht so aus, als würde es sich bessern. Zuerst geht es Emilys Mutter nicht gut, dann kommt wieder ihr Vater in die Quere. Außerdem haben Emily und Liam die Beziehung beendet, weil jemand sich zwischen die beiden gedrängt hat. Währenddesssen lernt Emilys Bruder Laureen kennen, die für einige Zeit im Palast wohnen soll. Laureen weiß vom ersten Augenblick an, dass sie Stanley liebt, doch er zeigt ihr nur wenig Zuneigung. Aber auch das ändert sich. Die beiden hoffen, nicht so eine schwierige Beziehung führen zu müssen, wie Emily und Liam. Werden alle ihr lang ersehntes Happy End bekommen?
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Seitenzahl: 292
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Sara Cox
Begin To Live
Sara Cox
Begin
To
Live
Roman
Es gibt Tage, an denen du denkst, dass
du untergehst. Wie stark du
wirklich bist, merkst du erst, wenn
du sie überstanden hast.
Inhalt
Emily
Liam
Stanley
Laureen
Liam
Stanley
Laureen
Stanley
Laureen
Emily
Stanley
Emily
Liam
Emily
Laureen
Stanley
Liam
Emily
Stanley
Emily
Liam
Emily
Laureen
Liam
Stanley
Emily
Liam
Laureen
Stanley
Emily
Liam
Stanley
Laureen
Liam
Emily
Stanley
Liam
Emily
Laureen
Liam
Emily
Liam
Emily
Liam
Epilog
Danksagung
Vancouver, Kanada
Die Nachricht meines Dads hatte mich wirklich schockiert. Ich wusste zwar, dass er seine Drohung wahr machen würde, aber ich wusste nicht, wie er sich das Vermögen meiner Mutter zurückholen wollte. Panik begann in mir aufzusteigen, während Liam, der noch immer neben mir auf dem Boden saß und mir beruhigend den Rücken streichelte. Ihm stand der Schock ebenfalls ins Gesicht geschrieben. Gerade, als unser Leben begann, in die richtige Richtung zu laufen, hatte Dad mit einer einzigen Nachricht alles zerstört. Mit einer einzigen Nachricht hatte er einen Tornado aus Gedanken und Gefühlen in meinem Kopf hinterlassen.
»Hilf mir Liam! Was soll ich jetzt tun?« Er zuckte nur mit den Schultern und sah mich hilflos an. Ich hatte es so satt, mir ständig mein Leben vermiesen zu lassen. Außerdem war doch die Aufgabe eines Vaters, sein Kind gut zu behandeln und nicht zu bedrohen, oder nicht?
Liam gähnte und sah mich entschuldigend an. »Ich glaube, es ist besser, wenn wir jetzt ins Bett gehen. Morgen sieht das alles bestimmt ganz anders aus.« Ich nickte, obwohl ich jetzt garantiert nicht in der Lage war, mich zu entspannen und einzuschlafen. Ohne ein weiteres Wort stand Liam auf und bot mir die Hand an, um mich ebenfalls hochzuziehen. Ich griff danach und als ich wieder aufrecht stand, drückte Liam mir noch einen Kuss auf die Stirn. »Alles wird gut!«, versicherte er mir, bevor er mein Zimmer verließ.
Tja, jetzt war ich also allein mit meinen Gedanken. Ich hätte Liam gern gebeten, bei mir zu bleiben, doch ich wollte nicht zu anhänglich wirken. Da musste ich allein durch. Und wahrscheinlich würde mir heute Nacht auch noch nichts passieren, da Dad sich erstmal einen Plan überlegen musste. Er konnte ja schlecht einfach zu uns kommen und sagen, dass er meiner Mutter gern ihr Vermögen abnehmen würde.
Ich ließ mich auf mein Bett sinken und versuchte einzuschlafen, doch meine Gedanken kreisten noch immer um die Nachricht und wollten einfach nicht zur Ruhe kommen. Was, wenn Dad im schlimmsten Fall zur Gewalt greift und mit einer Pistole in den Palast marschiert? Okay, vielleicht war das ein bisschen übertrieben, aber ich war im Moment einfach nicht fähig, klar zu denken und begann damit, den Teufel an die Wand zu malen.
Immer wieder rollte ich mich im Bett hin und her, fand aber einfach keine bequeme Position. Inzwischen war es bestimmt schon zwei Uhr nachts. Vermutlich müsste ich zwei Tage durchschlafen, um die vielen, fast schlaflosen Nächte der letzten Wochen wieder aufzuholen. Naja, mal abgesehen von den letzten drei Wochen, in denen hatte ich einigermaßen gut geschlafen.
Vor einem knappen Jahr waren meine größten Sorgen noch gewesen, dass ich in New York pleite gehen würde, während ich jetzt hoffen musste, dass niemand von meinem Vater erschossen oder irgendwie anders verletzt wurde. Natürlich waren meine jetzigen Sorgen schlimmer, aber ich hatte schlicht und ergreifend nicht erwartet, dass meine Eltern sich irgendwann scheiden lassen würden und dass Dad dann vollkommen durchdrehen würde.
Nachdem ich noch mindestens eine halbe Stunde wach im Bett gelegen hatte, beschloss ich, zu meinem Bruder Stanley zu gehen. Zu Liam wollte ich ja wie gesagt nicht und mein Bruder hatte schon immer – abgesehen von meinem Fluchtversuch nach New York – hinter mir gestanden. Genau wie Jessica, aber die war noch ein bisschen zu Jung gewesen, als dass ich sie mit den Sorgen, die ich gerade hatte, belasten wollte. Mir war durchaus bewusst, dass es mitten in der Nacht war, aber ich musste meine Sorgen einfach mit jemandem teilen. Zumal sie auch Stanley betrafen. Ich fand, dass er von der Nachricht wissen sollte.
Leise stand ich von meinem Bett auf, öffnete die Tür und schlich auf Zehenspitzen den Flur entlang zu Stanleys Zimmer. Ich hatte die Hand bereits auf die Klinke gelegt, doch mir schoss ein Gedanke durch den Kopf, der mich inne halten ließ. Ich konnte Stanley nicht um fast drei Uhr morgens aufwecken und ihm ebenfalls schlaflose Nächte bereiten. Das war nicht fair. Ich musste allein mit den Gedanken fertig werden. Zumindest heute Nacht. Morgen Früh würde ich Stanley und Mom von der Nachricht erzählen, das schwor ich mir. Ich nahm die Hand wieder von der Klinke und schlich zurück in mein Zimmer. Warum regte ich mich eigentlich so über diese Nachricht auf? Sie war eine Drohung von meinem Dad, die er ganz bestimmt versuchen würde wahr werden zu lassen, aber das ganze Gelände war abgesichert und wurde überwacht. Er konnte also nicht einfach hier auftauchen und uns etwas antun. Allerdings wusste Dad davon, er hatte hier ja selbst gelebt, was heißen musste, dass er sich vermutlich einen Plan überlegte, mit dem er das Geld bekommen konnte, ohne in den Palast kommen zu müssen. Ich fragte mich nur wie, denn das ganze Geld war – soweit ich wusste – auf Mom‘s Bankkonto und er hatte keinen Zugang dazu. Allerdings war mir genauso schleierhaft, wie er an das Geld hätte kommen wollen, selbst wenn er in den Palast kommen würde. Aber das war ja – wie bereits gesagt – so gut wie unmöglich. Warum also hatte ich solche Angst? Ich konnte es mir einfach nicht erklären.
Meine Zimmertür quietschte leise, als ich sie aufmachte. Auch wenn ich nicht viel sehen konnte, überraschte es mich immer wieder, wie krass der Unterschied der Gestaltung meines Zimmers zum Rest des Gebäudes war. Jedes Mal, wenn ich in mein Zimmer ging, fühlte es sich an, als würde ich in eine andere Welt treten. Früher sah mein Zimmer genauso aus, wie der Rest des Palastes, aber vor ein paar Jahren durfte ich es selbst umgestalten, so wie es mir gefiel und ich wollte es unbedingt modern haben.
Eigentlich sollte ich jetzt schlafen, doch ich war nicht müde. Ich konnte mir überhaupt nicht erklären warum. Wie auch immer, ich konnte jetzt nicht schlafen. Klar, ich würde dann morgen – beziehungsweise später – sehr müde sein, aber ich würde es überleben. Das versuchte ich mir zumindest einzureden, aber ich wusste, dass ich irgendwann einfach ohne Vorwarnung einschlafen würde. Zumal ich nicht erst um drei Uhr aufgewacht war, sondern noch gar nicht geschlafen hatte. Dann beschloss ich etwas zu tun, was ich schon lange nicht mehr getan hatte: Zeichnen. Früher hatte es mich immer beruhigt, und es war eines meiner größten Hobbys gewesen. Ich war ziemlich gut darin gewesen, doch mir war bewusst, dass ich jetzt nicht ansatzweise so tolle Ergebnisse bekommen würde wie früher. Meine besten Kunstwerke zeigten Portraits von meinen Geschwistern, die sie sogar eingerahmt und in ihre Zimmer gehängt hatten. Doch als ich jetzt begann zu zeichnen, war ich ein wenig ratlos. Wie zum Teufel hatte ich jemals so gut zeichnen können? Was ich jetzt aufs Blatt zeichnete – oder eher schmierte – war definitiv kein Kunstwerk. Es waren einfach nur ein paar Linien, von denen ich gedacht hatte, dass sie sich zu einem Auge ergänzen würden. Aber diese Striche zeigten eher ein Ufo, auf dessen Dach Gras wächst. Und das auch nur mit viel Fantasie. Ein wenig enttäuscht knüllte ich das Blatt zusammen und warf es in den Papierkorb. Das mit dem Zeichnen hatte sich wohl erledigt, da ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, es mir noch mal beizubringen. Resigniert ließ ich mich zurück in meinen Stuhl fallen und atmete ein paarmal tief ein und aus. Danach entschied ich mich dazu, einfach in einem Buch zu lesen. Das hatte ich ohnehin schon vor einiger Zeit angefangen, aber seitdem keine Zeit gefunden, es fertig zu lesen.
Irgendwann wurde ich dann doch ein wenig schläfrig, legte das Buch zurück ins Regal und ging ins Bett. Tatsächlich hatte ich es geschafft, meine Gedanken ein bisschen zu sortieren und zu verdrängen, sodass ich jetzt ziemlich schnell einschlief.
Am morgen klopfte jemand an meine Zimmertür und steckte kurz darauf seinen Kopf in mein Zimmer. Es war Liam, der mich zum Frühstücken holen wollte.
»Emily, bist du wach?«, erkundigte er sich leise. Als ich kurz gähnte und einen zustimmenden Laut von mir gab, redete er weiter. »Komm einfach runter, wenn du soweit bist. Und mach dir keine Gedanken wegen der Nachricht deines Vaters, hörst du? Wir sind zu fünft und dein Vater ist alleine, er hat keine Chance!« Oje, das hatte ich ja vollkommen vergessen. Dad hatte uns ja gedroht. Das hatte ich scheinbar erfolgreich verdrängt. Aber jetzt war ich wieder zurück in der Realität und die Nachricht einfach zu vergessen, war keine Option! Liam verschwand wieder in den Flur. Sofort sprang ich auf, zog mich um und kämmte meine Haare, um einigermaßen in Ordnung auszusehen. Es war erst neun Uhr morgens und ich war – was ich durchaus erwartet hatte – sehr, sehr müde. Dennoch rannte ich ziemlich schnell in die Küche – was weiß ich warum. Doch als ich unten ankam, saßen meine Mom, Jessica, Stanley und Liam mit ernsten Gesichtern am Tisch und sahen mich an, als hätte ich etwas verbrochen.
»Guten Morgen.« Meine Unsicherheit ließ es mehr wie eine Frage klingen. »Ist etwas passiert?«
»Tut mir leid, wenn du jetzt denkst, dass es an dir liegt«, begann Mom. »Aber du bist nicht schuld. Wir sind nur gerade ein bisschen schockiert, weil Liam uns erzählt hat, dass du eine Drohnachricht von deinem Vater bekommen hast. Warum hast du es uns nicht erzählt?«
»Das hatte ich eigentlich noch vor«, verteidigte ich mich. »Ich habe mir vorgenommen, es euch heute beim Frühstück zu erzählen, aber offensichtlich, wisst ihr es ja schon.« Dafür erntete ich einen entschuldigenden Blick von Liam.
»Ist ja jetzt auch egal«, winkte Mom ab. »Wichtig ist nur, dass wir es jetzt wissen. Es gibt nur ein Problem: Wir können erst etwas dagegen unternehmen, wenn es wahrscheinlich schon zu spät ist. Auch wenn ich eine halbe Ewigkeit mit eurem Dad verheiratet war, kann ich nicht einschätzen, was er tun wird. Er ist unberechenbar.« Das beruhigte mich natürlich sehr. Sicherlich wäre es naiv gewesen zu glauben, dass Dad uns nichts anhaben konnte. Aber von der eigenen Mutter zu hören, dass wir nichts dagegen tun konnten, war auch nicht leicht zu verarbeiten. Vor allem aber verstand ich nicht, warum Jessica auch schon mit alldem belastet werden sollte. Sie hatte zwar vor kurzem Geburtstag und war jetzt dreizehn, aber trotzdem fand ich, dass sie sich davon nicht belasten lassen sollte. Noch nicht.
»Es gibt allerdings auch gute Neuigkeiten«, versuchte Liam die Stimmung ein wenig zu heben. »Naja, zumindest für Emily und mich. Lucy wurde nämlich verhaftet. Es konnte bewiesen werden, dass sie die Fotos gemacht und hochgeladen hat. Sie hat es sogar zugegeben. Außerdem hat sie zugegeben, dass sie mit Janis zusammengearbeitet hat. Aber das ist ja nicht weiter wichtig.« Dieses Problem hatte ich längst vergessen. Ich hatte Lucy seit jener Nacht, in der die Party in der Uni stattgefunden hatte nicht mehr gesehen. Aber zu wissen, dass sie nicht noch mehr Dummheiten anstellen konnte beruhigte mich ungemein.
»Das ist gut zu wissen«, gab ich zurück. »Aber können wir jetzt bitte endlich frühstücken? Ich habe Hunger.« Alle nickten. Die Stimmung am Tisch war die ganze Zeit ein wenig angespannt und gleichzeitig locker. Plötzlich fiel mir ein, dass ich in wenigen Tagen an die Uni musste, worauf ich eigentlich keine Lust hatte. Ich wollte bei Liam bleiben und die Realität verdrängen, bis … Ja, bis was eigentlich? Ich konnte nicht mein ganzes Leben nur die guten Dinge an mich heranlassen und die schlechten ausblenden. Das Leben kommt, wie es kommt und man muss das Beste daraus machen.
Meine Stimmung sank dramatisch, sobald ich daran dachte, dass ich Emily bald nicht mehr jeden Tag sehen würde. Aber wir hatten beschlossen, dass sie jedes Wochenende zurückkam. Außerdem wollten wir jeden Tag telefonieren. Ich war mir jetzt schon sicher, dass ich sie sehr vermissen würde, aber wenn sie mit dem Studium fertig war, würden wir machen können, was wir wollten. Und wenn man bedachte, dass das Studium ungefähr zwei Jahre dauern würde und man danach den Rest seines Lebens machen konnte, was man wollte – mal vom Arbeiten abgesehen – war es das wert. Klar, man könnte auch sagen, dass man ohne Studium noch mehr Zeit für andere Dinge hätte, aber dann müsste man sich trotzdem eine Arbeit suchen und mit Studium bekam man einfach bessere Jobs.
Nachdem wir mit dem Frühstücken fertig waren, standen Emily und ich auf und Emily zog mich in ihr Zimmer. Ihrem Gesichtsausdruck zufolge war sie wütend. Die Frage war nur, warum? Als wir oben angekommen waren und Emily die Tür hinter sich geschlossen hatte, musterte sie mich noch einen Moment lang wütend. »Was hast du dir dabei gedacht, meiner Familie von der Nachricht zu erzählen?«
»Ich war der Meinung, dass sie davon wissen sollten, weil es sie genauso betrifft, wie dich«, versuchte ich, mich zu rechtfertigen.
»Glaubst du wirklich, dass ich ihnen nichts davon gesagt hätte?« Ihre Augen funkelten wütend und ihre Stimme bebte.
»Keine Ahnung … Ich … Es tut mir leid. Ich hätte dich fragen müssen, ob es für dich okay ist, wenn ich ihnen von der Nachricht erzähle«, entschuldigte ich mich.
»Ich bin ja froh, dass du das erkannt hast!«, gab sie ironisch zurück. »Tatsächlich bin ich heute Nacht vor der Zimmertür meines Bruders gestanden und wollte ihm von der Nachricht erzählen. Um drei Uhr nachts! Aber dann ist mir zum Glück doch noch klar geworden, dass es sinnvoller ist, es meiner Mom und meinem Bruder beim Frühstück zu erzählen.« Keine Ahnung, warum sie mir das erzählte, aber es war ja auch egal.
»Es tut mir leid! Ich wollte dich einfach ein bisschen unterstützen. Ich hätte dir vertrauen sollen, dass du selbst denken kannst und bestimmt die richten Entscheidungen triffst«, versuchte ich nochmal, mich zu entschuldigen. Allmählich wurde ihr Blick weicher. Zum Glück! Ich hatte schon Angst, sie würde sich nicht mehr beruhigen. Was natürlich auch etwas unrealistisch war, denn so gut wie niemand war wegen so etwas eine Ewigkeit wütend.
Völlig erschöpft ließ Emily sich auf ihr Bett fallen.
»Hast wohl heute Nacht nicht sonderlich viel geschlafen, so wie du aussiehst.« Ich sah sie besorgt an. Emily machte nur einen unverständlichen Laut, den ich als ein Ja identifizierte. Kurz überlegte ich, ob ich einfach wieder gehen sollte, doch ich wollte aus irgendeinem, mir unbekannten Grund jetzt nicht alleine sein. Also setzte ich mich neben Emily aufs Bett.
»Du hast übrigens beeindruckende Augenringe«, neckte ich sie. Eigentlich wollte ich damit die angespannte Stimmung ein wenig auflockern, aber ich erntete nur einen genervten Blick von ihr.
»Was ist denn los mit dir?«, fragte ich sie sanft.
»Was soll mit mir los sein?« Sie drehte ihren Kopf langsam in meine Richtung. »Mit mir ist alles gut.«
»Ich glaube nicht.« Ich nahm ihre Hand in meine und drückte sie sanft. »Rede mit mir. Bitte!«
Ihr Augen füllten sich mit Wasser. »Ich kann einfach nicht mehr! Warum ist in meinem Leben alles so kompliziert?« Ihre Stimme brach am Ende und wurde von einem Schluchzen überdeckt. Vorsichtig schlang ich die Arme um sie und streichelte ihren Rücken. Sie vergrub ihr Gesicht an meiner Brust und ich spürte, wie ihre Tränen mein T-Shirt durchnässten. Ihr gesamter Körper bebte. Ich kam mir so hilflos vor, weil ich nicht wusste, wie ich ihr helfen konnte.
Als sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, ließ ich sie wieder los. Sie sah mich an und wischte sich mit der Hand über die Wangen, um sie abzutrocknen. Ich hob meine Hand und strich ihr eine Strähne hinters Ohr. Danach legte ich meine Hand an ihre Wange und streichelte sanft mit meinem Daumen über ihre Unterlippe.
»Alles wird gut werden! Ich bin bei dir und unterstütze dich. Aber du musst mit mir reden, sonst kann ich dir nicht helfen«, versuchte ich sie aufzumuntern.
Sie verzog ihren Mund zu einem Lächeln. »Danke!« Ich erwiderte ihr Lächeln und küsste sie auf den Mund. Obwohl wir jetzt schon seit drei Wochen zusammen waren, fühlte es sich immer noch wahnsinnig aufregend an, Emily zu küssen. Doch ich hoffte, dass sich das niemals ändern würde.
Die nächsten zehn Minuten verbrachten wir schweigend und ich fragte mich, was Emily wohl gerade dachte. Hatte sie sich mittlerweile ein wenig beruhigt? Wie viel Angst hatte sie wirklich? Ich würde es wohl nie herausfinden. Allerdings fand ich eine Sache an unserer Beziehung wirklich toll: Wir konnten ewig neben einander sitzen oder liegen, schweigend, ohne dass es komisch oder peinlich wurde. Wir genossen es einfach, in der Nähe des anderen zu sein.
»Ich will nicht an die Uni«, durchbrach Emily irgendwann die Stille.
»Du musst leider. Aber du wirst es überstehen, da bin ich mir ganz sicher! Und die Zeit an der Uni wird ganz sicher schneller vorbei sein, als du denkst«, versuchte ich sie zu motivieren.
»Ich weiß nicht. Ich würde lieber bei dir bleiben.« Sie sah mich traurig an.
»Wir werden uns doch jedes Wochenende sehen. Und den Rest der Woche telefonieren wir einfach.« Ich versuchte zuversichtlich zu klingen, doch das funktionierte nicht. Mir war bewusst, dass Emily nicht aus der Welt sein würde, trotzdem würde ich sie schrecklich vermissen. Ich hatte sie jetzt seit über einem Monat jeden Tag gesehen und konnte mir nicht vorstellen, wie es sich anfühlen würde, sie nicht mehr jeden Tag zu sehen. Doch das würde ich in weniger als einer Woche erfahren.
»Ich geh dann mal«, sagte ich irgendwann und stand auf. »Ich brauche dringend eine Dusche.«
Emily griff nach meinem Arm und zog mich zurück aufs Bett. »Nein! Du bleibst bei mir!« Sie grinste mich an.
»Ich bin doch gleich wieder da. Und dann rieche ich wenigstens gut. Also ich würde es mir gut überlegen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du gerne mit mir kuschelst, wenn ich stinke«, gab ich lachend zurück.
»Mir ist komplett egal, wie du riechst. Ich würde auch mit dir kuscheln wollen, wenn du zwei Wochen nicht geduscht hast.« Sie sah mich todernst an, doch das hielt sie nicht lange durch, bevor sie loslachen musste. Gott sei Dank! Ich dachte schon, sie hat das Lachen verlernt.
»Ich komme gleich wieder, versprochen!« Dann ließ sie mich doch aufstehen, ihr Blick folgte mir, bis ich aus dem Zimmer trat.
Die Vorbereitung auf meine Rolle als König von Kanada nervte mich allmählich. Ja, ich war erst sechzehn, aber ich musste für alle Fälle jetzt schon vorbereitet sein. Je früher man damit anfing, sich vorzubereiten, desto weniger Stress hatte man später. Immerhin musste ich nicht studieren. Darum beneidete ich Emily überhaupt nicht. Allerdings hatte ich immer noch nicht verstanden, warum ich nicht studieren musste. Vielleicht musste man als König ja gar keine Ausbildung haben? Wie auch immer, ich musste erstmal die High-School abschließen und sobald ich alt genug war, würde ich gekrönt werden. Meiner Meinung nach war es allerdings ein bisschen klischeehaft, dass der erstgeborene Sohn – wenn es einen gibt – König werden musste. Wenn es keinen Sohn gab, wurden doch auch die Töchter Königinnen. Nicht, dass ich etwas dagegen hätte, aber ich verstand einfach nicht, warum die Familien nicht selbst bestimmen konnten, wer der nächste König oder die nächste Königin wurde. Emily war ja ohnehin nicht scharf auf diese Rolle, aber vielleicht wäre Jessica ja gerne Königin geworden.
Die Nachricht, die Emily von Dad bekommen hatte, beunruhigte mich allerdings sehr. Ich konnte mir gut vorstellen, dass es Emily ähnlich erging. Deshalb beschloss ich, kurz nach ihr zu sehen. Früher hatten Emily und ich uns oft gestritten, aber mittlerweile hatten wir es hinbekommen, dass wir uns nur noch selten stritten. Vermutlich lag das an unserem Vater. Er hatte uns immer wie den letzten Dreck behandelt und dann hatten wir wohl irgendwann kapiert, dass es sinnvoller war, wenn wir zusammenhielten und uns nicht dauernd gegenseitig fertigmachten.
Ich klopfte an Emilys Tür und wartete, bis sie antwortete, bevor ich ins Zimmer trat. Sie lag auf ihrem Bett, aber sah nicht gerade unglücklich aus. Eher im Gegenteil: Auf ihrem Gesicht hatte sich ein Grinsen ausgebreitet. Ja, ich freute mich für Emily, dass es ihr offensichtlich besser ging als mir, aber ich wunderte mich, warum.
»Wie geht’s dir?«, fragte ich überflüssigerweise.
»Ganz okay. Klar, die Nachricht von Dad ist beunruhigend, aber was bringt es uns, wenn wir uns deswegen aufregen. Seine Chance, dass er uns hier etwas antun kann, ist nicht gerade groß. Immerhin haben wir Wachen, die ihn definitiv nicht auf das Grundstück lassen, wenn wir es nicht erlauben. Du solltest dir wohl auch keine zu großen Gedanken darüber machen. Wir sind hier ziemlich sicher.« Sie sah mich aufmunternd an. Ergab Sinn, was sie mir da gerade eben gesagt hatte. Allerdings hatte sie auch nur ziemlich sicher gesagt. Mir wäre es lieber, wenn wir hier vollkommen sicher wären. Aber Emily hatte mich ja auch nur trösten wollen und ich war wahrscheinlich mittlerweile alt genug, dass man mir nicht mehr jede Wahrheit beschönigen musste. Und ziemlich sicher ist ja auch besser als nichts. Es hätte schlimmer sein können.
»Setz dich doch zu mir aufs Bett.« Sie klopfte mit der Hand auf den Platz neben sich. Ohne darüber nachzudenken setzte ich mich neben Emily, die mich in ihre Arme zog. Ich spürte ihre Wärme und ihre Liebe. Ja, das hätte vielleicht eher ihr Freund gesagt, aber es war die Wahrheit. Nichts war stärker als die Liebe zwischen Geschwistern. Zumindest meiner Meinung nach.
»Alles wird gut!«, versicherte Emily mir leise, während sie über meinen Rücken streichelte. Ich schluchzte ein paar mal. Ja, das war total uncool für Jungs und das war mir bewusst. In der Öffentlichkeit oder allgemein vor anderen Menschen hätte ich das auch niemals gemacht, aber ich vertraute Emily und bei ihr konnte ich sein, wie ich war, musste mich nicht verstellen.
Nach einiger Zeit klopfte es an der Tür, ehe Liam den Kopf ins Zimmer steckte. Vermutlich hatte er geduscht, denn seine Haare sahen ziemlich durcheinander aus und waren noch nass. »Störe ich gerade?«
Schnell löste ich mich von Emily und wischte mir die Tränen weg. Emily sah mich kurz fragend an. »Ich lasse euch wieder allein«, sagte ich schnell. »Danke, Emily!«
»Kein Problem, dafür sind doch Geschwister da.« Sie lächelte mir noch einmal aufmunternd zu.
Ich verließ das Zimmer wieder und schloss die Tür hinter mir. Liam hatte mir im Vorbeigehen ebenfalls ermutigend zugelächelt. Es war mir ein bisschen unangenehm, von ihm so gesehen zu werden. Aber immerhin ging es mir jetzt ein bisschen besser. Der Gedanke, dass ich Emily, sobald sie auf die Uni ging, nicht mehr jeden Tag sehen würde, machte mich ein wenig traurig. Aber zum Glück wollte sie jedes Wochenende nach Hause kommen. Diese Idee kam ihr bestimmt nur, weil Liam ihr gesagt hatte, dass er sie schrecklich vermissen würde. Unwillkürlich fragte ich mich, ob sie uns auch besuchen würde, wenn Liam nicht wäre. Aber auf diese Frage würde ich vermutlich nie eine Antwort bekommen.
Als ich gerade in mein Zimmer gehen wollte, hörte ich jemanden weinen. Das Geräusch kam aus Jessicas Zimmer. Ich wusste nicht warum, aber ich spürte zu ihr nicht so eine starke Verbindung, wie zu Emily. Trotzdem war es als großer Bruder mehr oder weniger meine Aufgabe, für sie da zu sein, vor allem, wenn Emily es gerade nicht konnte. Langsam öffnete ich die Tür zu Jessicas Zimmer und sah hinein. Sie saß am Boden vor ihrem Bett. Warum hatte sie sich nicht einfach auf das Bett gesetzt, statt davor?
»Geh weg, Stan!« Sie sah mich nicht an, weshalb ich überrascht war, dass sie wusste, dass ich es war.
Ich zeigte keinerlei Reaktion auf ihren Befehl, sondern kam langsam auf sie zu. Wie bei einem kleinen, verletzlichen Tier, das, wenn man zu schnell darauf zu lief, sofort abhaute. Vorsichtig legte ich meinen Arm um ihre Schultern und zog sie zu mir.
»Ich hab gesagt, dass du weggehen sollst!«, wiederholte sie sich und funkelte mich diesmal wütend an.
»Hey, alles ist gut…«, versuchte ich sie zu beruhigen.
Ein Schluchzen ließ ihren Körper zittern. »Nichts ist gut!« Ihre Stimme brach am Ende.
»Hör mal. Dad hat keine Chance uns wieder so grauenvoll zu behandeln. Das Sicherheitspersonal wird sich gut darum kümmern, dass er nicht auf das Grundstück kommt.« Innerlich dankte ich Emily dafür, dass sie mir diesen Vortrag vorher gehalten hatte, sonst hätte ich jetzt keine Chance gehabt, Jessica zu trösten.
»Du kennst Dad! Wenn er etwas will, wird er alles dafür tun, dass er es bekommt«, warf sie ein. »Und Emily verpisst sich natürlich wieder. Sie macht sich in dieser Uni ein schönes Leben und lässt uns hier im Stich.« Okay, das war zu viel. Das stimmte so nicht und das wusste Jessica eigentlich auch.
»Emily hat es sich nicht ausgesucht, auf die Uni zu gehen. Mom hat sie mehr oder weniger dazu gezwungen.« Ich versuchte meine Stimme ruhig zu halten. »Außerdem könnte Emily, auch wenn sie hier wäre, nichts an der Situation ändern. Du kannst ihr nicht einfach die Schuld geben.« Nun schwieg Jessica. Ich vermutete, dass sie nachdachte. »Du hast ja recht. Aber ich werde sie trotzdem vermissen.« Sie seufzte.
»Ich werde sie auch vermissen«, gab ich zurück und zog sie noch fester an mich. Auch in Jessicas Nähe fühlte ich mich wohl. Aber es fühlte sich anders an, als bei Emily.
New York City, USA
Der Anruf von meinem Vater hatte mich wirklich geschockt. Meine Eltern waren geschieden und ich war meinem Dad schon lange nicht mehr gegenübergestanden, hatte nur mit ihm telefoniert. Das letzte Telefonat war allerdings nicht so toll gelaufen, denn er hatte verdammt schlechte Nachrichten für mich gehabt. Ich war zu dem Zeitpunkt allein zu Hause gewesen, weil meine Mutter einkaufen war. Als sie nach drei Stunden immer noch nicht zurück war, hatte ich schon begonnen mir sorgen zu machen. Und dann kam der Anruf von Dad, der mir mitteilte, dass meine Mom bei einem Autounfall ums Leben kam.
Gerade als mein Leben perfekt war, passierte das! Ich fragte mich allerdings, warum Dad zuerst davon erfahren hatte, denn er hatte mit Mom – zumindest soweit ich wusste – schon lange nicht mehr geschrieben oder telefoniert. Doch vermutlich hatte ihn die Polizei zuerst angerufen, damit sie ihm Bescheid geben konnten, dass ich jetzt bei ihm wohnen musste. Auch wenn ich wirklich keine Lust hatte, nach Kanada zu fliegen, blieb mir nichts anderes übrig. Ich hatte mein Leben lang in New York gelebt und hatte dort auch viele Freunde. Doch die musste ich jetzt alle verlassen. Nach der Beerdigung meiner Mutter musste ich also nach Kanada. Ich kannte dort niemanden außer meinem Dad und ich war nicht so sozial, dass ich schnell neue Freunde finden konnte. Aber was blieb mir denn anderes übrig?
Es war jetzt schon fast zwei Stunden her, seit ich von Mom‘s Tod erfahren hatte und trotzdem hatte ich noch keine einzige Träne verloren. Vielleicht hatte ich den Sinn der Worte, die mein Vater mir mitgeteilt hatte einfach noch nicht in meinen Verstand gelassen. Vielleicht wollte ich es ganz einfach nicht akzeptieren. Die Beerdigung würde übermorgen – also Freitagnachmittag – stattfinden. Danach würde sich mein Leben komplett verändern. Aber war ich dafür schon bereit? Ich glaubte nicht. Aber ich konnte es nicht verhindern.
Bis jetzt war ich wirklich selten in unserer kleinen Wohnung allein gewesen, aber zwei Tage würde ich wohl überstehen müssen. Besser gesagt: Zwei Tage und zwei Nächte. Den Flug hatte mein Dad schon für mich gebucht. Ich wollte ihn eigentlich selbst zahlen, weil ich auch mittlerweile selbst Geld verdiente, aber er hatte nur damit argumentiert, dass er doch sowieso so viel Geld verdient, dass er mir diesen Flug bezahlen konnte.
Mom und ich hatten uns oft Gedanken wegen des Gelds gemacht. Um sie zu unterstützen, hatte ich einen Nebenjob angenommen, mit dem ich gerade soviel verdient hatte, dass das Geld für das Essen ausreichte. Die Miete der Wohnung und die Steuern hatte Mom übernommen. Als Dad noch bei uns gewohnt hatte, war das alles noch leichter gewesen und wir konnten uns auch ein bisschen Luxus leisten, wie zum Beispiel Urlaub. Klar, wir hätten auch einfach aus New York wegziehen können, aber das wollten wir nicht, solange wir es uns noch leisten konnten.
Dad war Koch in einem drei Sterne Restaurant gewesen, doch er hatte gute Aufstiegschancen gehabt. Irgendwann war er so gut in seinem Beruf, dass er zum besten Koch der Stadt erklärt wurde und das war in einer Stadt wie New York wirklich schwierig zu erreichen. Allerdings begannen ab diesem Zeitpunkt auch die ersten Probleme: Dad wurde ins Königshaus von Kanada eingeladen und sollte dort probekochen, da dort gerade ein Koch gesucht wurde. Das wollte sich mein Vater verständlicherweise nicht entgehen lassen. Meine Mutter allerdings war von dieser Einladung wenig begeistert gewesen, da es bedeuten würde, dass – falls Dad den Job bekam – sie eine Fernbeziehung führen müssten und das wollte sie nicht. Also hatte sie meinen Vater selbst entscheiden lassen, was ihm wichtiger war und er hatte sich für den Job entschieden. Ich konnte mich noch gut daran erinnern, dass meine Mom unglaublich traurig war, was ich damals aber nicht so gut verstehen konnte, da ich erst drei oder vier Jahre alt gewesen war. Ich hatte mich nur ein bisschen gewundert, weil ich Dad dann nie wieder gesehen hatte und deshalb war ich natürlich auch traurig. Aber ich hatte mich an ein Leben ohne ihn gewöhnt.
Vielleicht war es aber sogar besser, dass Dad das getan hatte, was er wirklich wollte, denn ich vermutete, dass sich meine Eltern früher oder später sowieso getrennt hätten. Zumindest wäre es logisch, wenn man bedenkt, dass Dad seine Familie für einen Job im Stich gelassen hatte. Er hatte Mom offensichtlich nicht mehr geliebt.
Inzwischen war es schon sieben Uhr abends und ich war schon müde. Normalerweise hätte ich jetzt mit Mom gemeinsam etwas gegessen, wir hätten noch ein bisschen ferngesehen und wären dann ins Bett gegangen. Das würde ich wohl niemals mehr erleben. Und jetzt erreichte diese Information tatsächlich mein Hirn. Meine Mutter war tot! Ich würde sie nie wieder umarmen können, ihr nie wieder sagen können, wie sehr ich sie liebte und nie wieder irgendetwas mit ihr gemeinsam machen können. Tränen kullerten über meine Wangen und meine Sicht verschwamm. Ich ließ mich auf die kleine graue Couch in unserem gemütlichen Wohnzimmer fallen und vergaß die Welt um mich herum. Ich vergaß, dass ich eigentlich noch für eine Prüfung lernen müsste, ich vergaß, dass ich etwas essen wollte. Ich wollte meine Mutter zurück. Ich wollte die Realität schlicht und ergreifend nicht an mich heranlassen. In zwei Wochen wäre Mom 43 Jahre alt geworden und ich hatte ein tolles Geschenk für sie, das sie wirklich verdient gehabt hätte. Ich hatte so hart gearbeitet, um ihr ein Wellness-Wochenende schenken zu können. Natürlich hätte ich sie begleitet und wir hätten mit Sicherheit eine tolle Zeit zusammen gehabt. Doch das konnte ich jetzt wohl vergessen.
Nachdem ich mich mindestens eine Stunde lang selbst bemitleidet hatte, zwang ich mich, mich zusammenzureißen und etwas zu essen. Auch wenn Mom jetzt tot war musste es irgendwie weitergehen. Es brachte niemandem etwas, wenn man die ganze Zeit nur rumheulte.
Am nächsten Morgen – er war genauso schrecklich wie der Abend davor – ging ich in die Küche um etwas zu frühstücken. Als ich mich danach im Spiegel begutachtete, erkannte ich mich beinahe nicht wieder: Ich hatte dunkelblaue, fast schwarze, riesige Ringe unter den Augen. Meine Augen waren geschwollen und rot vom vielen Weinen. Ich konnte so nicht in die Schule gehen, weshalb ich mich krankmeldete. Mal einen Tag nicht da zu sein, würde schon nicht so schlimm sein. Außerdem war es jetzt eh egal, da ich ja nach Kanada ziehen würde und nicht mehr in diese Schule gehen würde. Allerdings wusste ich auch nicht, was ich jetzt den ganzen Tag über machen sollte.
Irgendwann schaltete ich den Fernseher an. Doch es kam nichts, was ich jetzt hätte sehen wollen. Mich interessierten weder irgendwelche Nachrichten aus Kanada, dass sich die Königin und der König hatten scheiden lassen, noch irgendwelche Kindersendungen. Aus dem Mickey-Maus-Alter war ich schon lange heraus.
Vancouver, Kanada
Tatsächlich hatte ich es irgendwie geschafft, Emily soweit zu beruhigen, dass sie einigermaßen unbesorgt zur Uni fahren konnte. Sie war erst vor ein paar Minuten losgefahren, trotzdem vermisste ich sie bereits. Es war zwar erst Freitag, aber sie dachte, dass am Sonntag bestimmt ganz viele Studenten anreisen würden und auf diesen Stress hatte sie keine Lust. So konnte sie sich heute ihr Wohnheimzimmer besorgen, alles einrichten und morgen nochmal zurückkommen. Ja, sie hätte auch einfach hier wohnen können, aber sie wollte nicht jeden Tag eine halbe Stunde hin- und eine halbe Stunde wieder zurückfahren müssen, wenn es auch einfacher ging.
Tja, jetzt war mir wohl oder übel den ganzen Tag über langweilig. Jessica saß nämlich nur in ihrem Zimmer um was weiß ich was zu machen. Sie brauchte also keinen Bodyguard. Und Stanley … Keine Ahnung, was der gerade tat, aber ich wusste nicht, was ich mit ihm anfangen sollte, wenn ich zu ihm ging.
Plötzlich hatte ich allerdings das Gefühl, dass es nicht falsch sein könnte, wenn ich mal nach Jessica sah. Mir war bewusst, dass ich wahrscheinlich nicht wirklich einer ihrer liebsten Gesprächspartner war, aber was nicht ist kann ja noch werden. Vielleicht war es nicht falsch, wenn wir uns eine freundschaftliche Basis aufbauten. Früher hätte ich so etwas niemals gemacht, aber Emily hatte mich verändert. Und das war wirklich positiv gemeint. Früher hatte ich meinen festen Freundeskreis und wer nicht dazu gehörte, den hatte ich fertiggemacht. Ich hatte genügend Freunde gehabt und wollte nicht ständig von irgendwelchen anderen Menschen belästigt werden. Doch Emily hatte mir gezeigt, dass es auch anders ging.
Auf dem Weg zu Jessicas Zimmer überlegte ich, was ich zu ihr sagen sollte und über was wir reden könnten. Ich klopfte an ihrer Tür. Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete sich die Tür und ich blickte in zwei blaue Augen. Es war fast dieselbe Farbe, wie die Augenfarbe von Emily und ich verlor mich kurz darin, ehe ich mich zwang, mich zusammenzureißen.
»Was willst du hier?« Sie sah müde aus. Dunkelblaue, fast schon schwarze Ringe waren unter ihren Augen zu sehen.
»Ich wollte nur mal nach dir sehen. Mir war gerade langweilig und ich dachte, dass du vielleicht etwas unternehmen möchtest«, sagte ich ruhig. Sie verschränkte die Arme und zog die Augenbrauen zusammen. »Sehe ich so aus als wollte ich etwas unternehmen?«