Bergab geht's tot am schnellsten - Hilke Sellnick - E-Book
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Bergab geht's tot am schnellsten E-Book

Hilke Sellnick

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Beschreibung

Ein einsames Hotel in den Bergen. Nächtliche Spuren im Schnee. Und eine Leiche nach Mitternacht.

Ein ungewöhnlicher Auftrag führt die junge Pianistin Henni von Kerchenstein in die verschneiten Alpen. Die Witwe eines Filmstars feiert im Kreis alter Freunde den 100. Geburtstag ihres verstorbenen Gatten, und Henni soll die Feier auf dem Klavier begleiten. Doch statt lauschigen Abenden vor dem Kamin erwartet Henni ein zugiges altes Hotelgemäuer. Eingeschneit mit schrulligen Alten, wird nicht nur ihr Kälteempfinden auf die Probe gestellt, sondern auch ihr Spürsinn als Hobby-Ermittlerin: Während tief in den Bergen ein Schneesturm um das Hotel pfeift, hört Henni zu nächtlicher Stunde unheimliche Geräusche aus der Kapelle nebenan und stolpert kurz darauf über eine Leiche im Glockenturm …

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Tote kriegen keinen Sonnenbrand in der Presse: »Hilke Sellnick gelingt mit Tote kriegen keinen Sonnenbrand ein amüsanter und fesselnder Auftakt zu ihrer neuen Krimi-Reihe um Henriette von Kerchenstein.« Außerdem von Hilke Sellnick lieferbar:Tote kriegen keinen Sonnenbrand

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HILKE SELLNICK

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichenvon Penguin Books Limited und werdenhier unter Lizenz benutzt.

Copyright © 2019 Penguin Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Favoritbüro Covermotiv: canadastock, Kotenko Oleksandr, Mascha Tace, mRGB / Shutterstock Redaktion: Lisa Wolf Satz: GGP Media GmbH, Pößneck E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-23578-9V002www.penguin-verlag.de

Dieses Mal hat Walter von Stolzing keine Chance. Kaum hat er angefangen, eine seiner lästigen Arien zu singen, schmettern wir schon mit. Eine Weile hält er tapfer dagegen, aber dann gibt er auf. Zwei Frauen sind eben zu viel für einen einzelnen Kater.

»Aaabendsti-hille ühüber-all …«, grölen wir mit Hingabe.

Zweistimmig natürlich. Cindy singt die Melodie, ich improvisiere eine zweite Stimme. Mein roter Corsa brummt und klappert den Takt dazu. Wir nähern uns dem schönen Taunus, genauer gesagt, wir steuern in Richtung Schloss Kerchenstein. Zum Weibertreff bei Oma.

»Das Lied hab ich zuletzt als Schulkind gesungen«, stöhnt Cindy. »Bei diesen schrecklichen Wandertagen …«

Cindy spielt Cello. Wir kennen uns noch vom Konservatorium, wo sie seinerzeit im Gegensatz zu mir ihr Examen abgelegt hat. Sie sieht genauso aus wie Audrey Hepburn. Man darf es ihr aber nicht sagen, weil sie sonst einen Wutanfall bekommt. Sie sagt, es sei ätzend, als Double eines toten Filmstars herumzulaufen.

»Wandertage!«, rufe ich voller Abscheu. »Jugendherberge mit Stockbetten und Schlangenfraß. Da haben wir der Lehrerin mal ’ne echte Kreuzotter ins Bett gelegt.«

»O Gott. Und dann?«

»Nix. Sie hat das arme Tier zerdrückt mit ihrem dicken Hintern, die Tierquälerin!«

Ach ja. Die schönen Kindheitserinnerungen. Zeiten, die nicht wiederkehren. Herzergreifend …

»… nuuur im Tahaaal die Nahachtigaaal …«

Unsere Stimmen füllen das Innere des Corsa so mächtig, dass mir die Ohren brummen. Cindy sitzt neben mir auf dem Beifahrersitz, hinten steht der Katzenkorb mit Walter, daneben Cindys Cello.

»Sag deinem Kater, er soll das Maul halten …«, stöhnt Cindy irgendwann. »Klingt ja furchtbar …«

»Walter?«, verteidige ich meinen kleinen Liebling. »Der hat seit mindestens zwanzig Minuten keinen Mucks mehr getan …«

»Aber da ist doch was …«, meint Cindy verwirrt.

»Was soll denn da sein?«

»Mozart!«

»Mozart?«

»Mozart, Wolfgang Amadeus. Türkischer Marsch.«

»Mein Smartphone«, kreische ich. »In meiner Handtasche.«

Dideldideldum …

»Hinten auf dem Boden …«

Dideldideldum …

»Da ist bloß unser Futterbeutel …«

Dideldideldum …

»Dann hinter dem Katzenkorb …«

Dideldidel…

Cindy hängt zwischen den Sitzen und wühlt auf der Rückbank herum. Walter knurrt böse, weil das Cello umkippt und auf den Katzenkorb fällt. Nur mit Mühe kann ich das Steuer halten, weil Cindy mir in ihrem Eifer einen Fußtritt verpasst. Der Corsa schlingert bei hundertfünfzig Sachen auf der Schnellstraße. Genau in dem Moment, als der »Türkische Marsch« abbricht, hat Cindy meine Handtasche gefunden.

»Das war Claudia«, meldet Cindy. »Ich ruf mal schnell zurück … Ihr Zug hält gerade in Limburg, sie will wissen, ob sie aussteigen soll …«

»Nein«, brülle ich.

»Zu spät, sie ist schon draußen …«

Ich stöhne auf. Immer diese Weiber – machen, was sie wollen, und nie, was sie sollen. Hoffentlich finden Ricci und Atzko allein nach Kerchenstein. Mit Atzko habe ich gar nicht gerechnet, hatte sie auch nicht eingeladen, aber meinetwegen soll sie halt kommen.

»Oh, verdammt!«, fluche ich. »Jetzt müssen wir wieder zurück.«

»Das ist doch nicht dein Ernst, oder?«

»Dauert nicht lange …«

»Aber es riecht hier so komisch. Mir ist schon ganz schwummerig …«

Aus dem Katerkorb steigen stechende Gerüche auf, mein grauer Liebling setzt chemische Kampfstoffe gegen die akustische Übermacht ein.

»Halt durch«, rate ich Cindy. »In Limburg wechsele ich das Katerkissen. Keine Sorge, ich hab ’ne Plastiktüte untergelegt.«

»Dein Kater gehört in eine schall- und wasserdichte Kassette aus nicht rostendem Stahl«, mault Cindy.

»Tierquälerin!«

»War’n Witz …«

Cindy reckt die Nase so hoch wie möglich. Katerpisse ist penetrant.

»Wenn bloß nix an mein Cello kommt!«, nörgelt sie.

Autobahnabfahrt Limburg-Süd – jetzt rieche ich es auch. Cindy lässt das Fenster runter und schweigt beleidigt. Ich kurve zweimal am Bahnhof vorbei, dann finde ich die Zufahrt, Claudia ist im grauen Mantel beinahe unsichtbar vor der Betonmauer des Bahnhofsgebäudes, das lange braune Haar steckt unter einer braun-grauen Baskenmütze, die Brille fehlt. Richtig: Sie trägt inzwischen Kontaktlinsen und auch keine Zahnspange mehr. Neben ihr steht ein überdimensionaler braun-grau karierter Rucksack.

»So ein Brummer!«, stöhnt Cindy. »Was hat sie da reingepackt?«

»Wäsche, Nachthemd, Fitnessgeräte, Möbel, Eigenheim, Swimmingpool …«, zähle ich auf.

»Den Lover nicht zu vergessen …«

»Für jeden Wochentag einen. Und sonntags hat sie zwei …«

»Ausgerechnet die Claudi!«

Ich stelle mich ins Halteverbot, und wir reißen die Autotüren auf, um Claudia gebührend zu begrüßen. Ich umarme sie und stelle wieder einmal fest, dass man eigentlich nur ihre Kleider, aber kaum etwas von Claudia selber spürt, weil sie so dünn ist. Seit unserem Abenteuer in der Toskana hat sie kein Gramm zugenommen, außerdem kommt sie mir leicht deprimiert vor. Vermutlich hat sie es sich zu Herzen genommen, dass sie beim Verdi-Gesangswettbewerb nur den zweiten Platz gemacht hat. Nun – wir werden sie schon aufpäppeln. Seelisch und auch sonst. Ehrensache. Während nun auch Cindy die Freundin an sich drückt, zerre ich das nasse Kissen aus Walters Korb.

»Wir sind bald da, Walterchen«, flüstere ich. »Nur noch ein Viertelstündchen …«

Er glurrt mich mit bösen grünen Augen an – die Singerei hat er mir übel genommen. Nun ja – auf Kerchenstein wird er ein paar samtpfötige Dorfschönheiten antreffen, das wird ihn versöhnen.

»Auf, Mädels. Einsteigen! Der romantische Taunus wartet auf uns!«

Ich schaue sorgenvoll auf den Benzinstand und hoffe auf starken Rückenwind, der uns kraftstoffarm die Taunushügel hinaufschieben wird. Vergesse nicht, die Mädels auf den romanischen Dom hinzuweisen, der auf einem Felsen über der Stadt Limburg thront, und nehme die Straße in Richtung Hochtaunus. Die Straße führt durch rauschende Wälder in spätsommerlichem Grün, an lieblichen Wiesentälern vorbei, die von mäandernden Bachläufen durchzogen werden. Hie und da ein einsames Gehöft, ein Hinweisschild: »Frische Bachforellen« oder »Kaffee und Quetschekuche« oder auch »Parken verboten«. Claudia hinter mir hält Walters Katzenkorb mit beiden Armen umfangen, neben mir sitzt Cindy. Sie sieht sehr blass aus und starrt mit Audrey Hepburns großen braunen Augen an mir vorbei auf die Straße.

»Könntest du bitte etwas … langsamer fahren, Henni?«

»Klar.«

»Nur weil es hier so viele Kurven hat …«

»Klar.«

Das kommt davon. Eben noch Theater gespielt – jetzt haben wir den Ernstfall. Cindy verträgt das Autofahren auf kurvigen Straßen nicht. Ich lasse den Corsa die Hügel hinaufkriechen, bremse gefühlvoll beim Hinabrollen, bleibe gelassen, wenn man uns anhupt, überholt, freundlich zuwinkt.

»Der hat uns den Stinkefinger gezeigt, der Drecksbauer!«

»Ach was, der hat nur in der Nase gebohrt. Machen alle Männer beim Autofahren.«

Sorgenvoll beobachte ich einerseits den Benzinanzeiger, andererseits Cindys bleiches Gesicht, das auf eine nahe Ohnmacht hinweist. Claudia versucht, am Katzenkorb vorbei ihre Handtasche zu öffnen, um eine Rolle Pfefferminzbonbons herauszunehmen.

»Geht’s wieder?«

Keine Antwort ist auch eine Antwort. Die angebotenen Pfefferminzdrops verbessern Cindys Zustand überhaupt nicht. Claudia wühlt in ihrer Handtasche nach einem Plastikbeutel. Die Lage spitzt sich zu, als wir die geschotterte Straße nach Kerchenstein erreichen. Ein Schlagloch folgt auf das nächste, für einen autokranken Magen genau das Richtige.

Die Wetterfahne von Schloss Kerchenstein ist schon zu sehen, Walter hat sie durch die Ritzen des Katzenkorbes erspäht und fängt prompt an zu singen. Oder zu jaulen. Nur das feine Ohr hört den Unterschied.

»Wir haben’s gleich geschafft«, vermelde ich triumphierend.

Omas Melisandenfabrik taucht linker Hand aus dem Wald auf, ich fahre vor lauter Freude voll in eines der zahlreichen Schlaglöcher, meine Mitfahrerinnen reißt es nach vorn, der Katzenkorb knirscht, weil er zwischen Claudia und ihrer Handtasche eingeklemmt ist.

»Anhalten!«, kreischt Cindy.

Ich rolle die wenigen Meter bis zum Hof und bremse. Drei Türen werden gleichzeitig aufgerissen, Claudia hält krampfhaft den Katzenkorb fest, ich helfe Cindy aus dem Auto und leiste ihr schwesterlichen Beistand.

»Besser?«

Sie nickt, stöhnt, akzeptiert ein Papiertaschentuch, das Claudia ihr spendet. Drüben am Bürofenster von Omas Melisandenfabrik sehe ich die Glatze mit rotem Haarkranz vom Guckes Willi, der das Geschehen interessiert verfolgt. Gleich darauf ist er schon an der Tür.

»Ei Gude!«, schreit er uns entgegen.

Das ist hessisch und bedeutet so viel wie »Guten Tag«. Willi Guckes, der Chef und die gute Seele der Melisandenwerke KG, läuft o-beinig und grau bekittelt auf uns zu.

»Ja, die Henni vom Schloss!«, freut er sich. »Jetzt kommt mal wieder Leben in den alten Geisterkasten. Und die erste Leiche haben Sie auch gleich mitgebracht. Hehe …«

Ich grinse mühsam. Seit einigen Jahren verbreitet der Guckes Willi die Sage, ich zöge Mordgeschichten wie magisch an. Was vermutlich mit dem toten Dachdecker auf Kerchenstein zu tun hat, für den ich aber wirklich nichts kann.

»Lassen Sie die Witze, Herr Guckes. Das ist meine Freundin Cindy, sie ist nicht tot, ihr ist nur schlecht geworden …«

»Kein Wunder bei den Zufahrtsstraßen …«

Oma weigert sich immer noch standhaft, die Wege ausbessern zu lassen, weil sie der Ansicht ist, das sei Angelegenheit der Gemeinde. Inzwischen kann man in einigen Schlaglöchern schon seltene Biotope bestaunen.

»Heute schon jemand zum Schloss hochgefahren?«, will ich wissen.

»Klar. So ’ne Dicke mit viel Vorbau und ’ne kleine, dünne Schwarzhaarige mit Schlitzaugen …«

Ricci und Atzko sind vor uns da. Uh. Hoffentlich war Oma höflich, sie mag keine Fremden auf Kerchenstein.

»Hätten Sie ein kleines Kanisterchen Super für uns, Herr Guckes? Wirklich nur ein Tröpfchen, damit wir noch bis zum Schloss kommen.«

»Lässt sich machen …«

Er dreht ab und verschwindet in einem der vier grauen Gebäude, aus denen Omas Melisandenfabrik besteht. Ursprünglich war besagte Melisande eine Fee, die im dichten Wald nach Schlehen suchte, um daraus ihren überirdischen Trank zu brauen. So oder ähnlich geht die Sage. Kann aber auch sein, dass Oma die ganze Geschichte erfunden hat, um ihr Schlehendestillat werbewirksam zu verkaufen. Auf jeden Fall hat die schöne Melisande unserer Familie feenhaften Reichtum beschert. Melisandes und Omas Geschäftssinn.

»Geht’s dir besser?«, frage ich Cindy, die erschöpft auf einem Mäuerchen sitzt.

»Ja, ja …«

Sie macht nicht den Eindruck. Ich zerre an der Tür des leicht verbogenen Katzenkorbs herum und entlasse Walter in die Freiheit. Mein schöner Freund kennt sich hier aus, früher oder später wird er in Li Yangs Küche auftauchen, um die Vorräte an Fisch und frischer Leber zu überprüfen. Omas Koch Li Yang und Walter kennen und fürchten einander. Hinten beim Fabrikeingang erscheint jetzt der Guckes Willi mit einem hellblauen Kanister, er kippt ein wenig vom Inhalt in ein Wasserglas, prüft die gelbliche, leicht ins Rötliche gehende Farbgebung, nickt zufrieden und schraubt den Kanister wieder zu, läuft zu uns und reicht mir das Teil.

»Da!«

»Danke!«

Der Umgangston hier im Taunus ist harsch. Nix mit »Bitte sehr, gnädige Frau« oder gar »Frau Baronin von Kerchenstein«. Für den Guckes Willi war ich schon immer die Henni vom Schloss. Vielleicht trägt er mir noch die alte Geschichte nach, als ich mit zwei Freunden aus dem Dorf seine Destillieranlage gesprengt habe. Du liebe Güte – damals war ich elf und nur vermindert schuldfähig. Und Tote gab es auch nicht. Nur einen Scheintoten, den Guckes Willi. Den hat es vor Schreck umgehauen.

»Nehmen Sie mal ’nen Schluck, das bringt Sie wieder auf die Beine«, sagt er zu Cindy und hält ihr das Wasserglas vor die Nase. Bevor ich sie warnen kann, hat sie das Zeug schon hinuntergekippt. Sie hustet und bekommt Farbe im Gesicht.

»Schön vorsichtig fahren«, warnt mich der Guckes Willi, grinst und dreht ab. Mir schwant Übles. Entweder hat Cindy jetzt eine Benzinvergiftung, womit wir tatsächlich die erste Leiche in dieser Geschichte hätten – oder meinen Corsa erwartet ein rauschhaftes Erlebnis. Ich gieße den Inhalt des Kanisters todesmutig in den Tank, schnüffle, zweifle und schraube den Tank wieder zu.

»Hauch mich mal an«, bitte ich Cindy, die mit glasigen Augen auf dem Mäuerchen hockt.

»Zuerst dachte ich, ich explodiere gleich«, sagt sie und lächelt schwach. »Aber jetzt geht’s mir prima!«

Schlehen. Entwarnung. Der Guckes Willi ist ein Filou. Hat mir einen Schrecken einjagen wollen. Jetzt steht er drüben am Bürofenster und lacht sich ins Fäustchen, weil der Corsa so komische Schlangenlinien fährt. Eine Alkoholvergiftung ist für ein betagtes Auto sehr ungesund.

Schloss Kerchenstein im finsteren Hochtaunus ist ein gut verstecktes Kleinod spätmittelalterlicher Baukunst. Vier Gebäudeflügel, von Türmchen und kleinen Giebeln gekrönt, gruppieren sich um einen malerischen Innenhof, in dessen Zentrum sich ein alter Ziehbrunnen befindet. Der älteste Flügel geht nach Süden und wurde um fünfzehnhundertsowieso erbaut, die anderen sind jüngeren Datums, wobei jeder Erbauer eine andere Stilrichtung wählte. Die Mitglieder meiner Familie waren schon immer eigenwillige Persönlichkeiten, vor allem meine geliebte Oma – Anna Augusta von Kerchenstein –, die seinerzeit den Opi wegen permanenter Schürzenjagd zum Teufel schickte und das Schicksal der Familie in die eigenen Hände nahm. Auch meine Mama – Anita von Kerchenstein – hielt nicht viel von der Ehe, nach einer kurzen, aber folgenreichen Geschichte mit einem Unbekannten, angeblich dem Reitlehrer, entschwand sie nach München und genießt das Leben seitdem an der Seite wechselnder Liebhaber. Wem ich meine Existenz verdanke, habe ich bis heute noch nicht herausgefunden, in diesem Punkt hält sich Mama sehr bedeckt, und Oma behauptet beharrlich, keine Ahnung zu haben. Ungeachtet dessen hat sich meine liebe Oma lange Jahre mit meiner Erziehung herumgeplagt, wofür ich ihr unendlich dankbar bin. Auch wenn das adelige Fräulein Henriette Sophie von Kerchenstein, genannt Henni, sich nicht nach Omas Wünschen entwickelte und auch keinesfalls bereit ist, einen von ihr auserwählten hochadeligen Kandidaten zu ehelichen – ich liebe meine Oma über alle Maßen, und auch sie ist mir von Herzen zugetan. Was nicht immer offen zutage tritt, denn wer Ömchens goldenes Gemüt verspüren will, muss erst ihre harte Schale knacken.

Über dem Eingang zum Schlosstor prangt heute ein buntes handgemaltes Schild, das unser Familienwappen – drei Blutstropfen um ein Lindenblatt – mildtätig verdeckt.

Herzlich willkommen auf Schloss Kerchenstein!

Die liebe Oma! Gerührt lenke ich den Corsa über die schmale Brücke durch das Eingangstor, wobei ich rechts den Torpfosten streife, weil der Wagen im Melisandenrausch heftig schlingert. Na warte, Guckes Willi. Das zahl ich dir heim.

Neben dem Ziehbrunnen, den eine Mädchenfigur aus Sandstein ziert, steht Butzi, unser achtzigjähriges Faktotum, um unser Gepäck in Empfang zu nehmen. Auch er ist eine Seele von einem Menschen und seit seiner Geburt mit Kerchenstein verbunden. Welch schöne Kindheitserinnerungen sind mit dem lieben Butzi verknüpft! Am Fenster meines Kinderzimmers stehend, sah ich seine lange, dürre Gestalt in mondhellen Nächten gleich einem Gespenst durch das Dickicht streifen. Ich glaube, er hatte drüben im Dorf ein Mädchen, das er nachts besucht hat. Jedes Mal ist er über die von mir listig aufgespannte Stolperschnur gefallen.

»Seien Sie herzlichst gegrüßt, meine Damen«, ruft er uns entgegen und macht Anstalten, den Kofferraum des Corsa zu öffnen. Ich eile ihm zu Hilfe, weil seine rheumatischen Finger den Drücker ganz sicher nicht ertasten. Als ich jedoch den braun-grauen Megarucksack mit anfassen will, wehrt er sich energisch.

»Ich bitte Sie, Comtesse … Das ist meine Aufgabe …«

Er hebt sich beinahe einen Bruch an Claudias Monstrum, das wie ein großer aufgeblasener Hintern aussieht. Ich bekomme schon Angst um den guten alten Butzi, aber dieses Mal scheint er seinen Traubenzucker rechtzeitig inhaliert zu haben. Der arme Kerl leidet unter Sekundenschlaf, der ihn jederzeit überfallen kann, wenn sein Zuckerspiegel absackt.

Cindy geht es inzwischen prächtig, rotwangig und redselig steht sie neben Claudia am Ziehbrunnen und versucht, in der rundgemauerten Öffnung das blinkende Wasser zu entdecken.

»Wie tief geht es da denn runter?«, will sie wissen.

»Gute fünfzehn Meter mindestens.«

»Wie aufregend! Kann man mal etwas hinunterwerfen, damit man hört, wenn es unten auftrifft?«

Die Mädels benehmen sich mindestens so albern wie diese Touristengruppen, die Oma früher ins Schloss gelassen hat.

»Was immer du hinunterfallen lässt«, erkläre ich nachlässig. »Du siehst es nie wieder.«

Hinter uns klirrt etwas verdächtig, Butzi hat Claudias Rucksack kurz abgestellt, um sich noch weiteres Gepäckstück aufzuladen.

»Seien Sie bitte vorsichtig damit«, warnt Claudia.

»Sehr wohl, junge Dame …«

»Ich habe deiner Oma einen Schwan aus Meißner Porzellan mitgebracht«, flüstert Claudia mir zu. »Für ihre Sammlung. Was schaust du denn so? Hast du nicht gesagt, sie sammelt Schwäne?«

»Äh … doch, doch. Wie lieb von dir, Claudi …«

»Meine Tante hat ihn mir vor Jahren zum Geburtstag geschenkt. Weißt du, ich konnte nie etwas damit anfangen …«

Inzwischen ist auch Pauline, das Hausmädchen, aus der Tür des Südflügels getreten, um die Comtesse Henriette und ihre Freundinnen ganz allerherzlichst willkommen zu heißen. Pauline ist wesentlich jünger als Butzi, kaum siebzig, und nach wie vor noch sehr ansehnlich in ihrem schwarzen Kleid mit dem weißen spitzengeränderten Schürzchen. Nur dass sie immer etwas nach Mottenpulver riecht, stört ein bisschen.

»Wenn die Damen sich erst ein wenig frisch machen wollen … Ich führe Sie gern in Ihre Räume. Frau von Kerchenstein erwartet Sie anschließend im Saal zum Gabelfrühstück …«

Meine Freundinnen zeigen sich beeindruckt. Cindy erkundigt sich, was das sei, ein Gabelfrühstück, ob man da Gabeln zu essen bekäme. Das arme Ding ist immer noch im Melisanden-Vollrausch. Kein Wunder – so ein halbes Wasserglas auf leeren Magen, das haut die stärkste Frau um. Und Cindy ist ja nur Audrey-Hepburn-Format.

»Ein Gabelfrühstück, gnädiges Fräulein, ist eine kleine Zwischenmahlzeit, bei der neben Messer und Kaffeelöffel auch eine Gabel zum Einsatz kommt«, erklärt Pauline geduldig. »Man sagt heutzutage auch Brunch dazu.«

»Oh, wie schön!«

»Sind Frau Fröhlich und Frau Suomi schon angekommen?«, erkundige ich mich nach Ricci und Atzko.

»Aber ja«, lächelt Pauline und nimmt den leeren Katzenkorb aus dem Wagen. »Sie sind drüben im Saal. Zuerst wollte Ihre Frau Großmutter sie ja einer polizeilichen Kontrolle unterziehen und hat sie im Turm festgesetzt. Aber dann fiel ihr ein, dass ja heute ihre liebe Enkelin mit Freundinnen zu Besuch kommt …«

Gott wie peinlich! Oma wird mit dem Alter immer misstrauischer. Wir folgen Butzi, der unter dem vielen Gepäck kaum noch zu erkennen ist, die Wendeltreppe des Südostturms hinauf. Oben haut Claudia mit dem Kopf gegen den niedrigen Türbalken, ich bücke mich rechtzeitig, nur Cindy betritt den Ostflügel erhobenen Hauptes, das Cello im Arm. Sie hat die perfekte Mittelalterstandardgröße.

»Sie erinnern mich die ganze Zeit an jemanden, den ich kenne«, meint Pauline nachdenklich. »Wer könnte das sein?«

»Keine Ahnung!«

Omas Gästezimmer sind liebevoll mit altertümlichen Möbelchen eingerichtet, die ein Eigenleben führen. Die Schränke knacken, die Fußböden ächzen, die alten Betten zeugen knarrend von jahrhundertelanger Beanspruchung zu den unterschiedlichsten Zwecken. Einer meiner Vorfahren soll im Himmelbett des Erkerzimmers mit Rattengift ermordet worden sein, andere hat es hier auf ganz natürliche Weise dahingerafft, und wieder andere wurden auf diesen Lagerstätten mit Eifer und Freude gezeugt. Meine Freundinnen, die weder das eine noch das andere im Sinn haben, sind begeistert von der authentischen Atmosphäre, den grünen und gelben Butzenscheiben in den Fensterchen und dem hochmodernen Badezimmer, das Oma seinerzeit auf Mamas Betreiben hat einbauen lassen. Ich lasse sie für ein Weilchen allein, damit sie sich restaurieren können, und eile hinüber in mein gemütliches Jugendzimmer, das gleich neben dem Südostturm über der Toreinfahrt liegt. Butzi hat meinen alten Rucksack schon auf dem marokkanischen Hocker abgelegt, den einer meiner Vorfahren einmal von einer Orientreise mitgebracht hat. Ach, mein liebes weiches Himmelbett – wie oft habe ich mich nach dir gesehnt. Unter deinem dunkelblauen Stoffgewölbe voller goldener Sterne habe ich mich seinerzeit beim Lesen der blutigen Krimis aus Omas Bibliothek so sicher und geborgen gefühlt.

»Aaaaaarrrrr!«

Ein grässlicher Schrei reißt mich aus den zarten Erinnerungen, ich reiße das Fenster auf und schaue in den Innenhof hinunter. Drüben im Ostflügel werden die Köpfe meiner Freundinnen sichtbar.

»Was war das?«, fragt Cindy entsetzt.

»Da wurde jemand gewürgt, glaub ich«, vermutet Claudia.

»Das war Li Yang«, erkläre ich. »Walter ist auf Kerchenstein angekommen.«

Zur Bestätigung schießt jetzt der graue Katerblitz aus dem Küchenfenster quer über den Innenhof und verschwindet im Fenster von Onkel Rudis Zimmer. Wenn mich meine Augen nicht täuschen, dann hatte er etwas im Maul, das verdächtig nach einem Fisch aussah. Ein Wurfgeschoss in Gestalt eines hölzernen Kochlöffels folgt ihm, prallt gegen die Sandsteinfigur des Brunnens, vollführt einen fulminanten Wirbel in der Luft und verschwindet in der Tiefe des Schachts.

»Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig …«, zählt Cindy. Bei dreißig hört sie auf. Das Teil ist einfach zu leicht, man hört den Aufschlag unten im Wasser nicht.

Ich schaue kurz in meinen venezianischen Kristallspiegel, stelle fest, dass ich für mein Alter noch recht gut aussehe. Ausdrucksvolle braune Augen, die ich angeblich von Papa habe, keine Augenfältchen, kein graues Haar in der langen blonden Mähne, auch die Figur sitzt noch perfekt, Busen und Po genau da, wo sie hingehören. Uff – der Zahn der Zeit hat mich bislang verschont. Glück gehabt. Mit neunundzwanzig muss man täglich mit den ersten Anzeichen des körperlichen Niedergangs rechnen.

Oma hat das Gabelfrühstück im unteren Saal anrichten lassen, dort, wo auch der Flügel steht, verschiedene alte Truhen vor sich hin rosten und mehrere breite Türen auf die Terrasse hinausführen. Der eigentliche große Festsaal des Schlosses liegt darüber, dort fanden in alter Zeit die Versammlungen der Lehensnehmer und Ritter statt, es wurden Hochzeiten und Krönungen gefeiert, und so mancher Streit mag mit Fäusten und Schwertern ausgetragen worden sein. Hier begeht meine liebe Oma jedes Jahr ihren Geburtstag, zu dem ich selbstverständlich erscheine, auch wenn diese Feier für mich mit allerlei Unannehmlichkeiten verbunden ist. Was an den gruseligen Heiratskandidaten liegt, die Oma nicht müde wird, jedes Jahr aufs Neue einzuladen.

Heute ist zum Glück Weibertreff – eine Idee, die Oma »ganz wunderbar« fand. Sie hat sich sofort bereit erklärt, meine Weiberhorde aufzunehmen, schon weil sie so ihre liebe Enkelin Henni einmal mehr an ihr großmütterliches Herz drücken kann.

Schick hat sie sich wieder gemacht, die alte Dame! Den grünen Lederrock, die bestickte Leinenbluse und die passende Jacke, dazu die Brosche mit der Elfenbeingemme. Das Haar wird zwar jedes Jahr ein wenig durchscheinender, die gesteckte Frisur sitzt jedoch immer noch wie gemeißelt, sie hat nur jedes Mal eine andere Farbe. Oma ist eitel.

»Meine kleine Henni!«

Ich werfe mich in ihre Arme und werde kraftvoll gegen die Elfenbeingemme gedrückt, gleichzeitig redet Oma davon, dass ich doch reichlich blass und dünn sei und offensichtlich in letzter Zeit nichts zu essen bekommen hätte.

»Für eine heiratsfähige junge Frau bist du zu untergewichtig, Mädel! Wir müssen dich erst mal wieder kräftig aufpäppeln.«

Ich küsse meine liebe Omi auf beide rougegefärbten Wangen und versichere ihr, dass ich weder untergewichtig noch heiratsfähig bin. Dass ich mich aber wahnsinnig freue, hier auf Kerchenstein mit meinen Freundinnen musizieren und feiern zu dürfen.

»Das ist so lieb von dir, Omi. Und das wunderschöne Schild über dem Eingang …«

»Ach das«, sagt sie lächelnd. »Das ist für die Damen, die nachher zum Kaffeekränzchen kommen. Ein paar ganz liebe alte Bekannte …«

Ich bin einfach zu naiv! Wieder einmal hat sie mich hinters Licht geführt, diese gerissene Großmutter.

»Doch nicht zufällig die liebe Olga Bereschkowa und die ebenso liebe Ludowiga von Klaffenau?«

»Erraten!«, strahlt Oma. »Und stell dir vor, sie sind in Begleitung ihrer zauberhaften Söhne angereist …«

Wenn es in meiner Familie eine Tugend gibt, die von Generation zu Generation weitervererbt wird, dann ist es die Beharrlichkeit. Der mollige Wladimir und der ungehobelte »Prinz von Hessen« werden mir also den Nachmittagskaffee versauen. Großartig ins Netz gegangen, Henni.

»Darf ich dir jetzt meine Freundinnen vorstellen?«, lenke ich vom Thema ab. »Dies ist die preisgekrönte Altistin Claudia Dickmann aus Pinneberg. Neben ihr mit dem Cello, das ist Cindy Schmidt, eine Ausnahmemusikerin aus Dresden.«

Bei Oma muss man ein bisschen dick auftragen, das macht sich besser. Wenn sie mich irgendwo vorstellt, bekomme ich auch alle möglichen Lorbeeren angeklebt, von denen ich bis dato keine Ahnung hatte. Prompt nimmt Oma die Vorstellung gnädig auf, sie reicht ihren Gästen huldvoll die goldberingte Hand und heißt sie herzlich willkommen. Fragt Claudia kurz, an welchem Opernhaus sie singt, und wendet sich dann Cindy zu.

»Haben wir uns nicht schon einmal irgendwo gesehen, liebe Frau Schmidt?«

Cindy schüttelt energisch den Kopf.

Oma gibt nicht so schnell auf. Sie legt das Haupt schräg, kneift die Augen schmal zusammen und schnippt mit dem Finger.

»Jetzt weiß ich! Sie sehen aus wie …«

Sie hält inne, weil ich auf ihrem Fuß stehe.

»Henni, mein Hallux valgus! Nein, junge Frau. Sie sehen aus wie …«

Dieses Mal verknüpfe ich den sanften Fußtritt mit einem warnenden Blick. Oma plinkert mit den Augendeckeln, dann hat sie begriffen. Fast alle Mitglieder unserer Familie sind von der schnellen Truppe.

»Sie sehen aus, als seien Sie sehr hungrig, wollte ich sagen. Dann bitte ich, neben Ihren Freundinnen Platz zu nehmen. Ich hoffe, dass sie noch etwas übrig gelassen haben, Frau Riccarda Fröhlich scheint eine ordentliche Esserin zu sein …«

Ricci und Atzko haben rücksichtsvoll das Ende der Willkommenszeremonie abgewartet, jetzt fallen wir einander in die Arme, knutschen und küssen uns, erinnern uns gegenseitig an die tollen Tage in der Villa Mandrini und tauschen die neuesten Klatsch- und Tratschgeschichten aus.

»Friedemann Bond?«, fragt Atzko, als habe sie diesen Namen noch nie zuvor gehört. »Ist lange vorbei. Hat eine Frau aus Schweden. Ist groß und stark und hat blaues Augen …«

Atzko hat jetzt wieder bei Koschinski Unterricht und ist dort sehr zufrieden.

»Alan ist in den kanadischen Wäldern verschollen«, vermeldet Ricci. »Einmal hatte ich ihn am Handy, da hat er gesagt, er baut sich jetzt eine Hütte an einem einsamen See …«

»Da kann er ja die Bären in den Schlaf singen …«

»Das ist doch ein Jammer«, meint Claudia. »Wo er so eine großartige Stimme hat.«

»Und was macht Basti?«

Alle schauen wie auf Kommando zu mir. Ich tue harmlos und zucke die Schultern. Woher soll ich das wissen? Bastian Poggenpohl, der moppelige nette Tenor mit der Jahrhundertstimme, schickt mir zwar regelmäßig lange E-Mails und manchmal auch Blumensträuße. Seine Anrufe landen aber auf der Mailbox. Er ist einfach nicht mein Typ.

»Du bist nicht befreundet mit Basti?«, fragt Atzko interessiert.

»Doch schon … aber so auf die Kameradschaftliche … Da läuft nix mit ihm …«

»Wie schade«, sagt Ricci, die selten ein Blatt vor den Mund nimmt. »Wo ihr beide so gut zusammenpasst.«

»Ich und Basti? Nee – wirklich nicht«, stöhne ich auf. »Und außerdem singt er zurzeit an der Deutschen Oper Berlin den Lohengrin.«

»Niiie sollst du mich befraaagen«, schmettert Ricci aus voller Brust.

»Genau! Ich hab jetzt Kohldampf!«, lenke ich vom Thema ab.

Omas Gabelfrühstück ist phänomenal. Alles da vom frischen Landbrot über die Schlackwurst, vom leckeren Handkäs mit Mussik bis zum Räucherschinken von glücklichen Weiderindern. Wer davon noch nicht satt ist, kann sich an Quellkardoffele mit Kräuterquark, Schaufelbug an Frankfurter Grien Soß und Bachforelle blau delektieren. Danach stehen Mousse au Chocolat, Erdbeercreme und Bratapfelparfait zur Auswahl, dazu verschiedene süße Sößchen, eingelegte Früchte und Likörchen.

Wir schmausen, bis uns die Knöpfe von Bluse und Hosen springen, auch Cindy haut ordentlich rein, man glaubt kaum, welche Mengen an Nahrungsmitteln in ihrem schmalen Körper verschwinden können. Ricci jammert ein ums andere Mal, sie hätte schon wieder zwei Kilo zugenommen, was sie nicht davon abhält, fünfmal ihren Teller zu füllen und sich anschließend ausreichend am Nachtisch zu bedienen. Nur Atzko und Claudia halten sich zurück. Atzko achtet auf ihre Figur, sie joggt immer noch regelmäßig, und Claudia, die eine engagierte Tierfreundin ist, hat sich inzwischen entschlossen, sich vegan zu ernähren. Dadurch beschränkt sich ihre Mahlzeit heute auf Brot, Kartoffeln und eingelegte Früchte.

Nach dem Essen genehmigen wir uns ein Schnapsgläschen Melisandenlikör (vegan), der der Verdauung zuträglich sein soll, dann servieren Pauline und Sieglinde den Mocca, der die allgemeine Erschöpfung nach der üppigen Mahlzeit sofort vertreibt. Die mollige Sieglinde ist auf ihre Schwangerschaft sehr stolz, daher trägt sie einen eng anliegenden Pullover und schiebt ihren birnenförmigen Bauch so weit wie möglich vor.

»Achmed ist ja so stolz auf das Kind«, sagt sie strahlend, als ich ihr zur Hochzeit gratuliere.

»Wie schön!«, antworte ich, um etwas Nettes zu sagen. In Wirklichkeit geht mir diese zur Schau gestellte Fruchtbarkeit höllisch auf den Geist.

»Und die gnädige Frau hat gemeint, sie freue sich unendlich, in diesen Räumen wieder Kindergeschrei zu vernehmen …«

Da haben wir’s. Ich breche das Gespräch hastig ab, denn Omas Sehnsucht nach dem Gebrüll der Nachkommenschaft betrifft vor allem mich, Henriette Sophie von Kerchenstein, die endlich heiraten und für adelige Babys sorgen sollte. Worauf besagte Henriette Sophie leider keine Lust hat. Schon gar nicht mit einem dieser adeligen Ladenhüter, die Oma mir regelmäßig zwecks Eheschließung vor die Nase setzt.

Nur keine überflüssigen Gewissensbisse, Henni. Ich stehe auf, kippe den vierten Mocca und bemühe mich, den Laden in Schwung zu bringen.

»Auf, Mädels! Lasst uns Musik machen. Claudia hat jede Menge toller Noten ausgeliehen, lauter Kompositionen von Frauen. Durch alle Jahrhunderte.«

Übergroße Begeisterung löst mein Vorschlag nicht gerade aus. Atzko würde gern eine halbe Stunde joggen gehen, Ricci sehnt sich nach einem kleinen Mittagsschläfchen, Cindy muss dringend ihren Freund in Hamburg anrufen. Nur meine liebe Claudia, die schon wieder Brille, Jesuslatschen und den Schlabberpulli trägt, ist geneigt, meine Idee gut zu finden.

»Na schön«, seufze ich. »Ein Stündchen Verdauungspause für alle. Atzko, bleib bitte auf dem Schotterweg, wenn du joggst – auf den Waldwegen könntest du dem Dullerdatsch begegnen.«

»Was ist Dullerdutsch …?«

»…datsch. Das ist einer unserer hessischen Waldgeister, der fängt die Jogger ein und zieht ihnen die Turnschuhe aus.«

Atzko glaubt mir nicht, sie lächelt asiatisch geheimnisvoll herablassend.

»Warum er das tut?«

»Er hat Hühneraugen und sucht seit vielen Jahren ein Paar Schuhe, die nicht drücken.«

»Danke für guten Rat«, sagt sie. »Ich werde laufen in Sneakers.«

Während Pauline und Sieglinde nun die Reste des Gabelfrühstücks in die Küche räumen, gehe ich mit Cindy und Claudia auf Schlosstour.

Menschenfreundlich, wie ich bin, fange ich im Keller an, wo man die sieben Meter tiefe Grube, das alte Schlossgefängnis, inzwischen mit einem Gitter abgedeckt hat. Ich leuchte mit einer Taschenlampe hinein und erkläre, dass es von dort unten kein Entkommen gab, man hatte nur eine Chance, das Licht der Welt wieder zu erblicken: wenn man an einem Seil hinaufgezogen wurde.

»Und wie kamen die Unglücklichen hinunter?«, flüstert Claudia, tief beeindruckt. Cindy muss pausenlos niesen, sie ist auf feuchte Luft mit Schimmelpilzen allergisch.

»Das konnte sehr schnell gehen«, erkläre ich mit sarkastischem Lächeln. »Ein Fußtritt genügte.«

»Was für eine grausame Zeit das Mittelalter doch war«, seufzt Cindy und beniest ihre Feststellung.

Ich verschweige vorsichtshalber die Geschichte mit dem Klumpe Hansi, den wir Mädels seinerzeit gefesselt und nur mit der Unterhose bekleidet in die Grube hinuntergelassen haben. Der Viertklässler war ein übler Grapscher, er hatte die Nacht in der Grube redlich verdient. Ach ja, die goldenen Kindertage auf Kerchenstein – wie rasch sie doch vergangen sind. Nur die schönen Erinnerungen bleiben.

Zum Ausgleich zeige ich den Freundinnen den großen Festsaal mit den Gemälden der Vorfahren an den Wänden und mein Jugendzimmer mit dem antiken Himmelbett. Natürlich spare ich auch nicht mit Familienanekdoten, Balthasar, der Humpler, Josefine, die Aussätzige, und Karl-August, der Plattfüßige – sie alle haben diese Räume mit ihrer Aura erfüllt und dazu beigetragen, dass Kerchenstein zu dem wurde, was es heute ist. Ein verwunschener alter Kasten in einer gottverlassenen Gegend.

Weil Claudia und Cindy erst noch mal schnell wohin müssen, bin ich die Erste unten im Saal. Das Gabelfrühstück ist weggeräumt, dafür hat die liebe Oma uns Kaffee, Tee, Kekse und Orangensaft bereitstellen lassen. Es ist großartig, ich sollte viel öfter Freunde und Kollegen nach Kerchenstein einladen. Vielleicht könnte man sogar eine kleine Konzertreihe hier veranstalten? Die Kerchensteiner Musiktage! Der Kunst großer Musikerinnen gewidmet, die die Musikwelt bisher immer noch so sträflich vernachlässigt – ja sogar ignoriert. Meine Zukunftspläne werden durch die Ankunft eines Kraftfahrzeugs gestört, das respektloserweise in den Innenhof des Schlosses rumpelt und gleich neben meinem Corsa parkt. Solch eine Dreistigkeit ist eigentlich nur dem Prinzen von Hessen zuzutrauen. Und tatsächlich erblicke ich gleich darauf die knochige Gestalt der Ludowiga von Klaffenau, der Butzi galant aus dem Wagen hilft. O weh, Henni – der Feind geht in Stellung! Jetzt kann auch Olga Bereschkowa mit ihrem glotzäugigen Wladimir nicht weit sein.

Nur ruhig Blut, Henni. Solange ich mit meinen Freundinnen zusammen bin, kann keiner der Herren zum Angriff – sprich Antrag – übergehen. Also werden wir jetzt Musik machen, mit Musik klappt bekanntlich alles besser.

Ich stelle vier Stühle plus Notenständer neben dem Flügel auf und überlege, dass wir mit Cello, Klavier, Klarinette, Flöte und Gesang ein recht annehmbares Ensemble bilden – da öffnet sich hinter mir knarrend die alte Saaltür.

»Wir brauchen noch zwei bis drei Stehlampen«, sage ich in der Annahme, dass es Pauline oder Sieglinde ist.

»Bring ich dir sofort, wenn du mir sagst, wo das Zeug ist!«, tönt es mit tenoralem Klang.

Vor Schreck schmeiße ich Claudias Notenständer um, dann drehe ich mich vorsichtig herum in der Hoffnung, einer akustischen Wahnvorstellung anheimgefallen zu sein.

»Jetzt bist du überrascht, was?«, fragt Basti stolz.

Da steht er, der Jahrhunderttenor, und strahlt mich liebevoll an. Immer noch der gleiche blonde Moppel mit dem Bäuchlein, das sich fröhlich über den Gürtel wölbt. Da ich vor Verblüffung verstumme und meine Miene kaum Wiedersehensfreude ausdrückt, wird er ein wenig unsicher.

»Du bist doch nicht sauer, Henni?«, fragt er besorgt.

Ich raffe mich zusammen. Er ist so glücklich, man kann ihm unmöglich böse sein.

»Öh … hürm … nun ja … du kommst so … plötzlich.«

»Nicht wahr?«, ruft er triumphierend aus. »Die Überraschung ist perfekt, oder? Atzko hat mir einen Tipp gegeben …«

Diese hinterlistige Person. Erst schleicht sie sich in meinen Mädelstreff ein, dann schleppt sie auch noch Basti an. Aber sie hatte schon immer eine Schwäche für Bonds Jahrhunderttenor.

»Und ich hab auch meine Trompete mitgebracht«, fährt er fort und zeigt mir den schwarzen Instrumentenkasten, der übersät ist mit bunten Aufklebern. Atomkraft – nein danke. Hat er das von seiner Oma?

»Du spielst Trompete? Wusste ich gar nicht …«

»Tja!«, sagt er stolz. »Es gibt vieles, was du noch nicht von mir weißt. Ich kann zum Beispiel hervorragend kochen, ich kann Haare schneiden und kenne mich auch mit Computern aus …«

Ich gebe mich beeindruckt. Haare schneiden? Ach ja – sein Papa ist Frisör.

»Dann bist du ja der perfekte Ehemann«, entfährt es meinem unvorsichtigen Mund.

O Gott! Was habe ich da gesagt, ich dummes Huhn? Basti wird ganz rosig vor Freude und bekommt glänzende Augen.

»Dass du mir das sagst, Henni! Das bedeutet mir viel. Wirklich! Sehr viel!«

»Ach, weißt du …«

Der Versuch, die Lage glattzubügeln, wird durch das Geräusch eines weiteren Autos im Innenhof gestört. Olga Bereschkowa mit Anhang – hatte ich es doch geahnt. Auf dem Brunnenrand sitzt mein wundervoller grauer Kater und faucht Olga an, die sich gerade aus dem Wagen quält. Er mag ihren falschen schwarzen Dutt nicht, möglich, dass er ihn für einen monströsen Hamster hält.

In diesem Moment kommt mir eine Erleuchtung. Mimikri – das ist die Lösung.

»Sag mal, Basti«, wende ich mich an meinen Moppeltenor. »Würdest du mir einen großen Gefallen tun?«

Er ist hingerissen von der Möglichkeit, in meiner Gunst weiter aufzusteigen.

»Alles, was du willst, Henni«, ruft er und breitet die Arme aus. »Befiehl – und ich hüpfe aus diesem Fenster. Stürze mich in den Brunnen. Springe vom Turm hinunter!«

Typisch Mann. Nicht dass ihm mal etwas Nützliches einfiele … »Halb so dramatisch«, erkläre ich. »Nur eine ganz harmlose Kleinigkeit.«

»Ach, wie schade!«

»Ein kleiner Freundschaftsdienst …«

»Nun sag schon …«

»Verlobe dich mit mir!«

Da steht er mit offenem Mund, zu keiner Bewegung fähig, versteinert, zur Salzsäule erstarrt. Nur sein Kinn zittert ein wenig. Ich bekomme schon Angst um ihn. Das war vielleicht doch keine so tolle Idee, Henni. Wenn wir in dieser Geschichte schon gleich zu Anfang eine Leiche haben, dann muss das doch nicht ausgerechnet der arme Basti sein.

»Hast du … verloben … gesagt?«, stammelt er nach einigen quälend langen Sekunden.

»Nur zum Schein natürlich«, erkläre ich. »Ich brauche einen männlichen Schutz gegen die beiden Herren, die jetzt im Saal über uns mit meiner Oma Kaffee trinken.«

Es dauert ein Weilchen, bis er begriffen hat – Tenöre sind bekanntlich etwas langsam im Hirn.

»Aber klar, Henni«, sagt er dann. »Ich schütze dich. In aller Freundschaft. Versteht sich …«

Ich habe ein verdammt schlechtes Gewissen, weil man ihm die Enttäuschung deutlich ansieht. Ach, er ist so ein netter Kerl. Schade, dass er nicht der Mann meiner Träume ist.

Tatendurstig und mit ihren Instrumenten bewaffnet erscheinen meine Freundinnen im Saal. Bleiben verblüfft an der Tür stehen, als sie Basti entdecken.

»Große Überraschung!«, sagt Atzko und lächelt asiatisch geheimnisvoll.

»Da schau her!«, äußert Ricci grinsend.

»Basti!«, ruft Claudia. »Das ist aber schön, dich zu sehen!«

Basti sagt freudig allen Hallo, schüttelt Hände, umarmt, wird von Ricci geknutscht.

»Ja«, sagt er. »Ich musste meine Henni wiedersehen. Ohne sie halte ich es nicht lange aus.«

Leicht betretenes Schweigen. Fragende, strafende, verständnislose Blicke richten sich auf mich. Ich finde, dass Basti mit dem Possessivpronomen »meine« ziemlich übertreibt.

»Ach!«, sagt Ricci mit Betonung.

»Sagtest du nicht …«, setzt Claudia an und beißt sich dann auf die Zunge.

»War nicht Wahrheit, oder?«, äußert Atzko.

Ich zucke die Schultern und lächle geheimnisvoll kerchensteinerisch.

»Was ist Wahrheit?«, zitiere ich die Bibel.

»Nun ja«, sagt Basti und legt den Arm um mich. »Wir haben uns heute verlobt, Henni und ich.«

Verblüffung. Den Freundinnen bleibt die Sprache weg, Atzko beißt sich auf die Lippen, Claudia schiebt hektisch die Brille hoch, Ricci setzt sich überwältigt auf eine der mittelalterlichen Holztruhen. Ich hätte wissen müssen, dass Basti keine halben Sachen macht.

»Herzlichen Glückwunsch!«, sagt Cindy, die sich als Erste gefasst hat.

»Ja«, beteuert jetzt auch Ricci. »Alles Gute für euch beide …«

Hände strecken sich uns entgegen, Cindy will mich umarmen, Ricci hat schon Basti am Wickel. Claudia steht noch steif wie eine Marzipanfigur auf der Hochzeitstorte.

»Langsam!«, rufe ich und wehre ab. »Es ist keine richtige Verlobung. Nur zum Schein, versteht ihr?«

Wenn sie schon vorhin nichts begriffen haben – jetzt kapieren sie gar nichts mehr.

»Zum … Schein?«, erkundigt sich Atzko. »Was das heißt?«

»Wir tun so als ob«, erkläre ich. »Nicht wahr, Basti?«

»Na ja!«, ruft Basti aus. »Das schon. Nicht ganz echt, die Verlobung. Aber doch immerhin ein Anfang, oder Henni? Was nicht ist, das kann ja noch werden …«

Er zwinkert mir komplizenhaft zu, und ich muss notgedrungen zurückzwinkern. Henni, das war eine deiner dümmsten Ideen. Eine deiner allerdümmsten. Einfach grottig, dieser Einfall!

»Fangen wir jetzt einfach mal an zu proben«, rufe ich, um dieses peinliche Thema loszuwerden. »Dafür sind wir schließlich gekommen.«

Ricci ist der Meinung, dass sie mehr zum Feiern und Entspannen hier sei, aber ein wenig Musik könne nie schaden. Claudia ist entsetzt, sie hat extra jede Menge Noten kopiert und dachte an so was wie ein Arbeitswochenende. Die anderen befinden sich mit ihrer Meinung irgendwo dazwischen. Basti packt seine Tröte aus und übt ein paar Töne. Die Mauern des jahrhundertealten Gebäudes erbeben.

»Sachte«, stöhnt Cindy.

»Wir sind hier nicht in Jericho!«, meint Claudia und hält sich die Ohren zu.

»’tschuldigung …«, Basti zieht die Schultern ein.

Er ist halt ein kleiner Bulli, der Ausnahmetenor. Hat einen Blasebalg wie eine Dorfschmiede, da glüht der Trichter in Nullkommanichts.

Wir sortieren uns. Verteilen die Stimmen, Ricci und Claudia gehen an den Flügel, ich quäle meine Klarinette, Atzko findet die Flötenstimme unspielbar, Cindy schrubbt verbissen auf ihrem Cello herum. Claudia versucht, Basti zu leisen Tönen zu überreden. Langsam kommen wir rein, finden zusammen, haben Spaß, fliegen wieder raus, diskutieren, streiten herum.

»Fanny Mendelssohn lasse ich mir noch gefallen. Aber diese Louise Farrenc, die hat sie ja nicht mehr alle …«, stöhnt Ricci und steht auf.

»Das ist geniale Musik, du musst nur die richtigen Töne spielen!«

»Das klingt doch scheiße!«

»Nur weil du lieber Mozart …«

Claudia bricht ab, weil jemand anderes am Flügel Platz genommen hat. Onkel Rudi ist leise murmelnd hereingekommen, hat sich auf den Schemel gesetzt, und jetzt spielt er. Einfach so. Als ob wir alle nicht da wären. Brummelt dabei vor sich hin, summt, murmelt, flüstert und spielt, was in den Noten steht. Auf einmal hören wir das Stück genau so, wie die Komponistin es gemeint hat.

»Eigenwillig«, sagt Onkel Rudi zu sich selbst. »Eigenwillig, aber gut. Recht gut. Wirklich nicht übel …«

»Hallo, Onkel Rudi«, unterbreche ich seine Rede. »Das sind meine Freundinnen, und das ist Basti. Wir sind hier zu Besuch …«

Er schaut sich irritiert um, nickt zerstreut in die Runde, schüttelt mir die Hand.

»Guten Morgen, liebe Henni. Wie schön, dass du wieder einmal hier bist. Wirst du länger bleiben?«

»Nur ein Wochenende …«

Meine Antwort hat er gar nicht mehr gehört, er geht murmelnd davon.

»Wer war denn das?«, flüstert Ricci, als sich die Tür hinter ihm schließt.

»Onkel Rudi ist Autist«, erkläre ich. »Er ist ein genialer Musiker, aber er lebt in seiner eigenen Welt – versteht ihr?«

»Klar«, sagt Basti. »Toller Typ. Schaut aus wie Einstein und spielt wie Lang Lang.«

Irgendwie hat sich die Stimmung gedreht. Wir streiten nicht mehr, jeder bemüht sich, sein Bestes zu geben. Wir hören aufeinander, ermuntern uns gegenseitig, haben Freude an unserem Spiel. Claudia findet den Mut, uns die Noten einer eigenen Komposition auf die Notenständer zu stellen, und sie ist ganz beglückt, als wir sie über den grünen Klee loben. Dann fängt Ricci an zu improvisieren, es swingt auf einmal, wir lassen alle Hemmungen fallen, pfeifen auf die Klassik und versuchen uns im Jazz. Mit unterschiedlichem Erfolg. Ricci kann es am besten, ich bin auf der Klarinette einsame Spitze, Cindy zupft und beklopft ihr Cello, Atzko flötet schrill und atonal dazwischen. Sogar Basti jazzt mit, hätte ich ihm gar nicht zugetraut, was er da auf seiner Trompete abliefert. Wenn das sein großer Mentor Friedemann Bond hören würde – den träfe auf der Stelle der Schlag.

»Meine Damen, meine Damen …«

Butzi muss mehrfach ansetzen, um unsere Geräuschkulisse zu übertönen. Schließlich hören wir auf zu spielen, nur Basti trötet unverdrossen weiter. Schließlich ist er keine Dame, und außerdem war er gerade so gut in Schwung.

»Der Herr bitte auch … vielen Dank … sehr freundlich … Frau von Kerchenstein bittet die Herrschaften zum Tee. Wenn Sie mir bitte folgen möchten …«

»Tee?«, fragt Ricci wenig begeistert.

»Selbstverständlich wird auch Kaffee serviert, gnädiges Fräulein. Dazu einige kleine Süßigkeiten nach Art des Hauses.«

»Na ja …«

Die Wendeltreppe hinauf, und meine Freundinnen bleiben verblüfft vor dem gut bestückten Tortenbüfett stehen. Oma hält wenig von trockenem Sandkuchen oder veganen Ökokeksen. Moccasahne, Käsesahne, Kirschsahne oder Eierlikörtorte – das ist die Art des Hauses von Kerchenstein. Unser Koch Li Yang hat sich mit den Jahren zu einem hervorragenden Sahnekonditor entwickelt. Mit heimischer Sahne von glücklichen Biotaunuskühen.

Weniger erfreulich ist die Teegesellschaft, die unweit des Kuchenbüfetts auf bequemen ledernen Klubsesseln sitzt und uns mit großem Interesse mustert. Nicht einmal Omas liebevolle Blicke können mich dieses Mal versöhnen. Da hockt der mollige Kindskopf Wladimir neben seiner Mama und mampft Käsesahne mit vollen Backen. Gegenüber sitzt der smarte Karl-August von Klaffenau, genannt »der Prinz von Hessen«, und glotzt mich und meine Freundinnen an, als sei er Harun al-Raschid im Harem, der sich die Dame für die Nacht ausspäht.

»Wenn der Typ da dich weiter so anstarrt«, flüstert mir Basti zu, »dann nehme ich ihn mir gleich mal zur Brust!«

»Nur die Ruhe«, wispere ich zurück.

Oma erhebt sich aus den Tiefen ihres Ledersessels und winkt uns hoheitsvoll, in ihre Nähe zu treten.

»Meine lieben jungen Gäste«, sagt sie und lächelt dabei zuerst uns und dann Wladimir und Karl-August an. Gräfin Olga Bereschkowa wischt ihrem Sprössling rasch die Sahne von der Backe. »Sie haben uns mit Ihrer wundervollen und anregenden Musik erfreut, dafür möchte ich Ihnen ganz herzlich danken. Bereiten Sie uns nun das Vergnügen, an unserer kleinen Teegesellschaft teilzuhaben – wie Sie sehen, ist noch genügend Torte da, und falls es nicht reichen sollte, hat mein Koch gewiss noch Nachschub für uns. Bitte sehr! Henni, meine Liebe, komm zu deiner alten Großmutter, hier an meine rechte Seite …«

Klar – dann sitze ich gleich neben Wladimir, und Karl-August glotzt mir in den Ausschnitt. Oh, diese heimtückischen Anverwandten! Aber auch ich habe heute einen Pfeil im Köcher.

»Gern, liebe Großmama«, flöte ich. »Aber zuerst muss ich dir noch meinen Verlobten vorstellen. Sebastian Poggenpohl, Tenor an der Deutschen Oper in Berlin.«

Omas Kinn senkt sich gefährlich tief hinab.

»Hast du ›Verlobter‹ gesagt, Henni?«

»Du hast ganz richtig gehört, Oma. Ich habe endlich den Richtigen gefunden und freue mich, dass er heute extra aus Berlin angereist ist, damit ich ihn meiner lieben Großmu…«

»Wie kannst du dich hinter meinem Rücken so einfach verloben?«, unterbricht sie mich in großmütterlichem Zorn.

Ich bleibe gelassen. Klar regt sie sich jetzt auf. Aber daran ist sie selbst schuld, meine geliebte intrigante Oma.

»Es geschah aus Liebe!«, rufe ich theatralisch aus.

Ludowiga fällt die Kuchengabel aus der Hand, der Prinz von Hessen grinst hämisch. Wladimir nimmt sich in dumpfer Trauer ein weiteres Stück Torte.

»So ist es«, kommt mir Basti schwungvoll zu Hilfe. »Wir lieben uns, gnädige Frau Großmutter. Es ist im Sommer in Italien passiert, der berühmte Blitz aus heiterem toskanischem Himmel. Gott Amor hat uns mit einem einzigen scharfen Pfeil durchbohrt. Und darum wollen wir so schnell wie möglich heiraten.«

Verflixt noch mal. Er spielt seine Rolle ja gut, aber er sollte es nicht übertreiben.

»Papperlapapp!«, schimpft Oma. »Liebe ist kein Grund, sich zu verloben oder gar zu heiraten. Liebe ist eine Krankheit. So wie Mumps oder Masern. Man muss sie durchmachen, um dagegen immun zu werden.«

»Genau das tun wir gerade, liebe Oma«, sage ich lächelnd. »Wir lieben uns, um dagegen immun zu werden.«

»Und wie lange werdet ihr dazu brauchen«, will Großmutter wissen.

»Oh«, sagt Basti und strahlt sie an. »Manche brauchen ein ganzes Leben dafür.«

Oma setzt sich wieder in ihren Sessel, ihre Miene ist mehr als missvergnügt.

»Dann hoffe ich, dass es bei euch beiden schneller geht. Zwei Wochen wären in Ordnung, denke ich.«

Meine Freundinnen stehen immer noch verschreckt neben dem Kuchenbüfett und verfolgen den Familienstreit mit entsetzten Augen. Weil Oma jetzt grollend vor sich hin schweigt, wagt sich Ricci ein wenig näher an die Torten heran.

»Dürften wir vielleicht ein Stück To…?«

»Aber bitte sehr, die Damen … Nehmen Sie Platz …«, flüstert Butzi dienstfertig und rückt die Sessel zurecht.

»Aber ich möchte ein Stück Torte!«, beharrt Ricci.

Ich nehme sie am Arm und ziehe sie zu einem Sessel.

»Sie bringen es uns«, erkläre ich. »Du musst nur sagen, was du willst …«

»Ach so … sorry …«

Wir lassen uns zwanglos in die Sessel fallen und äußern unsere Tortenwünsche. Claudia überreicht Oma einen handtellergroßen völlig unversehrten Porzellanschwan und erntet überschwänglichen Dank.

»Stell dir vor«, flüstert sie mir zu. »In meinem Rucksack sind zwei meiner Ersatzbrillen zerbrochen. Eine Katastrophe!«

»Oh, wie ärgerlich …«

Basti weicht nicht von meiner Seite, er geht völlig in seiner Rolle als Verlobter auf, reicht mir den Kuchenteller, gießt mir Tee ein, bedenkt mich mit verliebten Blicken. Währenddessen werden wir von Omas Heiratskandidaten und deren Müttern eingehend beäugt. Ludowiga zieht ein Lorgnon aus dem Busen, Olga kämpft mit der Brille, deren Bügel immer ihr Toupet verschieben.

»Wie heißt der Verlobte von Henriette?«, höre ich Ludowiga fragen.

»Roggenkohl, glaube ich«, meint Wladimir.

»Nein, Koggenhohl …«, sagt Olga und zuckt die Schultern.

»Aber nicht doch«, mischt sich der Prinz von Hessen ein. »Er heißt Pockenwohl. Seltsamer Name. Die Pocken waren im Mittelalter eine schlimme Plage …«

»Genau wie die Cholera …«

»Und die Pest.«

»Nicht zu vergessen: die Liebe«, werfe ich sarkastisch ein, aber niemand hört darauf.

»Hatte jemand in Ihrer Familie die Pocken?«, erkundigt sich der Prinz von Hessen mit großer Freundlichkeit bei Basti.

Basti läuft rot an, ich muss ihm fest auf den Fuß treten, damit er nicht ausflippt. Der arme Kerl kennt die Bosheiten der adeligen Gesellschaft nicht.

»Ich heiße Poggenpohl«, sagt er laut.

»Von Poggenpohl?«, fragt Karl-August amüsiert, weil sein Gegner sich aus der Reserve locken lässt.

»Nein«, schreit Basti aufgebracht. »Nur Poggenpohl. Ohne von. Verstehen Sie? Nicht Roggenkohl und auch nicht Koggenhohl und schon gar nicht Pockenwohl. Ganz einfach Poggenwohl … äh … Poggenpohl.«

»Ach wirklich?«, lächelt Karl-August.

Basti wischt sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und flüstert mir zu, dass er jetzt endlich verstehen kann, warum Lohengrin nicht nach seiner Herkunft befragt werden will.

»Reg dich doch nicht so auf«, tröste ich ihn und streichle sein Knie, worauf er wohlig erschauernd verstummt.

»Und du hältst jetzt deine Dreckschleuder«, fauche ich Karl-August an. »Sonst hau ich dir in die Eier, dass du nicht mehr weißt, von welchem Ufer du kommst!«

Bei dem letzten Satz erbleichen beide, sowohl Basti als auch Karl-August. Wobei nur einer von beiden weiß, dass ich meine Warnung auch in die Tat umsetzen kann. Basti hat keine Ahnung. Er wird es vermutlich auch nie erfahren, der Gute. Karl-August weiß es dagegen ganz genau, der Mistkerl.

Inzwischen haben auch die übrigen Gäste Gespräche aufgenommen. Onkel Rudi unterhält sich angeregt mit sich selbst, Oma parliert mit Cindy und Claudia, Ricci widmet sich Wladimir, dem letzten Spross der adeligen Bereschkow, Atzko fragt den Prinzen von Hessen nach seiner Familie aus. Ich schiebe unauffällig Bastis Hand von meinem Oberschenkel und finde, dass meine Abwehrstrategie bis jetzt gar nicht so schlecht funktioniert hat. Meine Pseudoverlobung wird sich jetzt in Windeseile in den Kreisen des verarmten Adels herumsprechen, damit bin ich fürs Erste alle Plagegeister los. Arme Oma! Sie kann dementieren, soviel sie will – man wird ihr nicht glauben.

Nur mit Basti muss ich noch ein ernstes Wort sprechen. Damit er sich nicht zu sehr in seine Rolle hineinsteigert.

»Poggenpohl?«, sagt da Ludowiga laut zu Oma. »Der Name ist doch bekannt.«

O nein. Nicht schon wieder. Ich dachte, wir sind damit durch.

»Tatsächlich?«, fragt Oma, die nur halb hinhört, weil sie mit Claudia über einen bekannten Musiker redet.

»Ja, kennst du denn nicht die Küchen von Poggenpohl?«, beharrt Ludowiga. »Meine Freundin Lauretta hat sich vor Jahren eine einbauen lassen. Und sie ist immer noch in Funktion.«

»Deine Freundin Lauretta oder die Küche?«, erkundigt sich der Prinz von Hessen.

»Beide!«

Claudia und Cindy müssen sich das Lachen verbeißen, Oma runzelt die Stirn und befragt Ludowiga, ob sie Lauretta von Steingerück meine, die vor zwanzig oder zweiundzwanzig Jahren einen von Ostern geheiratet habe.

»Aber nein, meine Liebe. Ich meine Lauretta Linz. Die Filmschauspielerin. Die hat anno 1952 den Giorgio Carboni geheiratet.«

»Ach die …«, mischt sich Olga ein. »Eine fürchterliche Person! Vollkommen talentlos. Hat sich an den Produzenten Carboni gehängt wie eine Klette, damit er sie zum Film bringt.«

Was für ein langweiliges Gewäsch. Ich überlege, wie wir ganz diskret diese gastliche Runde verlassen können, um noch ein wenig zu musizieren und uns dann den Sektflaschen zu widmen, die in den mittelalterlichen Truhen verborgen auf ihren Einsatz warten.

»Sie feiert demnächst den hundertsten Geburtstag …«, hört man Ludowiga.

»Die ist schon hundert?«, wundert sich Olga. »Ich dachte immer, sie sei mein Jahrgang.«

»Sie doch nicht – Giorgio Carboni. Am 16. Dezember, glaube ich. Ach Gott – wie haben wir seinerzeit mit den beiden gefeiert. Der Champagner floss in Strömen …«

Oma schüttelt den Kopf über so viel Nostalgie.

»Giorgio Carboni ist seit über dreißig Jahren tot, wenn mich nicht alles täuscht«, stellt sie herzlos fest. »Wieso feiert er dann seinen Geburtstag?«