Bellinilügen - Gudrun Grägel - E-Book
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Bellinilügen E-Book

Gudrun Grägel

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

In dubio pro reo - im Zweifel für den Angeklagten: Für Doro Ritter, Spitzenköchin aus München, wird der Spruch zum Leitfaden bei ihren Ermittlungen rund um den Tod einer alten Dame in Gardone. Mord! Und das hier in diesem mondänen Örtchen am Gardasee. Doros Plan, ihre Freundin bei der Gestaltung eines Kunstprojekts zu unterstützen, wird schnell zur Nebensache, denn die Gerüchteküche brodelt, es gibt starke Motive und brüchige Alibis, und die Polizei hat schnell einen Schuldigen ausgemacht - doch Doro hat Zweifel und nimmt die Fährte des Mörders auf.

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Seitenzahl: 472

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Gudrun Grägel

Bellinilügen

Gardasee-Krimi

Zum Buch

Mord statt Dolce Vita In dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten: Als in Gardone eine alte Dame ermordet wird, entwickelt sich dieser juristische Grundsatz für die junge Gourmetköchin Doro Ritter aus München zur Herzensangelegenheit. Statt hier, am schönen Gardasee, ihre Freundin Louisa wie geplant bei einem Kunstprojekt zu unterstützen, nimmt Doro die Fährte des Mörders auf. Die Polizei hat schnell einen Verdächtigen gefunden: Ausgerechnet Louisas große Liebe soll der Täter sein, und die Indizien sind erdrückend. Allen Zweifeln zum Trotz will Doro die Unschuld des jungen Mannes beweisen. Doch hat er wirklich nichts mit dem Mord zu tun? Die Zeit drängt, und Doro ermittelt auf Hochtouren, bevor die Spuren kalt werden und die Polizei die Untersuchungen einstellt. Wer hat ein Motiv? Wer hat ein Alibi? Wer sagt die Wahrheit und wer lügt? Justitias Waage kommt ins Ungleichgewicht. Doro sucht Antworten und steht dem Täter dabei im Weg. Zum Glück gibt es noch ihren Freund Vinc, der ihr wie immer zur Seite steht …

Geboren und aufgewachsen in Augsburg, hat Gudrun Grägel zunächst ihr Abitur mit Fachrichtung Pädagogik/Psychologie und anschließend eine pharmazeutische Ausbildung absolviert. Privat ist sie dem schwäbisch-bayerischen Raum treu geblieben, als Autorin büxt sie nach Italien an den Gardasee aus, wo sie ihre Protagonistin im südlichen Dolce Vita ermitteln lässt – Recherche und Arbeit mit Wohlfühlcharakter.

In „Bellinilügen“ schickt sie die junge Köchin Doro Ritter bereits zum fünften Mal auf Mördersuche an den Lago di Garda, und dabei geht es gewohnt kriminell und kulinarisch zu.

Seit drei Jahren ist die Autorin Mitglied der »Mörderischen Schwestern«.

Für euch da auf Instagram und Facebook:

www.facebook.com/GudrunGraegel/

www.instagram.com/gudrungraegel/

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Susanne Tachlinski

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Kartengestaltung: Julia Franze und Martin Grägel

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © lamio / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7824-6

Widmung

Für meine Nichten und Neffen, die genau im richtigen Alter sind, um mich am Puls der Zeit von Doro Ritter zu halten …

Zitat

Manche Erinnerungen genügen, um die Seele für immer zu parfümieren.

(Gabriele D’Annunzio)

Personen

Doro Ritter, 28 Jahre, kocht nicht nur leidenschaftlich, sondern findet auch jedes Haar in trüben Suppen und verbrennt sich dabei schon mal die Finger

Vincent Wolkenberg, genannt Vinc, 29 Jahre, Doros Lebensgefährte; würde für Doro fast alles tun – und das ist kein leichter Job

Louisa Wagner, genannt Lou, Künstlerin, Fotografin, Schwerpunkt Food-Fotografie, Freundin von Doro

Signora Bruna Rossi, fragt sich: Ist Blut dicker als Wasser?

Frederico Piotti, Louisas Freund, ein bärenstarkes Mannsbild, Pizzabäcker im Bellini

Natale Negretti, Neffe von Signora Rossi

Freunde von Bruna Rossi: Signor Giovanni Tambalotti/Privatier, Signora Flavia Farelli/alternde Schlagerdiva, Signor Giuseppe Bonera/Gärtner. Sie treffen sich wöchentlich zu einer Runde Backgammon, Rommé oder Canasta.

Luigi und Giulietta Morelli, ihnen gehört die lokale Tabaccheria

Fredericos Freunde: Fausto Piasini/arbeitet in der Tabaccheria, Pascale Catullo/freier Journalist, Berto Marchetto/Casanova mit Motorboot und Krankenpfleger, Tommaso Fassi/seiner Familie gehört der örtliche Tante-Emma-Laden, Cleto Farese/Obst- und Gemüsehändler auf dem Mercato

Marta Giallini, Nachbarin von Signora Rossi

Alfredo Verdi, Chef des Bellini

Signor Caravalli, genannt »il Principe«, zwar fürstliches Erscheinungsbild und fürstlich reich, dennoch kein blaues Blut – Hotelbesitzer und Auftraggeber von Louisa

Signor Franco Brentano, Anwalt in Desenzano

Capitano Edoardo Linfatti, leitender Ermittlungsbeamter der örtlichen Carabinieri

Tenente Ponti, Kollege von Capitano Linfatti

Rambo, Doros Lieblingskater, glänzt durch Abwesenheit und verteidigt seine Vorherrschaft auf dem Viktualienmarkt in München

Caruso, sandfarbener Mops von Signora Rossi, hat nicht nur vier Beine, sondern schmettert bei Bedarf Arien, die dem Original-Caruso zur Ehre gereicht hätten

Karte

Prolog

Er ist in die Falle getappt. Grobe Hände schubsen ihn in die Ecke des Raumes. Bevor er sich aufrappeln kann, fällt die Tür ins Schloss. Die Dunkelheit ängstigt ihn nicht, aber etwas liegt in der Luft. Etwas, das ihm Angst macht. Sein Herz klopft in unnatürlich schnellem Takt, während er auf den Lichtstreifen starrt, der durch den Spalt zwischen Türblatt und Boden hereinspitzelt, vorsichtig, so als wollte er nicht von der Dunkelheit geschluckt werden. Er wittert Gefahr, aber er kann nichts tun, kauert sich ängstlich in die Ecke. Selbst in diesem angespannten Zustand sind seine Sinne geschärft. Flüchtig huschen Aromapartikel in seine Nase, erinnern ihn an Gefühle, die er sonst mit diesem Raum verbindet. Wohlgefühle. Hunger. Zufriedenheit. Doch heute ist es anders. Wo ist sie? Warum hilft sie ihm nicht? Warum lässt sie zu, dass er hier eingesperrt ist? Er macht sich klein, wartet geduckt, bis die Gefahr vorbei ist und sie ihm zu verstehen gibt, dass alles gut ist. Er lechzt nach Wasser, lauscht. Irgendwann ist Ruhe draußen. Ein seltsamer Geruch streift seine aufmerksame Nase. Er kann ihn nicht identifizieren, aber er macht ihn nervös. Er richtet sich auf, beobachtet die Tür. Und wartet. Sie wird kommen.

Kapitel 1

Gardone sta ancora dormendo – Gardone schläft noch

Luglio (Juli) – Lunedì (Montag) – Tag 1 in Gardone

Kurz nach Mitternacht, das Gepäck ist bereits im Kofferraum verstaut. Rambo verteilt schnurrend und mit großer Ausdauer seine schwarzen Haare auf meiner weißen Hose, wirft mir dabei skeptisch-wissende Blicke zu und verschwindet dann endgültig durch das sich erneut schließende Rolltor der Tiefgarage unserer Wohnung am Marienplatz. Ist ihm jetzt wohl zu dumm geworden hier unten, vor allem die Gefühlsduselei seiner Lieblingsmenschen, sprich Vinc und mir.

Vinc hat den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden, er öffnet die Fahrertür seines »Augapfels«, des uralten mintfarbenen Opel Corsa. »Bring mir ja mein Baby sicher ans Ziel«, mahnt er, als wäre das wichtiger als die intakte Ankunft meiner Wenigkeit, aber ich weiß genau, was er meint, nämlich: Gute Fahrt, komm heil an und ich liebe dich. »Finde ich nicht gut, so ganz ohne Schlaf loszufahren. Du hättest genauso gut in der Früh erst starten können, noch ein bisschen kuscheln …«, will er mich zum wiederholten Mal locken, aber ich bleibe standhaft.

»Wenn dein Baby eine funktionierende Klimaanlage hätte, gerne. Aber so … Schatz, das ist kein Vorwurf, nur eine Tatsache.« Ich küsse ihn noch mal.

»Jaja, schon gut, hast ja recht«, murmelt Vinc in mein Haar, dann schiebt er mich auf den Fahrersitz. »Aber du rufst gleich an, wenn du da bist, okay?«

»Versprochen. Sag Ulli gute Besserung und vor allem schnelle Genesung, damit du bald nachkommen kannst!«

Vinc verspricht, seinem Geschäftspartner Beine zu machen, schlägt die Autotür zu, klopft aufs Autodach und zieht am Seil. Knarzend rollt das Tor nach oben, ich setze zurück, werfe Vinc ein letztes Flugbussi zu, fahre die Ausfahrt hoch, und dann tauche ich ein in den nächtlichen Verkehr Münchens, in Richtung Süden.

Gardone schläft noch mehr oder weniger, als ich morgens um sechs neben dem imposanten »Grand Hotel« parke und aus dem Auto steige. Obwohl die Sonne von der Ostseite des Sees direkt hier herüberscheint, überläuft mich ein Schauer. Meine leichte Wolljacke liegt zusammengeknüllt auf dem Beifahrersitz, ich schnappe sie mir und schlüpfe hinein. Dann strecke ich mich und gähne ausgiebig. Die frische Morgenluft tut gut. Die Fahrt durch die Nacht war anstrengend, umso mehr genieße ich nun die morgendliche Ruhe am Westufer des Gardasees. Gardone ist noch nicht zum Leben erwacht, aber das wird sich sicher bald ändern.

Ich spaziere ums Hotel herum, und kaum trete ich um die Ecke aus dem Schatten heraus zur Promenade, dem Lungolago Gabriele D’Annunzio, kneife ich geblendet die Augen zusammen. Wie flüssiges Gold glitzern die Sonnenstrahlen auf der bewegten Wasseroberfläche. Langsam schlendere ich den Uferweg entlang und spüre jetzt schon die Kraft der Sonne. Das wird ein heißer Tag. Rechts von mir reihen sich Cafés und Ristoranti aneinander, die noch genauso im Schlaf liegen wie die meisten Bewohner hier, links plätschert der See an die Kaimauern. Weiter draußen dümpeln ein paar Fischerboote, die sich wahrscheinlich bald auf den Rückweg machen. Verspricht der Fang einen satten Gewinn oder war die Mühe für heute eher ernüchternd? Vor meinem inneren Auge entstehen Bilder. Ich spüre förmlich die kühle, nasse Haut der frisch gefangenen Fische in meinen Händen, allerdings spüre ich auch Bedauern über die Notwendigkeit, dass ich ihnen ihr Leben nehmen muss, um sie zu einem kulinarischen Leckerbissen werden zu lassen. Ich bin mit Leib und Seele Köchin und liebe Fischgerichte, aber … Ich muss lächeln. Genau dieses Aber bringt meinen Vater immer zur Verzweiflung. »Entweder du legst diese Skrupel ab oder du kochst vegetarisch beziehungsweise vegan«, kommentiert er meine Sentimentalitäten gerne mitleidslos. »Alles dazwischen ist müßig.« Damit hat er nicht unrecht. In Gedanken kreiere ich ein Fischfilet alla Doro, mit frischen Kräutern, Öl und selbst gemachten Gnocchi. Käsefüllung oder Ricottakräuter? Hm …

Mein Blick wandert zurück zur Promenade. Auf einer Bank, abgewandt vom See, sitzt einsam ein bronzener Mann, vertieft in das oberste Buch eines ganzen Stapels. »Buon giorno, signore«, grüße ich die Statue freundlich, bekomme aber erwartungsgemäß keine Antwort. Neugierig lese ich die Informationen auf der Tafel neben ihm, schlendere dann ein Stück weiter und setze mich auf eine weitere Bank mit Blick auf den See. Ich halte meine Nase in die frische Brise und beobachte ein paar Surfer, die sich im Vento oder Pelèr, wie der kühle Nordwind am Morgen und Vormittag genannt wird, sportlich betätigen. Der Herr aus Bronze interessiert sich dafür nicht, er war Dichter und Denker – Gabriele D’Annunzio, wie mir das Schild verraten hat, verewigt von Alessandro Verdi. »Il solitario studioso« – »Der einsame Gelehrte« hat dieser sein Werk genannt und dem Dichter hier ein exklusives Plätzchen an der Promenade verschafft. Die Gemeinde zeigt so ihren Stolz, ihre Wertschätzung und Verehrung für den berühmten ehemaligen Einwohner.

Im Wasser schaukelt ein Motorboot in den morgendlichen Wellen, zwei Möwen dösen auf der Abdeckung. Gabbiano, steht in schwarzen Schreibschriftbuchstaben am Bug, als hätten die weißen Vögel dem Boot den Namen verpasst und deshalb jedes Recht, das Deck mit ihren Hinterlassenschaften zu markieren. Das Recht der Natur haben sie sowieso, und dass mir dieser Name Gänsehaut am ganzen Körper verursacht, hängt mit Ereignissen zusammen, die ich lieber vergessen möchte. Schwamm drüber, heute ist ein anderer Tag und generell schaue ich lieber nach vorne als zurück. Mich erwartet dieses Mal eine wirklich schöne und interessante Zeit, die nichts mit irgendwelchen verqueren Aufträgen zu tun hat. Im Gegenteil, meine Freundin Louisa hat mich eingeladen, ein paar Wochen bei ihr zu wohnen, im Haus ihrer verstorbenen Oma, ihrer italienischen nonna, die hier in Gardone gelebt hat. Ihre Mutter ist die letzte Nachkommin des italienischen Zweigs der Familie, sie ist hier aufgewachsen, dann mit ihrem Mann in dessen Heimat München gezogen und hat das Haus in Gardone geerbt. Seit einem Jahr lebt und arbeitet Louisa hier – was den Wohnort angeht, ist sie als Fotografin flexibel. Für ihren neuen Auftrag, einen Hotel-Prospekt, soll ich ihr behilflich sein. Genaueres will sie mir persönlich erklären. Und ganz ehrlich, ich kann ein paar Wochen Ruhe ganz gut gebrauchen. Nach den Vorfällen im Herbst habe ich mich in die Arbeit gestürzt, als wollte ich »die Küche des ›Macis‹ alleine rocken«. O-Ton Sascha Ritter, seines Zeichens Sternekoch, bekannter TV-Koch und stolzer Besitzer besagten »Macis«, eines Gourmettempels am Münchner Sebastiansplatz. Und last, but not least mein Vater. Als er von Louisas Einladung gehört hat, hat er mich quasi aus der Küche geschmissen, mit dem Hinweis, ich solle mich mindestens zwei Monate nicht mehr blicken lassen, er brauche mich schließlich noch länger, und zwar bei bester Gesundheit und nicht mit Burn-out und unverarbeiteten Ängsten. Vinc hat in dieselbe Kerbe geschlagen. Apropos Vinc: Ich habe ihm versprochen, mich zu melden, sobald ich angekommen bin. Ich ziehe das Handy aus der Hosentasche und tippe auf seine Nummer. Ein verschlafenes Brummen dringt an mein Ohr.

»Buon giorno, Schatz«, rufe ich in den Lautsprecher.

»Du bist also schon da«, folgert mein Schlafmonster nicht sehr geistreich.

»Jep! Du wolltest, dass ich mich sofort melde«, erinnere ich ihn.

»Klar, ich hab ja auch gar nicht mehr richtig geschlafen.« Eine glatte Lüge, da bin ich mir sicher. »Und, wie ist Louisas Domizil?«, quetscht er zwischen zwei kaum unterdrückten Gähnern hervor.

»Keine Ahnung.« Ich mache eine kunstvolle Pause, sodass sogar mein verschlafener Freund merkt, dass er nachhaken soll.

»Wieso?«, fragt er prompt.

»Weil ich noch gar nicht zu Louisas Haus gefahren bin. Ich sitze hier unten am Lungolago von Gardone auf einer netten Parkbank, lasse mich von der Morgensonne wärmen und unterhalte mich mit einem Herrn auf einer Bank gleich nebenan. Zugegeben, es ist eine recht einseitige Unterhaltung, der Herr ist noch schweigsamer als du.«

»Du sprichst in Rätseln, Signorina.« Vinc gibt sich mäßig interessiert.

Ich erkläre ihm die Situation, schwärme von Aussicht, Sonne und süßem Nichtstun.

»Wolltest du nicht Louisa bei ihrem Prospekt-Projekt unterstützen?«

Aha, wach genug, um zu sticheln.

»Das kommt nicht zu kurz, aber es wird uns nicht den ganzen Tag beschäftigen. Und bevor du dir um mein Arbeitspensum hier Sorgen machst, pflege lieber Ulli, fahr ihn zur Reha und so, damit du nicht ewig in München festhängst«, fordere ich.

»Mal ehrlich, Schatz, ich würde euch doch nur stören.«

Stimmt schon, haben wir ja hinreichend besprochen. Vinc kommt nach, wenn er sich in München loseisen kann, bis dahin wird Louisa und mir nicht langweilig werden. »Okay, Schatz, ich werde langsam müde, die fehlende Nacht, du weißt ja. Ich fahre hoch zu Louisa, sie wird sich schon wundern, wo ich bleibe. Hab ihr in der Pinkelpause eine WhatsApp geschrieben. Allora, ti amo, Vincenzo mio – ich melde mich später noch mal. Bacio.«

Vinc schickt mir auch einen Kuss durch die Leitung, dann legen wir auf und ich mache mich auf den Weg zum Auto.

Dank Navi finde ich die Adresse schnell. Via Trieste, eine Reihe begrünter Vorgärten und schmucker Einfamilienhäuser säumt die Straße, eines davon trägt Louisas Hausnummer. Ich vergewissere mich noch mal auf der App: Definitiv, dieses Traumhaus muss es sein.

Sie reißt gleich beim ersten Klingeln die Tür auf und steht wie aus dem Ei gepellt da, als wäre es mitten am Tag und nicht erst 7 Uhr morgens. Ganz meine Wellenlänge, ich bin zwar nicht so gestylt um diese Zeit, aber ich liebe die frühen Morgenstunden. Vinc kann so was nicht verstehen.

»Doro! Ich freue mich so«, ruft Louisa. »Komm rein.«

Sie zieht mich in den Flur und wir umarmen uns so stürmisch, dass ich gerade noch mein Handy auf den kleinen Dielenschrank werfen kann, bevor es mir aus der Hand rutscht. Dann holen wir mein Gepäck aus dem Auto, und sie hilft mir, alles in mein Zimmer im ersten Stock zu schleppen.

»Ich schlage vor, du schläfst erst mal eine Runde, das Haus zeige ich dir später. Ich richte eine Kleinigkeit für uns zum Essen her und dann besprechen wir die nächsten Tage, was meinst du?«

»Das klingt perfekt. Ich bin echt ein bisschen platt«, gebe ich zu.

Louisa schließt leise die Tür hinter sich, und ich höre, wie sich ihre Schritte entfernen. Hier wohnt sie also, meine halb italienische Freundin. Louisa. Oder Lou, wie ich sie oft nenne. Nicht schlecht, allein schon die Aussicht über den Ort, der sich an den Hang schmiegt, ist unbezahlbar. Auf solche Objekte sind reiche Ausländer scharf, als Wochenendhaus und für ein paar Ferienwochen im Jahr. Mit einem resoluten Griff ziehe ich die Vorhänge zu, das angenehme Dämmerlicht unterstützt den Drang, mich hinzulegen. Ich kuschle mich zwischen die Laken und wache erst vier Stunden später wieder auf, wie mir ein Blick auf die Uhr zeigt. Noch ein bisschen gerädert, aber wieder von dieser Welt, will ich nur noch kurz duschen und dann schnell runter zu Louisa gehen, sie wird schon auf mich warten.

Als ich den Koffer auspacke, fällt mir ein Päckchen entgegen. Mit Geschenkpapier umwickelt. Was da wohl drin ist? Ich schüttle, überlege, schnuppere … Keine Ahnung. Hastig reiße ich das Papier von der kleinen Schachtel. In der Box befindet sich eine Glasflasche, daran ist ein Zettel mit Klebestreifen befestigt, auf dem steht: Riechen, notieren, probieren und berichten. Erinnert dich der Geruch an etwas? Soll mir wohl mein geplantes Projekt ins Gedächtnis rufen und mir ein mögliches Rezept dafür liefern. Kochbuch für zwei und für romantische Momente. Beziehungsweise schnelle Gerichte, damit mehr Zeit bleibt für ebenjene zweisamen Stunden.

Ich ziehe den Korken aus dem Flaschenhals und rieche vorsichtig. Eine feine Note steigt nach oben. Ich fächle leicht mit der Hand über der Öffnung, um die winzigen Duftpartikel in der Luft zu verteilen und sie dann mit meiner Nase einzufangen. Rose, Zimt … Aha, eine Gewürzmischung für die Sinne. Auch ein Tütchen mit kleinen roten Gummidrops, selbst gemacht, ist in dem Päckchen, ich öffne den Verschluss und schnuppere hinein – auf jeden Fall mit Zimt aromatisiert. Mit Daumen und Zeigefinger fische ich ein Teil aus der Tüte und stecke es mir in den Mund. Sofort melden meine Geschmacksnerven das zweite Gewürz glasklar: Rosmarin. Süße Idee. Färbt halt doch ein bisschen ab, wenn man mit einer Köchin zusammenlebt.

»Doro!«, unterbricht Louisas Stimme meine romantische Duftreise.

»Arrivo!«, rufe ich zurück.

Als ich kurz darauf hinunterkomme, finde ich Louisa telefonierend auf der Terrasse vor und verliebe mich sofort in diesen Platz. Weinreben ranken sich um die Pergola, es ist schattig und kühl. Ich ziehe mir einen der Holzstühle heran, setze mich und blinzle träge nach oben. Vereinzelt stehlen sich Sonnenstrahlen durch das sich im sanften Wind bewegende Blätterdach. Ich liebe die Sonne und wie viele Menschen lasse auch ich mich von ihrer Schönheit und Wärme bezaubern. Hier ganz besonders, sie fließt in die Seelen und ist Teil des berühmten Dolce Vita.

Ich blicke zu Louisa hinüber. Mit gerunzelter Stirn hört sie ihrem Gesprächspartner zu.

Wo ist eigentlich mein Handy, fällt mir dabei ein, und ich schaue mich suchend um. Ach ja, es muss noch auf der Ablage im Flur liegen. Ich hatte es in der Hand, als ich geklingelt habe, und habe es dort in Sicherheit gebracht, als Louisa und ich uns in unserer Wiedersehensfreude umarmt haben. Barfuß laufe ich über die warmen Steine, um es zu holen.

Als ich zurückkomme, ist Louisa gerade dabei, sich von ihrem Gesprächspartner zu verabschieden. »Carissimo, ärgere dich nicht, wir sprechen später darüber. Doro ist gerade heruntergekommen und wir wollen anstoßen. Allora, bis heute Abend.«

Carissimo – Liebster,es muss also Frederico, ihr Freund, gewesen sein, kombiniere ich. »Streit? Ärger?«, will ich neugierig wissen.

Louisas Stirn glättet sich wieder und sie winkt ab. »Erzähl ich dir später. Jetzt stoßen wir erst mal an.«

Sie geht ins Haus und kommt mit zwei bereits vorbereiteten Cocktails zurück. In der Wärme bildet sich augenblicklich eine Kondenswasserschicht außen an den Gläsern, und die Flüssigkeit darin leuchtet orangefarben in den wandernden Sonnenflecken. »Alkoholfreier Gingerino mit Eiswürfeln, ein wenig Acqua Frizzante und einem Schuss Prosecco«, verrät Louisa. »Cin cin!«, ruft sie und hebt ihr Glas.

»Cin cin!« Wir stoßen an und reden uns warm. Es dauert nicht lange, dann ist jedes Distanzgefühl verschwunden, die Wellenlänge, auf der wir schwimmen, war immer schon dieselbe.

»Wann genau kommt dein Vinc nach?«, fragt sie und schmunzelt selbst über die besitzergreifende Formulierung. Ich lasse es mal so stehen.

»Das ist noch unklar. Vinc’ Freund Ulli, mit dem er eine Firma gegründet hat, hat sich den Fuß gebrochen, und zwar nach dem Motto: Wenn schon, denn schon, komplizierter geht’s nicht. Außerdem sei er bei den Fotoarbeiten doch nur im Weg, findet Vinc, freut sich aber darauf, nachzukommen.«

»Schön. Frederico kann in der Hauptsaison höchstens mal einen Tag freinehmen. Das ist die Schattenseite seines Berufs. Er arbeitet in einer Pizzeria in Gardone Sopra und macht das total gern, aber die Arbeitszeiten in der Saison sind knackig. Sein Chef lobt ihn immer und betont, er sei das Zugpferd im Laden. Stimmt auch. Fredericos Calzone sorpresa und Calzone misterioso sind legendär und ein Touristenmagnet.«

»Ja, Paps honoriert Zuverlässigkeit und Einsatz auch«, sage ich, nicht ganz auf unser Gespräch konzentriert. Erst einmal ist Vinc in München, und ich bin in Gardone, denke ich gerade. Louisas Haus würde ihm sicher gefallen. Es liegt traumhaft oberhalb des Sees am Hang. Himmlische Ruhe und abends wahrscheinlich Mücken und Fledermäuse.

Louisa holt Getränkenachschub. Eine Karaffe mit Leitungswasser, erfrischend aromatisiert mit Ingwerstückchen, Zitronen- und Limettenscheiben.

»Lust auf einen kleinen Snack? Ich habe Bruschetta vorbereitet«, sagt sie. »Bin gleich wieder da.«

Ich folge ihr in die Küche. Sie röstet Weißbrot an, legt Teller, Besteck und Servietten aufs Tablett, dann tragen wir alles samt der Schale mit dem kühlen Tomatenbelag nach draußen. Genau so habe ich mir das Ankommen vorgestellt. Keine Hektik, mich erst mal treiben lassen. Natürlich wartet die Arbeit für den Prospekt auf uns, aber darauf freue ich mich. Ist mal eine Abwechslung zum Küchenalltag – kochen soll ich hier zwar auch, aber dabei geht es nicht um den Geschmack, sondern darum, ein Fotomotiv zu kreieren, das die Fantasie anregt.

»Greif zu«, ermuntert mich Louisa.

Ich häufe einen ordentlichen Berg Tomatenwürfel auf ein Stück Weißbrot. »Perfetto. Hätte ich nicht besser machen können«, lobe ich.

»Und das aus deinem Mund. Grazie mille.«

Zwei Spatzen pirschen sich ran. Erst picken sie am Boden nach heruntergefallenen Bröseln, dann traut sich der erste und landet auf dem Tisch. Er lugt zum Teller mit dem Weißbrot und hüpft vorwitzig hinüber. Ich lehne mich im Stuhl zurück und beobachte den Frechdachs. Sein Kumpel bleibt vorsichtiger, wägt alles aus der unteren Etage ab. Goldig, die kleinen Kerlchen.

Louisa grinst schuldbewusst. »Es fällt öfter mal was für die Piepmätze ab. Stören sie dich? Du musst sie nur verscheuchen«, sagt sie.

»Ach Quatsch, lass sie. Sind doch süß … He, aber das ist nicht süß!«, rufe ich empört, als der Kleine mit einem kapitalen Brocken im Schnabel den Abflug macht – allerdings nicht, ohne uns ein schwarz-weißes Häuflein auf die Tischplatte zu setzen.

Louisa lacht. »Komm, ich zeig dir das Haus«, entscheidet sie und startet mit einem Rundgang durch den Garten, vorbei am kleinen Pool und an der Hecke, durch die ich ab und an einen Blick auf den See erhasche.

Das Atelier im Inneren des Hauses ist beeindruckend, der Spitzboden unter dem Dach ist mit einer großen Fensterfront ausgestattet, hier gibt es Seeblick pur. »Deine Oma hatte einen coolen Geschmack«, bemerke ich anerkennend.

»Geschmack mit Hintergrund«, sagt Louisa kryptisch. »Die Schwester meiner Mama war Malerin, ich meine, so richtig beruflich. Meine nonna hatte ihr kurzerhand ein Atelier im Haus eingerichtet und dabei auch Umbauten nicht gescheut.«

»Die Bilder im Haus sind von deiner Tante?«, kombiniere ich messerscharf, sie sind mir nämlich schon aufgefallen. »Aber was heißt war? Malt sie nicht mehr?«

»Nein, leider nicht, sie ist früh gestorben.«

»Oh, das tut mir leid.«

»Sie war so voller Tatendrang und hat richtig gutes Geld mit ihren Bildern verdient, und dann kam diese heimtückische Krankheit. Alles ging ganz schnell. Was letztendlich gut war, so hat sie nicht länger leiden müssen. Es ist schlimm, wenn das Kind vor der Mutter stirbt, hat meine nonna immer gesagt. Sie ist oft in die Kirche gegangen und hat dafür gebetet, dass sie statt ihrer Tochter sterben darf. Es war wirklich furchtbar. Meine Mama war in dieser Zeit hier bei ihrer Schwester und ihrer Mutter, aber danach wollte sie wieder zurück nach Deutschland. Wenn Papa in Rente geht, wollen meine Eltern sich überlegen, ihren Hauptwohnsitz hierherzuverlegen. Aber lassen wir die alten Geschichten und die Zukunftsmusik – zurzeit wohne ich hier, und das sehr gerne. Der Pool hat sogar eine Gegenstromanlage, du siehst, ich schwelge hier im Luxus. Premium-Homeoffice sozusagen. Und dann habe ich auch noch diesen Wahnsinnsauftrag an Land gezogen. Aber jetzt erzähl erst mal du, du hast mich neugierig gemacht. Was ist das für ein Projekt, das du hier parallel in Angriff nehmen willst?«

»Ein Kochbuch für zwei – schnelle Gerichte für den knappen Feierabend. Stimmungsvolle Dinner für zwei, Zeit zum Kochen, Zeit zum Genießen, Zeit füreinander und so was. Die Rezepte kreiere ich selber«, fasse ich zusammen.

Louisa lacht. »Du bist ja richtig romantisch.« Das ist ihr Stichwort, denn jetzt kommt sie mit verklärtem Blick auf ihr Lieblingsthema zu sprechen: Frederico. »Du musst ihn unbedingt kennenlernen, er ist so ein Lieber«, schwärmt sie. »Wir sollen heute im ›Bellini‹ essen, das ist die Pizzeria, in der er arbeitet, er wird uns seine legendäre Calzone misterioso zubereiten. Sei auf alles gefasst, denn als er gehört hat, wer du bist – ich meine kochtechnisch –, da hat sich ein leicht fieses Lächeln auf seine Lippen geschlichen.« Louisa schmunzelt verschwörerisch, und ich ziehe skeptisch meine linke Augenbraue nach oben. »Keine Sorge, Doro, du wirst es überleben.«

Überleben. Sofort schieben sich Bilder vom letzten Jahr vor mein geistiges Auge. Weg damit! Das hat hier nichts zu suchen. Heute ist Louisa die Hauptperson und natürlich Frederico, ihre große Liebe. Ich denke an Vinc – schade, dass er nicht da ist, aber er hat schon recht, es ist besser, dass ich erst mal alleine gefahren bin. Mädelsgespräche, Prospektplanung, Kochen … da muss er nicht dabei sein.

Ich schaue mich um.

»Ti serve un posacenere?« Louisa ist mein suchender Blick nicht entgangen, und sie kombiniert völlig richtig meine unausgesprochene Frage nach einem Aschenbecher – was nicht allzu schwer ist, da ich zeitgleich eine Zigarettenschachtel aus meiner Tasche ziehe.

»Sì, grazie«, falle ich ins Italienische und freue mich darauf, die Sprache in den nächsten Wochen wieder zu trainieren. »Magst du auch eine?« Ich halte ihr die Schachtel hin.

»Danke nein, ich rauche nicht.«

»Da hast du mir was voraus«, seufze ich und stecke die Packung wieder in die Handtasche.

»Stört mich aber trotzdem nicht, wenn du dir eine ansteckst, Doro. Du bist nicht mein einziger rauchender Gast«, versichert mir Louisa freundlich. Sie steht auf, kramt in der Schublade eines Holzschränkchens, das in einer geschützten Ecke der Terrasse steht, und befördert ein buntes Keramikteil mit Deckel hervor.

»Passt schon. Ich bin mittlerweile auch mehr Gelegenheitsraucherin. Laut Paps kille ich mit jeder einzelnen Zigarette Millionen meiner Geschmacksnerven. Und das als Köchin, da wird er jedes Mal richtig stinkig.«

»Was dich aber nicht sonderlich beeindruckt, habe ich recht?«

»Was soll ich sagen …?«

Sie lacht. »Am besten nichts. Ich kenne deinen Vater ganz gut. Vergiss nicht, dass ich schon einige Aufträge von ihm bekommen habe. Die Fotoshootings mit ihm waren immer ein Erlebnis.«

»Wer ein Fotoshooting mit Paps überlebt hat, ist gestählt fürs Leben«, lästere ich.

Nicht ganz ernst gemeint, denn Paps ist im Grunde pflegeleicht. Auf jeden Fall nicht unfreundlich oder cholerisch oder eingebildet – nur wenn es darum geht, abgelichtet zu werden, dann ist er Perfektionist, da lässt er keine Fehler durchgehen. Wie in der Küche. Da gibt es bei ihm zwar kein Geschrei, aber auch keine Kompromisse.

Louisa legt den Finger ans Kinn. »Ich überlege gerade … War da nicht noch eine zickige Tochter vom Maestro, die nicht mit auf das Bild in der Speisekarte des Gourmettempels wollte?«

»Haha, war klar, dass ich das irgendwann aufs Butterbrot geschmiert bekomme. Aber das ›Macis‹ ist ja schließlich nicht mein Restaurant, ich arbeite nur dort.« Ich lehne mich im Stuhl zurück. Natürlich erinnere ich mich, wie die beiden, Paps und Louisa, mich bekniet haben, mich mit ihm zusammen für die neue Speisekarte ablichten zu lassen.

»Eine gewisse Sonderrolle im Team kannst du dir nicht absprechen, oder?«, bohrt Louisa und versucht erst gar nicht, ihre Schadenfreude zu verbergen. »Oder würdest du sagen, dass euer Souchef oder irgendein Koch in eurer Küche einfach mal so ein paar Wochen nach Italien abdüsen könnte?«

Ich grinse. »Momentan schon. Wir haben so einen eklatanten Personalnotstand in unserer Branche, da kann man fast fordern, was man will, Hauptsache, man kommt wieder.«

»Aber nicht im ›Macis‹. Das kannst du deiner Großmutter erzählen. Ich bin sicher, dass sich die Köche darum reißen, bei Sascha Ritter arbeiten zu dürfen, einen besseren Karrierekick kannst du nicht kriegen.« Louisa lässt meine Ausreden eindeutig nicht gelten.

»Ertappt«, gebe ich deshalb zu, ohne lange nach weiteren Ausreden zu suchen. »Außerdem muss man Paps wirklich für das Betriebsklima in seinem Restaurant loben. Da wird jeder wertgeschätzt, er ist kein Choleriker und sehr gerecht – was seine Angestellten schätzen. Dass er auch bei mir keine Ausnahme macht, finde ich sehr angenehm. Und deshalb wollte ich auch nicht mit Paps auf das Foto, sondern nur aufs Team-Bild.«

»Verstehe ich. Du willst dich nicht mit Saschas Lorbeeren schmücken, und dein Paps wirft einen großen Schatten.«

»Eben.«

»Lass dich nur nicht davon erdrücken«, rät Louisa.

»Keine Sorge, ich weiß, was ich wert bin, und manchmal schlüpfe ich ganz gerne in diesen Schatten. Im Rampenlicht zu stehen, ist nicht so meins.«

»Du hältst dich aber nicht immer im Hintergrund.«

»Was meinst du?«

»Na, deine detektivischen Einsätze.«

»Ach so«, winke ich ab, »Zufälle. Und da stehe ich nicht im Vordergrund, sondern unterstütze nur. Das ist was ganz anderes.«

»Okay, ich bin jedenfalls froh, dass du jetzt erst mal mich unterstützt.«

»Erzähl ein bisschen genauer«, hake ich ein. »Worum geht es bei diesem Auftrag denn genau?«

»Signor Caravalli, der ›Principe‹, hat in Gardone, Richtung Fasano, ein ehemals feudales Hotel gekauft. Das Anwesen liegt direkt am See und stand seit fast zehn Jahren leer. Er hat alles saniert und will das Hotel bald in neuem Glanz eröffnen. Und ich soll einen Prospekt dafür konzipieren.«

»Ist dieser Principe adelig?«

Louisa schüttelt den Kopf. »Nein, Signor Caravalli hat zwar ein fürstliches Erscheinungsbild und ist auch fürstlich reich, dennoch fließt kein blaues Blut in seinen Adern, soviel ich weiß. Irgendwann ist der Spitzname ›Principe‹ an ihm hängen geblieben. Und er passt irgendwie zu ihm.«

»Warum eröffnet er das Hotel erst jetzt? Gegen Ende der Saison?«

»Das war so nicht geplant, aber es gab immer wieder Verzögerungen bei den Umbauarbeiten. Rein vom Geld her ist das kein Problem für ihn, aber er ist alt und ein bisschen ungeduldig und will das Hotel unbedingt dieses Jahr noch eröffnen. Es ist sein Lebenstraum, sagt er, und es muss perfekt sein. Ein Treffpunkt für illustre Gäste, Prominente, Politiker, Leute, die in der Öffentlichkeit stehen und für ein paar Tage die Annehmlichkeit genießen wollen, nicht von der Presse belästigt zu werden. Ein nobler Rückzugsort mit großer Anlage und der Möglichkeit zu Privatterminen zum Beispiel im Botanischen Garten, dem Heller-Garten, oder dem Vittoriale degli Italiani … Er ist ein bisschen schrullig, aber nett.«

Louisa scheint echt begeistert von Signor Caravalli zu sein. Ihre Beschreibung erinnert mich an Paps. Exzentrisch und trotzdem sympathisch. »Und du sollst für diesen Luxusort einen Prospekt kreieren? Ist das nicht ein bisschen spät? Wenn er nächsten Monat eröffnen will, muss er doch schon längst die Werbemaschinerie angeworfen haben.«

»Natürlich hat der Principe einen Prospekt. Hier, schau, er hat mir einen überlassen, damit ich weiß, wie es nicht werden soll. Ich soll eine zusätzliche Luxusausgabe entwerfen, weniger Werbung, mehr Fotografie und Kunst.«

Ich blättere im Hochglanzprospekt und staune. »Und das ist ihm nicht gut genug? Na, dann viel Vergnügen. Was willst du da noch toppen?«, frage ich.

Louisa lacht, an Selbstbewusstsein fehlt es ihr anscheinend nicht. »Das stimmt so nicht ganz. Der Principe ist ja grundsätzlich mit dem Prospekt zufrieden, aber er will mit dem Kunstprospekt noch eins draufsetzen. Ich hatte eine Fotoausstellung bei einem Bildhauer, der auch für andere Künstler Ausstellungen ausrichtet. Frederico hat mir den Kontakt vermittelt. Die Presseberichte waren geradezu enthusiastisch. Tja, was soll ich sagen, der Principe hat die Ausstellung gesehen und entschieden, dass er einen zusätzlichen Foto-Art-Prospekt für sein Hotel will. Exklusiver, persönlicher, kunstvoll, einzigartig. Und ich muss zugeben, seine Vorstellungen sind wirklich nicht übel.«

Louisa geht mit mir den aktuellen Prospekt durch und erklärt mir die Unterschiede, die sie in ihrer Kunstausgabe herausarbeiten soll. Und da komme ich ins Spiel. »Ein Lieblingsmotiv von mir sind ja Speisen. Food-Fotografie. Du kochst, wir präsentieren das Essen optimal, richten es als Kunstwerk an, beleuchten es richtig, und schon ist das Bild im Kasten. Natürlich alles im Kontext von Luxus, Exklusivität und der einzigartigen Location des Hotels. Wenige Worte, viele Bilder, die die Sinne ansprechen.« Louisa strahlt mich an, gespannt, wann die Begeisterung endlich auf mich überschwappt.

»Keine Frage, eine tolle Herausforderung für dich als Künstlerin. Und eine Ehre. Aber wie soll das ablaufen, und wo? Kochen, anrichten – alles in deiner Küche?«

»Nein, wir dürfen die Hotelküche benutzen. Die ist ja schon fertig. Die Zimmer ebenfalls. Es soll auch eine kleine Foto-Lovestory geben – Frederico sträubt sich noch als Model.«

»Das meinst du aber nicht ernst? Erst Darsteller einer Lovestory im Hotelprospekt, dann wieder Pizzabäcker im Ort. Das ist ja echt peinlich!« Ich lache mich kaputt. »Der Spott seiner Freunde wäre ihm bestimmt gewiss.«

Jetzt muss auch Louisa lachen. »Da hast du recht. Vielleicht kann ich einen seiner Freunde ködern. Geld zieht immer. Und meine Gage gibt mir genügend Spielraum.«

Ich horche auf. »Wieso? Wie viel kriegst du denn?«

Die Antwort lässt mich nach Luft schnappen.

»Dein Selbstvertrauen möchte ich haben«, sage ich beeindruckt. Die ruhige Louisa hat offenbar weder Scheu noch Berührungsängste, was den Geldadel angeht, und genug Vertrauen in ihr eigenes Können und künstlerisches Talent, um unbekümmert und mit Begeisterung an diese Aufgabe heranzugehen und dafür eine fürstliche Summe zu kassieren. »Da kannst du nicht ablehnen, klar, aber das baut schon Druck auf. Also, mich würde das ziemlich nervös machen.«

»Quatsch, Doro, wenn bei dir ein Promi im Lokal sitzt, dann ist das doch höchstens eine Herausforderung, oder?«

»Wenn du es so siehst …«

»Klar, nur so. Wenn es dem Principe gefällt, ist das gute Werbung für mich. Außerdem möchte er Fotokunst im Haus ausstellen. Das wird natürlich extra bezahlt.«

»Wow, der Wahnsinn. Die Bilder werden von allen Gästen gesehen, und die sind zahlungskräftig. Da kann sich interessantes Klientel für dich auftun.« Louisa winkt ab, doch ich bin nicht mehr zu bremsen. »Du könntest den Principe höchstselbst als perfekten Gastgeber und galanten Frauenverehrer darstellen, beim Salonkonzert oder einer musikalischen Soiree im Garten, genauso wie beim Golfen mit den illustren Ehegatten.«

In der Folge übertrumpfen wir uns mit kreativen Ideen, ich erzähle weiter von meinem Kochbuchprojekt, denn auch dafür können wir die Hotelküche nutzen. Wie schon gesagt, wir schwimmen auf einer Wellenlänge. Louisa erklärt mir akribisch, wie sie die Speisen für die Fotos zur Geltung bringen wird, mit Hilfsmitteln, Tricks und der optimalen Beleuchtung.

»Sag mal, Lou, Themawechsel – warum wohnt Frederico eigentlich nicht bei dir, so verknallt, wie ihr ja offensichtlich seid?« Diese Frage treibt mich schon die ganze Zeit um. »Oder hat er selber ein Haus?«

»Nein, hat er nicht. Und ja, wir haben darüber gesprochen, wie es wäre, zusammenzuziehen. Aber es gibt einen Haken.«

»Der da wäre?«, frage ich neugierig.

»Frederico wohnt zur Miete bei Signora Rossi in deren Haus, gar nicht weit von hier, nur ein Stück die Straße rauf. Die beiden haben sich gesucht und gefunden. Sie hatte nie einen Sohn, er nie eine richtige Mutter. Die beiden mögen sich wirklich, und das ist der Haken.« Louisa zuckt mit den Schultern. »Ich meine das nicht böse, die Signora ist schon weit über 70 und nicht mehr gut zu Fuß. Frederico will sie in dem Haus nicht allein lassen, sie brauche ihn, wie er sagt. Dagegen komme ich nicht an.« Louisa seufzt ein wenig.

»Hm, ich finde das ausgesprochen nett und verantwortungsvoll von Frederico. Und dass du zu ihm ziehst, ist keine Option?«

Louisa schaut mich an. Offensichtlich sucht sie nach den richtigen Worten. »Tja«, fängt sie an, »das hat die Signora tatsächlich angeboten, aber das kommt für mich nicht infrage. Das ist mir zu eng. Psychisch und physisch. Bei meinem Job als Fotografin brauche ich Platz, ich will mich ausbreiten können, ohne jemanden um Erlaubnis fragen zu müssen, verstehst du? Ich habe schon viel zu lange bei meinen Eltern gewohnt, und jetzt, hier in dem Haus meiner Oma, sehe ich, wie super es ist, endlich frei zu sein. Selber Verantwortung zu übernehmen und so weiter. Mit Frederico zusammen, das wäre toll, aber bitte nicht im Doppelpack mit seiner Ersatzmama, dann lassen wir es lieber so, wie es ist.«

»Okay, das verstehe ich. Aber wenn er zu dir ziehen würde, wärt ihr doch nicht weit weg von ihr, er könnte jeden Tag nach ihr schauen. Ich meine, irgendwann packen alle Kinder ihre Sachen und leben ihr eigenes Leben, oder?«

»Lass gut sein, Doro, das passt schon so. Frederico und ich sind uns einig. Jeder akzeptiert die Entscheidung des anderen, und alles Weitere wird die Zeit zeigen.«

Ich nicke stumm. Das kann ich gut nachvollziehen. Ich bin ja berufsbedingt sehr eng mit Paps verbandelt, und wir sind in der Küche ein Top-Team, aber jeder lebt sein eigenes Leben und mischt sich nicht in die Angelegenheiten des anderen ein. Wenn man zusammenwohnt, ist das viel schwieriger.

»Weißt du«, erzählt Louisa weiter, »Bruna und ihr Haus sind für Frederico Familie und Zuhause, etwas, das er nie hatte und sich immer gewünscht hat. Und jetzt Prost, Doro, ich finde es wunderbar, dass du hier bist und mir mit den Fotomotiven hilfst! Genießen wir die Zeit. Cin cin!« Sie hebt das Wasserglas und die Sonne lässt die grünen und gelben Zitrusfrüchte leuchten.

»Cin cin«, proste ich ihr zu, und die Reste der Eiswürfel klirren leise in den Gläsern.

Kapitel 2

Alla fine del giorno – Am Ende des Tages

Lunedì (Montag) – Tag 1 in Gardone

»Ich bin echt gespannt auf Frederico. Wann gehen wir denn ins ›Bellini‹?«

»Erst abends, um acht, Frederico muss bis halb elf arbeiten, dann schließt die Küche.«

»Hat er am Nachmittag vielleicht Zeit für einen Kaffee?«

Louisa lacht auf. »Du bist gut, Frederico fängt mittags an. Was meinst du, wie sich die Gäste beschweren würden, wenn sie erst abends Pizza bekämen?«

»Ich dachte, das ›Bellini‹ macht erst am späten Nachmittag auf, aber ist ja klar, dass das in der Saison keine Option ist. Ich hätte eben nicht so lange schlafen dürfen, jetzt muss ich mich bis zum Abend gedulden.«

»Das hätte auch nicht viel genützt, Frederico dreht vor der Arbeit immer noch eine Runde mit dem Fahrrad oder rennt den Berg hoch und wieder runter, das brauche er zum Ausgleich, sagt er.« Die Art, wie Louisa das betont, macht deutlich, dass ihr nichts ferner läge, als ihn jemals dabei zu begleiten.

»Bei der Hitze?«, frage ich, weil es mir genauso geht.

»Ja, irre, nicht wahr?«

»Absolut!« Dann muss ich lachen. »Ich gebe zu, dass ich solche Aktionen durchaus auch schon gebracht habe, und gerade zu unserer Anfangszeit hat Vinc manchmal sehr an meinem Verstand oder zumindest an meiner Vernunft gezweifelt.« Ich muss noch mehr lachen. »Ich befürchte, das tut er immer noch ab und zu.«

»Du bist unmöglich, Doro, der arme Vinc. Aber jetzt zum Tagesplan: Wir machen uns einen faulen Nachmittag am Pool, dann führe ich dich ein bisschen herum, damit du dich hier akklimatisierst, d’accordo?«

»Sì, perfetto, amica mia. Du bist heute die Zeitmanagerin.«

Nach einem entspannten Nachmittag machen wir uns auf den Weg. Zu unserem Zielführt ein Sträßchen steil hinauf, in den höher gelegenen Ortsteil Gardone Sopra, zur Piazza dei Caduti. Dort liegt in bester Gesellschaft einiger anderer Lokalitäten das ›Bellini‹. Alles ist voll, ohne Reservierung ist es in der Hauptsaison riskant, auf einen Tisch zu hoffen.

»Erst mal darfst du ein paar geniale Ausblicke genießen«, bestimmt Louisa. Sie führt mich über den Platz zur dem heiligen Nikolaus geweihten Kirche. Sie wurde direkt an den Rand der Anhöhe gebaut, und ich bin voller Vorfreude auf den Ausblick von dort oben. Obwohl mich ehrlich gesagt die Aussicht auf Frederico viel mehr interessiert.

Neugieriges Weib, tadle ich mich in Gedanken und folge Louisa zur Kirche. Ich bin sofort vom Bild des Gardasees, der Häuser, Villen und der Vegetation weit unter uns gefangen. Ein schmaler Gang führt rund um die chiesa parrocchiale. Panoramaausblick pur.

Ganz Fremdenführerin gibt mir Louisa einen Überblick. »Linker Hand befindet sich der Vittoriale degli Italiani, der ehemalige Wohnsitz des hier verehrten Dichters Gabriele D’Annunzio.«

»Den habe ich heute schon kennengelernt«, werfe ich ein.

Louisa runzelt die Stirn. »Cosa? Che dici?«, fragt sie verwirrt.

»Heute früh, unten an der Promenade. War aber nicht sehr gesprächig, der Herr.«

Es dauert einige Sekunden, dann macht es klick. »Ach, du meinst die Bronze des Dichters am Lungolago!«

»Genau. Er hat sich eindeutig besonders schöne Plätze zum Verweilen ausgesucht.«

»Verweilen ist gut«, Louisa schmunzelt und zeigt zum höchsten Punkt des Vittoriale. »Da oben ist sein Mausoleum, da liegen die sterblichen Überreste des Künstlers und einiger seiner Weggefährten. Außerdem ein Kriegsmuseum, ein halbes Kriegsschiff, ein kleines Amphitheater, und gleich hier beim Eingang, das war sein Wohnbereich. Können wir gerne mal besichtigen, aber das hat Zeit, du bist ja noch länger hier.«

»Gehört das blaue Pferd auch dazu?« Die mehrere Meter hohe blaue Skulptur ist nicht zu übersehen. Sie ragt in den Himmel, aufrecht und stolz, prägt die Skyline, genauso wie die Pinien, die kerzengeraden dunkelgrünen Wächter des Orts und der Landschaft.

»Ja«, sagt Louisa und zieht mich ein Stück weiter. »Aber schau, da vorne im See … Siehst du die Insel? Das ist die Isola del Garda. Sehr bekannt und mondän, kommt auf jeden Fall in den Hotelprospekt.«

»Wun–der–bar«, schwärme ich und meine allgemein alles hier, insbesondere diese gigantischen Ausblicke.

Wir beenden die Besichtigung an den Fresken, die direkt vor dem alten Campanile der Kirche eindrucksvoll den Leidensweg Christi darstellen. »Das reicht für den Anfang und den ersten Überblick«, befindet Louisa, »ich würde vorschlagen, wir gehen rüber ins ›Bellini‹.«

»Gute Idee.«

»Ich merke schon, dass es dich ins ›Bellini‹ treibt, und das sicher nicht nur wegen des guten Essens.«

»Durchschaut«, gebe ich grinsend zu, »zumal du das mit dem Essen heute ziemlich spannend gemacht hast.«

»Echt?«, tut Louisa unschuldig. »Jetzt komm und lass dich einfach überraschen.«

Das muss sie mir nicht zweimal sagen. Wir überqueren den Platz und betreten den Gartenbereich der Pizzeria.

»Ciao, Franco.« Louisa grüßt einen vorbeieilenden Kellner, der mehrere Teller zu einem bedenklich windschiefen Turm auf dem Arm gestapelt hat.

»Ciao, Louisa!«, ruft er über die Schulter zurück.

Ich linse neugierig an Louisa vorbei in den Gastraum. »Wo ist denn dein Traummann?«, frage ich sie. »Ich dachte, er ist der Pizzabäcker hier?« Der Pizzaofen ist eindeutig der Mittelpunkt des Raumes, aber dort herrscht momentan gähnende Leere.

»Ist er ja auch«, entgegnet Louisa, »aber ich habe schon von draußen gesehen, dass er nicht an seinem Platz ist, also gibt es zwei Möglichkeiten, Klo oder Küche.«

»So genau wollte ich es eigentlich gar nicht wissen«, winke ich ab.

In diesem Moment kommt uns ein großer, stämmiger Typ aus der Küche entgegen, ein zierliches Tablett auf dem Handballen balancierend, bestückt mit drei schmalen Sektgläsern, in denen eine zartrosa Flüssigkeit schimmert. Drei Bellini im ›Bellini‹.

»Amore!«, ruft er mit einer tiefen Stimme, deren Bass mir unter die Haut geht, »ich habe euch schon über den Platz flanieren sehen und mir gedacht, dass es nicht lange dauern wird, bis ihr hier seid. Ecco, ich habe etwas für euch vorbereitet.«

Das ist er also, Frederico Piotti, der Mann, den Louisa hier kennen- und lieben gelernt hat, und dessentwegen sie seit einem Jahr am Gardasee lebt. Er stellt das kleine Tablett auf die Theke, umarmt Louisa stürmisch und küsst sie. Dann bin ich dran, nicht mit dem Küssen, aber mit seiner Aufmerksamkeit. »Allora, du bist also Louisas berühmte Freundin«, stellt er fest und wir mustern uns gegenseitig.

Ich strecke ihm den Handrücken zum Handkuss hin und für den Bruchteil einer Sekunde ist er irritiert. Dann lachen wir beide. »Berühmt nicht, aber Freundin ja«, sage ich. »Doro, freut mich.«

»Frederico. Die Freude ist ganz meinerseits.« Jetzt gibt es doch noch eine Umarmung und Küsschen auf die Wangen, dann reicht er uns die Gläser vom Tablett und wir stoßen an. »Euer Tisch draußen ist leider noch nicht frei, aber ihr könnt euch da vorne hinsetzen, gleich neben der Tür. Was meint ihr?«

»Wunderbar«, sagt Louisa.

Ich finde das auch, draußen ist es fast noch zu heiß, und hier können wir nebenbei ein bisschen mit Frederico reden. Der hat alle Hände voll zu tun. Wir nippen an unseren Bellinis, der süße Pfirsichgeschmack mit dem eiskalten Prosecco ist schon mal ein sehr guter Anfang.

»Und? Was sagst du?«

Klar, Louisa will wissen, wie Frederico bei mir angekommen ist. Ich hebe den Daumen. »Perfetto!«

Das Objekt unserer Unterhaltung winkt uns zu und sieht aus, als wüsste er genau, worüber wir reden. Na gut, dazu muss Frederico kein Hellseher sein. Ich hebe den Daumen auch in seine Richtung, und er verneigt sich spöttisch.

»Passt«, stelle ich fest, »meinen Segen hast du.«

»Da bin ich aber froh«, feixt Louisa. »Ehrlich, Doro, dieser Mann ist so lieb und so … Ach, er ist einfach ein Schnuckelchen.«

»Wohl eher ein Schnuck«, berichtige ich trocken, »die Verniedlichungsform passt für diesen Kerl nun wirklich nicht.«

Louisa kichert. »Egal, er ist jedenfalls mein Traumprinz!«

»Dann halt ihn fest, manche müssen dafür viele Frösche küssen. Okay, ist vielleicht etwas ungünstig, dass Frederico in Italien lebt, aber andererseits bist du ja Halbitalienerin, und es gibt wahrlich schwierigere Konstellationen.«

Louisa nickt. »Ich lebe gerne hier, und meine Arbeit ist ortsunabhängig. Und München ist ja nicht so weit weg.«

Ich schlürfe den letzten Rest Bellini aus dem Glas. »Schmeckt nach mehr.«

»Ist die Spezialität des Hauses. Jeder Gast bekommt ein kleines Glas als Aperitif. Magst du noch einen?«

Ich lehne lachend ab. »Nein danke, so war das nicht gemeint, der Abend ist noch länger, lassen wir es lieber langsam angehen.«

Louisas Schnuckelchen setzt sich kurz zu uns. Mein erster Eindruck bleibt bestehen: Er ist ein netter Kerl.

»Hast du den Blumenstrauß schon verdaut?«, fragt Louisa und zupft liebevoll an den Haaren in seinem Nacken.

Frederico legt die Stirn in Falten. »Dieser widerliche Schleimer«, er seufzt. »Hat Louisa dir von Natale erzählt?«, fragt er mich.

»Nicht wirklich. Ich kam gerade auf die Terrasse, als ihr telefoniert habt. Wer ist Natale? Du scheinst ihn nicht zu mögen.«

Frederico schüttelt den Kopf. »Heute ganz in der Früh ist dieser Mistkerl schon wieder bei Bruna aufgetaucht. Bruna Rossi ist meine Vermieterin. Natale …« Er stößt angewidert die Luft aus. »Er hat einen riesigen Blumenstrauß mitgebracht und mordsmäßig bei ihr herumgeschleimt. Als gäbe es etwas zu feiern. Dann ist er wieder abgezogen. Er ist bestimmt mit Absicht so früh gekommen, weil er weiß, dass ich um diese Zeit meistens ein Tässchen caffè mit Bruna trinke und mich das ärgert, wenn er sich dazugesellt, als wäre er Brunas Familie.«

»Wieso? Wie kommt er darauf?«

»Natale ist Brunas Neffe«, klärt mich Louisa auf. »Er ist vor Kurzem hier aufgetaucht und kümmert sich jetzt um seine Tante.« Sie malt mit den Fingern imaginäre Anführungszeichen in die Luft.

Frederico setzt sich kerzengerade auf und schnappt nach Luft. Sein Gesicht läuft rot an, an seiner Stirn pulsiert eine zornige Ader. Eine bedrohliche Erscheinung, denke ich, und auch, dass ich bei Frederico lieber nicht in Ungnade fallen möchte. Dann sackt er in sich zusammen. Er stützt sein Kinn in die Hände und seufzt. »Sì, certo, amore, du hast recht. Der Typ ist mir ja auch völlig schnuppe, aber Bruna regt sich halt immer so auf, und das will ich nicht. Wenn er es wenigstens ehrlich mit ihr meinen würde … Ich bin ja wirklich nicht mit ihr verwandt, und er ist immerhin ihr Neffe. Ich könnte schon verstehen, wenn sie sich über richtige Familie freut.«

»Frederico, hör auf! Du bist für Bruna doch längst Familie. Also, mach dich jetzt nicht verrückt!« Louisa schaut ihm beschwörend in die Augen.

Frederico schweigt, dann wischt er sich übers Gesicht. »Ich weiß nicht, warum ich mich immer so aufrege, der Typ ist es nicht wert. Und deshalb wenden wir uns jetzt den wichtigen Dingen des Lebens zu, dem Essen.« Er lächelt mich an. »Gibt es irgendetwas, was du gar nicht magst? Oder wogegen du allergisch bist? Ernährst du dich vegetarisch? Vegan?« Frederico fragt das völlig neutral, offensichtlich hat er mit keinerlei Neigung ein Problem. »Weißt du, eine sorpresa ist gut, aber es soll schließlich keine böse Überraschung werden.«

»Sehr diplomatisch. Spart ’ne Menge Ärger, stimmt’s?«, sage ich, denn ich kenne die Trends der Zeit, und keiner weiß besser als ich, wie anspruchsvoll die Gäste oft sind.

Frederico nickt. »Das kannst du glauben!«

»Grünes Licht meinerseits, keine Einschränkungen. Oder doch, es muss nicht unbedingt Trüffel sein. Obwohl wir uns gerade anfreunden, der Trüffel und ich.«

»D’accordo, dann gehe ich und zaubere eure Pizzen.« Damit verzieht er sich zum Holzofen, um seine berühmt-berüchtigte Calzone misterioso für uns zuzubereiten. Auf der Speisekarte stehen diverse Zusatzbezeichnungen dabei, die zumindest vermuten lassen, wohin die Reise geht, sprich Fisch, Wurst oder Gemüse. Man kann sich aber nie darauf verlassen, dieselbe Calzone pesce zu bekommen wie beim letzten Mal, denn der Oberbegriff lautet immer »sorpresa« oder »misterioso«, und das ist genau das, was die Gäste lieben.

Wir stellen uns auf eine längere Wartezeit ein, denn kurz vor uns sind zwei angekündigte Gruppen eingetroffen, die erst noch bedient werden wollen. Kein Problem, wir haben uns viel zu erzählen. Außerdem bleiben wir nicht lange allein, ein paar Freunde von Frederico gesellen sich zu uns. Louisa stellt uns vor.

»Das hier ist Fausto Piasini, er arbeitet in der hiesigen Tabaccheria.«

»Bei uns bekommst du alles außer Lebensmitteln und Haushaltswaren«, konkretisiert Fausto mit einem Augenzwinkern.

Louisa macht weiter. »Berto Marchetto, von Beruf Krankenpfleger, Tommaso Fassi, seinen Eltern gehört ein kleiner Laden unten im Ort, am Corso della Repubblica, Cleto Farese hat einen Obst- und Gemüsestand auf den Märkten, und Pascale Catullo ist freier Journalist für diverse Gardasee-Blätter.« Eine fröhliche, lautstarke Truppe, die wohl schon irgendwo beim Vorglühen gewesen ist. Jeder grinst besonders breit, wenn er vorgestellt wird, jeder auf seine Weise. Pascale und Cleto lächeln höflich, die beiden sind die ruhigen, zurückhaltenden Jungs, Tommaso, der Schönling, lächelt maliziös, Fausto und Berto sind die beiden Witzigen, die sich die Bälle gekonnt zuspielen. Berto packt dann seinen Trumpf aus – er lädt uns für morgen zu einer Tour mit seinem Motorboot ein, was sofort den Spott der anderen hervorruft, von wegen Frauen aufreißen und so. Aber die Situation ist nicht peinlich, ganz im Gegenteil, Berto greift das Stichwort auf: »Wir zwei könnten aber auch heute schon eine kleine Spritztour unternehmen«, schlägt er vor und blinzelt mir zu.

»Mi dispiace, Berto, ich bin schwer verliebt. Vinc, mein Freund, hat sich gerade ein Motorrad bestellt und kommt demnächst damit nach. Vorteil für mich, ich konnte mit unserem Corsa hierherfahren.« Damit sind die Verhältnisse geklärt und das schadet nie, finde ich.

Ich werfe Berto ein Flugküsschen zu.

Der lacht, spielt den Enttäuschten, und alle amüsieren sich über die nicht ganz ernst gemeinte Plänkelei.

Unsere Calzone kommt, der Maestro, sprich Frederico, vertreibt die Meute und fordert hundertprozentige Aufmerksamkeit für seine Kochkunst. Ich bin echt gespannt und hoffe, dass er mich nicht mit »extrem scharf« oder wildem Durcheinander im Inneren der Teigtasche überraschen wird.

»Buon appetito.« Frederico eilt zurück zum Pizzaofen. Während er weiter Pizzateig in die Luft wirft und Belag darauf verteilt, beobachtet er meine Reaktion. Erst mal bewundere ich das Kunstwerk von außen. Dann tippe ich mit dem Finger an die Teighülle – sieht nicht nur knusprig aus, sondern ist auch richtig kross. Ein Klecks Tomatensoße läuft dekorativ über die hintere Ecke der Calzone, deren Form an eine Fischflosse erinnert. Lässt auf jeden Fall eine gewisse Richtung erahnen. Ein Kugelfisch mit überraschender Füllung? Na ja, solange er mir nicht nach Leib und Leben trachtet … Beherzt steche ich mit der Gabel in die aufgewölbte Teighülle, säble die Ecke ab und schiebe sie mir in den Mund. Schmeckt schon mal vielversprechend und in der Kombination aus Teig und Tomatensoße nach Pizzabrot. Die zweite Portion enthält dann die Füllung. Rein optisch erkenne ich dunkelgrüne Fäden, cremige gelbe Grundsubstanz und diverse Stücke, die – ich schnuppere daran – nach Fisch duften. Neugierig schiebe ich ein solches Stück in den Mund. Louisa vergisst vor gespanntem Beobachten, selber zu essen. Ich kaue genüsslich. Von der Konsistenz her könnte es Thunfisch sein. Ja genau, das ist Thunfisch, auf jeden Fall, und der salzige Geschmack der grünen Fäden verrät die Meeresalgen. Außerdem identifiziere ich Krabben. Dazu Knoblauch und Ricotta, gebunden wird das Ganze vermutlich durch ein Ei. Ich schiebe eine zweite Gabel nach.

»Und? Was sagst du? Schmeckt es dir?« Louisa hält es nicht mehr aus, sie will jetzt endlich den Lobgesang auf ihren Frederico hören.

»Mmh, rich-tig gut!« Und das meine ich ehrlich.

Ein winziges Krümelchen hat sich zwischen meine Zähne geschoben, ich beiße darauf, fühle und schmecke mit der Zunge das Aroma von Zimt, Nelken, Muskat und Pfeffer – ist anscheinend ein grob gemörsertes Pimentkörnchen. Und nicht zu wenig Knoblauch. Ein bisschen Füllung quillt heraus. »Schlau gemacht, schönes, sattes Safrangelb und diese grünen Algenfäden … Dadurch sieht die Masse appetitlich aus.«

Erfreut über mein Urteil schneidet Louisa ihre Calzone endlich an. Frederico hat uns vorhin noch einen Vino bianco frizzante della casa gebracht und natürlich eine Flasche Wasser. Wir genießen in aller Ruhe unsere Überraschungstasche und lehnen uns anschließend zufrieden zurück.

Frederico kommt rüber. Zeit, seine Kreation ausgiebig zu loben, wobei ich ihn damit beeindrucke, dass ich die Gewürze allesamt herausgeschmeckt habe.

»Als Dessert Käse, Tiramisu, Torta al limone? Oder lieber einen Grappa?«, fragt er.

»Per me solo un caffè, per favore«, japse ich übersättigt.

Frederico grinst. Er weiß genau, dass diese Monsterpizza kaum zu bewältigen war, und ich habe den Verdacht, dass er sie mindestens zehn Prozent größer gemacht hat als üblich.

»Wenn ich hier fertig bin, können wir noch zu mir gehen, Bruna ist schon sehr neugierig auf dich, Doro. Sie ist gesellig und freut sich immer, wenn sie neue Leute kennenlernt. Ist das okay für euch?«

Louisa wirft mir einen fragenden Blick zu.

»Sì, certo, von mir aus sehr gerne. Wann hast du Feierabend?«, frage ich.

»Um halb elf mache ich den Ofen dicht, so um elf kann ich gehen. Bleibt ihr so lange hier sitzen?«

»Was meinst du, Lou? Ich würde gerne ein bisschen laufen, nicht weit, nur hier im Umkreis. Ich bin total voll und brauche Bewegung«, stöhne ich und streiche mir über den Bauch.

Louisa ist einverstanden, wir trinken den Wein aus, der Espresso sorgt für neue Energie. Ein genussträchtiger Abend, stelle ich für mich fest und bin froh, nicht jede Kalorie zählen zu müssen.

Auf dem Platz vor der Kirche treffen wir auf Berto, Fausto, Tommaso, Cleto, Pascale und noch ein paar andere Jungs. Berto drängelt, dass wir noch mit ins »Alberto« kommen sollen. Musik, Tanzen und die Nacht genießen. Frederico könne ja nachkommen, meint er und grinst.

Ich winke ab. »Jungs, seid mir nicht böse, ich bin die Nacht durchgefahren und ehrlich gesagt ziemlich platt. Aber eine Bootsfahrt morgen oder in den nächsten Tagen, da sag ich nicht Nein.«

Berto zieht zwar einen Flunsch, zeigt sich dann aber versöhnlich. »Ich nehme dich beim Wort. Wir besorgen Boote für alle, die mitwollen, und dann zeigen wir dir die Gegend, d’accordo?«

Ich nicke lächelnd. »D’accordo.«

Endlich stürmt Frederico aus dem »Bellini« und zu uns herüber. Die anderen erzählen ihm von der Bar, Frederico hat aber keine Lust, außerdem warte Bruna, sagt er, und so verkrümeln sich die Jungs, und wir schlendern Richtung Via Trieste.

»Hört mal, was ich vorhin über Natale erzählt habe, das bleibt unter uns, okay?« Fredericos Stimme klingt besorgt.

Ich krame gerade in der Handtasche nach einem Taschentuch. »Mich geht das sowieso nichts an«, nuschle ich und niese bekräftigend dazu.

»Ich nehme mal an, du meinst vor allem Doro damit, weil ich mich grundsätzlich nie in die Angelegenheiten deiner Vermieterin einmische, das weißt du.« Louisa stellt das ohne beleidigten Unterton klar.

»Amore, das weiß ich, aber ich wollte es trotzdem erwähnen. Und jetzt kommt, wahrscheinlich sitzt Bruna noch in ihrem Fernsehsessel und verschläft gerade einen Film, während sie auf uns wartet. Die Aussicht auf ein Glas Rotwein in Gesellschaft hat sie bestimmt ausharren lassen.«

Louisa schlingt ihren Arm um Fredericos Hüften, er legt seinen um ihre Schultern. Neben den beiden komme ich mir mit meinen 1,75 Metern ungewohnt klein vor.

In bester Laune erreichen wir das Haus. »Da oben ist mein Reich«, Frederico deutet hoch zu der Mansarde, »inklusive Küche und Bad. Bruna bewohnt das Erdgeschoss und das erste Stockwerk, den Garten nutzen wir zusammen.« Er lotst uns ums Haus herum, durch den Garten, direkt auf die Terrasse. »Meistens ist hinten offen, und ich darf durch ihr Wohnzimmer gehen. Auch die Küche hier unten darf ich mitbenutzen.«

Ich lasse alles auf mich wirken. Das Grundstück liegt traumhaft und nur ein paar Häuser von Louisas Adresse entfernt, aber der Blick hier ist freier als von ihrem Garten aus. Man hat eine wunderbare Sicht auf den See, Mücken und Falter umschwirren die Lichter der Laternen, zwei Fledermäuse halten ihr Festmahl im Schein der Straßenbeleuchtung. Himmlische Ruhe. Louisa und ich warten schweigend auf Frederico, der in der Küche Wein und Gläser holt, außerdem will er nach Bruna schauen.