Pasta Criminale - Gudrun Grägel - E-Book

Pasta Criminale E-Book

Gudrun Grägel

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Beschreibung

Alles dreht sich um das Megaereignis in Valeggio sul Mincio und Borghetto am südlichen Gardasee. Die beiden Orte eint die gemeinsame Tradition des alljährlichen Tortellinifestes zu Ehren der berühmten Pasta. Das kulinarische Ereignis ist auch als Höhepunkt der TV-Reportage geplant, die Doro Ritter hier für ihren Vater, den bekannten Sterne- und Fernsehkoch, vorbereiten soll. Doch dann die Katastrophe: Ein Gast wird vergiftet. Zufall oder Sabotage?

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Gudrun Grägel

Pasta Criminale

Gardasee-Krimi

Zum Buch

Amore e Morte am Gardasee Doro hat das große Los gezogen. Ihr Vater schickt sie nach Valeggio sul Mincio am südlichen Gardasee, um für seine Fernsehreportage passende Orte, Rezepte und Geschichten aufzutun. Ihr Freund Vinc soll sie dabei unterstützen. Italien, bezahlter Urlaub – nichts wie los. Vor Ort sind Vinc und Doro dann die heimlichen Stars, jeder will von der Reportage profitieren.

Doch plötzlich herrscht Alarmzustand. Ein Tourist wurde vergiftet, und das kurz vor dem berühmten Tortellinifest auf der Ponte Visconteo. Polizei, Festkomitee und die gesamte Gastronomie sind geschockt und in heller Aufregung. Was und vor allem wer steckt dahinter? Top secret, sagt Valeria Malvaldi, zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit rund ums Fest und Besitzerin des bekanntesten Lokals vor Ort. Worte, die Doro hellhörig werden lassen.

Gewohnt unkonventionell nimmt die junge Köchin mit Kultcharakter ihre eigenen Ermittlungen auf.

Gudrun Grägel, 1964 in Augsburg geboren, lebt mit ihrer Familie im bayerisch-schwäbischen Königsbrunn. Das Schreiben ist längst zu ihrem zweiten Beruf geworden. Ihre Ausbildung auf dem Gebiet der Pädagogik/Psychologie und ihr pharmazeutischer Beruf liefern perfektes Hintergrundwissen für ihre Krimis. Motivation für ihre kulinarische Krimireihe ist die Liebe zu Italien, zu Land und Leuten und zu ihrer Protagonistin Doro Ritter, Köchin mit kriminalistischem Gespür, unerschütterlichem Optimismus, einer gehörigen Portion Impulsivität und ungebremster Neugierde. In „Pasta Criminale“ lässt die Autorin am südlichen Gardasee morden und ermitteln.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Susanne Tachlinski

Herstellung/Kartengestaltung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © NOLIMITPICTURES / istockphoto

ISBN 978-3-8392-7156-8

Widmung

Für Brigitte

Für Martin und Flo

Für Nadja Pasquali, Valeggio

Zitat

Der Tag ist so lang, das Nachdenken ungestört, und die herrlichen Bilder der Umwelt verdrängen keineswegs den poetischen Sinn, sie rufen ihn vielmehr, von Bewegung und freier Luft begleitet, nur desto schneller hervor.

(Goethe, Italienische Reise, September 1786)

Personen

Doro Ritter, 27 Jahre, begeisterte Köchin – und manchmal neugieriger, als für sie gesund ist

Vincent Wolkenberg, genannt Vinc, meist an Doros Seite

Sascha Ritter, Sterne- und Fernsehkoch mit Gourmettempel »Macis« in München

*

Stammtisch im »Il Mulino«, signori im besten Mannesalter, so um die 50:

Umberto Zanardini, Wirt des »Il Mulino«

Davide Renzi, Weingutbesitzer

Alfredo Corini, Apotheker

Renato Belotti, Carabiniere

Salvatore Lonati, Juwelier

Massimo Voltolini, Arzt

Angelo Serra, Koch

*

Rosalia Zanardini, Umbertos Frau

Erminia Fenucci, Rosalias Mutter

Ayna und Oumon, möchten in Italien ein neues Leben anfangen

Signora Lorana Renzi, Davide Renzis Mutter

Rocco Renzi, Davides Neffe

Evelina Bondi, wohnt in Valeggio

Das alte Ehepaar Facconi

*

Valeria Malvaldi, leitet das edle Familienristorante »La Rosa«in Valeggio sul Mincio

*

Filmteam:

Paul Mayerhöfer, Kamera

Basti Stegmann,Regie

Flo Kleinert,Ton

*

Rambo, in Abwesenheit: Doros dunkelgrau getigerter Kater, seines Zeichens Herrscher des Viktualienmarktes, der Küche des »Macis« und natürlich Chef von Vinc und Doros Wenigkeit

Pipo,in Anwesenheit: seines Zeichens Promenadenmischung. Sein Lieblingsmensch ist Umberto.

Karte

 

Prolog

Die Wellen schwappen leise gegen die bunt lackierten Holzplanken der Fischerboote, die im Wasser des alten Hafens schaukeln. Versonnen beobachten Menschen, die dicht gedrängt im Schatten der großen Schirme einer kleinen Bar sitzen, die gemächliche Beschaulichkeit. Dank dunkler Brillen vor der Helligkeit der Sonne geschützt, träumen sie sich mit dem Glitzern der Strahlen, die sich ihren Weg durch die kühlen gelben, orangen und roten Erfrischungen in eisbeschlagenen Gläsern brechen, in eine Oase aus sorgloser Zeit. Eine Möwe begleitet schreiend den Dampfer, der seine Passagiere über den Benaco schippert und jetzt am Pier anlegt. Eine Menschentraube ausspuckend – auf der Suche nach den vollkommenen Tagen.

Kapitel 1 Verde metallizzato e puzza di benzina – Grünmetallic und stinkt nach Benzin

Bella Italia, giugno – Italien, Juni

»Ciao, Greta.« Eine letzte Umarmung, dann steige ich in Vinc’ metallicgrünen Opel Corsa, Baujahr 1998, und ziehe die Tür mit Kraft zu. Will ja nicht, dass Vinc mich auf der Strecke verliert. Ich kurble das Fenster runter.

»War schön bei euch! Und danke für den Proviant.« Ich klopfe auf unser Brotzeitpaket. »Obwohl ich die nächsten zwei Tage nichts zu essen brauche. Ihr habt uns heute regelrecht gemästet.«

Greta lacht. »Hast du dir verdient, Doro. Du hast uns letztes Jahr gerettet, als unser Küchenchef ausgefallen ist. Und nicht nur in der Küche, du weißt schon.« Sie hat sich ans offene Fenster gelehnt.

»Dauert das noch länger?«, fragt Vinc. »Dann sollten wir vielleicht noch mal aussteigen.«

»Gib schon Ruhe, wir sind gleich fertig«, bremse ich seine Ungeduld.

»Vinc, du Armer«, zeigt Greta Mitgefühl, »hast kein leichtes Leben mit Doro.«

»Da sprichst du ein wahres Wort gelassen aus.«

»Hey! Vorsicht, ich sitze daneben.«

»Wie könnte ich das vergessen.« Vinc tätschelt liebevoll mein Knie.

Greta gibt das Fenster frei. »Ciao, ihr Lieben. Und Doro, keine Leichen, verstanden?«

»Großes Indianerehrenwort«, verspreche ich mit ernster Miene und hebe die Hand zum Schwur. »Ich werde nur Paps’ braves Töchterlein sein und die TV-Reportage vorbereiten, für den großen Maestro ›Sascha Ritter‹, seines Zeichens Sternekoch und berühmt im TV und in der Gourmetwelt.«

Greta klopft aufs Autodach und gibt somit das Startzeichen. Der Rest der Familie winkt und Vinc dreht den Zündschlüssel.

»War ein schöner Tag«, resümiere ich wehmütig.

»Ganz nach deinem Geschmack, nicht wahr?«

»Nur kein Neid, mein Schatz«, kontere ich und rekle mich im Beifahrersitz. Ich weiß, was Vinc meint. Der Besuch in Limone bei meiner Schulfreundin Greta und ihrem Mann Adriano samt familiärem Anhang war total Doro-lastig.

»Mal im Ernst, Vinc, ich glaub, die haben sich alle echt gefreut, dass wir den Abstecher nach Limone gemacht haben.«

»Stimmt. Du hast ihnen aber auch den Arsch gerettet. Wenn im Hotel in der Hauptsaison der Küchenchef ausfällt, läuft das unter Katastrophenalarm. Dass du die Küche dann letztes Jahr für den Rest der Saison gerockt hast, da darfst du dich guten Gewissens ein bisschen bauchpinseln lassen. Von deinen … wie soll ich’s nennen … kriminalistischen Einbringungen gar nicht zu reden.«

Ich werfe ihm ein Flugküsschen zu. »Danke für die Blumen. Kriminalistische Einbringungen, das hast du süß gesagt. Klingt manchmal ein bisschen anders bei dir, wenn du von meiner Spürnase sprichst.«

»Ehre, wem Ehre gebührt«, legt Vinc nach.

»Das wird ja heut ein Riesenblumenstrauß. Vorsicht, sonst bilde ich mir noch was drauf ein.«

»Schatz, wenn du eins nicht bist, dann eingebildet, da mache ich mir keine Sorgen.«

Das lasse ich mal kommentarlos wirken.

»Und denk an dein Versprechen.«

»Was meinst du?«

»Keine Leichen. Heißt im Klartext: Misch dich nicht in fremde Angelegenheiten.« Sagt’s und grinst unverschämt.

»Was denkst du von mir?«, frage ich empört und hebe dennoch als Zeichen meines guten Willens die Hand zum Schwur. Dass ich vorsichtshalber, nur für alle Fälle, die Finger der anderen Hand kreuze, muss er ja nicht wissen.

Draußen fliegt ein nächtliches Lichtermeer an uns vorbei, auf dem See blinken vereinzelt rote und grüne Markierungslichter der Fischerboote. »Sind bestimmt nicht nur Fischer unterwegs. Stell dir vor, wir beide in eine flauschige Decke gewickelt, auf einem sanft schaukelnden Boot, mitten auf dem Gardasee …«

»Tranige Decke trifft es auf so einem alten Kutter wohl besser, aber mit dir immer, Schatz.«

Ich verschränke die Hände im Nacken. Jetzt, am Abend, ist wenig Verkehr, da werden wir nicht zu spät ankommen. »Wir gönnen uns ein paar Urlaubstage auf Paps’ Kosten, danach nehmen wir die Recherche für seine Fernsehreportage in Angriff.«

»Mich drückt da sowieso kein schlechtes Gewissen«, erklärt Vinc. »Wenn der liebe Sascha seine Verwandtschaft für seine Prominenzauftritte einspannt, darf er gerne ein bisschen dafür zahlen. Trifft ja keinen Armen.«

»Genau, bezahlter Urlaub quasi. Und Paps ist keiner, der auf dem Geldsack hockt. Wichtig ist ihm nur, dass wir seinen Auftritt gut vorbereiten, damit er glänzen kann.«

Das ist nämlich der Grund unseres Aufenthalts hier in Italien. Genauer in Valeggio sul Mincio, nahe dem südlichen Gardasee. Wir logieren hier seit ein paar Tagen im »Il Mulino«, dem Hotel-Restaurant von Umberto und Rosalia Zanardini, sollen geeignete Orte mit Flair finden, Geschichten, Anekdoten und lauter solche Dinge auftun, mit denen mein Vater seinen Fernsehbeitrag würzen kann. Als bekannter TV- und Sternekoch hat er auch hier in Italien einen Namen, seine Kochsendung flimmert seit ein paar Monaten über die italienischen Bildschirme. Jetzt soll er fürs Bayerische Fernsehen eine Reportage über Land und Leute drehen, rund um’s Kulinarische natürlich.

»Weißt du, ich hab zwar die Leidenschaft und das Talent zum Kochen von Paps geerbt und Köchin ist mein absoluter Traumberuf, aber ich brauch keinen Stern. Ich arbeite total gern in seinem Gourmettempel in München, im ›Macis‹, ich mag Menschen und Kontakte, aber so eine Präsenz wie Paps – nee danke. Hintergrund ist mir da lieber«, lasse ich Vinc an meinen Gedanken teilhaben.

»Zum Glück.« Er wischt sich über die Stirn. »Hätte mir grade noch gefehlt, als Prinzgemahl der berühmten Doro Ritter hinterherdackeln zu dürfen.«

»Och …«, sage ich nur.

»Das würde dir so passen. Da hab ich andere Pläne.«

»Solange die mit mir zu tun haben.« Ich drücke seine Hand. Dann gähne ich lautstark.

»Mann, Doro«, beschwert sich Vinc, »hör auf damit, das ist ansteckend.«

»Sorry, Schatz, kommt nicht wieder vor. Aber die Fahrt von Limone nach Valeggio zieht sich echt ewig. Man umkurvt ja den halben Gardasee«, sage ich und kann grade noch einen weiteren Gähner unterdrücken. »Obwohl es ’ne total schöne Strecke ist. Und hat auch was, wenn’s dunkel ist.«

Vinc nickt und gönnt sich einen schnellen Seitenblick auf die Lichter der Orte entlang des Wassers. Und auf mich natürlich. Ich kraule seinen Nacken.

Eine Weile genießen wir schweigend die nächtliche Welt am See. Beleuchtete Städtchen, Menschen, die sich treiben lassen, sich langsam auf den Heimweg machen, der See mit seinen glitzernden Ufern und aufleuchtenden Wellenkämmen. Romantik pur.

Ist spät geworden, klar, wir wollten den Tag ausnutzen, aber egal, hat sich voll gelohnt.

»Was hat Katzenminze mit deinem Opel Corsa zu tun?«, frage ich, um meinem Schlafbedürfnis entgegenzuwirken.

Vinc schaut mich an wie ein Auto.

»Nase zur Straße«, empfehle ich gut gelaunt und setze mich ein wenig auf.

Was Vinc befolgt, ohne allerdings meine Frage zu beantworten.

»Ich sag es dir: die Farbe. Von den Blättern. Dieses Mintmetallic. Nur riechen tut er anders.«

»Sehr witzig. Ist mal wieder so ein typischer Doro-Vergleich.«

Stimmt, kann ich nicht widersprechen. Ich grinse zufrieden in mich hinein.

»Hörst du das?« Vinc lauscht mit geneigtem Kopf.

Ich hör nix. Außer der Stimme im Radio, die im Hintergrund von aktuellen Ereignissen in Italien berichtet. Ich glaube aber nicht, dass es das ist, was Vinc meint, denn sein Italienisch ist deutlich rudimentärer als meines und reicht nicht unbedingt für Nachrichten im Radio. Obwohl, er versteht mehr, als ich oft denke, bei ihm hapert es eher mit dem Sprechen. Da bin ich entschieden im Vorteil, denn mein sizilianischer Kollege in der Küche des »Macis« trainiert mich auf diesem Gebiet gnadenlos. »Was?«, frage ich deshalb.

»Der schnurrt wie dein Kater, wenn er ein Filetspitzlein ergattert hat.«

»Mein lieber Herr Wolkenberg, du willst doch nicht allen Ernstes dein zugegebenermaßen äußerst gut in Schuss gehaltenes Auto mit unserem filigranen Katerchen Rambo vergleichen«, rufe ich ehrlich empört. Na ja, so ganz ehrlich auch wieder nicht. Gute sieben Kilo Lebendgewicht sind alles andere als filigran.

»Du vergleichst ja auch Katzenminze mit diesem unübertrefflichen Mintmetallic. Und außerdem, werd du mal 140 Jahre alt«, kontert Vinc.

»140?« Ich steige gerade verständnismäßig aus.

»Ja, mal so in den Raum gestellt. Ein Hundejahr entspricht ja auch sieben Menschenjahren.«

»Hä? Was stellst du denn heute für Theorien auf?«, frage ich. Also bitte, von Auto zu Katze zu Hund – das sind gedankliche Quantensprünge, die normalerweise in mein Ressort fallen.

»Dieses Schmuckstück hier ist gute 20 Jahre alt, Opel Corsa B, Sonderedition, Baujahr 1998. Durch die überaus liebevolle und fachmännische Pflege meiner Vorbesitzer und meiner Wenigkeit steht er heute da, wie er dasteht.«

»Willst sagen: Läuft, wie er läuft.«

»Genau«, bestätigt Vinc.

Wenn’s um ’ne Frau ginge, müsste ich glatt eifersüchtig sein.

»Kannst du bitte einen anderen Sender einstellen?«, motzt er nach einer Weile.

»Scusa, amore mio, der Nachrichtensender ist perfekt, um mein Italienisch zu verbessern. Würde dir übrigens auch nicht schaden.«

»Hmm«, brummelt Vinc, dann lächelt er. Denkt wahrscheinlich das Gleiche wie ich.

»VHS, sage ich nur.«

Vinc nickt.

Vor drei Jahren haben wir uns kennengelernt. Volkshochschule Italienisch. War lustig. Und bei uns hat’s sofort gefunkt.

»Du warst schon damals ehrgeiziger als ich.«

»Stimmt. Was italienische Vokabeln angeht, auf jeden Fall. Du warst mehr auf die Eroberung einer äußerst charmanten Person fokussiert … Was ich neben Italienisch-Parlieren als sehr angenehm und zielführend empfand, muss ich zugeben.«

Ich lege meine Hand auf seine, die entspannt seitlich auf seinem Sitz liegt. Vinc hebt sie an und küsst meine Fingerspitzen. Ich lehne mich zurück, schließe die Augen … Ein Gähner entfleucht mir.

»Doro!« Vinc lässt meine Hand los.

Schuldbewusst setze ich mich auf. »Mi dispiace, amore mio.«

»Da nützt dir auch kein Italienisch mit bayerischem Akzent.«

Ich linse rüber. Tut es doch!

Vinc nimmt wieder meine Hand, küsst die restlichen Finger. »Für dich ist’s ja auch essenziell«, spinnt er seinen Faden weiter.

»Wie?«

»Italienisch sprechen, alles zu verstehen, sonst kommt dir noch was aus. Eigentlich hast du sowieso deinen Beruf verfehlt. Hättest zur Polizei gehen sollen. Oder Privatdetektivin werden.« Er grinst.

»Man kann nicht jedes Hobby zum Beruf machen«, sage ich gnädig, »und außerdem ist das keine Neugier, sondern ehrliches Interesse und Anteilnahme am Schicksal anderer Menschen.«

»Also …«

»Pst! Horch«, unterbreche ich ihn.

Der Sprecher berichtet von einem Unglück im Süden Italiens.

»Es geht um ein Ghetto für die Erntehelfer einer Tomatenplantage. In Apulien. Ein paar Baracken sind abgebrannt. Zwei Arbeiter sind gestorben. Ursache unbekannt. Sie vermuten eine durchgebrannte Leitung«, übersetze ich für Vinc.

»Hab schon so in etwa verstanden. Ist kein Wunder, dass da mal was passiert!«, regt Vinc sich auf. »Denk an die Unterkünfte dieser Arbeiter. Nicht nur in Italien, überall in Europa. Schau dir die Container bei uns in Deutschland an, in die Saisonarbeiter reingepresst werden. Oft unter aller Menschenwürde. Ab und zu wird mal darüber berichtet, meistens, wenn was passiert, eben so ein Brand oder ein Virus, der sich in diesen Verhältnissen den Bauch vollschlagen kann. Bringt ein bisschen Mitleid für ein oder zwei Tage, bis ein anderes Thema Schlagzeilen macht.«

»Da hast du leider recht. Das sind Bilder, die nichts zu tun haben mit Urlaub und Dolce Vita. Die niemand sehen will in diesem Land der Sonne, der Heiterkeit und des Weines. Zu Hause ’ne Reportage im Fernsehen, okay, auf dem Sofa mit einem Glas Wein in der Hand – aber bitte nicht im Urlaub. Das ist leider allzu menschlich.«

Wir seufzen unisono.

Vinc drückt den Sendersuchlauf. Oldies und harmonische Schlager verdrängen langsam meine düsteren Gedanken.

»Bitte nicht mitpfeifen«, stöhnt Vinc über meine etwas disharmonische musikalische Untermalung.

»Was willst du? Ist doch besser als Gähnen«, lasse ich seine Beschwerde an mir abprallen und pfeife weiter.

Mal sehen, was Greta uns eingepackt hat. »Hmmh! Sandwich mit Tomaten und frischen Kräutern. Lecker. Alles aus dem Garten. Mozzarella. Willst du mal abbeißen?«

Vinc schüttelt den Kopf. »Ich muss erst die legendäre Lasagne von Gretas Schwiegermutter verdauen. Wie kriegst du bloß schon wieder was in dich rein? Bei dem, was du isst, müsstest du kugelrund sein.«

Ich zucke mit den Schultern und schnuppere am aufgeklappten Sandwich. »Der Wahnsinn! Die Tomaten riechen wie Tomaten«, schwärme ich und beiße in das belegte Weißbrot. Ein Tomatenkern spritzt an die Frontscheibe.

Wir sind da. Vinc lenkt seinen Liebling auf den öffentlichen Parkplatz, schräg gegenüber vom »Il Mulino«. Wir schleichen uns durch den Hintereingang rein und hoch auf unser Zimmer. Heute haben wir keine Lust mehr auf den Stammtisch unten in der Osteria, in dessen Kreis wir inzwischen aufgenommen wurden. Seit wir vor ein paar Tagen angekommen sind, haben sich die Herren geradezu mit euphorischen Vorschlägen bezüglich geeigneter Kulissen und Geschichten für Paps’ Fernsehreportage überschlagen. Für Insidertipps natürlich eine ideale Informationsquelle. Wobei Paps und seine Bekanntheit keine unbedeutende Rolle spielen. Bis jetzt haben wir allerdings erst wenig Stoffsammlung betrieben und eher unsere eigenen Ziele verfolgt. Zum Beispiel Greta und Adriano in Limone besucht. Aber morgen geht’s los. Valeria Malvaldi, eine alte Freundin von Paps und Chefin vom »La Rosa«, dem Ristorante in Valeggio, das die weltbesten Tortellini herstellt, will uns in die Welt der Pasta und Tortellini einführen. Diesen Titel beansprucht Umberto Zanardini für seine Kreationen übrigens auch – und wahrscheinlich einige andere, die sich hier im Ursprungsort der Tortellini dieser lokalen Köstlichkeit verschrieben haben. Ich habe mich noch nicht ganz entschieden.

»Ich freu mich auf morgen«, murmle ich Vinc ins Ohr, aber der träumt schon längst von irgendetwas Angenehmem, dem Lächeln auf seinem Gesicht nach zu urteilen. Wahrscheinlich von mir, hoffe ich, kuschle mich an mein Schlafmonster und lasse mich wegtragen in andere Gefilde.

Auch mal schön. Ausschlafen, Programm erst ab elf. Was für Vinc heißt, schnurcheln bis mindestens um neun. Ich bin um halb acht schon fit, organisiere mir unten in der Küche eine Thermoskanne Kaffee und ein cornetto. Das Tablett stelle ich auf dem Nachtschränkchen ab, ziehe die Vorhänge auf – was Vinc nicht stört – und schlüpfe dann mit meinem Buch in der Hand wieder unter die Decke. Der ultimative Wahnsinn.

Da aber die Wirkung des cornetto nicht ewig vorhält und auch Vinc’ Magen zu knurren anfängt, fällt es uns nicht schwer, pünktlich um elf bei Valeria im »La Rosa« einzulaufen.

Valeria entschuldigt sich gleich, dass sie nicht sehr viel Zeit habe. »Meine Lieben, ich muss leider früher weg. Die Damen vom Festkomitee für das Tortellinifest haben ein unerwartetes Problem und brauchen meine Hilfe. Wir machen trotzdem keine Hektik. Was wir heute nicht schaffen, zeige ich euch ein anderes Mal, d’accordo?« Ein kurzes Lächeln weicht schnell wieder einer äußerst bersorgten Miene.

»Kein Stress, Valeria. Sag einfach, wenn du wegmusst, uns wird nicht langweilig«, nehme ich ihr das schlechte Gewissen. »Was für ein Problem gibt es denn?«

»Segretissimo, Doro. Scusa, ich darf nicht darüber sprechen. Ma cominciamo, sonst wird es zu knapp.« Sie klatscht energisch in die Hände, aber der Schatten bleibt. Da weißt du gleich, wie sie arbeitet, ihr Ristorante führt. Schnell, effektiv, mit Leidenschaft.

Vinc nimmt gerne einen Espresso, ich hatte genug Kaffee, dann startet Valeria die Führung rund um die Produktion der berühmten Liebesknoten, der »Nodi d’Amore«. Sie öffnet eine Schiebetür und ich weiß sofort, dass es jetzt ins Allerheiligste geht. Ehrfürchtig betrete ich den Raum. Emsiges Geschnatter und flinke Hände umgeben uns. Valeria spricht ein paar Worte zu den vier Frauen, die am großen Holztisch sitzen, weiße Schürzen umgebunden, die Haare mit einem ebenso weißen Kopftuch verdeckt. Sie sind die Künstlerinnen, die die berühmten Nodi d’Amore herstellen.

Die Frauen kichern, als Valeria ihnen erzählt, wer wir sind und dass sie vielleicht ins Fernsehen kommen, und präsentieren uns dann stolz, mit welcher Perfektion und Geschwindigkeit sie die Pasta produzieren. Wow! Ich bin auch schnell, aber das hier ist Höchstleistung. Wie sie die hauchdünnen Platten in kleine Quadrate rädeln, mit dem Daumen einen Klecks von der vorbereiteten Masse draufstreichen, dann klapp und zu, von Ecke zu Ecke zum Rechteck gelegt und zu den typischen Tortellini geformt. Und die halten auch noch.

»Setz dich ruhig dazu und probier es aus«, schlägt Valeria vor und die Frauen nicken begeistert.

Vinc setzt sich neben mich, verzichtet aber auf jegliche Versuche.

Während ich mein Bestes gebe, hat sich Valeria in die Ecke gestellt und lauscht konzentriert ins telefonino. Ab und zu zwinkert sie mir aufmunternd zu, flüstert dann eindringlich ins Handy und gestikuliert mit der freien Hand, als müsse sie die Menschheit davor bewahren, wie die Lemminge ins Meer zu springen. Ich widme mich weiter den Teigtäschen.

Die Frauen kichern wieder, als sie meine Anstrengungen beobachten, aber sie nicken anerkennend. Na, immerhin. Die fertigen Teile werden sorgfältig zum Trocknen auf große Holzbretter geschichtet, die dicht übereinander in ein Vorratsregal geschoben werden, um später in leckeren Variationen die Gäste zu erfreuen. Egal ob mit Kürbis-, Fleisch- oder Ricotta-Spinat-Füllung, das sind echte Meisterwerke – und ich weiß, wovon ich rede, denn bei unserer Ankunft haben wir im Ristorante gespeist und Grüße von Paps persönlich ausgerichtet. Höchstväterliche Anordnung.

Valeria steckt ihr telefonino in die Hosentasche und lässt uns von den Frauen vorführen, wie der Nudelteig immer wieder, ohne zu reißen, durch die Nudelmaschine gezogen wird, bis er nur noch ein 0,3 Millimeter dicker, hauchdünner Lappen ist, quasi durchscheinend. »So dünn wie Seide, da musst du die Zeitung durchlesen können«, sagt sie stolz. Dann drängt sie weiter.

Das war das Allerheiligste Raum eins, jetzt werden wir weitergeleitet zum Allerheiligsten Raum zwei. Die Küche. Wo die weltbesten Tortellini, die Nodi d’Amore, eine Minute in siedende Brühe geworfen und dann mit wenig Butter und Salbeiblättchen angerichtet werden. Ein Traum. Dass ich ihre Küche betreten darf, ist eine besondere Ehre, für mich mein persönliches Highlight. Valeria ist einfach die Koryphäe, wenn es um Tortellini geht. Danke, Paps, schick ich eine mentale Botschaft nach München.

»Wisst ihr, woher der Name der Nodi d’Amore stammt?« Valeria schaut uns so erwartungsvoll an, dass wir, selbst wenn wir die Geschichte kennen würden, verneint hätten. Wir kennen sie aber tatsächlich nicht.

Valeria erweitert begeistert unseren Horizont und weiht uns in die sagenumwobene Entstehung der Nodi d’Amore, der Liebesknoten, ein. »Gegen Ende des 14. Jahrhunderts kämpfte der Mailänder Feldherr Gian Galeazzo Visconti mit seinen Truppen gegen die Mantuaner. Als sie an den Ufern des Flusses Mincio die Stellung hielten, erzählte man ihnen, der Mincio sei von wunderschönen Nymphen bevölkert, die manchmal aus dem Fluss kämen, um am Ufer zu tanzen. Allerdings seien sie mit einem alten Fluch behaftet, der sie zwinge, das Aussehen grässlicher Hexen anzunehmen. Eines Nachts sah der junge Hauptmann Malco die geheimnisvollen Geschöpfe tatsächlich tanzen. Als er auf sie zuging, flohen die Wesen schnell in den Fluss zurück. Nur eine blieb zurück – und Malco entdeckte unter dem hässlichen Hexenmantel eine wunderschöne Nymphe. Die beiden verliebten sich unsterblich ineinander und schworen sich ewige Treue. Silvia, die Nymphe, musste jedoch vor Sonnenaufgang in den Fluss zurück. Als Pfand ihrer Liebe gab sie Malco ein goldenes Taschentuch mit einem zarten Knoten. Die Liebe der beiden blieb nicht lange geheim und eine eifersüchtige Hofdame denunzierte die schöne Silvia als Hexe. Die Nymphe sah nur eine Chance für ihre Liebe: Malco musste ihr in die Unterwasserwelt folgen. Ohne zu zögern, stürzte er sich in die Fluten und hinterließ am Ufer das geknotete goldene Taschentuch. Seitdem ist es unter den Frauen von Valeggio Tradition, an Festtagen einen dünnen Nudelteig auszurollen und daraus kleine Tortellini zu formen, die sie liebevoll »Nodi d’Amore«, Liebesknoten, nennen und in zerlassener Butter mit Salbeiblättchen anrichten.« Valeria seufzt gerührt.

»Eine wunderschöne Geschichte«, bestätige ich und Vinc findet das auch.

Wundert mich allerdings nicht, dass Umberto und die Herren vom Stammtisch die Sage nicht erwähnt haben. Ist ihnen vielleicht ein bisschen peinlich, vor einer jungen deutschen Köchin und ihrem Freund mit so einem sentimentalen Liebesschmonz daherzukommen. Wobei ich wetten möchte, dass sie genauso stolz sind auf diese Verbriefung ihres Anspruches, die Tortellini erfunden zu haben, wie Valeria und die meisten Einwohner von Valeggio und dem Nachbarort Borghetto.

»Ihr kennt die Nodi d’Amore ja schon, aber bedient euch bitte. Doro, du kannst gerne ein paar Tortellini für euch in die Brühe werfen. Sascha hat erwähnt, nein, er hat überaus stolz erzählt, dass du ganz hervorragend in seine Fußstapfen passt.«

»Hört, hört! Und das aus dem Munde meines Vaters. Danke, Valeria, wir haben tatsächlich ’nen Megahunger«, nehme ich ihr Angebot ohne Skrupel an. Als Tochter von Sascha Ritter habe ich einen riesigen Vertrauensbonus bei Valeria und darf sogar in ihrem Allerheiligsten kochen.

»Lasst euch von Paolo eine Flasche vom Custoza geben. Antonio«, sie wendet sich an einen der Köche, die hier den Mittagsbetrieb vorbereiten, »du bist bitte unseren Gästen behilflich. Ich muss dann … Ciao!« In ihrer unvergleichlich energetischen Art umarmt sie uns, drückt uns Küsschen auf die Wangen und eilt von dannen.

»Soso, segretissimo, topsecret also«, murmle ich.

»Ich hab mich schon gefragt, wann du das Thema aufgreifst.« Vinc wuschelt mir durch die Haare und hält sich ansonsten zurück, denn wir werden beobachtet – zumindest aus den Augenwinkeln. Antonio lächelt heimlich. Das hab ich aus den Augenwinkeln gesehen. Ich zwinkere ihm zu.

»Dich zerreißt es doch vor Neugier, ich kenn dich«, zieht Vinc mich auf.

»So schlimm ist es auch wieder nicht«, wehre ich mich, aber nicht überzeugend genug, weil mich natürlich brennend interessiert, was da los ist.

»Ich erfahr es schon noch«, verkünde ich und wende mich den Nodi d’Amore zu.

Vinc stellt die Teller bereit und macht sich dann auf die Suche nach Paolo.

 

Kapitel 2 Un gruppo illustre – Eine illustre Gesellschaft

Bella Italia, giugno – Italien, Juni Zwei Tage später

Vor uns liegt die alte Scaligerburg, das Castello Scaligero, sozusagen die Skyline von Valeggio sul Mincio. Die beeindruckende Schönheit haut mich allerdings nicht vom Hocker, meine ganzen Sinne sind auf Verdauung gepolt. Wir waren bei Valeria zum Abendessen. Ein paar Details besprechen wegen Paps’ Unterkunft und natürlich weil es einfach traumhaft schmeckt im »La Rosa«. Valeria serviert nicht nur die Nodi d’Amore mit der besonderen Fleischfüllung, sondern jede Menge andere Spezialitäten von Pasta über Wachteln bis hin zu leckeren dolci.

»Ich hätte nicht so viel essen sollen. Vielleicht nur eine Sorte Tortellini oder die Nachspeise weglassen«, jammere ich und weiß im Grunde meines Herzens, dass weder das eine noch das andere eine wirkliche Option gewesen wäre. Valeria Malvaldis Pasta ist zu verführerisch, egal ob Fleisch-, Kürbis- oder Spinat-Ricotta-Füllung. »Wenn’s ums Essen geht, bin ich halt nicht sehr konsequent oder vernünftig, da kann ich schlecht Maß halten …«

»Aber sonst schon?«, spottet Vinc.

»Haha. Sag mal, hast du Valerias Reaktion auch merkwürdig gefunden, als ich sie nach ihrem Segretissimo-Problem gefragt habe?«, lenke ich ab.

»Tja, Schatz, manche Geheimnisse trotzen sogar deiner neugierigen Nase.«

Hallo! Ist da einer schadenfroh?

»Wie wär’s mit ein bisschen Bewegung? Kleiner Spaziergang zur Burg?«, setzt dieser Mensch noch einen obendrauf.

Ich schaue ihm prüfend ins Gesicht und befürchte, dass er das durchaus ernst meint. Vielen Dank. Wie ich meinen Schatz kenne, muss ich mir jetzt schnellstens eine überzeugende Ausrede einfallen lassen – und er lässt bestimmt nicht gelten, dass ich mich fühle wie im achten Monat schwanger.

»Ach du«, ich blicke skeptisch den steilen Weg zur Burg hoch, »lass uns lieber eine Abend-Siesta halten, ein bisschen kuscheln und so, und dann könnten wir uns noch ein wenig zu den signori an den Stammtisch setzen. Ich wollte noch eruieren, wen wir wie in die Reportage reinnehmen könnten«, locke ich Vinc zurück in unser albergo.

»Kuscheln und so klingt gut«, greift Vinc mein Stichwort auf und schlingt seinen Arm etwas fester um mich.

Will ich ihm auch geraten haben.

»Aber vorher können wir noch zur Burg hoch – müssen wir halt ein bisschen schneller laufen. Ist erst halb neun, der Abend ist noch jung.«

Wahrscheinlich gucke ich gerade ziemlich belämmert aus der Wäsche. »Meinst du das jetzt …?« Mann! Der Typ verarscht mich! Beleidigt verschränke ich meine Arme vor der Brust.

»Schatz, hast du echt gedacht, ich falle auf dein Manöver rein?« Vinc ist sichtlich erheitert.

»Hättest ja wenigstens so tun können«, schmolle ich ein bisschen, bevor ich mitlache.

Eines der Dinge, die ich an Vinc liebe: Er hat denselben Humor wie ich. Na ja, fast. Manchmal bin ich selbst Vinc etwas zu derb, wenn mich ab und zu der verbale Teufel reitet.

Und er hat ja recht, der Abend ist echt noch jung, die Luft lau, und jetzt im Juni ist’s total hell um die Uhrzeit. Ich schließe die Augen und atme tief ein. Es riecht … würzig. Nach Sommer. Nach Leben. Würzig, ja, mir fallen eigentlich meistens kulinarische Vergleiche zu den Gerüchen des Lebens ein. Weil: Erstens bin ich ein kulinarischer Mensch und zweitens ein Nasenmensch. In der Summe ein kulinarischer Nasenmensch.

Bald findet hier auf der Ponte Visconteo das berühmte Tortellinifest statt und ich soll nach romantischen Plätzen suchen, Rezepte sammeln, die besten Tortellini-Köche finden … Da kenne ich jetzt schon zwei Kandidaten, die dieses Privileg für sich beanspruchen – unseren Wirt vom »Il Mulino«, Umberto Zanardini, und Valeria Malvaldi, Chefin vom »La Rosa«. Und ehrlich gesagt, Valeria hat die Nase vorn – was ich natürlich nie zu Umberto sagen würde, schließlich hänge ich an meinem Leben. Denn das hab ich in den letzten Tagen gelernt: Wenn’s um Tortellini geht, geht’s um die Ehre.

»Bin ganz froh, dass Paps bei seiner alten Freundin im›La Rosa‹logieren wird, da liegen 200 Meter Luftlinie zwischen uns. Du kennst ja Paps, der kann sehr vereinnahmend sein.«

»Ich kenne die Familie Ritter.« Vinc grinst unverschämt.

Dazu sag ich mal nix, weil … ich gebe zu, Paps und ich  …

»Jedenfalls ist er bei Valeria genau richtig. Zwei Spitzenköche unter sich, extravagant, und ich glaub, die hatten sogar mal was miteinander«, spekuliere ich. »Wie findest du eigentlich Valeria?«

»Sympathisch. Passt super in das Ambiente vom ›La Rosa‹und ist, wie’s scheint, genauso besessen von ihrem Ristorante wie dein Vater vom ›Macis‹.«

»Du triffst den Kern. War echt sehr interessant, als sie uns durch ihr Reich geführt hat. Sie kann zu Recht stolz drauf sein.«

»Mir schon klar, wenn’s ums Kochen geht, bist du fast so verrückt wie dein Vater«, unterbricht Vinc meinen enthusiastischen Ausbruch.

»Betonung auf ›fast‹, mein Schatz, doch ja, zugegeben, ich war sehr beeindruckt von der Produktionsstätte der weltbesten Tortellini. Schmecken wirklich göttlich. Und dass ich in ihrer Küche kochen durfte, war mega.«

»Sie hält anscheinend große Stücke auf deinen Vater. Süß, wie sie sich auf ihn freut«, resümiert Vinc. »Und dank deiner familiären Beziehungen durften wir ja auch ’ne Sonderbehandlung genießen. War toll. Aber jetzt mal was anderes, Schatz, haben wir für morgen nicht mit Davide Renzi ausgemacht, sein Weingut zu besichtigen?«

»Stimmt, besprechen wir nachher noch am Stammtisch mit ihm. Vielleicht sollten wir langsam zurück, sonst wär ich natürlich schon zur Burg hoch.« Ich lächle fein.

Vinc zieht mich ein bisschen näher zu sich. »Pass auf, was du sagst, die Zeit reicht locker für die Burg. Allerdings wird es dann knapp mit einer Pause auf dem Zimmer.« Er zieht die Stirn in Falten, tut so, als würde er die Alternativen ernsthaft abwägen. Aber darauf falle ich nicht rein. »Hört sich gut an, dein Plan«, sagt er dann und minimale Lachfältchen verraten ihn. »Ein bisschen müssen wir uns schon ranhalten, wenn wir alle Termine schaffen wollen. Die signori übertrumpfen sich ja förmlich mit ihren Angeboten. Jeder will uns was ganz Besonderes zeigen, das unbedingt in die Reportage mit reinmuss.« Er dreht sich auf dem Absatz um und geht endlich in die richtige Richtung.

Sirenengeheul nähert sich, vorne an der Hauptstraße rast ein Polizeiauto vorbei, gefolgt von einem Krankenwagen. Mich fröstelt es plötzlich. Die Vorstellung, dass da so ein armer Mensch drinliegt, die mag ich gar nicht. Nicht an einem so schönen Abend. Da sollte es einfach allen gut gehen.

Vinc drückt meinen Arm. Ich weiß, ihm geht’s genauso, da brauch ich nix sagen.

Ich leite ihn zielstrebig nach rechts.

»Schon gut, Doro, hab’s kapiert. Heute kein Castello. Dich zieht’s zu anderen Männern.« Er seufzt schwer.

»Eifersüchtig?«

»Total«, ruft Vinc theatralisch, »sieben in die Jahre gekommene Herren, so alt wie dein Vater, der eine mit Bierbauch, der andere mit grauem Kränzchen um seine Halbglatze … Ich bin verzweifelt!«

Ich muss kichern. »Vorsicht, Schatz, in die Jahre gekommene Herren und Paps gleichzusetzen, ist kein Kavaliersdelikt, das ist ein Kapitalverbrechen. Außerdem, unser Winzer Davide sieht nicht übel aus und Claudio, der Sohn von Renato Belotti, der letztens dabei war, da kannst du nix sagen, der ist echt süß«, provoziere ich ihn ein bisschen, weil Claudio Belotti wirklich ein testosteronstrotzendes Schnuckelchen ist, dabei nett, gut aussehend und charmant. Wenn sich eine Frau neben Julia Roberts wie eine graue Maus vorkommt, dann muss es Männern neben Claudio Belotti genauso gehen.

Und genauso schaut Vinc jetzt. Merkt es selber und grinst. »Finger weg, ich warne dich«, brummt er streng und legt seinen Arm um meine Schulter.

»Mal ehrlich, Schatz«, sagt er dann, »der Stammtisch ist ’ne Goldgrube für uns. Da müssen wir nicht lange nach besonders schönen Plätzen suchen, wir sitzen an der Quelle. Ölmühle, Weingut, Nudelmanufaktur, Einblick in ein Spitzenrestaurant und wohnen können wir in einem netten Familienhotel mit eigener Osteria. Hier kocht der Chef persönlich und wir werden aus erster Hand mit Klatsch und Tratsch versorgt – das muss ein Paradies für dich sein.«

»Was heißt ›für dich‹? Du hörst auch immer sehr aufmerksam zu! Und ehrlich, jedes Kaffeekränzchen unter Frauen würde bei so viel, wie soll ich sagen, Informationen über alles und jeden vor Neid erblassen. Von wegen Männer tratschen nicht.«

»Wir sagen mit wenigen Worten viel. Das Wesentliche halt.«

Ich sehe schon, das Gespräch verläuft zu Vinc’ vollster Zufriedenheit. »Wir sind gleich daheim. Vielleicht verschieben wir die Siesta auf später.«

»›Daheim‹ ist gut«, flachst Vinc, »aber ich weiß, was du meinst. Ich fühl mich auch, als wären wir nicht erst ein paar Tage hier. Heute Abend bleiben wir nicht so lange, versprochen?«

»Großes Doro-Ehrenwort!« Ich hebe die Hand zum Schwur. Hoffentlich wird’s kein Meineid.

Hand in Hand betreten wir die Osteria. Ein großer, rechteckiger Raum empfängt uns. Im vorderen Teil der Gastraum, einfache Holztische und dazu passende Holzstühle, die Sitzflächen aus Korbgeflecht, bis hin zur Theke. Im Hintergrund des Tresens reihen sich Spirituosen und blitzblanke Gläser in einem verspiegelten Holzregal. Nach gut zwei Dritteln der Raumbreite macht die Theke einen 90-Grad-Knick nach hinten zur Wand, und in dieser Nische geht es in die Küche. Keine schlechte Lösung, die metallene Schwingtür ist somit hinter der Theke und geschützt vor allzu neugierigen Gästen. Daneben führen vier Stufen nach oben, zur Gästetoilette, zum Büro, zum Hintereingang und zum Hotelbereich. Gleich neben dieser Treppe, abgeschirmt durch Pflanzen in großen Kübeln, steht besagter Stammtisch, ein riesiger rechteckiger Holztisch, der für die allabendliche Männerrunde reserviert ist. Hier sitzen bereits Davide Renzi, der Weingutbesitzer, und Alfredo Corini, der Apotheker. Ein ungleiches Paar. Alfredo, der mit der Halbglatze und dem grauen Haarkränzchen, wirkt älter als Davide, ist in Wirklichkeit aber ein Jahr jünger. Davide dagegen ginge mit seinen 52 locker als Mann in den besten Jahren beim Film durch. Umberto Zanardini, unser stämmiger Wirt, ist in der Küche beschäftigt, für ihn dauert’s noch ein Weilchen bis Feierabend, es sitzen noch einige Gäste in der Osteria. Um die Getränke kümmert sich Umbertos Frau Rosalia, sodass er nach dem Kochen Zeit für seine Freunde hat. Rosalia managt nicht nur die Bar in der Osteria, sondern auch das Hotel, die Einkäufe, das Personal – außer Kochen eigentlich alles. Pipo, Umbertos dunkelbraune Promenadenmischung, springt uns schwanzwedelnd entgegen. Sieht ein bisschen aus wie eine Kreuzung aus Dingo und Jagdhund.

Ich kraule ihn zwischen den Ohren. »Hallo, Pipo, du Süßer. Kommst nur, weil dein Herrchen grad nicht da ist, gell.«

»Das ist ganz klar Umbertos Köter! Mich kennt der nur, wenn es ums Futter geht«, ruft Rosalia von der Theke he­­rüber, wobei ihre Worte wesentlich unfreundlicher sind als ihr Tonfall. Pipo spitzt die Ohren. Futter?

»Erinnert mich an unseren lieben Kater Rambo. Der ist auch sehr wählerisch mit seinen Liebesbezeugungen. Da stehst eindeutig du an erster Stelle«, stellt Vinc nüchtern fest.

Umberto streckt den Kopf aus der Küche. »Eh! Doro! Vincenzo! Setzt euch gleich dazu. Davide hat ein besonderes Tröpfchen für uns mitgebracht«, ruft er.

Pipos Schwanz bewegt sich wie ein Scheibenwischer, als er seinen Lieblingsmenschen hört. Da Umberto wieder in der Küche verschwindet, trollt er sich enttäuscht unter dessen Stuhl.

Vinc lässt mir den Vortritt und ich setze mich links neben Alfredo Corini, der gerade mit einem Stofftaschentuch seine Halbglatze wienert – danach zieht er ein lila Brillenputztuch aus der Brusttasche und poliert die runden Gläser seiner goldenen Brille. Ein gesetztes Ritual, das wir aus den letzten Tagen bereits zu gut kennen. Ich meide Augenkontakt mit Vinc, sonst wär’s um uns geschehen. Vinc schnappt sich wortlos den Holzstuhl mit Bastgeflecht gleich neben mir.

»Warum eigentlich lila, Alfredo?«, frage ich, ohne eine Miene zu verziehen.

Alfredo schaut ein bisschen irritiert hoch. »Was meinst du? Das Tuch?« Er lächelt wehmütig. »Meine Frau hat mir so eines zu Weihnachten geschenkt. Vor fünf Jahren. Das war unser letztes gemeinsames Weihnachten. Krebs.« Er räuspert sich, um die Fassung nicht zu verlieren.

»Tut mir leid, das wusste ich nicht.«

»Macht nichts, Doro. Aurelia und ich hatten eine wunderbare Ehe und ich denke immer mit Dankbarkeit und Liebe an sie. Und unser Sohn ist wieder da, hat sein Studium beendet und wird die Apotheke übernehmen. Also, was soll ich jammern? Mein Leben ist gut.«

Ich lege ihm kurz meine Hand auf den Arm. »Das freut mich für dich, Alfredo.«

Er faltet derweilen sein Tüchlein und steckt es in die Brusttasche.

Jetzt schaue ich fragend zu Davide, der den Kopf schüttelt.

»Umberto hat die Flaschen kühl gestellt, aber wir warten noch auf die anderen.«

Ich lehne mich entspannt im Stuhl zurück. »Was empfiehlst du uns bis dahin?«

»Nehmt einen leichten Rosato, der verdirbt dann nicht den Geschmack.«

War echt ein Glücksgriff, das »Il Mulino«, samt Stammtisch. Valeria hat uns hier einquartiert. Rosalia Zanardini ist eine Freundin von ihr. Klar, bei ihr im »La Rosa« gibt’s offiziell keine Gästezimmer. Oben im Haus wohnt sie selbst, im schmalen Haus daneben ihre Eltern, die schon vor Jahren das Ristorante ihrer einzigen Tochter übergeben haben und sich jetzt nur noch ab und zu präsent zeigen, um alte Stammgäste und Freunde zu begrüßen. Für den lieben Sascha hat Valeria trotzdem ein Plätzchen gefunden, sein Töchterlein samt Begleitung sieht sie dann allerdings doch lieber im »Il Mulino«.

»Was grinst du so hintergründig?«, fragt Vinc.

Sieht wieder mal alles, mein Süßer. »Hab mich grade gefragt, was Valeria mit Paps vorhat … Jedenfalls hat sie für ’ne sturmfreie Bude gesorgt.«

»Die beiden sind erwachsen«, meint Vinc lakonisch.

»Bei Paps bin ich mir da nicht so sicher.«

»Salute!« Davide und Alfredo prosten uns zu und wir vertagen die Gespräche über das Liebesleben meines Vaters.

Die Runde füllt sich. Massimo Voltolini, der Mediziner im Bunde, bugsiert die obligatorische Arzttasche unter den Stuhl an der Stirnseite des Tisches und lässt seinen langen dürren Körper ächzend auf die Sitzfläche fallen. Begleitet von einem ebenfalls obligatorischen »Salve, amici« an alle klopft er mit den Fingerknöcheln auf den Tisch und anschließend kumpelhaft auf Vinc’ Schulter, der links neben ihm sitzt. »Buona sera, Vincenzo. Hast du deine hübsche Freundin heute ordentlich verwöhnt?« Er zwinkert uns zu.

Die anderen lachen gutmütig. Alle mögen Vinc, aber ab und zu muss er sich ein bisschen auf den Arm nehmen lassen, weil die signori zwar Fan von mir beziehungsweise meiner familiären Berühmtheit sind, aber meinem Freund allesamt empfehlen, sich die Hosen in der Beziehung nicht ausziehen zu lassen. Vinc ist da nicht empfindlich, sein Kommentar dazu lautet höchstens, dass er die Hosen nie anhatte. »Wir sind ein gleichberechtigtes Team«, protestiere ich zwar immer, aber die signori haben sich längst ihre eigene Meinung gebildet.

Jedenfalls finde ich es super, dass sie uns gerne dabeihaben und so hilfsbereit sind. Schon am zweiten Abend haben sie uns das Du angeboten, sie kämen sich sonst so alt vor.

»Wann trifft jetzt der berühmte papà eigentlich ein?«, fragt Alfredo Corini, der noch mal sein lila Tuch zückt, um ein imaginäres Staubkorn zu entfernen. Dann steckt er das Tuch ein, platziert die Brille auf der Nase und streicht sich über sein Bäuchlein. Ist wohl in Gedanken bei einem Sternemenü von Paps.

Ich mache mir nichts vor, jeder der Herren hat seinen eigenen Grund, Vinc und mich in ihrer Mitte aufzunehmen. Umberto hofft, dass seine Osteria und vor allem die Kochkunst des Chefs in der Reportage erwähnt werden, Davide Renzi wünscht sich dasselbe für sein Weingut und seine Weine und die anderen würden wohl zu einem feudalen Menü, gekocht vom Maestro Ritter, nicht Nein sagen.

»In zwei Tagen«, sage ich nur, ohne auf die Motive der Herren bezüglich meines Vaters weiter einzugehen, weil ich mir nicht sicher bin, ob sie mir einen entsprechenden Kommentar nicht übel nehmen würden. Ich bin neulich erst bei Umberto ins Fettnäpfchen getreten. Ich hatte gewagt, seine Küche bezüglich Kalorientauglichkeit und Gesundheitsbewusstsein als nicht up to date zu kritisieren, was er nicht witzig fand und mit einem beleidigten Hinweis auf die weitverbreitete mediterrane Küche abgetan hat. Da musste ich ihm recht geben, habe ihm ein bisschen geschmeichelt – und er war wieder versöhnt.

Außerdem bin ich gar keine militante Vertreterin von »Hauptsache, gesund«, sondern eher von »vor allem, es schmeckt«. Paps ist seinen Sternen verpflichtet, das heißt Innovation, Gesundheit, Geschmack, Trend … Wobei es gar nicht ungesund sein kann, bei den winzigen Mengen – so mein regelmäßiger Kommentar zu Kunstwerken, die den Gaumen und das Auge befriedigen, aber nicht satt machen. »Verfressen« nennt Paps das und weist kurzfristig jede Verwandtschaft mit mir von sich. Die Bemerkung, dass Paps’ Portionen Alfredos Bäuchlein ganz guttun würden, verkneife ich mir auch mal lieber.

Pipo ist unruhig. Schleicht rüber zu Rosalia an die Theke, aber die widmet ihm nicht die gewünschte Aufmerksamkeit. Er verzieht sich wieder zu uns.

»Sieht irgendwie Daniel ähnlich, unserem Souschef im ›Macis‹, findest du nicht?«

»Was meinst du?«, fragt Vinc. »Struppig, graubraun, agil und sehr ehrgeizig?«

»Ehrgeizig?« Ich stehe auf dem Schlauch.

»Der eine, wenn’s um kulinarische Kreationen geht, der andere, wenn’s um ein kulinarisches Leckerli oder eine Streicheleinheit von seinem Lieblingsmenschen geht«, klärt Vinc auf.

Was die Herren witzig finden.

»Auf Pipo und Rambo!« Vinc hebt das Glas.

Wir prosten uns grade zum x-ten Mal zu, als Renato Belotti, der Vater von Schnuckelchen Claudio Belotti, hauptberuflich Carabiniere und diesbezüglich für Recht und Ordnung zuständig, sich auf den freien Stuhl neben dem Dottore fallen lässt. Er ist noch in Uniform.

»Wartet nicht deine junge Frau auf dich?«, spöttelt Davide.

»Nur kein Neid«, kontert Renato, der auf seine Weise ebenso attraktiv ist wie Davide. Total unterschiedliche Typen, die Freunde, aber alle fast derselbe Jahrgang.

»Also, ich bin bestimmt nicht neidisch«, sagt Massimo aus vollem Herzen. »Ich bin froh, dass meine Frau als Reisebegleiterin ausgelastet ist und ich mich nicht mehr mit Kindererziehung plagen muss.«

»Ich weiß gar nicht, was ihr habt. Claudio ist erwachsen und mit den Zwillingen läuft alles problemlos.«

»Warte, bis sie in die Pubertät kommen.«

»War bei Claudio nicht schlimm.«

»Ja, aber jetzt hast du zwei Töchter! Ich weiß, wovon ich rede«, prophezeit Massimo, lehnt sich zurück und verschränkt genüsslich die spinnenbeinartigen Finger ineinander.

»Ach, hört schon auf mit dem Geschwätz! Es gibt Wichtigeres. Rosalia, ein Glas Wasser, per favore«, ruft Renato zur Bar rüber, dann wendet er sich uns zu und blickt theatralisch um sich.

Ich weiß, dass das eine Marotte von ihm ist, aber heute ist’s anders. Heute ist die Dramatik echt.

Kapitel 3 Segretissimo – Streng geheim

Martedì (Dienstag) – Tag 1

Renato rauft sich die Haare. Schnauft. Ist jetzt alles andere als entspannt.

»Red schon!« Massimo Voltolini beugt seinen langen Körper vor, um Renato besser sehen zu können.

Renato schaut noch mal in die Runde wie ein wild gewordener Bulle, der keinen Ausweg sieht, holt tief Luft – während wir sie anhalten – und legt dann los. Aber richtig.

»Leute, das glaubt ihr nicht. Eine Katastrophe! Im ›Da Silvio‹ ist ein Gast zusammengebrochen. Tourist.« Er macht eine kunstvolle Pause.

»Tot? Herzinfarkt? Sehr unangenehm für den Wirt.« Massimo Voltolino ist als Arzt erst mal wenig beeindruckt von der Schilderung. Höchstens fachlich interessiert.

»Wenn’s das nur wäre.« Renato seufzt abgrundtief.

»Wir haben gerade den Krankenwagen gesehen«, erwähne ich erschüttert darüber, dass uns das so schnell wieder einholt.

Renato schaut uns verwirrt an. »Das war schon vor zwei Tagen«, sagt er, dann dämmert ihm, wovon wir reden. »Ach, das meint ihr, das war ein Verkehrsunfall, hab ich über Funk gehört, als ich auf dem Weg hierher war. Nein, ich rede von einem Gast, der vorgestern im ›Da Silvio‹ plötzlich umgefallen ist. Hat geblutet wie ein Schwein. Er ist nicht tot, noch nicht zumindest, obwohl es erst so ausgesehen hat.« Renato schüttelt immer wieder den Kopf, bevor er weiterredet. »Er ging jeden Abend ins ›Da Silvio‹ zum Essen, und vorgestern ist ihm dann plötzlich schlecht geworden und er hat Blut gespukt. Eigentlich ist es richtiggehend aus ihm rausgelaufen, hat der Notarzt gesagt. Sie haben ihn sofort ins Krankenhaus gebracht. Man hat eine Magenblutung diagnostiziert, eventuell durch ein Medikament ausgelöst. Alle waren in heller Aufregung. Die Gäste haben fluchtartig das Lokal verlassen. So ein Zwischenfall in einem Ristorante in Valeggio, und das kurz vor dem großen Festa del Nodo d’Amore!«

»Warum erzählst du uns das erst jetzt?«, kommt’s ein wenig spitz von Alfredo Corini, dem Apotheker.

»Cari amici! War alles segretissimo!«

Ich fahre hoch wie eine Rakete. Segretissimo! Vinc drückt beruhigend meine Hand. »Ich hab’s gehört«, flüstert er mir ins Ohr.

Keiner achtet auf uns, alle starren gebannt auf Renato.

»Ist es immer noch. Es bleibt unter uns, amici.«

Alle nicken.

»Capite?« Renato durchbohrt mich mit Blicken.

»Sì«, bestätigen Vinc und ich im Duett.

Renato gibt sich damit zufrieden und wendet sich wieder an seine Freunde. »Sie haben eine grauenvolle Entdeckung gemacht. Der Bericht ist heute gekommen.« Es folgt eine bedeutungsschwere Pause, was Alfredo zu einem ungeduldigen »Jetzt sag schon!« veranlasst.

»Der Mann hatte innere Blutungen, die sie zwar in den Griff bekommen haben, aber es gilt als relativ sicher, dass der Mann vergiftet wurde. Vermutlich mit Rattengift. Jetzt wird natürlich alles ganz genau untersucht.«

Wir sitzen bedröppelt da. Ich meine, es wäre ja schon ein schlichter Zusammenbruch eine schlechte Publicity vor dem großen Tortellinifest, aber eine Vergiftung! Das ist eine ganz andere Nummer. So was kann nicht unter den Tisch gekehrt werden.

»Versteht ihr? Eine Lebensmittelvergiftung. Rattengift im Essen. Das ist ein Desaster, ein Unglück!« Renato hält erschöpft inne.

Umberto stellt ein Glas Rotwein vor ihn hin.

»Ich bin im Dienst«, wehrt Renato erst ab, greift aber dann doch danach und nimmt einen großen Schluck.

»Was heißt, du bist im Dienst? Bist du Rattengiftexperte?«, fragt Alfredo Corini, der Apotheker. »Das wäre dann eher mein Spezialgebiet. Also, wenn ihr einen Fachmann braucht …«

»Mach keine Witze, Alfredo, das ist verdammt ernst. Wenn erst die Presse Wind davon bekommt, was meinst du, wie die sich freuen, wenn’s mal was außer Nudeln, Wein und Touristenmassen vom Tortellinifest zu berichten gibt«, orakelt Renato düster.

»Wieso ist man sich eigentlich so sicher, dass es Rattengift war?«, fragt Davide Renzi.

»Da gibt’s ziemlich eindeutige Symptome«, mischt sich unser Dottore ein. »Zumindest so eindeutig, dass man erst mal weiß, wonach man suchen muss.«

»Du hast doch bestimmt auch Rattengift auf dem Hof«, fragt der Apotheker Davide und unterbricht so den drohenden Fachvortrag des Dottore.

»Du wirst keinen Winzer finden, der keines hat«, antwortet Davide aggressiv, als hätte Alfredo ihn verdächtigt, den fremden Touristen vergiftet zu haben.

Mir fällt dazu auch nichts ein, ich schiele aber durch die Blätter der Bepflanzung und stelle fest, dass einige Gäste interessiert die Ohren spitzen. »Bisschen leiser«, warne ich deshalb, »sonst braucht ihr keine Presse mehr.«

Betretenes Schweigen macht sich breit. Zum Glück steht der Stammtisch ein wenig abseits in einer Nische, und solange wir uns im Normalpegel unterhalten, dringen höchstens vereinzelte Wortfetzen zu den anderen Gästen.

Der Überraschungswein ist erst mal vergessen und nach der Ruhe kommt der Sturm. Spekulationen, Gejammer und Wut darüber, was das für das Fest bedeuten wird. Wie soll man vorgehen? Auf jeden Fall muss man mit dem Bürgermeister reden, Valeria Malvaldi soll kontaktiert werden, sie ist so eine Art Sprecherin, wenn es um Touristenfragen geht.

»Die ist schon informiert und ihr Festkomitee auch«, teile ich den Herren mit.

»Von dem Rattengift weiß sie noch nichts«, seufzt Renato.

Das glaub ich nicht – so viel zu segretissimo.

Salvatore Lonati, der Juwelier, stößt noch zur Runde, setzt sich neben Renato und lässt sich die Neuigkeiten servieren.

Um elf schwingt die Küchentür auf. »Finito!«, ruft Umberto und gesellt sich zu uns. »Den Rest erledigt Rosalia.« Er fährt sich mit einem braun gesprenkelten Hornkamm durch die dunkle, leicht gegelte Haarpracht. »Allora, hast du schon gehört?«, fragt er Salvatore.

»Sì, certo, Renato hat es mir gerade erzählt. Das ist grauenhaft.« Er reibt sich die Hände, als wäre er von draußen aus dem Schneesturm gekommen. »Wie kann so etwas passieren?«

Renato Belotti – er sitzt immer noch dabei und es ist keine Rede mehr von Dienst und noch weniger von Abstinenz – informiert seinerseits Umberto mit gewichtiger Miene über alles, was sie besprochen haben, als er in der Küche war. Und dann gehen die Spekulationen von vorne los.

Rosalia kommt zu uns rüber. »Männer, jetzt beruhigt euch. Es wird nichts so heiß gegessen, wie’s gekocht wird.« Sie stemmt resolut die Hände in die Hüften. Dazusetzen tut sie sich nie.

»Das ›Da Silvio‹ kann einpacken«, unkt Renato düster. »Da will doch keiner mehr hingehen. Ich finde es auch sehr bedenklich – Rattengift im Essen, ich bitte euch! Vorerst haben sie die Küche sowieso geschlossen. Unsere Leute von der Spurensicherung und die Lebensmittelaufsicht sind vor Ort.« Renato schnauft angewidert.

»Nicht so voreilig, Renato«, mischt sich unser Apotheker ein. »Wenn es wirklich Rattengift war, dann heißt das noch lange nicht, dass das Essen im ›Da Silvio‹ schuld war.« Triumphierend schaut er in die Runde. Nur der Dottore nickt.

»Drum ist’s ja Rattengift«, bemerke ich weise – und wie ich hoffe, nicht angeberisch –, denn ich ahne, worauf Alfredo Corini hinauswill. Die anderen wissen es sicher auch, nur kommen sie gerade nicht drauf.

»Mach’s nicht so spannend, Alfredo«, drängt Renato.

Alfredo Corini schüttelt den Kopf. »Hat man euch nicht informiert, als klar war, dass es um Rattengift geht?«

Renato schaut betreten auf seine Hände. »Der Bericht war noch nicht da, sie haben uns nur angerufen. Aber ich wollte so schnell wie möglich zu euch.«

»Du musstest den Schreck mit einem Schluck Wein hinunterspülen«, spottet Alfredo.

Renato Belotti grinst für einen kurzen Moment und der Apotheker klärt uns auf. »Ratten sind schlau. Wenn du einer Gift gibst und sie verreckt an Ort und Stelle, merken die anderen, woher der Wind weht, und werden dieses Gift künftig meiden. Deshalb wirkt Rattengift verzögert. Es setzt den Gerinnungsfaktor des Blutes herab, das Tier verblutet erst Stunden oder Tage später innerlich und die Kumpanen haben keine Ahnung, warum.«

Ein vielstimmiges ›Ja klar, das weiß doch jedes Kind‹ schwirrt um den Tisch und Salvatore Lonati schlägt sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Logisch! Wenn der Mann Rattengift zu sich genommen hat, dann war das Gift mit Sicherheit nicht im aktuellen Essen. Das muss er schon früher konsumiert haben.«

»So ist es.« Alfredo Corini nickt.

»Was die Lage zwar fürs ›Da Silvio‹ verbessert, insgesamt aber eher ungünstig ist, weil noch unüberschaubarer«, teile ich den anderen meine Bedenken mit.

»Hast du nicht vorhin gesagt, dass der Mann immer im ›Da Silvio‹ gegessen hat?«, hakt Vinc nach.

Renato kratzt sich am Kopf. »Hmm«, meint er nur und strengt sich sichtlich an, seine weinschwangeren Gedanken zu sortieren.

»Selbst wenn«, spinnt Dottor Massimo Voltolini mit säuerlicher Miene den Faden weiter, »der Mann ist Tourist und tagsüber viel unterwegs, dann hat er weiß Gott wo zu Mittag gegessen.« Wenn es um medizinische und pharmazeutische Fragen geht, hat er gerne das Sagen. Pech, dass er mit Alfredo einen ebenbürtigen Fachmann in der Clique hat, und wenn er selber nicht schnell genug ist, erntet der andere oft die Lorbeeren.

»Deshalb ist erst mal interessant, in welchem Essen das Gift war und wann der Mann es zu sich genommen hat. Und vor allem ist natürlich eines wichtig: Ist das Gift zufällig ins Essen geraten oder war es Absicht?«, stelle ich eine logische Schlussfolgerung in den Raum.

Jetzt ist es mucksmäuschenstill am Tisch. Vergiftung? Geplant? Das wäre ja Mord! Oder zumindest versuchter Mord …

»Reist der Tourist eigentlich in Begleitung?«, fällt mir noch ein. »Das wäre interessant, vor allem, wenn die Reisebegleitung dasselbe gegessen hat oder aber genau weiß, was der Vergiftete wann zu sich genommen hat.«

Vinc hat sich in seinem Stuhl zurückgelehnt und beobachtet mich. Der Terrier hat Spur aufgenommen, soll das wohl heißen. Ich kenne diesen Blick und Vinc kennt mich und weiß, wann ich mich für einen Fall zu interessieren beginne. Ja, zugegeben, ist nicht alltäglich – Rattengift im Essen. Aber ist es wirklich ein Fall? Oder doch nur ein Unglück?

Renato Belotti mustert mich aufmerksam. Klar, genau aus diesem Grund ist er ja so in heller Aufregung.

Zu später Stunde schneit noch Angelo Serra herein.

»Wo warst du gestern Abend zwischen 20 und 21 Uhr?« Alfredo Corini, der Apotheker, zeigt wie mit der Pistole auf Angelo, der ahnungslos seinen Stuhl ranzieht.

»Schon so viel Wein?«, fragt er arglos und alle grölen los.

»Nicht so laut«, mahne ich wieder, ganz Restaurantbesitzertochter. Und sofort senkt sich der Lärmpegel am Tisch. Ist sowieso keinem wirklich zum Spaßen zumute, das Gelächter war eher Blitzableiter für die innere Anspannung.

Die letzten Gäste, die noch an einem Tisch am Fenster sitzen, möchten zahlen. Rosalia kommt rüber und langt ihrem Mann mit festem Griff an die Schulter. Kassieren ist offenbar Chefsache. Typisch, denke ich, und kriege einen Hals, wenn ich daran denke, was diese kleine zierliche Frau alles stemmt. Vinc legt seine Hand auf mein Knie. Er kennt nicht nur meinen Terrierblick, sondern auch meine Abneigung gegen so offen gelebte Rollenklischees zwischen Eheleuten. Echt, das schreit nach einem bösen Kommentar! Aber Vinc bremst mich endgültig, indem er mir ein warnendes »Misch dich nicht ein!« ins Ohr zischt und flüsternd vorschlägt, uns zurückzuziehen, ich hätte ja noch ein Siesta-Versprechen offen und einen Schwur getan …

»Hab ich nicht vergessen«, raune ich zurück, »aber ich kann noch nicht hier weg.«

Vinc prustet los und die Männer mustern ihn verständnislos. Sie fragen sich hoffentlich nur, ob er aus sprachtechnischen Gründen die Pointe erst jetzt mitgekriegt hat und sein Schnauben eine verspätete Reaktion auf Angelos Auftritt ist.

Umberto holt die Geldbörse und kassiert die letzten Gäste ab. Als sie die Osteria verlassen haben, schließt er hinter ihnen ab und verschwindet in der Küche.

»Jetzt haben wir uns Davides edles Tröpfchen verdient«, erklärt er, als er, zwei Flaschen schwenkend, zurückkommt. »Acht Grad«, sagt er, »ein … Aber Davide, sag selber.« Er übergibt das Wort an seinen Freund, während er selbst die Gläser füllt, die Rosalia bereits auf den Tisch gestellt hat.

»Ein Chiaretto di Bardolino von meinem Lieblingsweinberg. Spritzig, frisch.«

»Willst du nicht ein Glas mittrinken?«, frage ich, als Rosalia den letzten Tisch abgeräumt hat und sich dann zurückziehen will.