Ben Vogt: Hexenjagd - Stefan Egeler - E-Book
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Ben Vogt: Hexenjagd E-Book

Stefan Egeler

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Beschreibung

Ben Vogt hat alles im Griff: die Albträume, seine Wut, selbst die Magersucht. Seit seinem Tod jedenfalls.

Das Jenseits hat Ben sich anders vorgestellt. Er ist gefangen in einer geisterhaften Zwischenwelt, in der gefräßige Nebel die Straßen beherrschen. Menschen dagegen spüren ihn nur noch als kalten Hauch.

Ben gerät unvermittelt in einen Machtkampf dreier Hexen, als aus der Familie Wolf ein Kind verschwindet. Denn dessen Großmutter Trude und die Ermittlerin Regina verfolgen bei der Untersuchung unterschiedliche Ziele, doch beide halten Ben für eine Bedrohung. Ganz anders steht die Fußballerin Laura zu Ben – sie möchte ihn gerne als Haustier behalten.

Soll er es tatsächlich wagen, sich in das Leben einer Hexenfamilie einzumischen? Er könnte das Kind retten. Doch seine neuen Fähigkeiten kommen mit einem Preis: Ben muss Albträume bringen.

Folge Ben in eine Welt der Geister, der Hexerei und der Vertuschung.

Meinungen:
»Überrascht durch Originalität und Ausgefeiltheit« - Kelten Buchhandlung Hallein
»Dichte und fast kammerspielartige Atmosphäre« - Melanie Frommholz (Booksection)
»Nimmt den Leser mit in einen Albtraum« - Winfried Brumma (Pressenet)

Ben Vogt: Hexenjagd ist eine Neuauflage des Romans »Der Traumjäger«. Er ist ein in sich abgeschlossener Dark Urban Fantasy Thriller mit einem sympathischen Antihelden, starken Horrorelementen, einer hard-boiled Detektivgeschichte und außergewöhnlicher Hexenmagie.

Triggerwarnung: Enthält Darstellungen von häuslicher Gewalt und Suizid.

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Er hat alles im Griff. Seit seinem Tod jedenfalls.

Die Albträume, seine Wut, selbst die Magersucht: Die Probleme, die Ben Vogt zu Lebzeiten gequält haben, sind in den Hintergrund gerückt. Denn seit seinem Tod ist er gefangen in einer geisterhaften Zwischenwelt. Gefräßige Nebel beherrschen dort die Straßen, die Menschen spüren Ben nur als kalten Hauch. Doch dann gerät er in einen Machtkampf dreier Hexen. Ein Kind wird vermisst, Bens neue Fähigkeiten könnten helfen ... wenn man ihn lässt.

Stefan Egeler: Dark Urban Fantasy

Ich bin Dark Urban Fantasy Autor. Du bekommst bei mir spannende Märchenromane. Entdecke den Grusel in Straßenschluchten und an abgelegenen Seen. Triff allerlei Sagengestalten. Und wirf mit mir den einen oder anderen Blick in die Abgründe der Seele.

Dabei berichte ich quasi aus erster Hand.

Denn aus beinahe sicherer Quelle weiß ich, dass ich der Urenkel eines Hexers bin.

Mehr über mich erfährst du auf

www.stefanegeler.de

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Der Lehrer Albrecht sieht seine Schüler als Lehm, den es zu formen gilt. Doch er begegnet etwas sehr Altem. Und wird selbst geformt …

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Die Fantasie in meiner Familie hat mich immer inspiriert. Etwa weiß ich, dass die Seelen der Verstorbenen als graue Gestalten durch die Welt wandern – das hat mir meine Mutter eines Tages berichtet.
Ihr widme ich dieses Buch.

Prolog

Spätestens seit der Besprechung heute Morgen hasste ich mein Leben. Was sollte das heißen, ich hätte ihm absichtlich die Nase gebrochen? Er hatte mich doch gereizt. Ich spielte die Szene im Kopf durch, sicherlich zum hundertsten Mal, während ich mich auf einen der freien Barhocker setzte und einen Energydrink bestellte, zuckerfrei bitte.

Die Einigung lautete, dass ich am kommenden Montag meine Kündigung einreichen musste. Danach wäre ich offiziell arbeitslos. Ein guter Deal, behauptete mein Bruder Tom. Schließlich entkam ich der Anzeige wegen Körperverletzung. Und trotzdem wusste ich nicht mehr weiter. Ich brauchte den Rettungsdienst für mein Leben. Der Job beruhigte mich. Wie ich das erste Mal als dritter Mann mitgefahren war, mit vierzehn, das hatte sich angefühlt, als hätte ich endlich Linderung gefunden. Inzwischen war ich 29 Jahre alt. Und ich fürchtete, dass es ohne den Dienst wieder so wie früher werden könnte.

Ich zwang mich zu einem kräftigen Schluck und ertrug das Grummeln im Bauch. Im Anschluss an die Besprechung war ich zwei Stunden gelaufen, hatte den Ausgleich gebraucht, um den Kopf freizubekommen. Ein halber Apfel danach, mehr vertrug mein Magen nicht, gerade nach diesen Nachrichten. Heute Nacht würde ich noch einige Energydrinks brauchen. Ich wollte mich wachhalten, denn in den letzten Tagen waren die Albträume wieder heftiger geworden.

Ich blickte erneut auf mein Handy.

Keine neue SMS.

Tom und seine Frau Sammy hatten ein Problem mit der Babysitterin, weshalb sie sich verspäteten. Das war zumindest der aktuelle Stand. Ich ärgerte mich über ihn, schließlich wusste er davon, dass man mich rausgeschmissen hatte. Und vielleicht kamen sie jetzt gar nicht. Nur, weil sie ein Kind hatten.

Der Tanzbereich füllte sich langsam, die Frauen waren erkennbar jenseits der Dreißig. Tom hatte von vielen Mädchen Anfang und Mitte zwanzig gesprochen, aber die waren anscheinend einer anderen Einladung gefolgt. Die meisten der Männer präsentierten graue Schläfen.

»Das ist keine klassische Ü-30-Party«, hatte Tom gemeint.

Aha.

Ich nippte an meinem Getränk. War mir doch egal.

Eine Frau im schwarzen Cocktailkleid tauchte neben mir auf und lehnte sich zur Barkeeperin. Sie war bestimmt fünf Jahre älter als ich, dafür groß gewachsen, nicht zu dürr, sinnlich. Mit wallenden roten Locken. Es wäre sicherlich schön, mich mit ihr zu unterhalten, mit ihr zu tanzen und später … es war ja alles möglich, prinzipiell. Wie gern ich sie angesprochen hätte!

Sie bemerkte meinen Blick und lächelte spitzbübisch. »Na, sag schon was.«

»Äh«, sagte ich. Ertappt musterte ich das Holz der Bar. »Du wartest auf dein Getränk?«

Sie lachte auf. »Du sitzt einsam herum?«

Ich räusperte mich. »Du bist hübsch.«

»Vielen Dank.« Sie lächelte. »Bin die Regina.«

»Ben«, murmelte ich.

Die Barkeeperin stellte ihr zwei Getränke hin.

»Du bist in Begleitung?«

»Luc ist nur ein Freund.« Sie griff nach einem der Gläser. Während sie mich anblickte, umschlossen ihre Lippen sanft den Strohhalm. »Du bist nicht so wie die anderen Männer hier.«

»Nicht so alt?«, fragte ich.

Sie lachte herzlich und legte eine Hand auf meine. Ihre Finger waren so kalt, dass ich beinahe zurückgezuckt wäre.

»Na, sag«, meinte sie dann, »es ist wirklich was mit dir. Was ist passiert?«

Kurz stutzte ich. Aber sie sah mich dermaßen intensiv an, dass es danach einfach aus mir heraussprudelte. Die unglückliche Zeit beim Rettungsdienst und die gebrochene Nase des Kollegen. Die Albträume, die mich seit der Kindheit plagten. Ich bestellte mir noch ein Getränk, wollte ihr auch etwas kaufen, doch sie winkte ab. Der neue Energydrink wechselte in meine Hand und von dort aus direkt auf mein Hemd.

Der Rempler war ein bulliger 50-Jähriger. Er grinste mich abfällig an und sagte: »46 Sekunden.«

Suchte er Streit?

Konnte er haben.

Die Barkeeperin riss mir die Dose aus der Hand. Das verhinderte, dass ich ihm als Antwort den Rest ins Gesicht schüttete.

Sie sagte: »Bekommst einen Neuen. Aufs Haus.«

»Ich brauch eher eine Erklärung von dem da«, knurrte ich.

»Meine Erklärungen haben stets auf Abwege geführt«, antwortete er, und mit einem Seitenblick zu Regina fügte er hinzu: »So wie meine Frauen.«

Dann wandte er sich wieder mir zu, hob die Hände und zuckte entschuldigend mit den Schultern. Aber plötzlich hielt er inne. Er schnüffelte in der Luft herum. »Ach, sieh an. Ein Gezeichneter.«

Er trat einen Schritt auf mich zu und drückte mir seine Wange ans Ohr. Ein beißender Schmerz jagte durch meinen Kopf.

Ich stieß ihn heftig von mir. Meine Schläfen schwirrten. Was war das jetzt gewesen? Ich hob die Faust.

Doch der Fremde wirkte mitleidig. »Dein Schicksal ist grausam, wenn auch für mich nützlich. Nur, warum zeichne ich dem Blinden ein Bild, du verstehst ja nicht einmal, wer deine Herren sind. Oder sein werden? Das Hemd riecht übrigens vorzüglich. Wie heißt das Getränk?«

»Luc, das ist süß, aber lass gut sein.« Regina legte ihm eine Hand auf die Schulter.

Das war Luc, ihre Begleitung? Der »nur ein Freund«? Ich zögerte, senkte schließlich widerwillig den Arm. Dass hübsche Frauen immer solche Arschlöcher dabei haben mussten! Ich hätte gern verstanden, wovon der Mann redete, und fragte mich gleichzeitig, ob das wieder eine meiner Tagtraum-Episoden war. Gezeichneter? Herren? Außerdem kämpfte ich weiterhin mit den Kopfschmerzen. Mir wurde ein bisschen übel.

Ich rutschte vom Barhocker und taumelte in Richtung Toiletten.

»46 Sekunden«, hörte ich ihn sagen. »Hab ich es gesagt? Na? Hab ich?«

»Ich hab nicht mitgestoppt«, antwortete Regina.

Dann drückte ich mich in die Menge.

Einige heftige Rempler später fand ich durch die Tür zur Herrentoilette.

Ich hatte gerade zum zweiten Mal in dieser Woche meine Faust erhoben. Was wohl mit mir los war? Ja, ich hatte dem Kollegen im Rettungswagen die Nase gebrochen. Aber ansonsten hatte ich mir nie etwas zu Schulden kommen lassen. Ich war keine Gefahr oder so was. Meine Träume hatte ich unter Kontrolle. Ebenso die Tagträume. Ich hatte nie jemandem irgendwas Schlimmes angetan, und der besagte Arbeitskollege hatte es ja gewissermaßen verdient. Der Rettungsdienst hatte meine Träume immer besänftigt. Was war inzwischen anders?

Vor einem der Spiegel blieb ich stehen. Meine Wangen wirkten eingefallener als sonst, das Hemd klebte mehr an Rippen als an Muskeln. Da war ich wohl, nach so langer Zeit, am Limit angelangt. Also würde ich dringend etwas ändern müssen.

Ich ließ kaltes Wasser ins Waschbecken laufen, tauchte das Gesicht tief hinein, wusch mir dann den Energydrink von Hals und Armen. Die Nässe beruhigte mich.

Das Brummen meines Handys holte mich zurück. Tom schrieb: »Wir sind da, wo bist du?«

Ich lächelte und steckte das Telefon ein. An meinem Bruder musste man nicht zweifeln.

Als sich die Tür der Toilette hinter mir schloss, wartete im Gang die nächste freundliche Überraschung. Denn Regina schlenderte mit Hüftschwung auf mich zu.

»Das ist die Herrentoilette«, sagte ich, »die Damentoilette liegt auf der anderen Seite.«

Sie lachte. »Oh, Hallo, die von der Welt geplagte Bekanntschaft.«

Ich strahlte sie an. »Mein Bruder Tom ist gekommen!«

Ihr Blick entgleiste. Doch dann fing sie sich wieder und tastete nach meiner Hand. Sie lächelte erneut. Ihre Finger blieben kalt.

»Auf Wiedersehen«, sagte sie mit einem traurigen Unterton in der Stimme. Doch sie ging nicht. Stattdessen drückte sie ihr Becken an meines und legte mir die andere Hand auf die Brust. Das Hemd wurde schlagartig klamm. Ehe ich mich versah, fror es mich so, dass jedes Gefühl für meinen Körper verschwand. Ich registrierte all das nur am Rande, denn ich blickte tiefer und tiefer in ihre Augen.

»Küsst du mich jetzt?«, fragte ich.

Das war der letzte Satz meines Lebens.

Kapitel 1

Drei Wochen später

Der Nebel zog vor die tief stehende Novembersonne und dämpfte ihr Licht. Er fraß Auto um Auto, verschlang Seitengassen und Häuserfronten. Hinter mir quoll er über die Straße. Damit schnitt er mir jede Rückzugsmöglichkeit ab. Es erstaunte mich, wie gleichgültig mir das war.

Ich lief nun langsamer, dabei hätte ich den Fuß besser komplett geschont. Immerhin hatte sich die Haut über meinem Knöchel bisher nur dürftig geschlossen. Ich sah die Sehne arbeiten und stellte fest, dass der Knochenhöcker wackelte. Gestern hatte mich der Nebel dort erwischt.

Minutenlang an mir genagt.

Tatsächlich war er für mich noch die einzige Möglichkeit, Schmerz zu spüren. Jedes Mal, wenn er mich berührte, war es, als riss er lebendiges Gewebe aus mir heraus. Und er fraß auch etwas von mir, so viel wusste ich, denn nach seinen Angriffen blieben Verletzungen zurück. Wie eben an meinem Fuß. Nur die Schmerzen verschwanden sofort wieder. Lediglich eine stechende Kälte hielt sich für einige Minuten in den Fasern. Danach wanderte ich herum, mit offenen Wunden, und spürte nicht mal ein Kribbeln.

Ich war so was von tot.

Vielleicht war es für mich an der Zeit, auf den Nebel zu warten und es hinter mich zu bringen. Mein Gelenk stand kurz davor, erneut zu brechen, also würde ich sowieso bald stehen bleiben. Warum nicht gleich? Ich war erschöpft. Ich sehnte mich nach einem Grund dafür, loszulassen. Denn noch mehr als dieses Wechselspiel aus Schmerzen und Dumpfheit quälte mich das Gefühl, in dieser Schattenwelt allein zu sein. Seit Wochen hatte ich mit niemandem gesprochen, das zerstörte mich von innen. Ich konnte so nicht weitermachen.

Vom Ende der Straße schallte mir das Gelächter einiger Teenager entgegen. Ein blondes Mädchen rannte in einer gefütterten Sportjacke hinter der Ecke hervor, stoppte einen Fußball und verschwand wieder. Sie und ihre Freunde wären dann wohl die letzten Menschen, die ich traf. Sie würden mich weder sehen noch hören.

Am Tag nach meinem Tod hatte ich Tom und Sammy aufgesucht. Ich wollte in den Arm genommen werden, um Hilfe betteln, gesehen werden, aber ich blieb ihnen verborgen. Tatsächlich wirkten sie nicht einmal so, als vermissten sie mich. Doch ihr kleines Kind, mein eigener Neffe, starrte mich an und begann, furchtbar zu schreien. Ich floh aus der Wohnung. Der Auslöser für ein vor Entsetzen plärrendes Baby zu sein, das war mir zu viel. Das lag mir zu nahe an dem, was mir selbst passiert war. Ich hetzte die Straße entlang und rannte vor das nächste Auto.

Der Aufprall kitzelte. Ich blickte zu meinen Füßen hinunter, entdeckte die sich vorschiebende Motorhaube und stellte fasziniert fest, dass mir das Wagendach kantig durch den Bauch fuhr.

Mein Körper oberhalb des Bauchnabels blieb in der Luft stehen. Einfach so. Seltsam war das schon, im Nachhinein betrachtet. Denn der Unterleib war sofort weg. Ich spürte gar nichts mehr von ihm, anders als bei den Zusammenstößen mit dem Nebel. Ich sah es nur. Er klatschte schleimig auf die Motorhaube, blieb dort für einige Meter und löste sich erst danach als wattiger Dampf vom Wagen. Der Dunst floss über die Frontscheiben hinweg sowie das Dach entlang, ein Teil quoll durch ein offenes Fenster in das Auto hinein. Die Fahrerin bekam einen Hustenanfall, verzog das Lenkrad und bremste scharf. Nur knapp fuhr sie nicht in den Gegenverkehr.

Später führte ich einige Versuche an mir durch. Ich massierte meine Muskeln und spürte nur die sich bewegende Masse zwischen den Fingern. Ich schlug mir in den Solarplexus – ich wusste genau, wo er lag – doch die Haut kitzelte bloß ein bisschen. Folglich hatte ich wohl gar kein Muskelgewebe, genauso wenig einen Solarplexus. Diese Gestalt war offensichtlich nur eine oberflächliche Kopie meines früheren Aussehens. So wie bei dem verletzten, offenen Bein. Vielleicht tat mein Körper das, um mich zu beruhigen.

Wieder lachten diese Jugendlichen. Sie brachten mich zurück in meine eher ausweglose Situation. Ich wechselte vom Gehweg auf die Straße, da knackste endlich der kaputte Knöchel und der Knochenhöcker brach. Sofort verkrampfte sich der Fuß. Ich stolperte, versuchte instinktiv, ihn so sanft wie möglich abzusetzen, doch dann fiel mir auf, wie unsinnig das war. Er schmerzte ja gar nicht. Das Gelenk fühlte sich steif an, das wars. Auf diese Weise näherte ich mich humpelnd der Straßenecke. Vielleicht würde ich es noch bis zu den Teenies schaffen. Etwas Nähe, gerade jetzt, kurz vor meinem Ende, das stellte ich mir schön vor. Denn mir war klar, dass der Nebel bald über mich herfallen würde. Er würde mich sezieren wie ein totes Tier und die zerschundenen Überreste einfach liegenlassen. Dabei war ich eh schon so hässlich.

Als ich noch lebte, war ich stolz auf mein dichtes schwarzes Haar und die hohen Wangenknochen gewesen. Auch das sehnige Äußere gab mir damals eine gewisse Ausstrahlung. Aber seit meinem Tod zerfiel mein Körper, wenn man ihn überhaupt so nennen mochte. Inzwischen rieb graue, matte Haut über abgezehrte Muskeln und bildete dabei Falten, wie bei Geschenkpapier, das man dürftig glatt gestrichen hatte. Meine Wangen waren eingefallen und manchmal bissen die Zähne auf Haut. Es zog und juckte überall. Auf dem Kopf klebten mir nur wenige Büschel Haare, ansonsten war ich nackt. Ganz nackt. Die Jugendlichen hätten mich bestimmt mit einer Moorleiche verwechselt. Ich war fast froh, dass sie mich nicht sahen.

Ein wenig entfernt von der Hausecke, hinter der das Mädchen verschwunden war, erspähte ich einen dampfigen Nebelarm. Also hatte er mich eingeschlossen, oder zumindest war er kurz davor. Noch vor einer Stunde hatte ich mir geschworen, das zum letzten Mal durchzumachen.

Nach dem Erlebnis mit meinem Neffen hatte ich beschlossen, meine Familie in Frieden zu lassen. Ich versteckte mich in fremden Wohnungen. Anfangs war das eine Erleichterung, denn der Nebel mied die Orte, an denen sich regelmäßig Menschen aufhielten. Nur merkte ich schnell, dass ich es nirgendwo lange aushielt. Es war unerträglich, sie bei ihrem Alltag zu begleiten, sie bei ihren Gesprächen zu belauschen oder sie ruhig schlafen zu sehen. Das Schlimmste war: Ständig dachte ich an Tom und Sammy sowie all das, was ich verloren hatte. Ich konnte nichts, aber rein gar nichts tun, damit sie wenigstens ein kleines Wort zu mir sagten.

Außer ich zwang sie dazu. Mein erster Besuch in einem Menschen hatte sich zufällig ergeben. Ich war einige Tage tot, das Auto hatte mich schon überfahren. Den Versuch, mit Lebenden zu sprechen, hatte ich schon aufgegeben. Im Schlafzimmer einer fremden Frau legte ich mich neben sie. Ich lauschte ihrer Atmung. Vielleicht drückte ich mich auch an sie. Ich dachte dann anfangs, ich wäre irgendwann eingeschlafen. Das war noch, bevor mir auffiel, dass ich nie schlief. Tatsächlich atmete sie mich damals ein und ich tauchte in ihren Albträumen auf. Es gelang mir, diese zu steuern. Das fühlte sich an wie früher, als ich selbst schlimme Träume hatte, nur dass es mich jetzt irgendwie entspannte. Statt Angst zu spüren, verursachte ich sie. Ich hatte die Seiten gewechselt. Allein deshalb war es möglicherweise besser, wenn ich meine Existenz nun beendete.

Ich hielt an.

Ich war bereit dafür, dass er mich holte, so ziemlich jedenfalls. Ein wenig zitterte ich trotzdem. Mich von der Welt wischen zu lassen, das war eine weitreichende Entscheidung. Meine Augen wanderten zu den Eingangstüren der Mietshäuser. Vielleicht versteckte ich mich noch ein einziges Mal. Feierte wenigstens meinen dreißigsten Geburtstag.

Doch ich stand da wie angewurzelt und wartete auf ihn. Die Ausläufer des Nebels krochen als pelzige Arme die Straße entlang.

Eigentlich ähnelte seine Form meiner eigenen Nebelgestalt recht stark. Wir beide mussten Fahrzeugen, Menschen und Fenstern ausweichen. Es hieß ja, Tote würden durch Wände hindurchschweben, das war also schon mal falsch, zumindest für ihn und mich. Denn unsere Welt zeigte sich ebenso massiv wie die der Lebenden, wir hatten nur etwas mehr Spielraum. Er etwa floss zwischen den Autos hindurch. Und sobald er sich über die Häuser drückte, sah das zwar beängstigend, aber auch ein wenig mühselig aus. Ich, wenn ich mich in einen Nebel verwandelte, waberte ebenfalls. In dieser Form hielt ich mich zum Beispiel an der Decke fest oder ich fuhr in die Leute hinein, um ihnen Albträume zu bringen. Fliegen konnte keiner von uns.

Einen großen Unterschied gab es. Während seine Berührung mir Schmerzen bereitete, spürten ihn die Menschen gar nicht. Streifte ich jedoch nah an den Lebenden vorbei, erschraken sie oder sie schüttelten sich.

Manchmal fragte ich mich, ob er ein Fluch meiner Mörderin war. Eine üble Nachgeburt, die mich jagte, um das Werk zu vollenden. Dazu würde passen, dass er sich mir noch in der Nacht meines Todes an die Fersen geheftet hatte.

Jetzt, so wie es aussah, würde er mich holen. Ich fühlte mich bereit, das war gut.

Zumindest war ich mir sicherer als die letzten Male.

Erneut sprang der Fußball hinter der Hausecke hervor, diesmal knallte er gegen ein Auto und rollte retour. Das Mädchen von vorhin folgte, ließ den Ball über die Fußspitze rollen, lupfte ihn hoch und nahm ihn unter den Arm.

Sie musterte den Wagen kritisch, dabei biss sie sich auf die Lippen. Mir fielen ihre Läuferbeine auf, auch ihre schlaksige Figur. Ob sie schon volljährig war, konnte ich nicht einschätzen, aber insgesamt fand ich sie recht hübsch. Sie drehte sich bereits halb wieder zurück, da hielt sie inne und zeigte mir ihre meerblauen Augen. Wie die Tiefsee. Unheimlich intensiv und, wie ich direkt danach bemerkte, auch ziemlich überrascht. Wegen mir?

Jetzt prickelte mein Rücken.

Das war bestimmt einer seiner wattigen Arme, gleich würde er sich in meinen Körper graben. Aber ich ignorierte das Stechen, stattdessen suchte ich den Blick des Mädchens. Die Vorstellung, dass es mich wirklich ansah, gab mir Mut.

Mein Hinterkopf fühlte sich an, als zöge mir jemand eine Kartoffelreibe über die Haut.

Das Mädchen legte seinen Kopf schief. Es hatte schöne Haare.

Blick mich weiter an, dachte ich.

Bitte lenk mich ab.

Es stemmte eine Hand an die Hüfte und lächelte verschmitzt. Es stand immer noch am Auto.

»Mach halt«, rief ein Junge aus den Nebelschleiern heraus.

»Mann, Laura«, sagte ein Mädchen, »wirf wenigstens den Ball zurück!«

Laura ließ den Fußball fallen und trat mit der Ferse dagegen. Er hoppelte in sanfter werdenden Sprüngen davon und verschwand hinter der Ecke.

Dabei ruhten Lauras Augen auf mir.

Plötzlich fror mich am Rücken.

Ich knallte auf die Knie.

Der Nebel zog in die übrig gebliebenen Hautfetzen.

Er tastete über die Muskeln.

Ich fand mich tapfer, immerhin wimmerte ich nur wenig. Ich schloss die Augen.

Gleich war es vorbei.

Kapitel 2

Der nächste Schlag des Nebels ließ auf sich warten. Trotzdem blieb ich wie erstarrt, ich befürchtete nämlich, dass das nur eine Gemeinheit war, um mich zu quälen. Ich zählte die Sekunden. Schließlich drehte ich mich vorsichtig um. Mein Verfolger hatte sich einige Autolängen weit zurückgezogen.

Ich horchte in mich hinein.

Staunte.

Denn ich genoss es, noch da zu sein. Ich war ihm fast dankbar, dass er mich verschont hatte. Ich hatte das zwar nicht erwartet, aber anscheinend wollte ich weiterexistieren.

Da strömte mir der Geruch von Schweiß und Mädchenhaar in die Nase. Zusätzlich roch ich etwas anderes.

Es war so: Mit meinem Tod hatte sich auch meine Wahrnehmung verändert. Plötzlich erschnüffelte ich intensive Gefühle. So hatte ich mich einmal in einer Wohnung bei einem frischverliebten Pärchen versteckt. Der Nebel gab ja nie Ruhe, ständig war er mir auf den Fersen, tastete überallhin, auf der Suche nach mir. Menschen mied er, ja, und auch in Innenräumen verlor er schnell an Kraft. Insbesondere, wenn er kleine Lücken zu überwinden hatte, etwa Türschwellen oder geschlossene Fenster.

Aus dem Zuhause des Pärchens allerdings wollte ich sofort wieder fliehen. Dort stank es, als lagerten sie deckenhoch Blumen ein. Obwohl ich nicht eine einzige Pflanze fand, nirgendwo, in keinem Zimmer. Es war unerträglich. Ich zählte jede Minute, bis ich eine ausreichend große Bresche im Nebel entdeckte, und verließ die beiden bei der ersten Gelegenheit.

Das Mädchen Laura roch nach Eisen. Keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte. Doch sie hatte mich gerettet, da durfte sie riechen, wie sie mochte.

Sie stand vor mir und lächelte. »Darf ich dich anfassen?«

Ich rappelte mich auf. Sprachlos starrte ich sie an. Sie war seit meinem Tod der erste Mensch, der mich als Person wahrnahm.

Dann lachte ich auf. Sie sah mich! Sie sprach mit mir! Ich wollte sie an mich drücken, ihren warmen, wenn auch sicherlich unnachgiebigen Körper spüren, ihren Eisengeruch schnuppern, wieder Mensch sein.

Nur wurde mir gleichzeitig bewusst, dass sie mich sah, wie ich eben war. Nackt. Sofort schützte ich meine Scham mit den Händen.

Sie blickte mir auf den Schritt, zurück ins Gesicht und barst vor Lachen.

Mir wurde heiß. »Was ist?«

»Ach, nichts.« Sie lachte. »Es ist nur so, die meisten Toten tragen Kleidung. Und wie du grad geschaut hast, ey, das war so –«

Sie brach ab, kicherte und rieb sich über das Gesicht. »Das war echt gut.«

Was für eine Göre! Da war ich nackt, hatte keinerlei Ahnung, warum, und musste mir so etwas anhören. Ich atmete tief aus. Ruhig bleiben.

Es gelang tatsächlich. Jedoch hatte meine Willensstärke daran keinen Anteil. In mir stieg nämlich Schwindel hoch. Mir wurde klar, wie knapp es um mich gestanden hatte. Ich streckte die Hand nach ihr aus, um mich abzustützen, aber ich griff daneben. Seltsam eigentlich. Ich spürte meine einknickenden Füße kaum, ebenso wenig meinen Körper, als er wie ein nasser Sack auf dem Boden aufschlug. Ich sah es eher und wunderte mich. Da saß ich also plötzlich auf der Straße. Schon seltsam. Die Finger zitterten mir ein bisschen, doch mein Tastsinn funktionierte. Ich drückte mit den Handflächen gegen den Asphalt.

»Mensch, was ist mit dir?«, fragte Laura.

»Alles gut«, flüsterte ich. Gern hätte ich die Hände vor den Schritt gelegt, jedoch bemerkte ich bereits beim Versuch, dass ich mich wirklich abstützen musste.

Sie setzte sich neben mich auf den Gehsteig und strich mir über die Brust. Das fühlte sich an, als streiften dicke Hagelkörner daran entlang, aber dennoch, irgendwie, genoss ich ihre Berührung.

»Du siehst echt zerstört aus«, sagte sie.

Ich antwortete nicht. Stattdessen horchte ich in mich hinein. In meinem Rücken kribbelte es. Nach einer Minute durchzuckte ein Schmerz meinen ganzen Rumpf, als hätte ein ungeschickter Arzt gerade in mehrere offene Nerven gestochen. Ich unterdrückte einen Schrei, jedoch musste Laura es mir angesehen haben. Sie streckte sich, um meinen Rücken zu begutachten.

»Iih«, sagte sie. »Ist das normal?«

»Was?«, fragte ich schwach.

»Da ist grad alles aufgeschnitten und voller Blasen.«

Ich tastete meinen Hinterkopf entlang zum Hals. Anschließend versuchte ich, die verletzten Stellen am Rücken zu erwischen. Die Finger fanden größere Schnitte, die bei Berührung kalt prickelten. Dann durchzuckte mich wieder dieser Schmerz. An meinen Fingerspitzen blieb Schleim kleben. Er war fast schwarz und stank wie fauliges Obst.

Das erleichterte mich enorm.

Denn das kannte ich schon.

»Alles normal.« Ich beschloss, meinem Körper etwas Zeit zu lassen, und legte mich auf den Bauch. Der Nebel hatte mich so erwischt wie sonst auch. Es würde heilen.

»Sag mal«, fragte ich, »wie kommt es eigentlich, dass du mich siehst? Und dich nicht erschreckst?«

»Ich bin eine Hexe«, sagte Laura, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.

 

Ich lag bald seitlich auf dem Gehsteig. Mit einem »na komm« hatte Laura mir ihre Oberschenkel angeboten, um meinen Kopf abzulegen. Obwohl ich mich dabei mehr wie ein entlaufener Hund als wie ein Mann fühlte, akzeptierte ich lieber, was man mir bot. Außerdem hatte ich das Gefühl, ihr Bein gäbe ein klitzekleines bisschen nach. Damit war es definitiv bequemer als der Boden.

Laura strich mir zeitweise über die Wangen, was ich sehr genoss, und erzählte von sich. Eigentlich wurde ihr Redefluss nur von gelegentlichen Passanten unterbrochen. Denn wenn jemand vorbeiging, blickte sie die Leute neugierig an und tat so, als wäre sie allein.

Sie besuchte das Gymnasium, würde danach vielleicht eine Lehre machen, aber welche, das sagte sie nicht. Stattdessen redete sie lange von Fußball. Anscheinend war sie erfolgreich, jedenfalls hoffte sie, in absehbarer Zeit in der Bundesliga zu spielen. Mir kamen dabei meine eigenen Ambitionen in den Sinn, als Jugendlicher im Leichtathletikverein. Ich wollte den Albträumen entkommen, ebenso den Bildern, die mir tagsüber ins Leben sickerten. Allerdings war ich partout kein Teamplayer. Und oft war ich abgelenkt. Wenn die anderen Jungs mich dann mit Häme überschütteten, so wehrte ich mich. Gelegentlich wurde ich dabei etwas grob. Vater nahm mich nicht in Schutz. Mutter hatte irgendwann keine Lust mehr, sich mit den anderen Eltern zu streiten. Ich blieb insgesamt lieber allein.

Während ich meinen eigenen Gedanken nachgegangen war, hatte Lauras Monolog den Sport verlassen. Ein Detail brachte mich zurück. Denn neben Laura war auch ihre Großmutter Trude eine Hexe. Die Familienmitglieder ahnten es bei beiden, konnten sich aber nur wenig darunter vorstellen. Familie, das war der Oma wichtig, darum hockte der ganze Familienclan, mit Namen Wolf, auf einem Haufen. In einem Mietshaus gleich um die Ecke. Ein Umstand, den man auf dem bayerischen Land immer wieder antraf, in der Stadt allerdings nicht. Ich wunderte mich und Laura klärte mich auf. Der Vermieter nämlich kannte Trude von Kindheitsbeinen an. Er stand, so beschrieb es Laura, ähnlich stark unter der Fuchtel der Alten wie ihre eigene Familie.

Die Wolfs, das waren: erst einmal Laura, zusammen mit ihrem Vater Anton und ihrer Mutter Fine. Dann die größere Schwester Becca mit ihrem Mann Hannes. Schließlich Lauras Onkel Xaver sowie seine Tochter Miriam, die auf die Grundschule ging. Von Miriams Mutter erwähnte Laura nichts. Stattdessen schimpfte sie darüber, dass sie sich seit Monaten mit dem Kind ein Zimmer teilen musste. Unvermittelt schwieg sie. Sie strahlte mich an.

»Was ist?«, fragte ich.

»Mensch, weißt du, wie cool das mit dir jetzt ist. Wenn ich mit den Einfachen rede, also, äh, ich mein, die nix mit den anderen Welten zu tun haben, dann muss ich immer überlegen, was sag ich und was lass ich aus. Und das sind ja alle in der Familie, außer Oma. Alle in der Schule. Alle im Verein.« Sie machte ein missmutiges Gesicht. »Und Oma ist steinalt.«

Laura versuchte, mir durchs Haar zu wuscheln, aber merkte, dass die Büschel sich nur klebrig verstreichen ließen. Schnell wischte sie sich die Hand an der Jeans ab.

Mir war es peinlich.

»Ich hab das vermisst, weißt du. Ich nehm dich mit zu mir. Einverstanden?«

Sie ließ mir nicht die Zeit, dazu eine klare Meinung zu entwickeln. Schon gar nicht, ihr zu antworten. Stattdessen zeigte sie auf eine Hauswand, in die Richtung, aus der sie vorhin gekommen war. Sie fuhr fort: »Die ganzen Leute, die vorbeigegangen sind, du weißt ja. Da ums Eck, da sind bestimmt schon ein paar Grüppchen. Die sehen sich Ulrikes alte Wohnung an. Ist im zweiten Stock. Da gehst du hin und hast erst mal deine Ruhe. Du kannst da auf mich warten. Ich komm rein, Papa hat den Schlüssel. Alles klar?«

Nein, wenn man es genau nahm, war das nicht klar. Ich fand sie nett. Sie war ein bisschen hübsch. Und mein Verfolger floh vor ihr. Aber trotzdem. Es blieben Fragen. »Wie meinst du das, du hast es vermisst? Rettest du häufiger Leute vor dem Nebel? Was machst du dann mit ihnen?«

»Haha, ›Nebel‹. Alles klar. Weißt du, ich tu das nicht mehr. Als Kind hab ich oft Mitleid gehabt. Ein Toter läuft vor nem Reiniger davon, schreit voll und – bam! Da ist es aus mit ihm.«

»Äh, warte. Jeder Tote hat seinen Nebel? Diesen Reiniger?«

»Ja, Reiniger heißen die. Weil sie die Übergänge zwischen den Welten reinhalten. Oma meint, die nennen sich selber so. Und nein, nicht jeder, der gestorben ist, hat nen Reiniger. Die Toten rennen rum, die Reiniger wabern rum und – na, du weißt schon. Bam. Ich hab damals oft versucht zu helfen, um ein Haust–, äh, einen Spielpartner zu finden. Ich war klein. Nur gab das ständig Stress.«

»Du hast gesagt, die Reiniger sind immer unterschiedliche. Aber bei mir hab ich das Gefühl, es ist jedes Mal derselbe. Er verfolgt mich.«

»Echt? Krass. Hat dich wer verflucht?«

»Oh. Äh. Keine Ahnung. Du, ich will nicht als Haustier enden.«

»Bist auch keins, gar nicht. Weißt du, warum ich es bei dir gemacht hab? Das war, wie du stehen geblieben bist! Als wenn du gewusst hättest, was da kommt, und du sagst ›leck mich‹ zur Welt. Das war so cool.«

Das war vielleicht ein unreifes Gelaber. Doch ich schwieg und ließ mir nichts anmerken.

Sie schob ihr Kinn vor. »Sag mal! Ich schlag dir hier was vor. Ich bin offen. Aber du schaust mich an wie ein Insekt! Dann bleibst du halt da.«

»Hey! Warte mal.«

»Ist wahrscheinlich eh wieder eine schlechte Idee.« Sie drückte sich vom Boden hoch.

Ich stand mit ihr auf. »Ich will ja nur sagen –«

»Nee. Ist klar. Du hast recht. Wie heißt du?«

»Äh, Ben.«

»Ben, schön wars.«

Sie blickte an mir vorbei und lächelte schelmisch. Dann fixierte sie mich erneut und streckte mir ganz ernst ihre Hand entgegen. Ich fühlte mich überrumpelt. Ich griff danach. Sie war so warm.

»Ich geh mal zurück. Die anderen sind echt schlecht ohne mich und auf Dauer tut mir der Ball leid. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder! Hey, mach doch nicht so ein Gesicht. Du ziehst weiter, oder?«

Ich suchte nach Worten. Irgendwie verlief das Gespräch anders, als ich mir das erhofft hatte.

Mit ihr mitzugehen … sie wusste ein bisschen was und war hübsch … aber man merkte ihr auch an, dass sie noch keine zwanzig war.

Wahrscheinlich hatte sie recht. Es würde unglücklich enden.

»Ja«, sagte ich deshalb, »klar ziehe ich weiter.«

»Läuft! Machs gut. Schade, dass es nicht geklappt hat.« Sie schlenderte gemächlich davon. Der Reiniger wich vor ihr zurück.

Ich machte kehrt.

Vor mir türmten sich die Nebelarme auf.

 

»Ähm, Laura?«

»Ja?«

»Ich würde doch mitkommen.«

Ich folgte ihr, relativ ruhig, nur einen Tick schneller, als ich es gern getan hätte. »Bringst du mich zum Haus?«

Sie spazierte weiter, dabei musterte sie mich von oben bis unten. Ich fühlte mich begutachtet, wie eine Ware, die genau geprüft wird, bevor man sie annimmt. Meine Hände wanderten wieder zum Schritt, aber dann ärgerte ich mich. Ich würde mich bestimmt nicht schämen, weil ich nackt war. Auch dackelte ich ihr nicht nach, nur weil der Reiniger mich sonst fraß. Deshalb sagte ich: »Aber spiel keine Spielchen mit mir.«

Sie blieb stehen und legte sich eine Hand auf den Mund. Erschrocken blinzelte sie mich an. »Sorry, das wollte ich doch gar nicht. Freunde?«

»Äh«, antwortete ich.

Sie blickte mädchenhaft zu Boden. »Das klappt schon alles. Du tust halt ein bisschen das, was ich sage, ja?«

Ich sah mich um. Überall der Nebel. »Komm, die Diskussion führen wir drinnen.«

»Ey, das ist der Deal.«

»Okay, okay. Was du sagst. Drinnen dann.«

Sie lachte und beugte sich zu mir. Ich hatte den Eindruck, sie wollte mich auf die Wange küssen. Doch kurz vorher hielt sie inne. Sie schnüffelte.

»Was ist?«, fragte ich.

»Du riechst noch ein bisschen faulig. Äh, passt schon. Komm mit, ich bring dich zum Haus.«

Laura führte mich bis zu einigen warm angezogenen Leuten vor dem Mietshaus, die wohl einen Besichtigungstermin für die freie Wohnung hatten. Dort angekommen, streckte sie die Hände vorwärts, murmelte etwas und der Reiniger gab die Eingangstür frei. Den Trick musste sie mir unbedingt mal zeigen. Doch als auch einer der Umstehenden sie anblickte, reckte sie sofort die Arme nach oben und gähnte herzhaft.

»Lässt du mich rein?«, fragte ich.

»Ach was.« Sie gab mir einen sanften Klaps auf die Schulter, der von mir einen Ausgleichsschritt verlangte. »Günther, also Günther Meyer, unser Vermieter, kommt jetzt eh jede Sekunde. Denk dran, zweiter Stock. Bis später!«

Ich sah mich um. Der Nebel hatte sich tatsächlich ordentlich zurückgezogen. Ja, das würde klappen! Erleichtert drängte ich mich durch die Menge, während Laura zu der Fußballgruppe zurückschlenderte.

Viele der Wartenden bewegten sich unruhig, manche raunten einander zu. Sie rochen. Wie Menschen, klar. Zusätzlich erschnüffelte ich etwas wie gebratenes Fett mit einem Hauch von Zimt, aber ein winziges bisschen duftete das nach einer anderen Welt, wie bei Lauras Eisengeruch.

Der Zimtgeruch war eindeutig.

Angst.

Einige Albträume rochen wie ein Weihnachtsladen. Zimt, Kardamom, Anis. Ich hatte in den letzten Wochen gelernt, Gefühlen Gerüche zuzuordnen. Gerade schlimme Empfindungen hatten sich schon in der Zeit vor meinem Tod in mich hineingebrannt. Die Albträume, die mich verfolgten, waren einfach zu heftig. Mit ihnen wurde es erst besser, als ich am Bett den Fernseher laufen ließ. Die Filme steckte mir ein Freund meines Bruders zu. Am entspanntesten schlief ich bei Streifen wie Satans fürchterliche Stieftöchter oder Angriff der Mörderpaviane. Mein schlechter Filmgeschmack wurde in Toms Clique legendär, bald fragten sie mich scherzhaft nach Rezensionen. Ich fühlte mich geschmeichelt. Allerdings antwortete ich ihnen nicht. Ich hatte nämlich nie auch nur einen der Filme bis zum Ende gesehen. Es war einfach nur beruhigend. Das abwartende, sich langsam steigernde Grauen, das davor meinen Schlaf beherrschte, konzentrierte sich nun meist auf ein kleines flimmerndes Rechteck. Ich dämmerte irgendwann weg und hatte ein wenig Ruhe. Als das klappte, baute ich mir aus mehreren Abspielgeräten eine Konstruktion, die jede Nacht acht Stunden lang Filme zeigte. Angefangen hatte ich mit neun Jahren, da gab es noch VHS-Kassetten. Heute machte ich das mit Playlists.

Also, bis vor einigen Wochen. Jetzt stand ich tot zwischen Menschen und interpretierte Gerüche.

Das gebratene Fett um mich herum deutete ich als Rastlosigkeit, Unruhe, Aufregung. Die unangenehme Ausführung, die man in den Eingeweiden spürte. Also, wie wenn man dringend eine Wohnung suchte. War eigentlich ganz klar, so betrachtet.

Die Gerüche zusammengenommen fand ich ja angenehm. Nicht, weil ich zu Lebzeiten Fett mit Zimt recht lecker gefunden hätte, sondern weil es meiner Haut half. Hielt ich mich in der Nähe auf, während jemand ein trauriges Ereignis durchlebte oder schlimm träumte, zog mein Körper bald etwas weniger. Ich fühlte mich insgesamt wie erfrischt. Was die Menschen negativ ausstrahlten, ernährte mich, da war ich mir absolut sicher. Denn im Anschluss stieg mir die Übelkeit hoch. Ich übergab mich, was ein bisschen so war wie früher nach einer Mahlzeit. Damals hatte ich so wenig wie möglich gegessen, weil es mich bei jedem Bissen würgte. Klar hatte ich gelegentlich auch gekotzt und manche Leute nannten mich »dürr«. Die Ärzte diagnostizierten mir sogar »Anorexia nervosa«, Magersucht. Aber das stimmte nicht. Schuld waren die Albträume und meine Unruhe. Ich fühlte mich oft nicht wohl in der Welt.

Ein Mann schreckte mich auf. Er wedelte wild mit seinen Armen in der Luft herum, da hielt ich besser Abstand und schob mich schnell vorbei. Dann drückte ich mich zwischen einem älteren Ehepaar hindurch, das einander den Rücken zukehrte. Rechts und links von der Gruppe waberte der Reiniger bis auf einige Handbreit zum Haus. Damit kam er mir bereits ganz schön nah. Nun beeilte ich mich doch lieber. Wer wusste, wann dieser Günther aufkreuzen würde?

Als ich ankam, tastete ich mit beiden Händen den Türspalt ab. Er war sehr eng. Die Tür schien sauber abgedichtet. Bei einem Münchner Mietshaus! Wie unwahrscheinlich war das bitte. Nun nicht nervös werden.

Meine Fingerspitzen verlängerten sich. Ein praktischer Effekt der Nebelgestalt war, dass ich mich in beliebige Formen pressen konnte. Ich blieb nur meist wattig dabei. Jetzt riss meine Haut und löste sich auf wie brennendes Papier. Das kribbelte. Dann wanderte ein Teil von mir als wabernde Asche die Tür entlang. Der Dunst sammelte sich am Türstock. Ich spürte einige scharfe Grate, da hatte jemand wohl doch schlecht gearbeitet.

In kleinen Tröpfchen flossen die Dunstfinger auf die andere Seite der Tür. Mit genug Zeit würde ich durch die Ritzen fließen. Das war keine große Sache.

Vorsichtig sah ich mich nach dem Reiniger um. Er zog sich um die Wartenden zusammen, Abstand hielt er nur von zwei, drei besonders ängstlichen Wohnungsbesichtigern. Ein Nebelarm strich in meine Richtung über die Hauswand, verteilte sich dabei zunehmend und zerfloss irgendwo auf seinem Weg ganz. Wirklich sicher fühlte ich mich trotzdem nicht.

Ich drückte mich gegen das Glas, löste meine Arme auf und ließ sie den Händen folgen. Langsam wurde ich hektisch.

Hinter der Tür bewegte sich etwas. Ein Mann stieg die Innentreppe hinunter, er war sicher über fünfzig. Er hatte eine ungewöhnlich gesunde Bräune. Außerdem nannte er einen stattlichen Ranzen sein Eigen. War das der Vermieter?

Als die Kälte an meinen Rücken schwappte, begann ich heftig zu zittern. Es war zu früh, das schmerzte zu sehr.

Warum hatte Laura nicht gewartet?

Auf den letzten Schritten setzte der Kerl ein ruhiges Lächeln auf.

»Mach schon!«, stieß ich hervor, meine Stimme überschlug sich ganz leicht.

Ich presste weitere Ascheschwaden in den Gang.

Das musste doch klappen.

Trotzdem zwickte schon die Haut an meinen Beinen.

»Mach auf!«

Gemütliche, fast verschlafene Augen blickten aus seinem runden Gesicht heraus, das ich in diesem Moment gern poliert hätte. Vor der Tür hielt er inne.

»Aufmachen!«, brüllte ich jetzt. »Verdammt!«

Ich wollte gegen die Tür schlagen, aber ich hatte keine Arme dafür. Die kämpften sich nämlich als Dunst durch den abgedichteten Türspalt.

Dann öffnete der Mann die Tür.

Ich stand da, die Armstümpfe erhoben, Unterarme und Hände schwebten feinstofflich im Gang herum. Ich räusperte mich, presste ein »Danke« hervor, schließlich fiel mir auf, dass mich ja niemand bemerkte. So trat ich an ihm vorbei und sammelte meinen restlichen Körper auf.

Zweiter Stock, hatte Laura gesagt.

 

Das Treppenhaus war eng. Über mir hörte ich die Stimmen dreier Menschen. Es klang nach zwei Frauen, eine davon recht alt, und einem Mann. Als mir auffiel, dass wir einander begegnen würden, drückte ich mich in einen Eingang. Ich wollte sie ohne Berührung vorbeilassen.

Ein hagerer Mann mit gepflegtem Schnurrbart schritt langsam die Stufen hinunter. Er fragte nach oben: »Wann ist Miriam gleich wieder zu Ihnen gekommen, Frau Wolf? Vorletztes Jahr im Sommer?«

Die Angesprochene klammerte sich an einen Gehstock und trug eine hellblaue Trachtenjacke. Ihre dünnen grauen Haare hatte sie akkurat zu einem Dutt gebunden. Ich schätzte sie auf über achtzig. Das war also Lauras Großmutter, die Hexe. Aber ich wollte mir sicher sein, deshalb beugte ich mich ein Stück weit ins Treppenhaus und sog die Luft ein.

Modrige Wände. Schweiß. Frische Farbe. Vielerlei Gefühle, angenehme darunter. Eisengeruch.

Lauras Eisengeruch.

Ja, diese Greisin war die gleiche Art Hexe.

»Sie brauchen sich fei nicht dumm stellen, Herr Kommissar«, sagte sie. Mit intensiven, blauen Augen musterte sie ihr Gegenüber. »Letztes Jahr im Sommer. Was ist mit der Zigeunerin?«

Eine weibliche Stimme antwortete: »Frau Badi haben Kommissar Obermüller und ich schon überprüft. Das war das Erste, was wir gemacht haben.« Die Worte gehörten zu einer Mittdreißigerin. Rote Locken fielen über ihr Gesicht. Ein dicker Schlaufenschal und eine leger sitzende Lederjacke betonten ihren Busen. »Sagen wir mal so, sie hat ein Alibi.«

»Was ist des für ein Alibi?«, fragte Trude. »Ist sie noch in der Geschlossenen?«

Kommissar Obermüller sagte: »Ein Alibi hat sie. Das muss Ihnen reichen.«

Die Alte schob ihr Kinn vor. Der Gehstock klackerte auf die nächste Stufe, dann ließ sie ihren Fuß folgen.

Die Rothaarige fragte: »Wie ist denn Ihr Verhältnis zu Miriams Mutter so?«

»Ganz schlecht. Und der Rest von den Zigeunern? Was ist mit denen?«

Die Polizistin lächelte gequält. »Ihre Wortwahl ist ja reizend, Frau Wolf.«

»Die Verwandtschaft der Mutter überprüfen wir gerade.« Obermüller nahm die letzte Stufe zum Gang.

Ich drückte mich wieder fester gegen die Wohnungstür.

Der Polizist fuhr fort: »Hat sich Miriam bei ihrem Onkel und ihrer Tante gut eingelebt?«

»Was soll sie sonst gemacht haben?«

»Auffälligkeiten?«

»Mein Anton ist ein Anständiger. Er hat die Becca großgezogen und die Laura. Jetzt kümmert er sich um die Miriam. Ist Ihnen des beim letzten Besuch entgangen, Herr Kommissar?«

»Frau Wolf«, sagte die Kommissarin, »so meinte das der Kollege doch gar nicht. Sie können ganz offen zu uns sein. Selbst ein Ereignis, das Ihnen nicht erwähnenswert erscheint, kann für uns eine Spur sein, um Miriam wiederzufinden.«

Nun stutzte ich. Miriam war fort?

Die Alte drehte sich zur Polizistin und besah sie von oben bis unten. Dann trat sie neben den Kommissar und ließ das Geländer los.

Plötzlich bemerkte ich, dass der Blick der Kommissarin auf mir ruhte. Erschrocken sah ich sie an, befürchtete, sie würde mich tatsächlich sehen, aber sie wandte sich wieder Frau Wolf zu.

»Wie die Kollegin sagt«, raunzte der Kommissar. »Sie haben Ihren Sohn Anton gelobt. Seine Ehefrau haben Sie gar nicht angesprochen. Was ist mit der?«

»Die Fine wohnt auch im Haus. Den Rest fragen Sie sie selber.«

Die Polizistin legte ihr eine Hand auf den Arm. »Uns ist klar, dass Sie und Ihre Familie gerade eine schwere Zeit durchmachen. Seien Sie guter Dinge, wir sind für Sie da.«

Schroff schüttelte die Alte die Hand der Kommissarin ab. »Des hab ich mir schon gedacht. Aber Sie sagen mir besser mal, auf was Sie hier aus sind, Frau Fischer.«

»Ich verstehe nicht, warum Sie sich so oft danach erkundigen!«, sagte die Kommissarin nun mit erkennbar beherrschter Stimme. »Wir ermitteln doch für Ihr Enkelkind –«

»Des mein ich nicht«, unterbrach Frau Wolf sie scharf, »machen Sie mir nichts vor!«

Der Kommissar hielt an einer Wohnungstür an. Er musterte die beiden kritisch, aber schwieg. Stattdessen kramte er in seiner Jackentasche. Er holte zwei Visitenkarten hervor.

»Sie erreichen die Kollegin und mich jederzeit«, sagte er schließlich, »falls Ihnen zu Miriams Verbleib was einfällt. Was nicht Erwähnenswertes, zum Beispiel.«

Die Alte stellte sich vor Obermüller. »Sie wollen, dass ich geh? Sie machen jetzt mit meiner Becca weiter und ich soll droben in meiner Wohnung hocken?« Sie stemmte die Arme in die Hüften.

»Frau Wolf, Ihre Enkelin hilft bei der Suche.« Fischer blickte erst Trude lange an, dann den Gehstock der alten Frau.

Die Alte schnaubte.

Die Rothaarige schritt an mir vorbei und zeigte mir ihren Rücken. Schöne Locken. Ich wollte danach greifen. Dann hielt ich inne und drückte mich von ihr weg. Hatte ich diese Frau bereits getroffen? Aber an eine derart fesche Polizistin würde ich mich doch erinnern? Zugegeben, in letzter Zeit hatte sich mein Kontakt zu Fremden ziemlich beschränkt, eigentlich seit der Party vor drei Wochen, bei der man mich ermordet hatte.

Nun, ich konnte Kommissarin Fischer kaum fragen.

Ich schob mich an ihr vorbei zur Treppe. Hinter der Polizistin roch es leicht nach Parfüm und, seltsam, nach kaltem Rauch.

Unerwarteterweise zog die erste Stufe in den Knien, meine Haut bekam leichte Risse wie altes Papier. Es zwickte sogar in der Seite, als würde jemand an meinen Gedärmen ziehen. Ich schüttelte mich. Komische Vorstellung. Eher unbewusst legte ich die Hand auf die Stelle, doch dabei griff ich in etwas Glibberiges.

Sofort sah ich hin.

Eine der Wunden, die der Reiniger geschlagen hatte, klaffte offen. Dicker Schleim wand sich daraus. Er waberte in Richtung Gang.

Ich erschrak und packte die Masse. Das fühlte sich an, als würde ich mir die Innereien zusammendrücken. Ich musste heftig aufstoßen.

Ich spürte meinen Leib! Also schädigte mich ein magisches Wesen.

Aber wer?

Trude war eigentlich zu weit weg.

Mein Blick fuhr über die drei Lebenden. Nur die Kommissarin wandte sich mir zu. Sie musterte mich nun mit offener Verwunderung. Tat sie mir das an? Unabsichtlich?

Dann stieß sie gegen die Alte.

»Ich bin ja so ein Trampel!«, rief sie aus und drehte sich zu Frau Wolf.

Mein Körper gehörte wieder mir. Ich zog an dem Gedärm und musste erneut aufstoßen. Dann schob ich es, so gut das eben ging, durch die Wunde zurück. Ich wollte mich wieder aufrecht hinstellen, aber meine Beine schwächelten.

»Ah«, meinte Lauras Großmutter. »Des können Sie laut sagen. Erklären nicht einmal, was Sie hier vorhaben.«

Sie musterte Fischer kritisch, wartete wohl auf eine Antwort und erhielt nur einen ratlosen Gegenblick.

Schließlich zuckte die Alte mit den Schultern. »Na, dann halt nicht.«

In dem Moment entdeckte sie mich auf der Treppe.

Ich brauchte kurz, bis mir auffiel, dass sie mich ja sah. Ich lächelte schief. »Hallo?«

Auch die Kommissarin wandte sich wieder zu mir.

»Was ist denn?« Der Kommissar hielt der Alten weiterhin die Visitenkarten hingestreckt. Er runzelte die Stirn und suchte etwas in meiner Richtung.

»Teufel!« Die Wolf schob ihr Kinn weiter vor.

»Frau Wolf, da ist doch nichts«, sagte Fischer. »Und ganz bestimmt kein Teufel. Nun nehmen Sie halt die Karten, die Ihnen der Kollege geben möchte.«

Ich rappelte mich auf. »Frau Wolf, ich gehöre zu Laura.«

Ihr Gehstock klackerte auf den Steinboden.

Ich erschnüffelte den süßlichen Lakritzgeruch heftiger Sorgen.

Da gaben ihre Füße nach.

Der Kommissar fing sie nur knapp.

»Lassen Sie mich!«, schrie sie.

Ihre Gefühle drückten sich regelrecht gegen mich. Ich stolperte die Treppe hinauf, beschleunigte dann meinen Schritt. Nur fort von der Gruppe.

Eine der Wohnungstüren war nicht richtig zugezogen.

Das musste es sein.

Kapitel 3

Ein Raum roch nach frischem Putz, Farbe und Verzweiflung. Ich folgte den Gerüchen. So betrat ich das Schlafzimmer, das schloss ich jedenfalls aus dem Schnitt der Wohnung. Der Handwerker hatte es wohl nur knapp geschafft, seine Sachen aufzuräumen, denn selbst das Fenster war noch gekippt. Vorsichtig näherte ich mich. Ich blickte durch das Glas. Als würde der Reiniger mich bemerken, tastete sich eine Nebelschwade zum Fenstersims vor, doch bevor sie die Hausmauer überhaupt erreichte, zerfloss sie bereits. Die Nebelbank dahinter hielt, wie schon an der Eingangstür, einige Zentimeter Abstand zur Wand. Das war neu. Klar, ich wusste, in Räumen tat er sich schwer. Aber ein Haus, von dessen Grenzen er sich gänzlich fernhielt? Es hatte erkennbar seine Vorteile, bei Hexen zu wohnen.

Das hier würde definitiv mein Zimmer werden.

Seit meinem Tod wuchsen mir Schlafzimmer ans Herz. Tagsüber standen sie leer und wenn ich mich in ihnen versteckte, blieb ich davon verschont, dass jemand durch mich hindurchrannte. Nachts wiederum erhaschte ich die Gefühle, die meinen Zustand linderten. Schon seltsam. Denn vor dem eigenen Schlafzimmer hatte ich mich das ganze Leben lang geängstigt. Das lag an den Albträumen, die mich schon in frühester Kindheit begleiteten. Den Grund dieser Albträume entdeckte niemand. Laut den Allgemeinmedizinern lagen alle Werte im Normalbereich. Die Schlafmediziner fanden keine physiologischen Auffälligkeiten, ganz im Gegenteil: Sobald ich mich im Schlaflabor aufhielt, schlief ich ruhig, ohne große Ereignisse. Als mir dieser Zusammenhang auffiel, noch während der Kindergartenzeit, bettelte ich meine Eltern an, weiter dort schlafen zu dürfen. Die Ärzte schickten mich einige Testnächte später ratlos zurück nach Hause. Vater schämte sich, mich überhaupt noch mal dorthin gebracht zu haben. Er schwieg von da an über das Thema. Ich weinte damals oft vor dem Einschlafen. Mutter brachte mich schließlich zu einem Kinderpsychologen.

Natürlich suchte auch der ohne Erfolg.

Wieder zog das süßliche Aroma ins Zimmer. Es kitzelte mir in der Nase. Die düstere Vergangenheit verblasste. Ich jagte nun, im beginnenden Halbdunklen, nach der Quelle des Geruchs. Ich wanderte die Wände entlang, drückte sogar das Gesicht an die frisch getrocknete Farbe. Der Duft lag im ganzen Raum. Klar, mein Kopf sagte mir, dass es schlimm gewesen sein musste, hier zu schlafen, vielleicht unmöglich. Ich fragte mich, ob die Vorbesitzerin deshalb die Koffer gepackt hatte. Laura hatte sie Ulrike genannt. Ich hätte gern gewusst, was in ihrem Schlafzimmer passiert war. Welche Ereignisse zu dem friedlichen Gefühl geführt hatten, das sich nun über mich legte. Ich spürte bereits, wie mir die Haut geschmeidiger wurde. Wie die Muskeln an Gewicht und Definiertheit gewannen. Ich stellte mir vor, dass das immer so weiterging. Bis ich aussah wie vor meinem Tod. Zäher, athletischer sogar. Statt einen halbverheilten Fuß nachzuziehen, bekäme ich den leicht federnden Gang zurück, den ich mir in der Leichtathletik antrainiert hatte.

Aber auch der flaue Magen ließ nicht auf sich warten. Bald setzte ich mich in eine Ecke und atmete flach. Die Stoßkanten des Parketts drückten, selbst die feinen Steinchen im Putz rieben am Rücken. Ich war froh um beides, denn es lenkte mich ein wenig ab.

Irgendwie war es doch ein Witz. Immerhin fühlte sich mein Inneres sonst so leer, so abwesend an. Ich aß nicht einmal. Die heilsamen Gefühle, ich schluckte sie nicht. Und wenn meine Theorie stimmte, dass mein Körper nur so viel von sich formte, um die Illusion aufrechtzuerhalten, dann hatte ich gar keinen Magen. Die Gefühle legten sich direkt auf die Haut und zogen über diese in mich hinein. Wie eine Lotion.

Dennoch würgte es mich. Immer noch wehrte sich mein Leib gegen die Nahrung, die ich brauchte. Und er zeigte es mir auf die Art, die er von früher kannte.

Übelkeit schwappte mir an den Gaumen. Ich beugte mich nach vorne und öffnete den Mund. Ich erbrach nur ein dünnes Rinnsal.

 

Ich hörte Schritte. Das war bestimmt schon Laura, sie hatte ja gesagt, sie würde kommen. Dann könnten wir uns einen netten Abend machen.

Viele Schritte. Hatte Laura Freunde mitgebracht?

Ich horchte genauer hin und war enttäuscht. Eine Person stellte eine schüchterne Frage, beginnend mit »Herr Meyer«, dann pries eine gemütliche Altherrenstimme mit ruhigen, herzlichen Worten die Einbauküche. Es war der Vermieter. Er hatte die Leute im Schlepptau, die unten vor der Tür gewartet hatten, und zeigte ihnen die Wohnung. Dass mir das nicht früher eingefallen war. So viel zu meiner Ruhe.

Schade auch, dass Laura mich weiter warten ließ.

Ich rappelte mich auf. Die Wand hinter mir wirkte abgetragen. Sie war sogar leicht grau. Eigenartig. Als ich den Raum betreten hatte, war ich mir sicher gewesen, alles in frischem Weiß zu entdecken. Warum ließ der Maler eine Stelle aus, zumal eine, die immerhin so groß wie mein Rücken war? Ich sah mir den Fleck genauer an. Er bildete sogar die Form meines Rückens. Deshalb also. Ich seufzte. Dort hatte ich mich angelehnt. Mein Körper verursachte das, weil er auf diese Weise heilte. Ich zerstörte alles um mich herum, selbst wenn ich mich stillhielt. Ich wollte aufschluchzen oder gegen den Putz schlagen.

Stattdessen stellte ich mich an die Tür meines Zimmers.

Die Besucher drängten sich durch den Gang, wenig später lobte Meyer im gegenüberliegenden Raum Parkett sowie Ausblick. Seine Stimme klang geschäftsmäßig, verbindlich. Seine Augen allerdings vermittelten einen anderen Eindruck. Die Oberlider hingen so tief, als hätte man ihn gerade erst geweckt.

Die Leute traten in den Flur zurück. Ein Mann an der Spitze der Gruppe würde gleich durch mich hindurchtreten. Ich zögerte. Das war mein Zimmer, das Schlafzimmer, tagsüber frei von Menschen. Aber jetzt rannten sie alle hier herein?

Wenige Zentimeter vor mir blieb der Fremde abrupt stehen. Was war denn das? Er wurde von seinem Hintermann leicht nach vorne gestupst, dann hielt dieser ebenfalls an und bremste die nachfolgende Besucherin aus. Wehrte ich so die Gruppe ab? Warum hatte ich das früher nicht versucht?

Ach ja, weil ich es bereute, wenn sie durch meine Unvorsicht eben doch in mich hineinstießen.

Meyer schritt an dem Ersten vorbei, musterte ihn kritisch und trat ein. Ich schob mich gerade rechtzeitig aus seinem Weg. Er schaltete das Licht ein und stellte sich in die Mitte des Raumes. »Nur zu.«

Die Leute hielten Abstand von mir. Ebenso von der Ecke, in der ich gesessen hatte. Ihr Unbehagen schmerzte mich tief drinnen. Aber es heilte meine Haut.

»Hier riecht es noch etwas neu«, sagte der Vermieter, »ich hoffe, das ist kein Problem für Sie.«

Einige lachten höflich.

»Freilich ist es so für Sie von Anfang an frisch und wohnlich! Das ist das Schlafzimmer. Schöne Größe, da hat alles Platz. Haben Sie weitere Fragen?«

Er ignorierte eine unsichere Meldung.

»Nein? Dann bringe ich Sie jetzt zurück zur Wohnungstür. Meine Tochter Nathalie zeigt Ihnen gleich den Keller sowie den Gemeinschaftsgarten. Von ihr bekommen Sie nachher auch die Selbstauskunftsbögen.«

Die Menschen schoben sich aus der Tür. Draußen grüßte sie eine weiche, sinnliche Frauenstimme. Der Vermieter wartete, bis alle sich zur Tür gedreht hatten, bevor er das offene Schlafzimmerfenster schloss.

»Anton, Anton«, flüsterte er, »das nennst du fertig.«

Hinter dem Fenster färbte sich der Reiniger inzwischen schwarzgrau.

Die Sonne war wohl endlich untergegangen.

Während ich an Meyer vorbei durch das Glas hinausblickte, verschob sich mir die Sicht. Das passierte mir manchmal. Ein bisschen war das wie mein Geruchssinn, nur dass der zuverlässiger arbeitete.

Meyers Kleidung wurde durchsichtig, dann verschwand seine Gestalt. Was ich darunter sah – oh, das war ja seltsam.

Nun.

Ich glaube, der Leib ist nur eine Hülle.

Direkt unter der Haut versteckt sich etwas, das mir gleicht, aber meistens rosiger und weniger faltig ist. Es spannt sich unterhalb des Körpers und kontrolliert ihn. Hat Arme, Beine, Finger, einen Kopf. Ja, ich schätze, dass es sich zusätzlich von der Person ernährt. Von ihren Gefühlen, zum Beispiel. Dieses Wesen, das in einem drin steckt, dieses Ding, das genauso ist wie ich, wir sagen dazu Seele.

Ich bin überzeugt: Es ist ein Parasit.

Deshalb ernähre ich mich vom Leid anderer Leute. Früher habe ich mir das aus dem Körper gezogen, physiologisch vielleicht, oder, irgendwie, magisch. Nur ist mein Äußeres jetzt weg. Also brauche ich eine neue Quelle. So einfach ist das.

Mit der Sicht blicke ich auf die Seele der Leute. Diese Seele, sie ist keineswegs durchsichtig. Genauso wie auch ich nicht durchsichtig bin. Und die Oberfläche der Seele verrät mir viel. Falls der Mensch glücklich und gesund ist, ist sie pummelig wie ein Säugling. Ist jemand besonders fröhlich, dann leuchtet der Brustkorb, als würde eine Glühbirne darin sitzen. Bei unangenehmen Zeitgenossen wiederum verschwindet die Brust in tiefen Schatten. Aber wenn eine Person krank ist, sehe ich das ebenfalls. Mir war das bei einem alten Mann aufgefallen, der seinen Urin nicht mehr hatte halten können.

Ich wäre der perfekte Arzt. Hätte ich einen Körper. Und ein Medizinstudium abgeschlossen.

Über Meyers Brust zogen sich schwarze Dellen. Sie bestanden aus vielen kleinen, hart gewordenen Bläschen, die sich übereinanderstapelten und zwischen denen gelegentlich ein dunkelroter Dampf hindurchnässte. Das Gewebe war auf Höhe des Herzens am meisten angegriffen, aber die Bläschen strahlten die Seelenhaut entlang in verschiedene Richtungen aus. Ich vermeinte, darin den Weg der Schlagadern zu erkennen. Wie seltsam sich das anfühlte. Da hatte ich als Sanitäter so vielen Menschen geholfen, sie bis in den Tod begleitet, aber dass es diese andere Welt geben könnte, in der Geister lebten, Gefühle rochen und Krankheiten sich in der Seele ausbreiteten, daran hatte ich nie gedacht. Dabei ergab das wirklich schöne Formen, wie hier mit den Bläschen. Eine geradezu berufliche Neugierde kam in mir auf. Hatte Meyer eine Herzschwäche? Eine verkalkte Hauptschlagader? Stand er kurz vor einem Herzinfarkt?

Wie gern hätte ich ihn gefragt!

Meyer schaltete das Licht aus und verließ den Raum. Ich zögerte, immerhin war die Stimmung an diesem Ort etwas Besonderes. Aber als ich den Vermieter an der Tür hörte, riss ich mich los. Wer wusste, wann ich ihn das nächste Mal sehen würde!

Beschwingt wanderte ich in seine Richtung. Gerade wollte ich in den Gang treten, da sah ich an der Eingangstür den Arm einer hellblauen Trachtenjacke.

»Trude!«, rief Meyer.

Ich schoss zurück.

Was machte die hier?

Eine unangenehme Ahnung breitete sich in mir aus. Gerade erst hatte sie mich als »Teufel« beschimpft. Aber ich war doch nicht derart wichtig. Oder?

Hoffentlich kam Laura bald. Ich drückte mich an den Türstock des Schlafzimmers und lauschte.

»Na, Bub«, sagte Trude. »Du hast die Leute noch gut beschäftigt unten, ich habs schon mitbekommen.«

»Was denkst du denn! Wie wirkt das, wenn die Besucher hochkommen und die Polizei steht im Gang? Hat man ihnen ja auch deutlich genug angesehen, den Herrschaften, dass sie von der Staatsmacht sind. Was ist? Wieder etwas mit Miriam?«

»Sie ist weg.«

»Dieser Obermüller scheint euch ganz schön – um Himmels willen! Das ist ja schrecklich! Die arme Kleine! Kann ich was für euch tun?«

»Günther, du bist einfach mein Bub. Aber nix kannst tun. Die Kinder heut! Ich mag mir die Wohnung anschauen.«

»Da muss ich an meine Nathalie denken, wie sie mir damals ausgebüxt ist. Gehen wir rauf? Erzählst du mir alles?«

»Geh du. Ich schau mir die Wohnung an.«

»Jetzt? Allein?«

»Ja.«

»Ich hab oben noch einen guten Kuchen von meiner Haushälterin.«

»Lass gut sein.«

»Sie bringt mir den manchmal. Ein Gedicht, das sag ich dir.«

»Pfiadi, Günther.«

»Also, Trude.«

»Günther, du gehst rauf.« Ihre Stimme klang nicht besonders hart. Aber sie prickelte auf meiner Haut. Ich schüttelte mich.

»Äh, freilich«, stotterte der Vermieter, »Trude, mach ruhig. Ich – du ziehst die Tür hinter dir zu?«

 

Sie zog die Tür hinter sich zu.

Leise fragte sie in die Wohnung hinein: »Hat sich da noch wer verlaufen?«

Die war also sehr wohl wegen mir gekommen.

Ihre Schritte hallten dumpf im Gang.

Ich versuchte, mich zu räuspern. Aber ich bekam keinen Ton raus.

Jetzt nur Ruhe bewahren. Wenn sie mich fand, während ich wie ein entlaufener Schwerverbrecher herumwuselte, würde mir das nicht helfen. Ich sah mich um. Sollte ich vielleicht hinter die Tür verschwinden? Lieber nachdenken. Klare Gedanken fassen. Stehen bleiben.

Sie tauchte auf. »Hab ichs doch gewusst!«

»Hallo?«, brachte ich unsicher hervor. »Ich bin ein Freund von Laura. Sie kennen ja Laura, blond, blaue Augen, hübsche Beine, ähm …«

»Teufel!« Sie trat einen Schritt auf mich zu. »Spionierst du für die Fischer?«

Ich blieb tapfer stehen. Was bei den anderen Menschen geklappt hatte, musste doch hier auch funktionieren.

Sie allerdings stieß ihren Gehstock in meine Brust, der Schlag presste mir die Luft aus der Lunge. Schon riss mir die Haut, und der Stock steckte in mir drin. Unsanft zog sie ihn wieder heraus. Ich glotzte erst das Loch an, dann Trude. Ich bekam bei der Sache ein zunehmend schlechteres Gefühl. Als ich probeweise einatmete, rasselte und pfiff es. In dem Moment beschloss ich, es vorsichtig angehen zu lassen. Deshalb trat ich, als Zeichen guten Willens, einige Schritte zurück. Wobei mir auffiel, dass ich eher torkelte.

Sehnsüchtig lugte ich in den Gang hinter ihr.

Sie sah meinen Blick und knallte die Schlafzimmertür zu.

Da spürte ich das Gewebe in der Lunge pochen. Das Loch fühlte sich warm an, bald heiß, dann brannte es. Als hätte sie Chili reingeschmiert. Ich griff mir an die Brust, keuchte mehrmals, fiel auf die Knie. Meine Nase hielt kurz vor ihrem Schienbein.

»Ist das ein magischer Stock?«

»Warum magst du das wissen?«

»Weil er wehtut!«

Sie grinste zufrieden. »Du spionierst also für die Fischer?«

»Bitte! Mein Name ist Ben –«

»Einen Namen magst du haben? Als wenn die Fischer jemand mit Namen beschwören könnt. Hörst du gleich das Lügen auf!«

»Ich lüge nicht!«, brüllte ich. Dann rieb ich mir die Schläfen. Was? Schon wieder: Fischer. »Ben. Von Benedikt. Benedikt Vogt. Um Himmels willen! Ich brauche Ihre Hilfe.«

Nun stutzte sie. Ihre Haltung wurde unsicher. Ein wenig, zumindest.

Ich hob die Hände. »Bitte!«

»Du bist kein Menschlicher.«

»Was?« Ich rappelte mich auf. Meine Hände hielt ich weiterhin erhoben. »Was bin ich sonst?«

»Ein Geisterhafter. Ein Teufel, vielleicht. Oder ein Dämon. Man hat dich hierher geschickt.«

»Hören Sie, man hat mich ermordet.«

»Du bist –«

»Man hat mich von meinem Körper getrennt.«

»Wenn du wirklich –«

»Ich bin ein Mensch.«

Sie hielt inne.

Lächelte.

Ich entspannte mich. Lächelte zurück. Jetzt half sie mir sicher.

Stattdessen sagte sie: »Beinah hättest du mich getäuscht.«

Dann schlug sie mir mit der Faust auf die Brust.

Mein Rücken brach.

Mein Kopf krachte gegen die Wand.

Die Hexe berührte mit dem Zeigefinger meine Schläfe. Sie murmelte einige Worte.

Mir wurde schwindelig.

Weißer Putz rieb meine Wange entlang.

Irgendwo drehte sich in einer Tür ein Schloss.

»Ben?«, rief eine Mädchenstimme.

Kapitel 4

Die Welt kribbelte, wo mein Körper hätte sein sollen. Ein Finger strich mir über die Stirn, langsam spürte ich auch wieder meinen Hals. Warme Hände tasteten meinen Kopf entlang und hoben ihn vorsichtig. Ich blickte in Lauras lächelndes Gesicht.

»Hi Ben«, flüsterte sie. »Alles fit?«

»Hi«, murmelte ich. »Was ist mit mir?«

»So wies aussieht, heilst du.«

»Ist die Alte weg?«

Laura drehte meinen Kopf so, dass ich Trude sah. Die grimmige Hexe verschränkte die Arme, den Stock in der Faust.

Ich wollte mich aufrappeln. Laura drückte mich nach unten, ganz sanft.