Irrlichtkönigin - Stefan Egeler - E-Book
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Irrlichtkönigin E-Book

Stefan Egeler

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Beschreibung

Wenn ein Irrlicht eine Erzieherin ruft ...

»Hier wurde wirklich eine märchenhafte, tolle Welt geschaffen.« – Lovelybooks-Rezensentin
»Die Story ist packend und vielschichtig.« – Lovelybooks-Rezensentin
»Ein Buch mit Tiefgang und Tragik« – Lovelybooks-Rezensentin

Ein gruseliges Märchen und Glas »wie von Feenhand«

Die Erzieherin Maria arbeitet in einem Münchner Kindergarten, bis sie einem Mädchen ein zu gruseliges Märchen erzählt. Ihr notorisch glückloser Freund Paul ist zur Zeit ebenfalls ohne Anstellung. Da kommt ein zwielichtiges Angebot gerade recht: Ein kleines Dorf im Bayerischen Wald sucht Arbeitskräfte. Und in diesem Dorf erschafft man Glas »wie von Feenhand«.

Im Ort angekommen, scheinen die beiden den Dorfbewohnern seltsam vertraut zu sein. Paul genießt in seiner neuen Arbeit ungewohnten Erfolg und kostet das überraschende Glück in vollen Zügen aus. Maria wiederum befallen intensive Träume, die sie in ein nahes, verbotenes Moor führen. So eckt sie im Ort an und findet mit Paul immer seltener zusammen.

Bald aber geht um mehr als um Alltag und Liebe: Kennt Maria dieses Moor, möglicherweise schon seit sehr langer Zeit? Ist Maria nicht sie selbst? Folge Maria auf ihrem Weg in eine schillernde Märchenwelt, zu ihrem Glück und zu ihrer Bestimmung.

Dark Urban Fantasy, ein Komplott zum Miträtseln und eine bittersüße Liebesgeschichte

Irrlichtkönigin: Das Märchen vom Moor ist ein in sich abgeschlossener Dark Urban Fantasy Roman mit zahlreichen Anspielungen auf Märchen und Legenden, dazu Gruselelementen, zwiespältigen Sagenwesen, einer bittersüßen Liebesgeschichte und einem vielschichten Komplott zum Miträtseln.

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Eine Frau auf dem Weg in eine schillernde Märchenwelt

Die Erzieherin Maria arbeitet in einem Münchner Kindergarten, bis sie einem ihrer Kinder ein zu gruseliges Märchen erzählt. Zusammen mit ihrem notorisch glücklosen Freund Paul zieht sie deshalb aufs Land in die Nähe eines verbotenen Moors. Doch bald träumt Maria von einem verlorenen Irrlicht …

Irrlichtkönigin: Das Märchen vom Moor ist ein Märchenroman mit einer bittersüßen Liebesgeschichte, Gruselelementen und einem Komplott zum Miträtseln.

Stefan Egeler: Dark Urban Fantasy

Ich bin Dark Urban Fantasy Autor. Du bekommst bei mir spannende Märchenromane. Entdecke den Grusel in Straßenschluchten und an abgelegenen Seen. Triff allerlei Sagengestalten. Und wirf mit mir den einen oder anderen Blick in die Abgründe der Seele.

Dabei berichte ich quasi aus erster Hand.

Denn aus beinahe sicherer Quelle weiß ich, dass ich der Urenkel eines Hexers bin.

Mehr über mich erfährst du auf

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Der Lehrer Albrecht sieht seine Schüler als Lehm, den es zu formen gilt. Doch er begegnet etwas sehr Altem. Und wird selbst geformt …

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Teil 1: Eine unerwartete Nachricht

1 Es war einmal ...

Als an Marias Ohren nur noch dumpfes Rauschen drang, fühlte sie sich endlich leicht. Das Wasser in der Badewanne streichelte ihre Haut und eine angenehme Kühle sickerte in ihren Körper. Sie mochte es, zu frösteln. Sie genoss das Gefühl, wenn sich die Härchen auf ihrem Körper aufstellten.

Maria wollte für immer so in der Wanne liegen bleiben. Während sie im Wasser schwebte, zog sich das Alltagsgrau zurück und die Welt wurde zauberhaft. Maria lag dann nicht mehr in der Badewanne einer engen Münchner Mietwohnung, sondern im funkelnden Nass eines Sees, um den sattes grünes Moos wuchs. Über ihr gleißte die Sonne und perfekt weiße Wolken eilten dahin. In dieser Umgebung konnte sie noch an hilfreiche Männlein glauben, die weiterziehen mussten, sobald man ihnen Kleidung schenkte. Pilze bildeten Feenringe, durch die Menschen versehentlich verschwanden, und die Wilde Jagd, eine vielgestaltige Gruppe übernatürlicher Jäger, zog auf der Suche nach ihren Opfern durchs Land. Es war eine fröhliche, bunte, grauenhafte, erschreckende Welt, kurzum, Maria fühlte sich darin lebendig.

Maria arbeitete als Erzieherin in einem Kindergarten. Sie war vernarrt in die Vorschulkinder. Diese entdeckten ihre Umwelt ohne Zwang. Sie fanden ihre ganz eigentümlichen Erklärungen für allerlei Geschehnisse. Sie kannten noch Zauber. Sie schlüpften in Märchen hinein und wandelten darin als wahrhaftige Königinnen und Könige umher. Solange Maria diese kleinen Menschen begleiten durfte, bewahrte sie ihnen das Magische an ihrer Welt. Mit unerschöpflicher Energie erzählte Maria Geschichten von braven und garstigen Kindern, von Hexerei und Rittertum, von Feenköniginnen und Irrlichtern. Die Jungen und Mädchen machten große Augen. Sie hingen an ihren Lippen. Sie jubelten und erschraken. Kurzum, sie waren frei und lebendig und Maria ganz nah.

Maria überließ es den Kolleginnen, mit den Vorschulkindern das Zahlenland zu betreten oder Buchstabenprojekte durchzuführen. Sie bedauerte es, wenn die Fünfjährigen das Wort Schultüte aussprachen. Die Schultüte war ein offensichtliches Lockmittel, aber Kinder ließen sich leicht locken. Im Märchen hatte die Hexe das Lebkuchenhaus genutzt, um Hänsel und Gretel zu betören und in einem Gefängnis anzuketten. In der Schule waren sie in klaren Reihen an schmale Zweiertische gekettet, vor ihnen ein Lehrer, der sie mit Formeln an der Tafel mästete. Sie würden dem neuen Spiel Folge leisten, vielleicht in anfänglicher Lust, aber langsam verdorrte das Spielerische und die Kindheit verblasste. Die Märchen verschwanden und Maria, die blasse Erzieherin mit den hüftlangen Haaren und den ersten Fältchen im Gesicht, tat es ihnen gleich. Die Kinder traten ein in eine Welt von Ordnung, Routine und Sachzwängen. Sie fuhren U-Bahn und wenn sich die Türen wie Mäuler schlossen, dann störten sie sich nicht am zischenden Geräusch der alten Züge oder am irren Piepsen der neuen Fahrzeuge. Sie starrten leer auf ihre Telefone. Oder sie schrien in die schwarzen Kästchen hinein und lachten mit nicht anwesenden Personen. Sie wuchsen heran zu jungen Frauen und Männern, die T-Shirts mit mathematischen Symbolen witzig fanden. Zu Anzugträgern und Kostümträgerinnen, die nicht mehr Drachen und Ogern auflauerten, sondern disruptiven Innovationen.

Maria schwebte, doch es brachte ihr keinen Frieden mehr. Sie tauchte auf und ließ ihren Kopf auf den kühlen Rand der Badewanne sinken.

Sie konnte sich nicht helfen. Sie versuchte, alle Kinder gleichermaßen zu mögen. Aber es zog sie zu den neugierigen Kleinen, denen, die sich in ihren Fantasiegeschichten selbst krönten, doch die auch früh den Verlockungen von Zahlenland und Schultüte erlagen. Sie wollte ihnen die Kindheit ein wenig länger bewahren, sie am liebsten behalten und vor ihrer Zukunft retten. Einer Fünfjährigen hatte Maria in diesen Tagen lebhafte Märchen zugeraunt. Alte Sagen über Irrlichter, die Menschen in den Tod lockten. Über Reisende, die auf dem Heimweg falsch abbogen und von denen man nur noch den Wagen wiederfand. Das Kind lauschte. Es klammerte sich Schutz suchend an Maria. Maria hatte gewusst, dass sie das Mädchen erreichte.

Aber heute.

Der Vater hatte zum Gespräch gebeten und die Chefin war dabeigesessen. Er fragte sie über Märchen und Geschichten aus. Maria berichtete ihm gern, sie wurde immer lebhafter dabei und bemerkte zu spät, wie seine anfängliche Neugierde einem düsteren Abwarten wich. Das Kind schlafe schlecht. Nun, da er sich ein Bild gemacht hätte, sei ihm auch klar, warum. Er wolle nicht mehr, dass Maria mit seiner Tochter spreche.

Die Chefin verteidigte sie nicht. Sie wartete, bis der Vater gegangen war, dann fing sie an.

Immer diese Geschichten.

Es sei nicht das Ziel einer Erziehungseinrichtung, Kindern den Schlaf zu rauben.

Maria müsse das zurückschrauben. Diese Horrormärchen.

Die Chefin redete sich in Rage.

Solche Personen, die nach dem Wirtshaus magische Geschichten erzählten, hätten einfach über den Durst getrunken. Leute wären in allen Zeiten nicht wegen Wilder Jagden verschwunden, sondern weil die Menschen einander Grausamkeiten antaten. Die böse Hexe bei Hänsel und Gretel sei nicht etwa eine niederträchtige Zauberin, stattdessen sei sie eine Erinnerung an Menschenhändler und Kinderschänder. Es brauche keine Gnome oder Feen. Auf Schauergeschichten für Kinder könne man gut verzichten.

Natürlich würden sie das Mädchen aus der Gruppe nehmen. Man wolle froh sein, wenn es für die Familie damit erledigt sei. Aber Maria sei angezählt.

Das Mädchen war für sie verloren. Wieder eines.

Maria griff nach ihrem Kamm. Sie kämmte Strähne um Strähne, sie kämmte fest und grob. Bald pochte ihre Kopfhaut. Als der Weg von Scheitel zu Haarspitze nur noch aus Schmerzen bestand, warf sie den Kamm gegen die geflieste Wand. Sie schrie vor Wut.

Das künstliche Licht des fensterlosen Bads flackerte. Auch das noch. Münchner Elektrik, ständig war irgendetwas.

Angezählt war sie.

Sie konnte nicht mehr.

Sie setzte sich an den Rand der Badewanne und ließ das Wasser aus. Meist beruhigte sie der kleine Strudel, aber heute tat es ihr weh, das Wasser verschwinden zu sehen. Als es abgelaufen war, fühlte Maria sich leer.

Die fleißige Goldmarie aus dem Märchen strengte sich an und daraufhin eröffnete sich ihr die Welt. War das vielleicht Marias Weg? Sollte sie in Zukunft den Kindern das Zahlenland nahebringen?

Nein. Was sie eigentlich stattdessen tun müsste, wäre, das Mädchen zu stehlen und es vor der Schultüte zu retten.

Trotzdem tat sie es nicht.

Maria zog Slip und Kleid an. Dabei verfingen sich einige Haarsträhnen. Maria befreite sie und strich sie glatt. Sie seufzte.

Paul würde wissen, was zu tun war. Er machte sich gut in solchen Sachen.

Ihr Paul.

Zuerst einmal war er ein unwahrscheinlich schöner Bursche. Er hatte ein kantiges Gesicht und eine ausdrucksstarke Nase. Dazu einen sanften Bart und lockige kurze Haare, beide in einem natürlichen, kräftigen Orangerot. Gewitzte Augen. Und Sommersprossen. Er war nicht groß für einen Mann, ging ihr nur bis zum Kinn, aber das störte sie nicht.

Er verstand sie perfekt, während sie über Berggnome fantasierte. Oder sich Hauswichtel mit roten Zipfelmützen vorstellte, die Wohnungen aufräumten. Wenn Maria mit Paul zusammen war, wenn sie gemeinsam zu verfallenen Burgen wanderten oder durch all die Moorlandschaften streiften, die von Menschen schwer beschädigt worden waren, wusste Maria, dass er dachte wie sie.

Er hatte eine wunderbare, märchenhafte Art zu sprechen. So gewählt.

Und er war im Alltag der tapferste Mann, den sie kannte. Er tat sich schwer, ja. Ihn verfolgte das Pech. Immer waren es Kleinigkeiten, für die er nichts konnte. So wie die Milchpackung, die ihn seine erste Anstellung gekostet hatte. Er war nur danebengestanden, als die ältere Dame im teuren Mantel ebendiese Verpackung ergriff und ihr der Karton in der Hand zerplatzte. Paul hatte die Schachtel nicht einmal angerührt.

Dem Filialleiter war das egal gewesen.

So ging es ihm oft.

Er quälte sich für Wochen und Monate durch Aushilfstätigkeiten. Er ertrug die Missgeschicke sowie das blöde Gerede. Und wenn der Chef ihm wieder sagte, dass er lieber einen anderen anstellen wollte, nahm Paul das hin wie ein Ritter und suchte nach einer neuen Stelle.

Derzeit arbeitete Paul als Spülkraft in einem Gasthof im Münchner Süden. Bereits seit vier Wochen!

Er wusste, wie man mit Problemen in der Arbeit umging.

Vor der Badezimmertür raschelte es.

Maria lugte hinaus. Der enge Gang ihrer winzigen Wohnung bestand im Wesentlichen aus Kleiderhaken an der Wohnungstür, einem selbstgezimmerten, nicht zu tiefen Schuhregal und genug Platz, um sich umzudrehen. Auf dem Schuhregal hatte sie etwas positioniert, über das sie nicht sprach und das sie insgeheim nur »den Stapel« nannte. Es waren Briefe, so sauber aufgeschichtet, dass sie sich wie ein Möbelstück anfühlten und man sie gar nicht mehr wahrnahm. Doch jetzt hatte sich etwas verschoben. Eine einzelne Mitteilung hing wie eine Zunge aus dem Stapel hervor. Eine unbezahlte Rechnung? Eine Mahnung zu einer unbezahlten Rechnung? Es war wohl wieder an der Zeit, sich um die Briefe zu kümmern. Maria schob sie zusammen und nahm sie mit. Paul, ihr schöner, verständnisvoller, fleißiger Paul, er sollte sich nicht auch noch mit solchen Themen beschäftigen. Erst recht nicht heute. Sie brauchte seinen Rat.

Maria trat mit zwei Schritten durch den Gang und in das knapp bemessene Wohnschlafzimmer hinein. Sie quetschte sich an dem Sofa mit der liebevoll ausgesessenen Kuhle vorbei. Auch an dem Regal, das Paul vor einigen Monaten mit viel Mühe aufgestellt hatte und das erst kürzlich zusammengebrochen war. Dann schlängelte sie sich zwischen den Bücherstapeln hindurch, die vor dem Bett auf ein neues Möbelstück warteten. Maria dachte bissig an ihre Chefin.

Ob sie diese Bücher denn überhaupt behalten dürfte?

Immerhin erzählten die meisten von ihnen Horrormärchen. Schauergeschichten.

Sicher wäre es auch angemessener, die süßen Trollfiguren vom Flohmarkt zu verkaufen. Ebenso die bunt glitzernden Dekogläser. Stattdessen könnte sie Buchstaben oder Zahlen aufhängen.

Die Küche bestand aus einer Spüle, dazu einer kleinen Arbeitsfläche samt zweier Herdplatten sowie einem schlanken Fenster. Maria mochte das Fenster, denn von dort aus blickte sie auf den Teich, der im Garten der Nachbarin stand. Einen eigenen Teich!

Vollkommen illusorisch.

Maria öffnete das Fenster. Frische Luft und das Rauschen des Verkehrs stießen ins Zimmer. Dann strich sie sich sorgfältig alle Haare zurück und kramte nach dem Feuerzeug.

Der erste Brief war an Paul adressiert. Maria riss ihn auf. Ein böser, persönlicher Text kam hervor, wohl von einem seiner alten Arbeitgeber. Sie las von einer Beteiligung an Kosten und schüttelte den Kopf. Sie hielt das Papier über die Spüle, entzündete es mit dem Feuerzeug und genoss die schwache Hitze der leckenden Flammen. Bevor diese ihre Finger erreichten, ließ sie das Blatt fallen. Es knüllte sich schwarz zusammen.

Der zweite kam von ihrem Vermieter, deshalb war er schwerer zu ignorieren. Für die jährliche Nebenkostenabrechnung wurde eine Nachzahlung fällig, immerhin mehrere hundert Euro. Aber es war eben eine Abrechnung. Keine Mahnung. Wieder löste das Feuer die Forderung auf.

Der nächste Brief trug das bayerische Staatswappen. Die Hand, die den Umschlag hielt, zitterte nun. Bestimmt war es das Finanzamt oder Schlimmeres. Ihr erster Impuls war, die Mitteilung ungeöffnet zu verbrennen. Ein kleines Emblem allerdings ließ sie innehalten. Maria las: Erlebnis Bayerischer Wald. Darunter: Herzliche Grüße aus der Gemeinde Schwarzenried!

Das wirkte nicht so, als wäre es eine Rechnung. Und für Maria klang der Name Schwarzenried geradezu heimelig. Nur ein schöner Ort hieß so. Sie legte das Feuerzeug weg und öffnete den Brief. Anfangs machte der Text sie nachdenklich, später skeptisch, schließlich schüttelte sie den Kopf.

Warum kam das gerade jetzt?

Und woher wussten die überhaupt von ihnen?

Sie griff erneut nach dem Feuerzeug, da drehte sich der Schlüssel an der Haustür.

Paul. Ihr lieber, kleiner Paul.

Maria schob die verbliebenen Briefe und das Feuerzeug zwischen zwei Kochbücher. Die Asche spülte sie den Ausguss hinab. In der Luft lungerte noch Rauch herum, aber da konnte sie jetzt nichts machen. Sie ließ das Fenster offen.

Eine Wand weiter schloss Paul die Wohnungstür hinter sich.

Als sie in den Gang kam, quetschte er gerade seine Schuhe in das Schuhregal. Er hielt inne, dann hob er ihr eine kleine Pflanze entgegen. Es war eine Sumpfdotterblume, mit kräftigen gelben Blütenblättern um eine dicke gelbe Blüte. Was für ein sattes, wunderschönes Gewächs. Die hatte er jetzt, Anfang Juni, noch gefunden? Ach, Leben!

Maria griff nach dem Stängel. »Danke!«

»Ich war noch ein wenig am Flaucher spazieren«, sagte Paul. »Ich wollte nachdenken ... dann habe ich dieses schöne Blümchen gewahrt und sogleich an dich gedacht.«

Gewahrt, was für ein schönes altes Wort. Maria lächelte. Sie ergriff seine Hand. »Ich muss mit dir sprechen.«

Paul war ein hibbeliger Mann, aber nun stand er für sie beinahe still.

»Es geht um die Arbeit«, sagte Maria.

»Du weißt bereits davon?«

»Natürlich weiß ich davon. Es ist schließlich mir passiert. Doch ich möchte deine Meinung hören. Die Chefin hat mir heute wieder ein Kind aus der Gruppe genommen. Wegen eines Vaters. Dabei war sie richtig garstig. Sie hat mir sogar gesagt, ich wäre angezählt. Aber ich will da überhaupt nicht mehr hin!« Sie stutzte, dann lächelte sie schief. »Ist bei dir in der Arbeit noch eine Stelle frei?«

»Nun«, sagte Paul leise. »Seit heute.«

»Was? Sie haben dir gekündigt?«

Er nickte. »Mir ist ein Teller heruntergefallen. Nur einer, so jedenfalls hat es angehoben. Der Küchenchef hat mich alsdann nicht mehr aus den Augen gelassen. Ich habe ihn allenthalben gespürt und bin unsicher geworden, habe nicht mehr gewusst, welche Spülmaschine ich einschalten und welche ich ausräumen muss. Und darnach sind zwei der Maschinen ausgefallen. Der Chef hat mich angebrüllt. Ich täte das doch mit Absicht, warum er sich immer mit den Falschen einließe und mit mir wäre doch etwas nicht in Ordnung. Und so weiter.« Er zuckte mit den Schultern. »Nun bin ich erneut arbeitslos, darob bemüh dich ruhig um meine Stelle. Doch eigentlich sollten wir diesem Leben entschwinden. Lass uns eine Burg suchen. Wir erstürmen sie. Verjagen die Vorbesitzer und ziehen dorten ein. Ich mime einen Raubritter. Besser den König. Und du bist mein teuerstes Aschenputtel.«

Maria ließ seine Hand los. »Ach, Paul! Ich ertrage meine Arbeit nicht mehr. Du bist schon wieder arbeitslos. Wir haben Schulden. Da hilft uns ein Märchen nicht weiter! Obwohl ...«

»Schulden?«, fragte Paul.

Sie trat von ihm zurück. Nahm seine Hände in ihre, drückte sie und wandte sich dann ab. »Ich zeig dir etwas.«

Sie ging zu den Kochbüchern und zog die Briefe hervor. Das Feuerzeug fiel zu Boden, aber da hatte sie schon den richtigen Umschlag ergriffen. Herzliche Grüße aus der Gemeinde Schwarzenried!

»Lies das mal. Was hältst du davon? Die will uns hier in der Stadt treffen. Auf dem Amt, ganz offiziell. Das ist also kein Lockangebot, oder? Wie mit diesen Gewinnspielen bei den Busreisen?«

Paul nahm den Brief und las ihn vollkommen still. Er warf einen fragenden Seitenblick zu Maria, dann setzte er sich in die Kuhle des Sofas und las den Text erneut. Schließlich beugte er sich vor, nun wieder hibbelig. »Das erschließt sich mir nicht. Es mag ein Lockangebot sein. Jedoch –«

»Wir gehen hin?«

Er lächelte verlegen. »Das oder die Burg.«

2 Vier Kehrseiten

Ein grauer Kunststofftisch beherrschte das Amtszimmer. Die Wände verschwanden hinter Regalen, in denen nach Buchstaben sortierte Ordner standen. Zwischen Tisch und Regalen eingepfercht saß allerdings eine Beamtin, die nicht recht in die fade Trockenheit des Raums passte. Sie war klein gewachsen und in einen mehrteiligen Hosenanzug mit verspieltem Blumenmuster gekleidet. Ihre dichten orangeroten Locken hatte sie elegant hochgesteckt. Sie war über fünfzig, das verrieten viele Fältchen, zugleich aber war ihr Gesicht auffallend ebenmäßig. Auf einem für sie zu großen Stuhl saß sie herrschaftlich wie die Gesandte eines fremden Reichs. Als Maria und Paul eintraten, kritzelte sie emsig auf Formularblättern herum. Sie sah kurz auf, musterte sie und schob die Blätter mit einer einzigen, sauberen Bewegung zu einem perfekten Stapel zusammen. Diesen ließ sie in einem schwarzen Reisetrolley verschwinden. Dann deutete sie auf die beiden Besucherstühle. Mit einer Stimme, die den Raum warm ausfüllte, fragte sie: »Maria Lichtenhang und Paul Reck?«

Maria nickte. Paul tat es ihr gleich.

»Hannelore Müller mein Name. Aber im Bayerischen Wald sind wir freilich alle per Du. Darob, bitte, heißt mich Hanni. Ich komme aus Schwarzenried und wirke in der Gemeindeverwaltung als Meldebeamtin. In dieser Funktion gehe ich often auf Reisen. Mein Ziel ist es, vielversprechende junge Leute, wie euch beide, persönlich kennenlernen und zu uns in den Ort einzuladen. Indes, das habe ich euch ja bereits geschrieben. Und gekommen seid ihr auch. Gell, unser Angebot erweckt euer Interesse. Zu Recht, das werdet ihr gewahren.«

Darob, wiederholte Maria innerlich. Heißt mich Hanni. Hannelore Müller redete ein bisschen wie jemand aus einem Märchen. Wie Paul! Das gefiel Maria. Es verwunderte sie aber gleichermaßen. War das die Art, wie man sich im Bayerischen Wald ausdrückte? Oder war es das typische Beamtendeutsch? Möglicherweise hatte die Frau auch bloß studiert. So viele Möglichkeiten. Und zur Frage, ob die Beamtin – so sie eine war – es ehrlich mit ihnen meinte, half keine davon.

»Ich hätte Fragen«, sagte sie.

»Bitte.«

»Woher weiß Schwarzenried von uns?«

»Gemeinhin erhalten wir Vorschläge, etwa von Arbeitsämtern. War jemand von euch jüngst mit einem Amt in Kontakt?«

Paul wurde schmerzhaft rot und sofort tat es Maria leid, dass sie gefragt hatte.

Er seufzte. »Es nimmt sich schwierig aus. Nun ja, letzthin meinte ich zu Maria, wir müssten uns eigentlich eine Burg erstürmen und dorten als Raubritter leben.«

Maria starrte ihn entsetzt an.

Er machte sich noch kleiner. »Das war ein Scherz.«

Hanni betrachtete ihn sorgenvoll, fast wie eine Tante oder eine deutlich ältere Schwester. Sie streckte eine Hand über den Tisch hinweg und drückte seinen Arm. »Bekümmer dich nicht. Wir finden dir eine ehrbare Tätigkeit.« Dann ließ sie ihn wieder los. Sie begann, im Stuhl zu wippen und musterte ihn weiterhin nachdenklich. Trotzdem sagte sie: »Bitte, Maria.«

Maria räusperte sich. Sie hatte tatsächlich eine weitere Frage. Sie hoffte allerdings, dass diese nicht wieder auf Pauls Kosten ging. Sie griff nach seiner Hand. »Euer Angebot klingt, als liefe es für die Gemeinde Schwarzenried schon lange sehr gut, was das Geld betrifft. Dabei habe ich immer gedacht, im Bayerischen Wald wäre es wirtschaftlich sehr schwierig. Wir sind gern auf dem Land unterwegs. Sehen uns Burgen und Moore an. Und beides gibt es im Bayerischen Wald ja. Aber viele Arbeitsplätze doch eher nicht, oder?«

Hanni schmunzelte. »Der Bayerische Wald liegt wirtschaftlich darnieder, das ist zur Gänze wahr. Es gab immer wieder hoffnungsfrohe Zeiten, doch die währten stets nur kurz. Euch erfreuen Burgen? Unser Teil Niederbayerns war eine Entdeckung des Mittelalters. Man hieß ihn damalen den Nordwald und wähnte ihn undurchdringlich. Grafen, Herzöge und Bischöfe stritten um schwer bebaubare Hügel. Leider erwiesen sich die Felder als unfruchtbar, deshalb verkamen die Adeligen dorten tatsächlich zu Raubrittern. Die erfolgreicheren von ihnen plünderten die kargen Bauernhöfe ihrer Nachbarn. Die meisten Burgen dieser verderbten Gesellen stehen heutigentags als bloße Ruinen. Mit der aufkommenden Industrialisierung – ja, Maria?«

Maria erschrak.

Sie fühlte sich ertappt.

Definitiv hatte sie Hanni kritisch gemustert.

Denn Hanni hatte ihr eine Geschichte erzählt. Maria war dabei durchaus aufgefallen, wie fesselnd sie diese fand. Burgen, Raubritter, harte Zeiten! Wie toll! Mit der Industrialisierung würde es sicher genauso weitergehen. Die berühmten Glaser des Bayerischen Walds, erdrückt von globalen Wettbewerbern. Zu wenige Jobs, zu harte Jobs, folglich viele Menschen, die der Region für immer den Rücken kehrten.

Ach, sie hätte es gern gehört!

Aber zugleich war ihr klar, was Hanni da tat. Sie erzählte Geschichten, statt Antworten zu geben. Und in die Stille nach Hannis Frage hinein fürchtete Maria umso mehr, dass die Beamtin eigentlich beabsichtigte, sie abzulenken. Dass Hanni sie und Paul auf einen Weg aus schönen Beschreibungen lockte. Um am Ende, wunderschön eingepackt, handfeste und schwer erträgliche Kehrseiten zu offenbaren.

»Das geht so nicht«, sagte Maria. »Du darfst uns nicht in Geschichten einpacken. Du musst uns sagen, was los ist.«

Hanni zögerte. Sie musterte Maria traurig, dann zeigte sie ein schmales Lächeln. In ihrem ganz gleichmäßigen Gesicht war das entwaffnend schön. »Du musst dich fei nicht fragen, ob ich es aufrichtig mit euch meine. Schwarzenried ist so wahr wie alles auf dieser Welt, ebenso sein märchenhafter Reichtum und seine Suche nach fleißigen Zuzüglingen. Allein ich gebe mich geschlagen. Ich erkenne es an. Du wirst mit mir nicht schwelgen, wenn ich Geschichten aus alten Zeiten erzähle, jedenfalls heute nicht. Sodenn sage ich es dir gerade heraus. Der Grund, warum all das wahr ist, lautet: Wir in Schwarzenried erzeugen ein Glas, wie niemand sonst auf der Welt es herzustellen vermag.

Vor knapp fünfzig Jahren hat der Glasermeister Ignaz Aigner Formeln für fallsichere und dennoch klangschöne Kristallgläser ersonnen. Später Glasscheiben, die jedem räuberischen Treiben standhalten. Obendrein Panzerglas. Der Herstellungsprozess bleibt bis heute ein Firmengeheimnis und er bildet die Grundlage des örtlichen Wohlstands.

In den 1970ern, als Ignaz Schwarzenried zu Glanz verhalf, war er Sohn des Bürgermeisters. Jüngstens indes zog er sich aus der Glaserei zurück, um dem Dorf als Gemeindevorsteher zu dienen. Denn er ist einer von uns und ihm steht nichts höher als das Wohl der ganzen Gemeinde. Euch werden die Sprüche zusagen, mit denen er seine Produkte bis nach China vertreibt. Sie lauten märchenhaft stark und wie von Feenhand geschaffen. Oh, entschuldige, Maria. Ich erzähle ja schon wieder. Unserem Ort geht es gut und darob suchen wir fleißige Helferinnen und Helfer, doch wir möchten bestimmen, wer sich uns anschließt.«

»Glas«, sagte Paul. »Ein wohliger Gedanke.«

Maria drückte seine Hand. Es war schön, von Paul Worte zu hören, die glücklich klangen. Und da tat es ihr leid, dass sie Hanni diesen bekümmerten Blick abgerungen hatte. An der Erklärung fand sie nichts mehr auszusetzen. Sie konnte etwas anfangen mit Erfindern, die anderen Leuten selbstlos halfen. Insgesamt erleichterte sie das sehr. Vielleicht verheimlichte Hanni tatsächlich nichts, sondern redete nur gelegentlich viel. Maria sagte: »Danke. Das war es vorerst, glaube ich.«

»Das freut mich.« Hanni lächelte, danach holte sie aus dem Koffer allerlei neue Heftchen, außerdem dünne Akten und Hochglanzbroschüren. Sie schob alles zu einem ordentlichen Stapel zusammen, dann ging sie diesen mit Maria und Paul durch.

Zuerst zeigte sie den beiden eine Reihe von Bildern des Dorfes und seiner Umgebung. Maria staunte, wie malerisch es lag. Da war ein Berg mit sanfter Doppelspitze, einer der Gipfel grasbewachsen, auf dem anderen thronte die Glaserei. Etwa auf halber Höhe des Bergs bildeten pittoreske Häuser, aufgereiht wie eine Perlenkette, das Dorfzentrum. Hangabwärts des Zentrums teilte sich das Gelände in zwei breite Ausläufer, deren einander zugewandte Hänge bebaut waren.

Die Fotos zeigten abschüssige Wiesen und gestufte Hanggrundstücke. In weitläufigen Gärten spielten Kinder und lachten Erwachsene.

Einige der Grundstücke hatten sogar einen eigenen Teich.

»So eins wäre schön«, sagte Maria.

»Freilich.« Als hätte Hanni von Maria keine andere Aussage erwartet, nahm die Beamtin die nächsten Fotos vom Stapel. Sie zeigten ein neu gebautes, geräumiges Gebäude mit Terrasse. »Zunächst wird euch ein Mietshaus recht sein. Dieses hier ist von meinem Vater, ein Neubau, noch keine Dekade alt. Euer Vermieter wäre ein zuvorkommender alter Herr, der gleich hangaufwärts lebt und damit für Nachfragen leicht zu erreichen ist. Er hat mir gestattet, das Haus zu vermitteln und die Miete von eurer Anstellung abhängig zu machen, sodass ihr sie gut zu begleichen vermögt. Das Gebäude liegt auf dem Osthang in der Regensiedlung. Und selbstverständlich verfügt es über einen Teich.«

»Ein Teich? Ja!«

»Trefflich! Sodenn wenden wir uns euren Tätigkeiten zu. Maria, du wirkst derzeit als Erzieherin? Nahe dem Dorfzentrum findet sich der Kindergarten Zauberland. Bis dato beschäftigt man 8 Betreuerinnen und Betreuer auf 47 Kinder. Der Betreuungsschlüssel ist der Leitung der Einrichtung indes zu niedrig.«

Maria überschlug die Zahlen im Kopf. Sie fand den Schlüssel nicht zu niedrig – eher stattlich. Da wäre es angenehm zu arbeiten. Sie nickte.

»Träger des Kindergartens ist eine Stiftung der Glaserei«, fuhr Hanni fort. »Man legt Wert darauf, das Lebensgefühl des Dorfes zu vermitteln und zu vertiefen. Einen erheblichen Platz räumt man dabei Sagen nebst Märchen ein. Sie sind die besten Mittel, Kindern Wahrheit nahezubringen. Fühlst du dich geeignet, diese Aufgabe wahrzunehmen?«

Maria lachte. »Und wie!«

»Sodenn zu dir, Paul.«

Paul räusperte sich. Maria merkte, dass er nicht wusste, wo er anfangen sollte. Einzelhandel? Hausmeisterdienste? Metzger oder Bäcker? Paul war ja vielseitig einsetzbar. Nur eben nirgendwo lange.

Die Beamtin warf ihm erneut einen familiären, ja geradezu liebevollen Blick zu. »Ach, Paul. Selbstredend setzen wir dich im Sicherheitsdienst ein. Du wirst dir leichttun.«

Paul stutzte. Er sah an sich herab. »Darauf wäre ich niemalen gekommen.«

Die Beamtin prustete los. Paul wurde zutiefst rot, Maria war verdattert, Hanni wiederum bemerkte beides sofort. Sie hielt inne, setzte sich kerzengerade auf und lächelte so verlegen, dass man ihr nicht böse sein konnte. »Sonach ist es an der Zeit, dich daran zu versuchen. Sag nicht Nein.«

Paul zögerte.

Hanni hielt ihr Lächeln.

Etwas änderte sich an seiner Haltung. Plötzlich hatte er wieder die Ausstrahlung, die Maria an ihm so zum Knutschen fand. Trotzdem hoffte sie, dass er es nicht übertrieb. Denn er grinste keck und sagte: »Nicht Nein.«

Maria warf einen vorsichtigen Seitenblick zu Hanni.

Sie hatte zurecht gehofft, denn die Augen der Beamtin funkelten fröhlich. »Trefflich! Indes, damit ihr ganz im Bilde seid, lasst mich noch die Kehrseiten nennen.«

»Kehrseiten?«, rief Maria. »Ich wusste es!«

Hanni hob die Hand. »Bitte, hört mich an und entscheidet im Anschluss. Es handelt sich lediglich um vier Eigenheiten unseres Ortes. Ich würde sie niemalen als Regeln beschreiben, eher als Gewohnheiten. Traditionen.

Erstens. Uns in Schwarzenried ist ein geradezu märchenhaftes Leben geschenkt. Das neiden uns die anderen Dörfer. Konfrontiert mit Spionageversuchen und Verleumdung, sind wir über die Jahre hinweg recht vorsichtig geworden. Wir überlassen den umliegenden Gemeinden den Fremdenverkehr und gewahren Gemeindefremde nicht gern in den Geschäften oder Kaffeestuben des Ortes. Eigene Ausflüge wiederum beschränken wir auf das Notwendige. Wir bleiben unter uns, denn alles, was man benötigt, findet sich an den heimatlichen Hängen Schwarzenrieds. Maria, Hand aufs Herz: Erscheint dir dieses Verfahren grob wunderlich?«

»Nicht aus dem Dorf rauszudürfen?« Maria stutzte. Kritisch betrachtet, war das enorm viel verlangt. Aber andererseits ging es ja gar nicht ums Dürfen, sondern nur darum, dass man es eben nicht brauchte und nicht unbedingt tat. Zumal sich Marias Alltag hier in München auch nur auf einige wenige Straßenzüge erstreckte. Also gab es durch Hannis Regeln tatsächlich keine besondere Einschränkung. Jedenfalls, solange es direkt vor Ort schöne Natur zu besuchen gab. »Nun ... weiter?«

»Zweitens lassen wir der Natur ihren Raum. So wir in das natürliche Wachsen eingreifen, tun wir das sehr behutsam, fernerhin lediglich dorten, wo wir nicht umhinkommen. Gewahrt hier auf diesen Fotos die Wälder, die sich von Schwarzenried aus nach Norden, Osten und Süden erstrecken. Diese geben sich ungezähmt und märchenhaft. Das mag auch so bleiben. Man kennt über diese Forste alte Legenden, die von Schraten erzählen – das sind lebende Bäume, die ihren Wald beschützen. Ebenso werden wilde Waldmenschen beschrieben. Natürlich handelt es dabei bloß um Märchen. Förster und Jäger berichten allerdings von zahllosen geschützten Arten, dazu von großen Wildtieren. Unsere Spezialisten hüten diese Wälder. Darob bitten wir euch, sie nicht zu betreten. Aus Gründen des Naturschutzes.«

»Warte«, sagte Maria. »Naturschutz ist definitiv wichtig. Aber das heißt dann ja: kein Wald für uns!«

»Doch, freilich«, antwortete Hanni. »Die geschützten Gebiete liegen jenseits des Hangs. In unmittelbarer Nähe pflegen wir schmucke Kulturwälder und eigene weitläufige Gärten. Wir leben in der Natur.«

»Aha ...«

»Sodenn, drittens. Am Westhang, das ist dieser Ausläufer hier auf dem Foto, liegt auf der nicht bebauten Seite ein Moor, der Schwarzener Filz. Vor hundertfünfzig Jahren ist dortselbst eine Kapelle versunken. Sagen erzählen von einem Irrlicht. Noch in heutiger Zeit verunglücken dorten unbedarfte Wanderer. Maria, was blickst du so drein?«

Maria war geradezu entsetzt. Sie befürchtete, was kommen würde, nämlich, dass auch dieser Ort verboten war. Wegen ... »Naturschutz?«

»Wohl wahr! Du verstehst uns fei schon gut, das behagt mir sehr. Dann lasst uns sogleich die vierte unserer Eigenheiten besprechen. In manchen Nächten bekommen wir sonderbaren Besuch. Jäger, Förster sowie Spezialisten von der Sicherheit sind zu diesen Zeiten unterwegs, doch ihr schließt euch besser in das eigene Haus ein und harrt aus, bis der Spuk vorüber ist.«

»Spuk auch noch?«, wiederholte Maria.

»Nun, die Förster sprechen hier ebenfalls von Wildtieren. Indes, warum nicht Spuk?«

»Darf ich das bitte zusammenfassen. Wir treffen keine Fremden. Wir reisen nicht außerhalb des Ortes. Nicht in den Wald. Nicht zum Moor. Und an manchen Nächten verlassen wir nicht einmal unser Grundstück?«

»Dein letzter Satz war nicht gänzlich richtig. Es ist das Haus, das ihr nicht verlasst.«

»Aber es gibt ein Moor?«

»Welches man nicht betritt.« Hanni lächelte nun undurchdringlich, fast neckisch. Als wüsste sie, dass diese Aussage für Maria eigentlich zu viel war. Als wollte sie Maria darauf stoßen.

Folglich wäre dort ein Moor zum Greifen nah, perfekte Natur, all das, was Maria sich immer vorgestellt hatte. Auch Märchenorte! Und sie sollte sich von all dem fernhalten?

»Ist das – ein Scherz?«

Ohne an ihrem Ausdruck etwas zu ändern, schüttelte Hanni sanft den Kopf. »Es sind die Traditionen Schwarzenrieds. Sie haben dem Ort wohlgedient.«

Maria blickte auf die Tischplatte vor ihr. All die Bilder, die sich so verlockend von dem grauen Kunststoff abhoben.

Aber sie sagte: »Wir werden darüber nachdenken müssen.«

Paul versteifte sich.

Hanni jedoch nickte, als hätte sie nichts anderes erwartet. Sie lächelte mild und reichte Maria eine Visitenkarte.

 

Sie verließen das Gebäude und schritten über den etwas zu schmalen Gehweg. Er führte entlang einer dicht befahrenen Straße. Die Autos zischten vorbei. Ein Laster hupte, ein Sportwagen tat das Gleiche. Paul wirkte grummelig. Während Maria nach Worten rang, quetschten sich einige Leute mit ernsten Gesichtern zwischen ihnen hindurch. Maria blickte sich nach den Remplern um, dann die triste, lange Straße entlang. Trübe Wolkenmasse hing am Himmel. Gedämpftes, kraftloses Licht fiel auf Asphalt und Beton. Es schüttelte sie. Aber diese vielen Einschränkungen, die in Schwarzenried auf sie warteten ...

Als sie weiteren entgegenkommenden Leuten ausweichen mussten, stieß Paul gegen sie. Danach blieb er stehen und drehte sich zu ihr hin. Er strich ihr über den Arm. Aber er blickte zu Boden.

Maria machte einen gequälten Laut. »Das ist alles viel verlangt. Hast du das nicht gemerkt? Hannis vier ›Kehrseiten‹? Die sperren sich ein. Wenn wir dort hinziehen, sperren auch wir uns ein.«

Paul wog den Kopf hin und her. »Sicher habe ich diese Worte gewahrt. Jedoch, hast du vernommen, was sie uns anbieten? Das Haus, die Arbeit, einen Platz in der Natur?«

»Aber wir sind dann nicht frei!«

Paul blickte nun zu ihr auf. Sein Gesicht war mehr als jemals von Gram gezeichnet. Als lägen darin all seine Jahre zwischen prekärer Schufterei und lähmender Arbeitslosigkeit.

»Frei wären wir nicht«, flüsterte er. »Indes, freier als jetzt.«

Maria stutzte. Dann schüttelte sie den Kopf. »Paul, ich – ich kann das nicht. So nah an der Natur, so nah an Märchen, und ich soll mich in einem Haus einsperren oder in einem schönen Garten?«

»Ach, das bedrückt dich.« Eine gewisse Leichtigkeit huschte über Pauls Gesicht. Er trat noch einen Schritt auf sie zu und sie spürte ihn ganz nah. Seine Anspannung war von ihm abgefallen. Stattdessen strahlte er einen unbändigen Willen und eine Lebensfreude aus, dass Maria sich nicht erinnern konnte, wann sie das zum letzten Mal an ihm bemerkt hatte. Er blickte jetzt geradezu neckisch drein, fast so wie die Beamtin vorhin, und sagte sanft: »Mein Aschenputtel, so es uns nach Schwarzenried zieht, werden wir damit leben müssen, dorten eigenwillige Regeln vorzufinden. Indes würde ich niemalen von dir erwarten, dass du ihnen auch gehorchst.«

Für einige Sekunden standen sie so beieinander, während Maria dämmerte, was Paul ihr gesagt hatte. Dann begann sie zu kichern, schließlich zu weinen. Der Druck der letzten Wochen fiel von ihr ab.

Ihre Finger tasteten nach seiner Hand.

 

Teil 2: Das schöne Schwarzenried

3 Ein märchenhaftes Dorf

Paul hielt sich wirklich tapfer. Seine geringe Fahrerfahrung machte sich kaum bemerkbar. Klar, wenn er mitten im Wald zu schnell auf eine scharfe Kurve zufuhr und stark abbremsen musste, dann quietschten und klapperten ihre Habseligkeiten. Aber jedes Mal blieb der Transporter rechtzeitig stehen. Und Paul schaffte es auch, ihn wieder anfahren zu lassen.

Oft ragten rechts und links hohe Nadelbäume auf, als gäbe es auf der Welt nichts anderes als den Wald und die Straße. Mitunter öffnete sich eine Seite zu einem abrupten Abhang, dem die Bäume abwärts folgten, und das Land floss aus in eine besiedelte Ebene. Teils wurzelten auf einer Seite die Bäume immer steiler hangaufwärts und der Berg schraubte sich geradezu in den Himmel. Gelegentlich führte der Weg sie über sanfte grüne Hügel, die sich immerfort wellten.

Einzelne Höfe verteilten sich zwischen den Hügeln oder versteckten sich in Lichtungen. Häuser reihten sich an Berghängen auf. Überall glitzerte es in der Sonne: Bunte Glasskulpturen verzierten die Gärten, die Geschäfte und öfters auch Markierungen am Straßenrand.

Am Fuß eines steil abfallenden Abschnitts bog die Straße scharf ab. Sie führte über eine eingleisige Zugstrecke, an einem Wasserkraftwerk vorbei und über einen Fluss, der in weißer Schrift auf einer braunen Tafel Schwarzer Regen hieß. Ganz wie in der Wegbeschreibung, die Hanni ihnen ausgehändigt hatte.

Hinter der Brücke gabelte sich die Straße. Eine Abbiegung folgte dem Flussverlauf. Sie war gesperrt, mit Betonpollern und einem Schild Achtung Wildwechsel. Die andere Richtung führte schräg einen steilen Hang hinauf und wieder zwischen Bäumen hindurch. Sie waren, beinahe, in Schwarzenried.

Sie folgten der Straße, bis der Wald sich linker Hand zu einer frisch gemähten Wiese öffnete. Bienen, Hummeln und weitere Insekten surrten so laut, dass Maria sie über die Motorengeräusche hinweg hören konnte. Etwas entfernt zog sich eine Hecke den Wald entlang. Aber war das noch eine Hecke? Sie reckte sich wie eine grüne Mauer nach oben und reichte dabei fast bis an den dahinterliegenden Forst. Sträucher und Bäume wurzelten dicht beieinander. Äste und Zweige verflochten sich bis in die Wipfel hinein. Das war ein Wall aus Gewächsen. Außerdem war er von exakt einer Pflanzenart. Überall an der Hecke sammelten sich weiße Blüten zu dicken, buschigen Dolden und drängten aus dem Dickicht hervor. Das waren Holunderpflanzen. Wobei ihr traditioneller Name, Holler, sich hier richtiger anfühlte. Die Hollerpflanze war, Sagen und Märchen zufolge, eine althergebrachte Schutzpflanze. Hatte ein Hof einen Hollerbaum, war das ein gutes Zeichen. Kinder retteten sich darunter vor bösen Wesen. Wie in dem alten Kinderlied:

 

Ringel, Ringel, Reihe,

sind der Kinder dreie,

sitzen unterm Hollerbusch,

machen alle husch, husch, husch.

 

Allerdings hatte Maria den Holler noch nie als Hecke gesehen. Es war – magisch. Und wie vor dem Schloss des schlafenden Dornröschens schienen die Pflanzen etwas abwehren zu wollen. Doch während die Rosen im Märchen rettende Prinzen abhalten sollten, musste das Ziel dieser Hollerhecke weit düsterer sein: Denn Holler pflanzte man, um etwas Böses fernzuhalten.

Paul und Maria fuhren parallel zur Hecke und dem dahinterliegenden Wald auf eine ganz profane T-Kreuzung zu. An der Weggabelung bog rechts eine Straße ab und verlief weiter hangaufwärts, fort von der Hecke und hinein in den Ort Schwarzenried. Doch noch waren sie nicht an der Kreuzung. Und die Abbiegung nach links lockte Maria stärker. Denn dort führte ein Weg, der aus Kies und längst gebrochenen Asphaltstücken bestand, wieder hangabwärts, endete aber vor der Hollerhecke. Früher mochte er eine zweite Zufahrt zum Dorf gewesen sein, nun jedoch wucherte das Gestrüpp wie gewollt über die Straße. Die Pflanzen wurzelten schon auf dem Weg und so war die Hecke am Übergang ebenso dicht bewachsen wie an der Wiese. Nichts würde durch dieses Dickicht hindurchgelangen. Keine Wildtiere, denen man mit Förstern und Jägern auf den Leib rücken müsste. Doch genauso wenig Wesen aus Legenden und Märchen. Ob sich in der Hollerhecke gelegentlich Schrate verfingen? Maria erschauderte wohlig.

Das Auto wurde langsamer. Paul fuhr von der Straße ab, dann parkte er auf der Grasfläche.

»Du willst zur Hecke?«, fragte Maria aufgeregt.

Er lächelte mild. »Mitnichten. Wohl aber wird es dich, mein Aschenputtel, alsbald aus diesem Fahrzeug ziehen. Wirf einen Blick voraus.«

Paul zeigte aus dem Fenster und Maria folgte seiner Geste. Tatsächlich! Sie war so begeistert von der eigentümlichen Hecke gewesen, dass sie etwas schier Wunderbares verpasst hätte. Denn geradeaus hinter der T-Kreuzung lag ein See. Nicht irgendein Gewässer, sondern ein Moorsee. Er funkelte dunkel in der Sonne. Sattes Moos und blühendes Schilf wohnten hier. Wollgräser reckten ihre flauschigen weißen Kugeln empor. »Eine gute Idee, Paul! Raus mit uns.«

Sie löste den Gurt. Sie ließ ihn langsam aufrollen, immer darauf bedacht, dass er ihre Haare nicht einfing. Danach schlüpfte sie aus den Schuhen und zur Tür hinaus. Das Summen der Insekten schwoll zu einem pulsierenden Brummen an. Der süßliche, ins Faulige gehende Geruch der Hollerpflanzen wehte zu Maria herüber. Den hatte sie vergessen. Sie sah Holler ja gern an, aber fand den Geruch überhaupt nicht lecker. Beerenmarmelade und Blütensirup der Pflanze hatte sie deshalb bewusst nie probiert. Aber das war jetzt nicht wichtig.

Unter Marias Fußsohlen kitzelten die Gräser der Wiese, dann Kiesel und Asphaltstücke des verlassenen Wegs. Ihre Füße versanken bereits in weiche Moospolster, als sie innehielt und zur Seite blickte.

Die wuchernde Hollerhecke endete abrupt dort, wo Moorbirken und Pfeifengras den Beginn der Moorlandschaft absteckten. Wer diese Hecke ursprünglich gepflanzt hatte, hatte sich das sicher anders vorgestellt. Da wuchs der Holler die ganze Wiese entlang so schön, und dann riss das Moor ein klaffendes Loch in seinen Wall. Maria wunderte sich darüber natürlich nicht und im Stillen lachte sie in sich hinein. Denn in ihrer Vorstellungskraft war ein Filz stärker als jedes umliegende Land. Selbst aggressive Arten, die sich auf gewöhnlichem Boden unkontrolliert ausbreiteten, versanken, vermoderten oder brachen im Moor. Stattdessen schuf eine Moorlandschaft Raum für ganz besonderes Leben. Maria, die im Alltag oft aneckte, wusste das zu würdigen.

Maria machte einen Schlenker zum Moorwald, strich an einigen Bäumen vorbei, genoss die Liebkosungen der Gräser und suchte sich danach einen Platz am Seeufer, wo sie sich ins Moos niederfallen ließ. Als sie dabei mit einem Fuß in eine Senke rutschte und Wasser aufspritzte, kicherte sie. Ihre Haarspitzen und ihr Kleid legten sich auf die Pflanzen. Das Nass saugte sich sanft und kühlend nach oben.

Maria ließ ihre Finger über die zarten Moospflanzen streichen. Sie tastete über saftige, aufeinandergelegte Sternchen, über Schwämme und über verstrubbeltes kräftiges Haar. So klein waren diese Pflanzen, und doch so unterschiedlich!

Der angenehme Geruch saurer Erde umhüllte sie, die Feuchtigkeit des Sees spürte sie nun überall auf der Haut, und so blickte sie auf ihn hinaus. Er war dunkelbraun, fast schwarz. Der Himmel spiegelte sich auf der Oberfläche so kontrastreich, als läge er selbst in dem Gewässer. Es war eine weitläufige Spiegelung. In beide Richtungen war der See mehrere Dutzend Meter breit. Er war friedlich und ruhig. In ihm schwamm ein Inselchen aus Gras, als hätte es in den Himmel ein Loch gerissen.

Paul ließ hinter Maria seine Schuhe auf den Asphalt fallen und durch das unerwartete Ploppen drehte Maria sich zu ihm um. Wahrscheinlich hatte er genau das bewirken wollen. Er tänzelte über die Moose hinweg zu Maria hin. »Eine Frage zumindest sei mir erlaubt. Handelt es sich bei diesem Ort um einen derjenigen, vor denen Hanni uns warnte?«

»Ich habe keine Angst vor den Traditionen Schwarzenrieds. Das weißt du doch.«

»Fürchtest du das Moor nicht?« Er grinste.

Maria lachte. »Ganz im Gegenteil. Ich will in diesem See untergehen und in eine fremde Welt absteigen. Kommst du mit mir?«

»Sei dir dessen versichert. Wir hausen auf dem beschaulichen Inselchen dorten und blicken hinaus auf Schwarzenried.«

Paul deutete mit weitläufiger Geste weg vom Gewässer. Maria grinste und ignorierte seine Handbewegung. Stattdessen genoss sie den See.

Jedenfalls noch einen Moment.

Denn dann fiel ihr auf, dass an dem Moorsee etwas nicht stimmte. Dieser See, er war zu groß. Seen dieser Ausdehnung, an einem Moor – sie entstanden nicht einfach so.

Maria hatte viele Moore besucht. Die Formen menschlicher Zerstörung folgten Mustern. Meist solchen, die Industriegeräte zogen. Und doch war es hier anders. Denn Torfstichseen waren rechteckig. Auch fehlten die Entwässerungsgräben. Sowieso hätte hier unten am Hang niemand zu Stechen begonnen – wie hätten sie das denn entwässert?

Das machte bisher noch keinen Sinn. Maria musterte den Ort genauer und grübelte. Das gegenüberliegende Ufer endete abrupt – zu abrupt – an einem aufwärts führenden Steilhang. Knorrige Bergkiefernsträucher, bekannt dafür, überall Halt zu finden, drückten sich dort hinein. Dieser Hang war eine Bruchkante. Oberhalb lag sicherlich das unberührte Moor. Maria stellte sich weitere geduckte Sträucher vor. Dazu Heidelbeeren und Moosbeeren. Insekten. Sonnentau. Zwischendrin würde sich die Sonne auf den stillen Wasseroberflächen von Mooraugen spiegeln. Und in diesen wäre das Wasser ebenso schwarzbraun wie hier am See.

Er wurde von Moorwasser gespeist. Er hatte eine grob ovale Form, fast wie ein natürlicher See. Und doch, dieser See vor Maria, mit dem Inselchen, er fühlte sich künstlich an.

Hatte die Beamtin nicht von einer versunkenen Kapelle berichtet? In Maria bildete sich die Vorstellung von einem Pfarrer, der versucht hatte, diesen Ort zu weihen. Sicher wollte er das vermeintliche Böse vertreiben. In bester Manier einer Sage hatte das Irrlicht sich gewehrt. Das Gotteshaus sackte weg, hier, an der Bruchkante zum Moor, zusammen mit all dem Leben, welches das Haus umgeben hatte. Aber da Moorland voller Wasser ist und die angrenzenden Wiesen in Feuchtigkeit stehen, füllte sich das Loch. Alle diese Geschöpfe ertranken.

Ja, so war es gewesen.

Folglich war das Inselchen gar kein festes Land. Es musste sich um Schwimmrasen handeln, einen eigenständigen Lebensraum aus Torfmoosen, Gräsern und Erde, der auf der Wasseroberfläche trieb. Als das Wasser in das Loch eingelaufen war, hatte sich dieser Teil der Pflanzen vom Untergrund abgelöst und sich mit dem einströmenden Nass gehoben. Dabei nahmen die Gewächse zwischen ihren Wurzeln gerade genug Erdreich mit, um Nährstoffe zu halten, doch nicht so viel, dass sie versanken. Moose waren weich und saugten nicht nur große Mengen an Flüssigkeit auf, sondern ließen auch Platz für Luftpolster. Diese hielten seitdem den Schwimmrasen über Wasser.

Das Inselchen auf dem Kapellensee war ein Stück echtes Moor. Es hatte sich nicht ertränken, austrocknen oder weihen lassen. Weil es einem Irrlicht gehörte.

Maria merkte, dass Paul noch auf seine Antwort wartete. Sie sagte nichts, aber streckte die Arme aus. Er trat einen letzten, behutsamen Schritt auf sie zu, dann umarmte sie seine Beine. Sie lehnte den Kopf gegen seinen Bauch und schloss die Augen. Einen Moment lang, während sie nur durch ihre Wimpern hindurch Schemen sah, fielen ihr zwei kahle Bäume am Rand des Sees auf. Sie standen an einer besonders buschigen alten Moorbirke und hielten Wache. Statt knorriger Äste hatten sie jetzt kräftige Arme, anstelle von Verwachsungen und Astlöchern Gesichter. Das waren die Schrate. Sie machten diesen Moment perfekt.

 

Maria und Paul kehrten bald darauf zum Transporter zurück. Während der Fahrt den Hang hinauf und durch die Ortschaft hindurch träumte Maria von einem Irrlicht und von Schraten. Erst ein kleines, kastanienbraunes Schild mit der Aufschrift Regensiedlung lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück in diese Welt. Sie waren am gegenüberliegenden Ausläufer angekommen. In Kürze würden sie ihr neues Zuhause zum ersten Mal sehen.

Am letzten Haus vor dem Ende der Siedlung wartete ein alter Mann auf sie. Er trug eine abgetragene, bräunliche Jacke sowie eine ebenso verschlissene Hose. Er starrte vor sich hin, dabei blinzelte er gelegentlich und zuckte öfters ohne sichtlichen Grund zusammen. Als er den Transporter bemerkte, kratzte er sich mit einer dürren Hand über weißliche Bartstoppeln, dann hob er den Kopf zu einem knappen Gruß.

»Ist das Hannis Vater?«, fragte Maria.

»Er spiegelt sie nicht recht wider.« Paul hielt den Transporter an. Sie stiegen aus.

Der Mann starrte auf Marias pitschnasses Kleid. Er blinzelte erneut. »Ich hätt nicht geglaubt, dass ihr kommt.«

Maria seufzte. Oje. Das war also der »zuvorkommende alte Herr«, den Hanni beschrieben hatte.

Paul räusperte sich. »Wir sind voller Freude. Jacherl Müller, darf ich annehmen?«

Der Alte starrte Paul an. »Jacherl, bloß Jacherl. Gehts mir einfach nach.«

Paul nickte. Er trat um den Wagen herum. Maria lehnte sich zu ihm hin und wartete auf einen kleinen Kuss, den sie alsbald erhielt. Sie ergriff seine Hand und schob ihn spielerisch vorwärts, damit er sie zog.

Das Haus des Alten war ordentlich in Schuss, vielleicht in den letzten Jahren nicht übermäßig gepflegt. Es war ein altes Waldlerhaus, ländlich-bayerisch gebaut, mit Holzverkleidung ab dem ersten Stock und hangabwärts gerichteten Balkonen. Weite Teile des Erdgeschoßes verschwanden im Hang, man hatte sie direkt dem Berg abgetrotzt. Das Haus hatte sogar zwei Eingangstüren, eine davon hangaufwärts an der Straße und eine zwei Stockwerke tiefer auf derselben Seite, beide verbunden durch eine steile, eng an der Wand entlangführende Treppe.

Sie folgten dem Alten die Stufen hinab und auf eine flachere, naturbelassene Hangwiese, auf der Rotklee seine buschigen, runden Blütenköpfe herausstreckte sowie Schafgarbe in Weiß und reichen Pastelltönen blühte. Die Pflanzen strichen Maria über die Beine und kitzelten freundlich. Der weitere Weg führte sie zwischen blühenden Obstbäumen hindurch und vorbei an wild gehaltenen Blumenbeeten, aus denen gläserne, in der Sonne herrlich funkelnde Fische, Vögel und Schmetterlinge hervorragten.

An diese Wiese schloss sich ihr Mietshaus an. Mit seinen beiden Stockwerken und dem großräumigen Grundriss lud es noch mehr zum Verweilen ein als auf den Bildern. Die Steigung des Hangs hier am Rasen war genau richtig. Nicht so enorm wie beim alten Waldlerhaus, dass man zwei Eingangstüren gebraucht hätte. Doch war es angenehm spürbar, dass sie am Berg wohnen würden. In den Abhang hinein hatte man eine Garage gebaut. Zwischen deren Lichtschächten blühten in liebevoll angelegten Beeten dunkelrote, rosafarbene und weiße Geranien. Die Luft duftete nach Blumen und Gras. Sie hatten einen wunderbaren Ausblick auf das Tal, auf sanft ansteigende Berge und tief hängende Wolken.

Maria drückte Pauls Hand. Seine Finger zappelten über ihre, wie immer, und fühlten sich dabei zugleich warm und richtig an. Er lachte. Sie gab ihm einen Kuss.

Als Jacherl an der Haustür ankam, steckte er den Schlüssel ins Schloss, sperrte jedoch nicht auf. Stattdessen trat er einige Schritte vom Eingang weg und blickte sie griesgrämig an. »Ein Stadel is da gestanden. Hat sei längste Zeit schon hinter sich gehabt. Wir habensabreißen müssen und da haben wir halt gebaut wie ein jeder hier.« Er hob eine zittrige Hand in Richtung der anderen Häuser. »Wir hätten unsre Hanni gern drin gehabt.«

Maria fiel das »wir« sofort auf. Hanni hatte nur ihren Vater genannt, ihre Mutter aber ausgespart. Eine Scheidung konnte Maria sich hier, auf dem Land, bei alten Leuten nicht vorstellen. Also war er Witwer. Er tat ihr leid. Nervös, zittrig, ohne Partner. Selbst die Tochter suchte Abstand. Dieser wütende Mann wusste es nicht, doch was er brauchte, war Frieden.

Der Alte fuhr auf. »Was schaust mich denn so an? Na, wie sollst schon schauen. Die Hanni jedenfalls hat gemeint, ›Vermietet es halt.‹« Er lachte hohl. »An solche wie euch. Statt dass sie drin wohnt! Jetzt gehts endlich rein und schauts es an.«

Maria zwang sich zu einem Lächeln, dann trat sie an den Hauseingang und vergaß den groben Mann. Denn die Tür war wirklich wunderbar aus wuchtigem Fichtenholz geschnitten. Mehrere quadratische Glastafeln hatte man elegant eingesetzt. Sie funkelten im Licht der langsam sinkenden Sonne. Und sie zeigten bunte Szenen aus einem Märchen. Maria konnte nicht recht zuordnen, welches, aber es fühlte sich bekannt an. Auf einem der Einsätze waren hölzerne Waldwesen zu erkennen, bei denen es sich sicherlich um Schrate handelte. Diese standen hinter Büschen mit weißen Blüten, die in dichten Dolden beieinander hingen. Auf der nächsten Tafel rührten sich kleine Wesen, die wie gehende Ratten mit roten Hauben aussahen. Sie arbeiteten fleißig in Küche und Garten. Das dritte und letzte Motiv erstreckte sich über zwei nebeneinanderliegende Gläser. Es zeigte ein martialisches Panorama. Stolze Feen mit überlangen, dünnen Schwertern standen vor verschoben wirkenden, mehrstöckigen Glasbauten.

»Was ganz Besonderes«, sagte Maria.

»Schwerter«, flüsterte Paul.

»Magst du aufmachen?«, fragte sie.

Er nickte eifrig und griff zum Schlüssel. Doch noch während er ihn drehte, blickte er nachdenklich drein. Als die Tür dann nach innen aufschwang, staunte Maria mit. Denn entgegen Marias Erwartung war das keine Fichtentür mit Glaseinsätzen. Stattdessen handelte es sich um eine Tür mit einem massiven Glaskern. Die farbigen Tafeln und das Fichtenholz waren nur Aufsätze. Allein die Art, wie diese Tür aufschwang, ließ Maria vermuten, dass sie richtig schwer sein musste. Außerdem verriegelte sie mit dicken Bolzen und Haken, die sich über den Rand verteilten und im lackierten Türstock zahlreiche wuchtige Einkerbungen als Gegenstück kannten. Hanni hatte erwähnt, dass es hier aggressive Wildtiere gab. Aber so eine Tür! Was für Tiere sollte man damit aufhalten? Bären? Eine solche Haustür hielt doch Trolle auf. Maria war plötzlich so glücklich, dass sie schauderte.

Pauls Hand tastete nach ihrer Schulter. »Dich wird doch nicht Traurigkeit niederdrücken?«

»Das Gegenteil«, hauchte Maria.

Die Tür öffnete in einen Flur, fast so breit, wie ihr Münchner Bad lang gewesen war. Maria fiepste. Der Gang war ausgelegt mit Steinfliesen. Neben der Eingangstür stand eine Garderobe, diese war sogar geschnitzt. Von einem Schreiner!

Der Alte räusperte sich. Maria hatte ihn tatsächlich vergessen.

»Von der Einrichtung her is alles da«, sagte er. »Wenn euch was ned taugt, stellts es in den Keller und gehts zum Schreiner. Links hinter der Garderobe habts eine kleine Stube. Ein größeres Esszimmer is rechts, die Küche gleich dahinter. Die Treppe rauf kommts zu den Schlafzimmern und dem großen Wohnzimmer. Der Durchgang hinter der Treppe geht zur Garage raus, wo die Radln stehen.«

»So viele Zimmer!«, sagte Maria.

Der Alte zog ein irritiertes Gesicht, aber antwortete nicht.

Das Esszimmer hatte die Maße ihres ganzen Wohnschlafzimmers von früher. Eine Flügeltür führte auf die Terrasse. Maria rannte auf die Tür zu, machte sie auf und schloss sie wieder, konnte es nicht fassen. Ostseite! Inzwischen war es hier zwar schattig, aber jeden Morgen würde ihnen die Sonne entgegenscheinen.

Die Schränke und der Massivholztisch stammten ebenfalls vom Schreiner. Sie strahlten Gemütlichkeit aus. Alles da, hatte der Alte gesagt? Maria ging die Schranktüren und die Schubladen durch. Wie viel Platz hier überall war. Und tatsächlich war es voll mit Sachen. Allerlei Bücher, Spiele, verschiedenstes Geschirr. Dazu eine Reihe Gläser, filigraner geschliffen, als Maria jemals eines in München gesehen hatte. Da standen bauchige Weingläser, so unwahrscheinlich dünn, dass sie jeden Moment zerbrechen mussten, trotzdem hatte man feine Blumenmuster hineingraviert. Kräftige, gerade geschnittene Whiskygläser waren vom Boden bis zum Rand so gearbeitet, dass kleine Würfelchen scheinbar übereinander purzelten. Selbst die Alltagsgläser waren graviert oder in ungewöhnlichen Formen geblasen.

Maria strahlte. »Darf man die verwenden?«

Der Vermieter war ihnen in den Gang gefolgt, aber nicht ins Esszimmer. Er schüttelte widerwillig den Kopf. »Ihr wollts doch ned aus der Hand trinken?«

»Entschuldigung«, sagte Maria, jetzt langsam verärgert. »Ich versuche, nett zu sein.«

Der Alte zog ein grimmiges Gesicht. »Ich merks.«

Maria seufzte. Hanni wäre ihr als Vermieterin lieber gewesen.

 

Die weitere Führung und die Vertragsunterzeichnung brachten sie zügig hinter sich, darum folgten sie Jacherl bald zurück in den Gang, um ihn zu verabschieden. Doch an der Garderobe war Paul plötzlich abgelenkt. Er stupste gegen ein längliches, milchgläsernes Fach. Es öffnete sich.

»Oha.« Er sah erneut hin. Und wiederholte: »Oha!«

Er griff hinein, schloss die Hand um etwas und zog es in einer weiten Bewegung heraus.

Noch bevor Maria sehen konnte, was Paul genau tat, spürte sie, wie Jacherl erstarrte. Sie wandte sich dem Alten zu. In seinem Gesicht lag unverhohlene Panik. Maria merkte richtig, wie es in ihm kämpfte.

Maria öffnete den Mund, da drehte er sich so abrupt von ihnen weg, dass er über die Türschwelle stolperte. Er drohte zu fallen. Maria zuckte in seine Richtung. Gute Reflexe beim Fangen hatte sie im Kindergarten geübt. Doch als sie den Alten mit der Hand erreichte, brüllte er auf. Heftig zog er seine Schulter aus ihrer Reichweite. Er fing sich wieder und hetzte hastig den Hang hinauf. Dabei warf er keinen Blick zurück.

»Ähm, Paul ...«, sagte Maria.

Paul reagierte nicht. Er schien nichts um sich zu bemerken, so sehr war er auf das fixiert, was er in der Hand hielt.

Als Maria verstand, worum es ging, erstarrte auch sie.

Es war ein Schwert.

Kein breiter Zweihänder, wie die Waffen der Ritter, sondern ein Einhandschwert mit ungewöhnlich langer, schlanker Klinge. Wie bei alten Schwertern hatte es eine Parierstange zwischen Griff und Schneide. Doch zusätzlich legten sich mehrere metallene Spangen wie ein geflochtener Korb schützend um Pauls Hand und über das Parierelement. So erinnerte die Waffe ein wenig an die Florette aus Mantel-und-Degen-Filmen. Nur ein bisschen. Denn die Klinge war dafür wiederum zu breit. Es schien, als wäre bei dieser Einhandwaffe die Zeit zwischen Rittertum und Musketieren stehen geblieben. Außerdem war es der gleiche Stil Schwert wie auf den Glastafeln der Haustür.

Paul hielt die Waffe in der Hand. Die Spitze hatte er zu Boden gesenkt. Er runzelte die Stirn. Sein Zeigefinger wechselte verschiedene Positionen durch.

»Solcherweise«, sagte er. Er hatte den Finger über die Parierstange gelegt, nur vom metallenen Korb geschützt. Mit seinem Handgelenk machte er allerlei kleine Bewegungen, die auf dem langen Weg bis zur Spitze der Schneide sehr weitläufig wurden. »Dieses Schwert führt man aus dem Handgelenk. Eine vornehme Waffe. Und – oha. Diese Klinge ist geschliffen.«

Er machte kehrt und blickte in das Fach hinein. »Eine zweite solcherart steckt darinnen. Keine von beiden wurde zum Lernen geschmiedet.«

Er ging einige Schritte in den Gang, drehte sich von Maria weg und schlug sanfte Hiebe, sodass die Klinge rechts und links an ihm vorbeihuschte. Er sah elegant dabei aus. Wie ein richtiger Ritter.

Über den Verlauf mehrerer Minuten wechselte er von Schlägen zu Stichen zu Paraden. Nach diesen hielt er inne. Er hatte den Kopf hochgereckt, die Waffe locker zu Boden gerichtet. Ganz souverän stand er da. Ihr schöner kleiner Paul. Er überlegte.

Maria ging auf ihn zu, blieb aber zur Sicherheit in seinem Rücken, sodass sie immer ihn zwischen ihr und seiner Waffe hatte. Dann, als sie Paul erreicht hatte, streichelte sie über seinen Rücken, seine Arme, seine Brust. Sie gab ihm einen Kuss auf den Hals. Und noch einen.

»Oha«, sagte Paul.

Er drehte sich wieder in Richtung Tür, machte einen weiten Ausfallschritt und ließ die Klinge geschickt in das Fach zurückgleiten. Dann hatte er die Hände frei für Maria.

 

Maria lag auf der Matratze im Schlafzimmer im ersten Stock, Paul neben ihr, beide tief atmend und umgeben vom gemeinsamen Geruch. Maria vergrub ihre Nase in Pauls Locken. Sie sah um sich herum das kräftige, natürliche Rot, das sie so mochte. Seine Finger wanderten auf ihr umher.

Sie gab ihm einige Küsse, dann zog sie sanft an ihrem Haar, das ihn umschlang wie zuvor ihre Arme. Als sie sich befreit hatte, stand sie auf. Sie schlüpfte in ihr Kleid. Es war noch ein wenig feucht von den Moosen am Moorsee. Für Maria fühlte sich das lustvoll an. Und so fand sie, es war an der Zeit, ihren Garten zu erkunden. Sich ins weiche Grün am Teich zu setzen, um Moos und Bäume zu riechen.

»Ich schau nach draußen«, sagte sie. »Fängst du schon mal mit dem Einräumen an?«

Er lachte, aber widersprach nicht.

Unter ihren Füßen spürte sie den kühlen Stein der Treppenstufen, den sanften Parkettboden des Esszimmers, das raue Holz der Terrasse. Die Sonne stand knapp oberhalb der Baumkronen. Die Schatten waren viele Meter lang.

Maria wanderte über den weichen Rasen und vorbei an den bunten Glaskunstwerken, die jetzt im letzten Licht funkelten. Im Vorbeigehen pflückte sie sich eine Himbeere von einem Strauch, schob sie in den Mund und zerdrückte die pelzige, noch ein wenig säuerliche Frucht mit der Zunge. Dann spürte sie die bröckelige Erde des Teichrands zwischen den Zehen. Sie konnte es nicht fassen. Sie stand an ihrem Teich.

Neben ihr reckte sich eine einzelne, kräftig gelbe Sumpfdotterblume in die Höhe. Maria beugte sich zu ihr hinab und strich über die dicken Blüten der Pflanze. Hier in Schwarzenried würde es gut werden. Das Haus, der Teich und dieses gar so gefährliche Moor, sie sagten Maria, dass man hier ankommen konnte.

Verstohlen blickte Maria sich um.

Die meisten Nachbarhäuser lagen auf der anderen Seite der hangabfälligen Straße. So schützte ihr eigenes Haus Maria vor den Blicken dieser Nachbarn.

Zwischen ihrem Teich und Jacherls Waldlerhaus standen die Obstbäume. Sie waren für Marias Geschmack zu streng gepflegt, aber mit dichtem Blattwerk und ersten Fruchtständen. Die Zweige eines Mirabellenbaums etwa quollen über vor zahllosen, noch kleinen, grünen Früchten. Maria glaubte nicht, dass Jacherl, so wie er sie beide gescheut hatte, jetzt nach Maria spähen würde, doch selbst wenn – hinter diesen Bäumen war Maria gut versteckt.

Auf der anderen Seite des Teichs wiederum ging es sowohl ostwärts als auch Richtung Süden steil den Hang hinab. An der Grenze des Grundstücks war ein Komposthaufen versteckt, doch ansonsten herrschte hier die Natur. Es wurde weder gebaut noch Forstwirtschaft betrieben. Ein reicher, urwüchsiger Nadelwald hatte sich in die Steilhänge gekrallt.

Es war perfekt.

Maria hob den Stoff ihres Kleids, das kribbelnd ihren Formen folgte. Es glitt sanft neben ihr zu Boden. Dann trat sie achtsam, um die Tiere nicht zu stören, in den weichen Morast. Ihre Füße fanden Halt im abfallenden Grund des kleinen Gewässers. Sie suchte ihren eigenen Platz zwischen den Wurzeln der Gräser und den Sprossachsen der Seerosen. Es waren wohlige, tastende, sorgsame Schritte. Schon stand sie in der Mitte des Teichs. Das Wasser umspielte ihren Bauchnabel. Ihre Haarspitzen tänzelten die Wasseroberfläche entlang, um Seerosenblätter anzustupsen. Genüsslich und achtsam, um die Pflanzen nicht zu verletzen, ging Maria in die Knie, dann lehnte sie sich zurück. Die Oberfläche des Teichs wanderte über ihren Rücken und ihren Bauch hinauf. Es prickelte wohlig auf dem Weg bis zu ihren Schultern. Die vom Wasser feuchten Haare zogen angenehm an Maria. Sie tauchte ein bis zu den Ohren.

Die Mücken tanzten auf dem Nass. Die Wasserspinnen huschten zwischen fein aufgefächerten Haarsträhnen hindurch. Maria hatte eigene Teichpflanzen. Eigene Wassertiere. Ein eigenes Leben.

 

Als Maria sich wieder erhob, funkelten die Sterne hell am schwarzblauen Himmel. Der Mond stand hoch am Himmel. Maria genoss es, wie das Wasser aus ihren Haaren und von ihrer Haut herabfloss. Der zurückbleibende ölige Film fühlte sich für Maria an wie eine schützende Hülle. Das erdig-säuerliche Aroma, das sie noch auf ihren Lippen hatte, schmeckte ihr. Sie schlüpfte in ihr Kleid und ging zum Haus zurück. Dort brannten Lichter. Umzugskartons standen herum. Paul trippelte die Treppe herunter. Er lächelte.

Sie lächelte auch.

4 Der Eindringling

In der Nacht träumte Maria.

Sie saß im Schlick. Wasser umspielte ihre Beine. Ihr Haar fiel zu Boden, wo es mit den Moosen und den Gräsern verschmolz. Strähnen davon verbanden sich mit der Wasseroberfläche. Sie lagen wie Spinnweben darüber, zogen weiter in das Gewässer hinein, bis die Dunkelheit sie verschluckte. Maria wurde so zu einem Teil des Sees.

Es war der Kapellensee am Ortseingang. In der Luft lag der wunderbar scharfe, brackige Geruch von Moorwasser. Am Himmel leuchteten Sterne, der Mond verschwand gerade hinter Baumwipfeln. Kröten quakten, Nachtfalter flatterten herum. Der Wind fuhr raschelnd durch Blätter wie Gräser.

Maria lehnte sich zurück und glitt tiefer in den See hinein. Sie streckte die Beine aus und trieb dahin. Sie hatte Platz! Das Wasser schwappte in kleinen, unregelmäßigen Wellen gegen ihre Haut. Es prickelte.

Nun tauchte sie ab. Es war, als würde sie sich in ein weiches Bett fallenlassen, dann ersetzte ein sanftes Rauschen alle Töne. Über ihr verschwammen die Sterne zu behutsam wogenden Lichtflecken. Schwebeteilchen, die wie Glühwürmchen leuchteten, wanderten gemächlich auf Maria zu, andere von ihr weg. Viele umtanzten ihr Haar. Sie umschlossen Maria so gänzlich wie das Wasser. Die Teilchen tauchten sie in ein sanftes Leuchten, das wie das Gefühl von Heimat auf ihre Haut fand. Es war zauberhaft.