Bemerkungen zu ›The Authoritarian Personality‹ - Theodor W. Adorno - E-Book

Bemerkungen zu ›The Authoritarian Personality‹ E-Book

Theodor W. Adorno

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Beschreibung

1948 schrieb Theodor W. Adorno einen bis heute unpublizierten Text zum autoritären Charakter, in dem es nicht so sehr um einen Rückblick auf die Nazi-Barbarei geht, sondern vor allem und allgemeiner um das Individuum im Spätkapitalismus, das in Unmündigkeit gezwungen ist, diese aber auch zu wählen scheint. Besonders intensiv erörtert er die Dialektik der Aufklärung und die Bedeutung des Antisemitismus für die Kritische Theorie – also Themen, die angesichts der heutigen Krise des Politischen nichts an Aktualität eingebüßt haben. Neben den erstmals publizierten »Bemerkungen« enthält der Band weitere Schlüsseltexte zum autoritären Charakter und zur öffentlichen Meinung. Ein Kommentar der Herausgeberin erläutert deren Entstehungskontext und stellt Bezüge zu heutigen Debatten her.

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3Theodor W. Adorno

Bemerkungen zu The Authoritarian Personality

und weitere Texte

Herausgegeben von Eva-Maria Ziege

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

Einleitung der Herausgeberin

Bemerkungen zu

The Authoritarian Personality

von Adorno, Frenkel-Brunswik, Levinson, Sanford

A. Der Ort der Studie in der heutigen Forschung

(1) Konzentration aufs Subjektive

(2) Keine Erhebung zu Vorurteilen

(3) Verhältnis zur Psychoanalyse

(4) Keine »Gemeindestudien«, keine »Aktionsforschung«

B. Stellung der Studie im Verhältnis zu anderen Großtheorien

(1) Haltung zu ökonomischen Erklärungen

(2) Haltung zum soziologischen Ansatz

(3) Haltung zur Religionsthese

(4) Haltung zur »existentialistischen« Theorie

(5) Allgemeine Bemerkungen zur psychologischen Theorie des Antisemitismus

Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika

Meinung Wahn Gesellschaft

Nachwort der Herausgeberin

Editorische Notiz

Fußnoten

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

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7Einleitung der Herausgeberin

1947 schrieb Theodor W. Adorno einen Text, der hier erstmals veröffentlicht wird: »Bemerkungen zu The Authoritarian Personality«.[1] Er bezieht sich auf jene Untersuchung, die bald zu einem Klassiker der Sozialforschung des 20. Jahrhunderts werden sollte: The Authoritarian Personality.[2] Das Hauptthema der berühmten Studie war, so Max Horkheimer, nichts Geringeres als eine neue Anthropologie des Individuums im gegenwärtigen Kapitalismus. Es ging um

ein relativ neues Konzept – das Aufkommen einer »anthropologischen« Spezies, die wir als den autoritären Menschentypus bezeichnen. Im Gegensatz zum Fanatiker früherer Zeiten scheint er die für eine hochindustrialisierte Gesellschaft charakteristischen Vorstellungen und Fähigkeiten mit irrationalen oder antirationalen Überzeugungen zu verbinden. Er ist zugleich aufgeklärt und abergläubisch, stolz, Individualist zu sein und in ständiger Furcht, nicht so zu sein wie alle anderen, eifersüchtig auf seine Unabhängigkeit bedacht und geneigt, sich blindlings der Macht und Autorität zu unterwerfen.[3]

The Authoritarian Personality von Adorno, Else Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson und R. Nevitt Sanford wurde 1950 in der Reihe Studies in Prejudice in den USA publiziert und erschien nie vollständig in deutscher Sprache. Zwar gab es schon in den 1950er Jahren, nachdem das Institut für Sozialforschung (IfS) aus dem US-Exil 8in die Bundesrepublik Deutschland zurückgekehrt war, Pläne, das fast tausendseitige Werk zu übersetzen, aber sie scheiterten ebenso wie spätere Versuche, auch wenn 1968 Teile im Raubdruck erschienen.[4] Seine eigenen Beiträge zu diesem Projekt einem deutschen Publikum zugänglich zu machen war »immer Adornos besonderer Wunsch«, wie Ludwig von Friedeburg 1973 in der Vorrede zu der (diesen Wunsch verwirklichenden) Teilausgabe schrieb, die zum 11. September 1973 – Adornos 70. Geburtstag – unter dem Titel Studien zum autoritären Charakter erschien.[5] Der hier vorliegende Band erscheint zum Todestag Adornos am 6. August 1969, der sich 2019 zum fünfzigsten Mal jährt. Er enthält neben den »Bemerkungen« zwei weitere Texte, die zeigen, wie Adorno im zeitgeschichtlichen Kontext Westdeutschlands Fragen aus The Authoritarian Personality in allgemeinerer Absicht reformulierte und das sozialpsychologische Unterfangen 20 Jahre später reflektierte.[6]

Als die »Bemerkungen zu The Authoritarian Personality« entstanden, war die Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno gerade erschienen.[7] Der langwierige Editionsprozeß für den umfangreichen Band zum autoritären Charakter war noch in 9vollem Gange und zog sich mit Bearbeitungen und neuen Texteinschüben bis 1949 hin. Die »Bemerkungen« wurden als Entwurf für ein »Kapitel über die Stellung der Studie im Verhältnis zu anderen Theorien und Forschungen« geschrieben.[8] Adorno wollte dieses Kapitel zunächst »lieber aus dem Buch draußen halten und irgendwie separat publizieren«,[9] später aber von Sanford »nun doch zum Kern des Schlußkapitels«[10] machen lassen. Deshalb strukturierte er den Text in einer für ihn untypischen Weise mit Zwischenüberschriften alphanumerisch entsprechend dem Gliederungsprinzip der Studie.

In der Tat gingen Aspekte seines Entwurfs von 1947 in das erheblich kürzere Schlußkapitel ein, das nicht namentlich gezeichnet wurde und die Standpunkte der anderen Autorinnen und Autoren ebenso zu berücksichtigen hatte.[11]The Authoritarian Personality war ja nicht, oder jedenfalls nicht nur, ein Produkt des IfS. Es handelte sich um ein Kooperationsprojekt mit der Berkeley Public Opinion Study Group, in das außerdem in einem durchaus inhaltlichen Sinn das American Jewish Committee (AJC) – der Geldgeber – eingebunden war. Adorno war der einzige Vertreter der Kritischen Theorie in dem Team, das er zusammen mit dem amerikanischen Psychologen Nevitt Sanford leitete. Daniel J. Levinson und die österreichische Exilantin Else Frenkel-Brunswik, beide ebenfalls Psychologen, arbeiteten seit längerem mit Sanford zusammen. Sanford und Levinson hegten keine größeren gesellschaftstheoretischen Ambitionen, sondern waren positivistisch, ja, zum Teil behavioristisch orientiert. Sie arbeiteten quantitativ, waren jedoch durchaus offen für andere Methoden. Frenkel-Brunswik war durch den Wiener Kreis und den logischen Empirismus, die Psychologie Charlotte Bühlers, aber auch die Psychoanalyse (unter anderem in Gestalt einer an Fromm anschließenden Sozialisationstheorie) von ganz unterschiedlichen, ja konträren Theorieansätzen beeinflußt und löste sich im Exil immer mehr vom Behaviorismus. 10Der kleinste gemeinsame Nenner der Berkeley-Gruppe und des IfS lag in der Orientierung am dynamischen Charaktermodell der Psychoanalyse und einer gemeinsamen Ablehnung der metapsychologischen und phylogenetischen Spekulationen Freuds.

Man kann vermuten, daß die an der Studie beteiligten Psychologen – vielleicht mit Ausnahme Frenkel-Brunswiks – die Kritische Theorie der Frankfurter Prägung kaum kannten. Das mag Horkheimer und Adorno in gewisser Weise sogar entgegengekommen sein, hatten sie doch schon Anfang der 1930er Jahre damit begonnen, den Marxschen Gehalt ihrer Arbeiten unsichtbar zu machen. Und in den Vereinigten Staaten, wo sie Zuflucht vor der Nazidiktatur fanden, war die Entscheidung für eine esoterische Kulturkritik der »verschwiegenen Orthodoxie«[12] auch politisch vernünftig. Sie erhöhte zudem die Chancen auf Kooperationsmöglichkeiten des IfS mit der Normalwissenschaft in den USA, ja war eine Voraussetzung für den Erfolg von The Authoritarian Personality und der Studies in Prejudice insgesamt. In der Bundesrepublik sollten sich diese »Bedenken gegen eine allzu offene Sprache« keineswegs verflüchtigen, sondern Anfang der 1960er Jahre sogar verschärfen.[13] Dies zeigt unter anderem Adornos Text »Meinung Wahn Gesellschaft«.[14] Erst mit den Raubdrucken der Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre änderte sich die Situation, und das Nebeneinander von esoterischem und exoterischem Denken wurde offenbar.

Auch die empirischen Projekte hatten »›esoterische‹ Bedeutung«.[15] Das ist keine nachträgliche Konstruktion, vielmehr machen es die internen Korrespondenzen des Kreises der exilierten Frankfurter seit den frühen 1940er Jahren deutlich. Intern blieb nicht nur die Kritik an der Anthropologie und der Metapsychologie Freuds, während nach außen eine orthodoxe Lesart der Psychoanalyse im Einklang mit Freuds zweiter Triebtheorie favorisiert wurde, sondern vor allem die marxistisch grundierte Kritik der Politischen Ökonomie. 11Und obwohl sich Adorno bei seinen qualitativen Inhaltsanalysen in The Authoritarian Personality an den marxistischen Annahmen des Kernparadigmas orientierte, waren sie so subtil, daß sie kaum jemand erkennen konnte. Die »Bemerkungen zu The Authoritarian Personality«, gewissermaßen eine »Ortsbestimmung der kritischen Theorie«, machen sie und damit auch den gesellschaftstheoretischen Kern des Ganzen sichtbar.

Andere und kürzere Textstücke hingegen, die dem Interesse Horkheimers und Adornos dienten, »soweit wie nur möglich unseren eigentlichen Standpunkt«[16] zu verdeutlichen, wurden noch 1948/49 in letzter Minute an entscheidenden Stellen in The Authoritarian Personality eingefügt. Adorno schrieb eine kurze Einleitung »von außerordentlicher Wichtigkeit« zu seinem Teil des Bandes,[17] Horkheimer die eingangs zitierte programmatische Passage, den grandiosen Auftakt des Vorworts.[18] Der Band insgesamt aber war theoretisch viel offener – bis hin zu Orientierungen, die im Revisionismus- und im Positivismusstreit und in der unermüdlichen Kritik am Behaviorismus wiederholt Gegenstand wissenschaftlicher Debatten mit anderen Schulen wurden. Durch sie wurde das Paradigma der »Frankfurter Schule« in zyklischen Abständen reaktualisiert und immer wieder aufs neue gegen andere Ansätze profiliert.[19]

Als für seinen Anteil an den Untersuchungen »verbindlich«[20] betrachtete Adorno das Kapitel »Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung« in der Dialektik der Aufklärung. Mit diesem Hinweis wollte er Ende der 1960er Jahre ein Mißverständnis auflösen, »dem die ›Authoritarian Personality‹ von Anbeginn sich 12ausgesetzt sah, und an dem sie, durch ihre Akzentsetzung, nicht ganz unschuldig sein mochte«, wie er in »Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika« sagte: »daß die Autoren versucht hätten, den Antisemitismus, und darüber hinaus den Faschismus insgesamt, lediglich subjektiv zu begründen, dem Irrtum verfallen, dies politisch-ökonomische Phänomen sei primär psychologischer Art«.[21] Die Dialektik der Aufklärung war für The Authoritarian Personality aber auch insofern von größter Bedeutung, als er Fragen für die Interviews teilweise »durch eine Art von Übersetzungsarbeit aus den ›Elementen des Antisemitismus‹ ausdestilliert« hatte.[22] Die Studie wich, wie Adorno später schrieb, in spielerischer Freiheit »von den Vorstellungen einer pedantischen Wissenschaft […] erheblich« ab.[23] Neben der Dialektik der Aufklärung griff er außerdem auf eine bereits abgeschlossene empirische Studie des IfS zurück – Antisemitism among American Labor (1945) –, auf deren Grundlage er einen eigenen weiteren Fragebogen ausarbeiten ließ.[24] Die »Arbeiterstudie« – ein heute nahezu vergessenes Großprojekt, weil die Publikationspläne sich nie realisieren ließen – war größtenteils 1944 entstanden. Mitarbeiter des Instituts hatten untersucht, wie sich der Zweite Weltkrieg und die Medienberichte über den Völkermord an den europäischen Juden auf Einstellungen gegenüber Juden in der US-amerikanischen Arbeiterschaft auswirkten. Die Studie ist gewissermaßen das missing link zwischen Dialektik der Aufklärung und The Authoritarian Personality. Sie ist auch ein multikulturelles »blue-collar«-Pendant zu letzterer, deren Sample sich ausschließlich aus weißen nichtjüdischen Angehörigen der Mittelschicht zusammensetzte, die in den USA geboren waren.

13Man darf nicht vergessen, daß das IfS im Exil über lange Zeit ein wissenschaftlicher Außenseiter war: Es war nur zeitweise und lose an einer Universität verankert und wurde durch zivilgesellschaftliche Interessenverbände finanziert, nicht durch eine der großen Stiftungen wie Rockefeller oder Carnegie. Die US-amerikanische Soziologie, die sich in der American Sociological Association (ASA) organisierte, war dominiert vom Positivismus und vom Wertfreiheitstheorem einer sich am Modell der Naturwissenschaft orientierenden Sozialwissenschaft, dazu geprägt von politischem Isolationismus und einem keineswegs immer nur latenten Antisemitismus. Als Max Horkheimer 1949 die eingangs zitierte Passage über die »anthropologische« Spezies des autoritären Charakters an prominenter Stelle in das Vorwort zu The Authoritarian Personality einschob, war er sich bewußt, wie sehr er die »Lundborgs [sic!]« damit ärgern würde.[25] Aller behaupteten Wertfreiheit zum Trotz war die Anpassung des Individuums an die herrschende Ordnung das erklärte Ziel George Lundbergs, der 1943 Präsident der ASA war; ja, Soziologie als Wissenschaft sollte expressis verbis ein Instrument dieser Anpassung sein.[26] In seiner »Presidential Address« hatte Lundberg die legalistische und moralistische Einmischung der Juden in eine rationale Soziologie attackiert und sich damit des klassischen Repertoires antisemitischer Stereotype bedient.[27] Demgegenüber stand Talcott Parsons, der 1949 zum Präsidenten der ASA gewählt wurde, mit seinem politischen Engagement sowie mit seinen Faschismus- und Antisemitismusanalysen dezidiert für eine Gegenbewegung. Eine Faschismusgefahr für die USA sah er aber ebensowenig wie Lundberg.[28]

Parsons Einschätzung, für die jener gute Gründe hatte, wurde bei weitem nicht von allen geteilt. Die Forschungsaufträge für die Studies in Prejudice oder andere Projekte zu ähnlichen Themen, 14etwa Eugene Hartleys Problems in Prejudice,[29] zeigen, wie real die Gefahr eines aufkommenden Faschismus gerade nach dem Zweiten Weltkrieg wissenschaftlichen, politischen und zivilgesellschaftlichen Gruppen schien. Auch in den USA gab es eine Tradition des Mißtrauens gegen die konstitutionelle Demokratie, die im Populismus ihre »klassische Form« gewann,[30] beispielsweise in Gestalt der Populist Party, einer in den 1890er Jahren gegründeten linken Bauernpartei, die die Interessen des Volkes gegen die der Eliten verteidigen wollte. Solche Bewegungen von links wie rechts setzten sich vom Ersten bis zum Zweiten Weltkrieg in zum Teil gewaltbereiten Gruppen wie dem Ku-Klux-Klan und der America First Party von Gerald L. K. Smith fort. Sozialrevolutionäre und faschistische Prediger und Agitatoren der extremen Rechten waren öffentlich präsent und erreichten vor allem über den Rundfunk Millionen Amerikaner. Zwar war Antisemitismus mit der Ideologie des »Amerikanismus«[31] unvereinbar und unter den Präsidenten Roosevelt und Truman geächtet, aber seine Konjunkturen verliefen trotzdem wie in Europa und er erreichte 1947 hier wie dort noch hohe Werte, die erst Ende der 1940er Jahre deutlich zurückgingen.[32] Die erste Phase der Rezeption von The Authoritarian Personality fiel in die McCarthy-Ära, die von 1947 an knapp zehn Jahre das politische Geschehen dominierte. Auch Talcott Parsons wurde Zielscheibe eines Verfahrens unter McCarthy.

Im Mittelpunkt von The Authoritarian Personality stand das »potentiell faschistische Individuum […], dessen Struktur es beson15ders empfänglich für antidemokratische Propaganda macht«.[33] Die USA hatten die Nazis und deren faschistische Verbündete gerade im Krieg besiegt. Unmittelbar nach Kriegsende, als das empirische Material erhoben wurde, konnte man in den USA nach solchen Überzeugungen kaum offen fragen. Die Aufgabe bestand darin herauszufinden, was der Mensch »›wirklich denkt‹«,[34] das heißt, die verborgenen Tendenzen aufzuspüren, in denen das Potential für demokratische oder antidemokratische Ideen und Handlungen liegt. Die Studie war »an der Hypothese orientiert, daß die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Überzeugungen eines Individuums häufig ein umfassendes und kohärentes, gleichsam durch eine ›Mentalität‹ […] zusammengehaltenes Denkmuster bilden, und daß dieses Denkmuster Ausdruck verborgener Züge der individuellen Charakterstruktur ist«.[35] Die Empfänglichkeit des Individuums für faschistische Ideologien hing, so die Annahme, von tiefliegenden psychologischen Bedürfnissen ab, die mit Hilfe der Psychoanalyse zu entschlüsseln seien. Als Hauptmerkmal des autoritären Charakters wurde die Ambivalenz zwischen der Unterwerfung unter die Autoritäten und der destruktiven Rebellion gegen diese bestimmt, in der sich die verborgenen Wünsche der Individuen und deren trügerische Erfüllung spiegelten: Unter den objektiven Bedingungen der Industriegesellschaft, der ihr innewohnenden »›Kälte‹«, seien es die faschistischen Agitatoren, so Adorno schon 1943, die sich darauf verstünden, die Menschen in der Massengesellschaft direkt anzusprechen und ihnen zu suggerieren, daß sie ihr Gefühl der Entfremdung ernst nehmen.[36]

Diese Konzentration aufs Subjektive kann wie ein Widerspruch zu den Grundüberzeugungen der Kritischen Theorie wirken; und tatsächlich finden sich in The Authoritarian Personality kaum Spuren oder gar empirische Belege, die auf die Bedeutung der gesellschaftlichen Verhältnisse, etwa in Gestalt des sozioökonomischen Status der einzelnen, für die Formierung des autoritären Charakters hindeuten. In den »Bemerkungen« löst Adorno diesen 16scheinbaren Widerspruch auf, indem er – in Anknüpfung an das »Kulturindustrie«-Kapitel der Dialektik der Aufklärung – einen Zusammenhang herstellt zwischen dem sozialpsychologisch erfaßbaren Zustand der Entfremdung und der Warenwirtschaft im gegenwärtigen Kapitalismus.[37]

Der Studie zum autoritären Charakter lag die Arbeitshypothese zugrunde, daß zwischen individueller Charakterstruktur, Vorurteil und der Rezeptionsbereitschaft für faschistische Propaganda ein Zusammenhang besteht. Ob es sich tatsächlich so verhält, sollte empirisch geprüft werden. Das Forschungsdesign war Aufgabe der beiden Direktoren, Adornos und Sanfords. Levinson war für die Methodenseite zuständig; er konzipierte zunächst drei Skalen mit entsprechenden Items: mit der A-Skala sollte Antisemitismus, mit der E-Skala Ethnozentrismus und mit der PEC-Skala politisch-ökonomischer Konservatismus gemessen werden. Aus diesen drei Skalen entstand schließlich die berühmte Faschismus-Skala (F-Skala). Technisch gesehen war auch sie Levinsons Werk, inhaltlich aber handelt es sich um ein genuines Gemeinschaftsprodukt, wie überhaupt die Studie im Ganzen eine Kombination verschiedenster Methoden und Ansätze aller Beteiligten ist. Die Messung ideologischer Trends mit dem Instrument der F-Skala wurde ergänzt durch klinische Interviews, projektive Tests, qualitative Analysen sowie Anwendungen auf Einzelfälle und Schlüsselgruppen. Alle qualitativen Analysen in The Authoritarian Personality stammten von Adorno.[38]

Latente Dispositionen »möglichst indirekt« zu ermitteln[39] war das Ziel der F-Skala. Ihre Substanz bildeten neun Variablen, die maßgeblich von Adorno erarbeitet wurden: Konventionalismus (starres Festhalten an tradierten Werten des Mittelstandes), autoritäre Unterwürfigkeit (unterwürfige, unkritische Haltung gegenüber idealisierten Autoritäten der Eigengruppe), autoritäre Aggression (Tendenz, nach Menschen Ausschau zu halten, die konventionelle Werte mißachten, um sie verurteilen, ablehnen und bestrafen zu können), Anti-Intrazeption (Abwehr des Subjektiven, Phantasievol17len, Sensiblen), Aberglaube und Stereotypie (Glaube an die mystische Bestimmung des eigenen Schicksals; die Disposition, in rigiden Kategorien zu denken), Machtdenken und »Kraftmeierei« (Denken in Dimensionen von Herrschaft – Unterwerfung, stark – schwach, Führer – Gefolgschaft, Identifikation mit Machtgestalten, Überbetonung der konventionalisierten Attribute des Ichs, übertriebene Zurschaustellung von Stärke und Robustheit), Destruktivität und Zynismus (allgemeine Feindseligkeit, Diffamierung des Humanen), Projektivität (Disposition, an wüste und gefährliche Vorgänge in der Welt zu glauben, Projektion unbewußter Triebimpulse auf die Außenwelt) und Sexualität (sexuelle Projektionen, übertriebene Beschäftigung mit sexuellen Vorgängen, harsche Verurteilung von Homosexualität, negativ besetzte Unterstellung erotischer Exzesse in sozial überlegenen Kreisen).[40]

Diese Variablen, so die These der Studie, konnten zu einem »Syndrom« verschmelzen und sich zu einer mehr oder minder dauerhaften Struktur im Individuum verfestigen – dem autoritären Charakter.[41] Die meisten Items der F-Skala waren bewußt projektiv angelegt; derartige Tests gehörten zum etablierten Methodenkanon der empirischen Sozialforschung. Die Forscherinnen und Forscher nahmen an, daß die Reaktionen auf die Stimuli durch Triebbedürfnisse beeinflußt wurden und somit Zugang zu tiefliegenden psychischen Tendenzen ermöglichten. In der Psychoanalyse bezeichnet der Begriff der Projektion die dem projizierenden Individuum selbst unbewußte Operation, eigene Affekte, Wünsche oder Gedanken nach außen auf Objekte oder Personen zu verschieben und »meist ›negativ‹« zu besetzen.[42] Damit gelingt es dem Subjekt, unerwünschte Gefühle, Impulse oder Bewertungen gewissermaßen loszuwerden, indem es sie anderswo – in einer anderen Person oder in einem Objekt – verortet. In diesem Sinne versteht Freud die Projektion als Abwehrmechanismus, den er prominent in seiner Abhandlung über den »Fall Schreber« beschrieb, im Kontext von Paranoia und Wahn.[43]

18War der Antisemitismus zu Beginn des Forschungsprojekts zum autoritären Charakter »Angelpunkt aller Reflexionen«,[44] so verschob sich der Schwerpunkt im Verlaufe des Prozesses immer mehr in Richtung einer Untersuchung von Vorurteilen in Beziehung zu umfassenderen ideologischen und charakterologischen Konfigurationen.[45] In den »Bemerkungen« kehrte Adorno jedoch wieder zum ursprünglichen »Angelpunkt« zurück.

Auf den ersten Blick, schrieb die Sozialpsychologin Marie Jahoda (eine der vielen unsichtbaren Mitarbeiterinnen an der Studie) 1954, vermittle The Authoritarian Personality einen überwältigenden empirischen Eindruck, der noch dadurch verstärkt würde, daß eine konzise Formulierung des theoretischen Standpunkts fehle.[46] Jahoda hat nicht unrecht. Insgesamt 23 publizierte Teile, einige empirisch, andere anthropologisch, wieder andere sozialpsychologisch-psychoanalytisch, werden nur lose durch eine große Einleitung der vier Hauptautoren zusammengehalten, ein wirkliches Schlußkapitel fehlt, ja, eine umfassende Endredaktion, die die Beiträge miteinander in Einklang brachte, gab es nicht.

1949, also kurz bevor The Authoritarian Personality in den USA erschien, kehrte Adorno nach Westdeutschland zurück.[47] Das Kriegsende und der Genozid an den Juden lagen nur wenige Jahre zurück, in den Lehrveranstaltungen der Universitäten saßen junge Veteranen, in Bürokratie und Institutionen alte Nazis. Die Siegermächte dominierten den öffentlichen Diskurs und bemühten sich um Reeducation. Eben daran – an der Erziehung der Deutschen zur Demokratie – wollte sich das neugegründete Institut für Sozialforschung beteiligen. Adorno kam sowohl im soziologischen wie philosophischen Kontext immer wieder auf das Thema des 19autoritären Charakters zurück: in zwei Seminaren (WS 1959/60 und 1967/68), in seinen Vorlesungen wie »Philosophie und Soziologie« (1960), »Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit« (1964/65), »Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft« (1964) und »Einleitung in die Soziologie« (1968) sowie in nichtakademischen Vorträgen und Diskussionen. Am Institut oder in dessen Arbeitszusammenhang entstand in den 1950er und 1960er Jahren zudem eine Vielzahl von Studien, die das antidemokratische Potential in der Bundesrepublik untersuchten: Gruppenexperiment (1955), Reaktionen auf die antisemitische Welle im Winter 1959/1960 (1961), Student und Politik (1961), Reaktionen auf Politische Vorgänge (1967), Autoritarismus und Politische Apathie (1971), Sind Arbeiter autoritär? (1975).[48]

Adorno blieb, so formuliert es Jürgen Habermas, »dem philosophischen Impuls treu«,[49] aber dem sozialwissenschaftlichen auch, wie man wohl hinzufügen darf. Die Themen, die ihn in seiner wissenschaftlichen Arbeit in Amerika beschäftigt haben, hinterlassen Spuren noch in seinem philosophischen Spätwerk. Adorno selbst stellte eine Verbindung zu frühen Arbeiten der 1930er Jahre her: Der theoretische Kern der Arbeit über Jazz habe »in wesentlicher Beziehung zu späteren sozialpsychologischen Untersuchungen«[50] gestanden. Andere der musiksoziologischen Studien, insbesondere die »Fragmente über Wagner« (1939), enthalten bereits wesentliche Elemente der Theorie des autoritären Charakters und der Antisemitismustheorie. Habermas nannte die empirische Seite der Frankfurter Schule die Fortsetzung der Philosophie mit anderen 20Mitteln.[51] Das trifft zu mit Blick auf Horkheimers ursprüngliche Programmatik für das Institut; allerdings hat sich diese empirische Seite mit der Zeit verselbständigt. In den USA und auch international wurde The Authoritarian Personality vor allem in sozialpsychologischen Fachkreisen rezipiert, für die der Denkansatz der Frankfurter Schule keine Bedeutung hatte und in denen die Dialektik der Aufklärung nicht zur Standardlektüre gehörte.

Angesichts der ungewöhnlichen Fähigkeit Adornos, seine Sprache – »Verbindlichkeit und Dichte« – je nach Gegenstand und Anlaß zu variieren und etwa bei pädagogischen oder politischen Vorträgen auch frei zu improvisieren, ist die Frage, mit welcher Sorte von Text wir es bei den »Bemerkungen« zu tun haben, keine nebensächliche. »Sprache, die sich verselbständigt gegenüber dem, was die wechselnden Sachen verlangen, ist kein Stil.«[52] Bei den »Bemerkungen« handelt es sich um einen sozialwissenschaftlichen Text, dessen Sprache sich dem großen Buch anpaßt und in der Adorno die fast tausendseitige Studie auf ihren gesellschaftstheoretischen Punkt bringt. Er geht in medias res.

21Bemerkungen zu The Authoritarian Personalityvon Adorno, Frenkel-Brunswik, Levinson, Sanford

23A. Der Ort der Studie in der heutigen Forschung

Um Ziel und Reichweite der Studie im Verhältnis zur aktuellen Vorurteilsforschung zu verdeutlichen, sollen hier die spezifischen Unterschiede zwischen unserer Arbeit und der der anderen herausgearbeitet werden. Zum Teil ergeben diese Unterschiede sich aus äußerlichen und mehr oder weniger zufälligen Faktoren, etwa der Konstellation, aus der die Studie sich entwickelte, der Tatsache, daß die leitenden Mitarbeiter besonders an der sozialpsychologischen Dimension des Projekts interessiert waren,[1] und anderen mehr. Allerdings haben wir diese Umstände nicht naiv hingenommen. Zwar mußten wir uns mit den verfügbaren Ressourcen arrangieren, doch wollten wir bei der Festlegung unserer Aufgabenstellung die produktivste Auswertung des Materials gewährleisten, indem wir uns auf die Probleme konzentrierten, die wir für entscheidend hielten, die aber in der uns bekannten Literatur kaum diskutiert wurden. Diese Absicht führte nicht nur zu einer auf Arbeitsteilung angelegten Planung, sondern auch zu einer kritischen Auseinandersetzung mit anderen Ansätzen.

Besonders eine Studie weist sowohl im allgemeinen Ansatz als auch in den Methoden große Affinität zu unserem Projekt auf: Eugene Hartleys Problems in Prejudice.[2] Sein Vorhaben war uns nicht bekannt, und als wir seinen Forschungsbericht erhielten, war die abschließende Niederschrift unserer Ergebnisse bereits weit fortgeschritten. Die Übereinstimmung zwischen Hartleys und unseren Befunden zum vorurteilsgeleiteten Charakter betrachten wir als substantielle Bestätigung der zugrundeliegenden Konzepte. Doch 24sind die Studien in Anlage, Methoden und theoretischen Grundlagen zu verschieden, als daß das Problem einer Duplizierung sich stellen würde.[3]

(1) Konzentration aufs Subjektive[4]

Unsere Untersuchung von Vorurteilen widmet sich subjektiven Aspekten. Es geht nicht um objektive gesellschaftliche Kräfte, etwa wirtschaftliche und historische Determinanten, die Fanatismus[5] produzieren und reproduzieren. Selbst kurzfristig wirksame Faktoren wie Propaganda werden nicht per se berücksichtigt, obwohl wichtige Hypothesen auf Propagandaanalysen des Instituts für Sozialforschung[6]25beruhen.[7] All jene Stimuli, die Vorurteile verstärken, ja das gesamte kulturelle Klima, das von Minderheitenstereotypen durchdrungen ist, werden als gegeben vorausgesetzt. Ihrer Wirkung auf unsere Versuchspersonen wird nicht nachgegangen. Wir verbleiben gewissermaßen im Bereich der Reaktionen, nicht der Reize.

Wir sind überzeugt, daß Vorurteile letztlich durch gesellschaftliche Faktoren erzeugt werden, die unvergleichlich viel schwerer wiegen als die »Psyche« irgendeines involvierten Individuums. Die Ergebnisse der Studie bestätigen diese Annahme insofern, als sie belegen, daß die Anpassung an die Werte, die durch den »objektiven Geist« der amerikanischen Gesellschaft heutzutage implizit gefördert werden, eine der Haupteigenschaften unserer Versuchspersonen mit hohen Punktwerten[8] ist. Der Risiken, die sich aus 26einer Studie der subjektiven Momente ergeben, sind wir uns also vollauf bewußt. Daß wir uns auf eine detaillierte Untersuchung subjektiver Muster konzentriert haben, heißt nicht, wir meinten, Vorurteile könnten auf diese Weise erklärt werden. Ganz im Gegenteil, wir halten die Analyse der objektiven gesellschaftlichen Kräfte, die Vorurteile erzeugen, für die dringendste Aufgabe der heutigen Forschung, die sich mit der Voreingenommenheit gegenüber Minderheiten befaßt. Daß diese Aufgabe von amerikanischen Wissenschaftlern weitgehend vernachlässig wird, liegt an ihrem »demokratischen Vorurteil«, dem zufolge man gesellschaftlich valide Befunde nur dann erzielen kann, wenn man eine riesige Anzahl von Menschen befragt, von deren Meinungen und Einstellungen die Zukunft abhänge – gerade so, wie der Erfolg einer auf dem Markt angebotenen Ware angeblich von der Mentalität des Käufers abhänge. Ein nicht unwesentliches Ergebnis unserer Studie besteht in methodologischer Hinsicht in dem Verdacht, daß diese Annahme so nicht mehr zutrifft. Unsere Versuchspersonen mit hohen Punktzahlen auf den Skalen scheinen nicht wie autonome Instanzen zu agieren, deren Entscheidungen für ihr eigenes Schicksal und das der Gesellschaft von Gewicht sind, sondern eher wie submissive Reaktionszentren, die dem konventionellen Verständnis dessen zu entsprechen suchen, »was sich gehört«, die die vermeintliche »Welle der Zukunft« reiten. Diese Beobachtung scheint mit der ökonomischen Tendenz zum allmählichen Verschwinden des freien Markts und der Angleichung des Menschen an die allmählich entstehende neue Ordnung sich zu decken. Untersuchungen, die sich auf die konventionellen Methoden der Meinungsforschung verlassen, könnten leicht an den Punkt geraten, an dem die orthodoxe Vorstellung von dem, was Menschen fühlen, wollen und tun, sich als obsolet erweist.

Ökonomische Fragen werden in unserer Studie, wenn überhaupt, nur auf der ideologischen Ebene berücksichtigt. Wir registrieren die expliziten Ansichten unserer Versuchspersonen zu konkreten wirtschaftlichen Fragen, darunter so entscheidenden wie der freien Marktwirtschaft, der staatlichen Kontrolle und der Arbei27terbewegung, und interpretieren sie auch zum Teil. Doch erlauben die auf Grundlage dieses Materials gezogenen Folgerungen keine zuverlässigen Rückschlüsse auf die wirklich wirksamen wirtschaftlichen Kräfte, die Vorurteile heutzutage befördern. Sie betreffen eher die Denkmuster als die tatsächliche Wirkung, die die großen ökonomischen Gesetzmäßigkeiten und Trends auf die Dynamik der Vorurteile und ihrer politischen Ausdrucksformen haben mögen.

Unsere Haltung zum ökonomischen Determinismus haben wir im ersten Abschnitt dargelegt; dazu folgen weiter unten einige zusätzliche Bemerkungen. Hier soll es zunächst in knappen Worten um den Mangel an historischer Perspektive gehen, den man unsrer Studie vorwerfen könnte. Er ergibt sich nicht nur aus der spezifischen Situation in Amerika, die im Gegensatz zu Europa nicht von einer uralten Tradition des Antisemitismus belastet wird. Noch andere, weniger oberflächliche Überlegungen sind im Spiel. Die zeitgenössische antisemitische Literatur kommt zwar selten ohne die Vorstellung vom »ewigen Juden« aus, doch muß bezweifelt werden, daß der moderne Antisemitismus im engeren Sinne des Wortes ein »historisches« Phänomen, daß er also aus einer spezifischen antisemitischen Tradition hervorgegangen ist. Seine historischen Wurzeln liegen vielmehr im allgemeinen Trend zur stetig wachsenden »Integration« des Individuums in die gesellschaftliche Totalität und, damit zusammenhängend, darin, daß die Zivilisation ihren vermeintlichen Nutznießern immer mehr Opfer abverlangt. Zwischen den älteren Formen des Antisemitismus und seiner gegenwärtigen totalitären Ausprägung herrscht keine ungebrochene historische Kontinuität.[9] Das Unechte am Antisemitismus, auf das 28wiederholt hingewiesen worden ist (siehe Sartre[10]), die vielen Hinweise, daß sogar unsere Versuchspersonen mit hohen Punktwerten nur selten selbst ganz und gar an ihn glauben, legen die Annahme nahe, daß der moderne Antisemitismus in erheblichem Maße sich auf eine künstliche Pseudotradition stützt, die von seinen führenden Vertretern willkürlich geweckt werden kann und der ihr Fußvolk blindlings folgt. So irrational er auch sein mochte, so deckte der Antisemitismus der Vergangenheit sich doch zumindest mit bestimmten, wenn auch abwegigen gesellschaftlichen Grundvorstellungen, allen voran dem christlichen Glauben an den Teufel. Diese historische Grundlage ist in der Neuzeit durch die Aufklärung völlig aufgelöst worden. Soweit es die konkrete historische Motivation betrifft, belegt Joshua Trachtenbergs außergewöhnlich wertvolle Studie The Devil and the Jews eindringlich, daß die mittelalterlichen und zeitgenössischen Formen der Judenverfolgung vollkommen verschieden sind.[11] Ihre Wurzel ist auf eine quasi ahistorische, invariable Weise zwar letztlich die gleiche: gesellschaftliche Repression und die daraus entstehenden sadistischen Impulse. Doch wenn es um den Inhalt der antijüdischen Ideologie und die primären Reaktionsmuster geht, besteht zwischen ihnen keine echte Kontinuität. In einer Welt, die des Teufels sich vollends entledigt hat, läßt sich kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem religiösen Bann gegen die Juden und der heutigen, administrativ geplanten Liquidierung »minderwertiger Rassen« herstellen. Vielmehr werden die Spuren alter und mitunter halb vergessener Vorurteile und Ste29reotypen durch den ungeminderten gesellschaftlichen Druck neu mobilisiert. Dennoch sind diese Spuren mit dem heutigen Stand gesellschaftlicher Rationalität unvereinbar. Die moderne antisemitische Ideologie ist das Gegenmittel für die Leiden, die die rationale Zivilisation erzeugt, und nicht unmittelbarer Ausdruck dieser Zivilisation selbst oder der Art von Irrationalität, deren die Antisemiten sich rühmen. Dieser Widerspruch schwächt ihre Gewalttätigkeit nicht, sondern steigert sie noch. Die, die nicht an ihre eigene Sache glauben können, die Adepten der Technologie, die aus dem Speicher ihres geistigen Haushalts mit dämonologischen Vorstellungen sich selbst versorgen, suchen sich die Wahrheit ihres Evangeliums durch die Realität und die Unumkehrbarkeit ihrer Handlungen stets aufs neue zu beweisen.

Eine ernstzunehmende historische Analyse des modernen Antisemitismus darf sich nicht auf seine Eigengeschichte, die »Verfolgung der Juden von ihren Uranfängen«, beschränken.[12]