Tote kriegen keinen Sonnenbrand - Hilke Sellnick - E-Book
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Tote kriegen keinen Sonnenbrand E-Book

Hilke Sellnick

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Beschreibung

La Dolce Vita. Eine Villa voller Geheimnisse. Und ein ungewöhnlicher Todesfall ...

Wenn es nach ihrer Großmutter ginge, wäre die Pianistin Henriette von Kerchenstein längst standesgemäß verheiratet. Jedes Jahr lädt die alte Dame zu ihrem Geburtstag alle infrage kommenden Junggesellen ein, um ihre geliebte Enkelin Henni endlich zu verkuppeln. Doch diesmal ist auch ein Gesangslehrer zu Gast, der Henni ein weitaus attraktiveres Angebot macht: eine Woche lang in der malerisch gelegenen Villa Mandrini in der Toskana seinen Gesangskurs zu begleiten. Sie ahnt nicht, dass die toskanische Idylle durch ein Verbrechen getrübt werden wird — das nur sie, die an Intuition und Fantasie schwer zu übertreffende Henni, aufklären kann!

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Seitenzahl: 413

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HILKE SELLNICK steht mit ihren unter Pseudonym veröffentlichten Romanen immer wieder an der Spitze der Bestsellerliste und begeistert Hunderttausende Leser. Jetzt erfüllt sie sich den Wunsch, unter ihrem bürgerlichen Namen einen sehr persönlichen Roman zu veröffentlichen: Mit »Tote kriegen keinen Sonnenbrand« schreibt sie einen humorvollen Krimi, lässt ihre Liebe zur Musik einfließen und reist zurück an einen Ort, in den sie sich vor vielen Jahren verliebte: eine verträumte Villa in der Toskana. Weitere Romane in der Reihe um die charmante Ermittlerin Henni von Kerchenstein sind geplant!

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HILKE SELLNICK

Tote kriegenkeinen Sonnenbrand

ROMAN

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »The Cutaway« bei Atria Books, New York. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichenvon Penguin Books Limited und werdenhier unter Lizenz benutzt.

Copyright © 2019 Penguin Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Favoritbüro Umschlagabbildung Getty Images / beppeverge; serg64, Shutterstock.com, Jaroslaw Pawlak, Shutterstock.com, Ihnatovich Maryia, Shutterstock.com, Susanne Tucker, Shutterstock.com Redaktion: Lisa Wolf Satz: GGP Media GmbH, Pößneck E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-22136-2V003www.penguin-verlag.de

1. Kapitel

Es ist jedes Jahr das Gleiche. Sobald die Wetterfahne von Kerchenstein über den Baumwipfeln zu sehen ist, fängt Walter von Stolzing an zu singen.

»Hör auf!«, sage ich streng. »Niemand will deine Monologe hören …«

Aber Walter singt unbeirrt weiter. Ein düsteres Lied aus tiefster Katerbrust. Er sitzt auf dem Rücksitz meines Wagens, die grauen Ohren angelegt, das Maul zum Autodach hinaufgereckt.

»Roooaaahhh!!!«

Tatsächlich ähnelt die schmiedeeiserne Fahne aus der Ferne einem schwanzlosen Dackel. Schlimmer ist, dass sie Töne von sich gibt, wenn der Wind mit ihr spielt. Sie heult und knarrt, quietscht und pfeift. Als Kind fand ich es lustig, aber inzwischen geht es mir auf die Nerven. Weil ich dann immer an den Dachdecker denken muss.

Oma sagt, es sei schon ein Unglück, wenn jemand sein Handwerk nicht versteht. Der arme Kerl hatte sich mit einem Seil an der Wetterfahne gesichert, während er das steile Giebeldach neu deckte. Er ist ausgerutscht, und das Seil flutschte bei dem Ruck von seinem Bauch nach oben um den Hals. Weil er zur Waldseite hing, haben sie ihn erst nach Tagen entdeckt. Das war vor fünf Jahren, kurz nach Omas Geburtstag.

Natürlich hat es wieder die Gerüchteküche angeheizt. Weil ich, Henriette Sophie von Kerchenstein – meine Freunde nennen mich Henni –, ungewöhnliche Todesfälle wie magisch anziehe. Zumindest reden die Leute im Dorf solchen Mist. Oma kann fuchsteufelswild werden, wenn ihr das Geschwätz zu Ohren kommt. Weil damit mein Wert auf dem Heiratsmarkt sinkt, behauptet sie.

»Rrrrooooaaahh!«

»Klappe, Kater!«

Ich trete aufs Gas, der Wagen holpert über die Schlaglöcher, und Walter, der üblicherweise auf einem weichen Kissen auf dem Rücksitz thront, muss sich festkrallen. Vor Ärger hört er auf zu singen. Ach, es ist immer wieder schön, nach Hause zu kommen. Die sanften Hügel des Taunus mit ihren dunklen Wäldern, den gelben und hellgrünen Äckern, den kleinen Dörfchen mit ihren eng zusammengedrängten Fachwerkhäusern – das alles bedeutet für mich Heimat. Hier bin ich aufgewachsen, hier in den Wäldern habe ich mit meinen Freundinnen Verstecken gespielt und Fallgruben gebuddelt, und auf dem verwinkelten, spinnennetzverhangenen Dachboden von Schloss Kerchenstein haben wir bei Regenwetter die Gespenster erschreckt. Heute, zu Omas Geburtstag, ist selbstverständlich strahlender Sonnenschein, Maienwetter vom Feinsten, Wärme, sanfter Wind, ein leichter Duft nach Waldmeister. Keine Ahnung, wie Oma das jedes Jahr wieder hinbekommt, sie muss Petrus bestochen haben.

Links vom Schlösschen, da wo die Schnapsfabrik steht, schwebt eine silbrige Stinkewolke über den lindgrünen Buchen. Omas »Melisandengeist« wird dort hergestellt, den hat ein Ahnherr mal erfunden und damit den Grundstein für das Kerchensteiner Vermögen gelegt. Das Zeug ist der Allround-Heiler schlechthin, hilft bei Halsweh, Krämpfen und Durchfall, senkt das Fieber, hebt die Potenz und schmeckt noch dazu gar nicht übel.

Walter hat das Singen resigniert eingestellt, dafür fängt jetzt der Motor meines altersschwachen Corsa an zu schnaufen. Gut, dass wir gleich bei der Fabrik sind, da kann der Guckes Willi mal einen Blick unter die Motorhaube werfen.

Die Fabrik besteht aus mehreren Gebäuden, weil über die Jahre immer wieder vergrößert und angebaut wurde. Das älteste Haus ist noch aus Schiefer, die modernen sind einfach nur hässliche, lang gezogene Kästen mit regelmäßigen Fensterlinien und breiten Eingängen. Im Hof, genau vor dem Lieferanteneingang, steht der Guckes Willi, seines Zeichens Firmenchef, erkennbar am grauen Kittel und roten Haarkranz um die Glatze. Vor ihm drei umgefallene Holzkisten und ein ziemlich bedeppert wirkender junger Araber. Oder Afghane. Oder Türke. Auf jeden Fall kein Taunusgewächs. Der arme Kerl steht da mit hängenden Armen und lässt sich vom Guckes Willi zur Sau machen.

Ich fahre in den Hof hinein und halte kühn neben der Unfallstelle.

»Gude …«, rufe ich fröhlich durch das halb heruntergelassene Seitenfenster. Das ist hessisch und eine Abkürzung von »Guten Tag«.

Der Guckes Willi ist keiner, der vor der künftigen Erbin von Kerchenstein einen Bückling machen würde. Noch dazu ist er jetzt wegen der umgefallenen Kisten schlecht drauf.

»Ah, die Henni vom Schloss. War ja klar, dass ausgerechnet Sie jetzt auftauchen!«, raunzt er.

»Wieso? Gab’s wieder Tote?«

Er stiert mich einen Moment lang verwirrt an, dann grinst er und deutet mit dem Daumen auf die umgefallenen Kisten.

»26 Stücker. Wenn ich mich nicht verzählt hab. Riechen Sie es nicht?«

Tatsächlich steigt mir ein betäubender Dunst in die Nase. Vergeistigte Schlehen. Melisande pur. Es wird einem ganz schwummerig davon. Kein Wunder, dass der arme Kerl kein Glied mehr rührt. Der ist keinen Schnaps gewöhnt und bereits im Delirium.

»Ach du Jammer …«, sage ich und muss husten. »Da wird sich Oma aber freuen.«

Guckes Willi macht eine eindeutige Handbewegung.

»Den Hals dreht sie mir um. Aber erst, wenn sie mit dem Ahmed fertig ist!«

Der Willi muss immer übertreiben. Oma ist eine Seele von einem Menschen, großzügig, liebenswert, gutherzig. Niemals würde sie einer ausländischen Arbeitskraft zu nahe treten. Dem Guckes Willi wird sie allerdings den Kopf abreißen. Yep.

»Würden Sie trotzdem mal nach dem Motor schauen?«, frage ich mit meinem reizendsten Augenaufschlag. »Er schnauft.«

Willi ist leidenschaftlicher Autobastler, er hat schon so manchem stotternden Motor wieder zu fröhlichem Schnurren verholfen. Auf meine Bitte hin schmunzelt er und wischt sich die Finger am Kittel trocken. Auch Ahmed erwacht aus der Betäubung und lächelt mich an.

»Wir sollten hier eine Autowerkstatt einrichten«, meint der Willi und macht mir ein Zeichen, den Hebel für die Motorhaube zu ziehen. »Solang Ihre Frau Großmutter den Weg nicht in Ordnung bringen lässt, wäre das ein gutes Geschäft!«

Oma liegt seit Menschengedenken mit dem Bürgermeister des Dörfchens quer, weil sie der Meinung ist, die Schlaglöcher seien nicht ihre Sache, sondern Gemeindeeigentum. Trotzdem wäre eine Autowerkstatt keine lohnende Sache – wer fährt schon nach Kerchenstein?

Der Guckes Willi und Ahmed beugen sich einträchtig über den Motor, blinzeln fachmännisch, nicken einander zu, deuten mit den Fingern. Der Guckes Willi verbrennt sich die Hand, weil er an ein heißes Teil fasst.

»Scheiße!«

»Ist Vergaser. Da, schau …«

»Ach, Kappes! Zylinderkopf …«

»Guck mal Ölstand …«

»Voll. Da kannste noch drei Hühner mit frittieren …«

Das alles hört sich nicht gerade fachmännisch an, finde ich. Andererseits ist der Guckes Willi einer, der immer eine Lösung findet. Also habe ich Vertrauen und schaue nach Walter, der sich beleidigt auf seinem Kissen zusammengeringelt hat. Er guckt mich aus glasgrünen Augen mit dem geheimnisvollen Blick aller Katzen an. Durchdringend, unergründlich, von kosmischem Wissen erfüllt. Den Namen »Walter von Stolzing« hat Oma ihm gegeben. Weil er ein Meistersinger ist. Nachts. Im Garten. Wenn Ömchen schlafen will. Wagnertenöre sind penetrant.

»Sind die anderen Geburtstagsgäste schon da?«

Willi ist stets darüber im Bilde, wer drüben im Schloss ein und aus geht, weil er von seinem Bürofenster im Altbau einen guten Blick zum Schlosstor hat.

»Klaro …«

»Alle?«

»Die russische Gräfin mit dem falschen Dutt ist schon gestern gekommen. Mit Sohn.«

Ich werde also Wladimir, den molligen Eroberer, an der Backe haben. Na gut.

»Und heute kam noch die Ludowiga mit dem Prinzen von Preußen. Und der Herr von Hodensack ist auch schon da …«

»Rodenstock heißt der …«

»Sag ich doch …«

»Und dann noch der italienische Baron mit dem rosa Backenbart.«

Conte Mandrini! Wenigstens e i n netter Mensch unter all den adeligen Witzfiguren. Hatte mal was mit Oma vor hundert Jahren oder so. Klein, aber drahtig. Hat sich gut gehalten, das Altertümerchen.

»Und dann noch so ein Gesangsfuzzi mit Tochter …«

Aha? Ein neuer Bewerber um meine Hand? Gleich mit Anhang? Dafür aber ausnahmsweise nicht adelig?

»Wie heißt der denn?«

Der Guckes Willi legt einen runden Metalldeckel, an dem er herumgewischt hat, auf den Kotflügel und starrt angestrengt hinauf zu den Wipfeln der Buchen.

»Verdammt. Wie hieß der nur? Homes, glaub ich. Nee … Cotton … Ach, jetzt weiß ich: Bond. Irgend so ein ausgedienter Agent war’s doch …«

Bond? Das kann eigentlich nur Friedemann Bond sein, der bekannte Gesangspädagoge. Wenn das stimmt, dann ist das Mädel aber ganz bestimmt nicht seine Tochter …

Guckes Willi träufelt eine klare Flüssigkeit aus einem Schnapsglas in eine Öffnung der Maschine, verschraubt, nickt zufrieden und weist mich an, den Motor laufen zu lassen. Er hustet, fängt sich aber und schnurrt gleichmäßig.

»Perfekt. Und woran hat’s gelegen?«

Die beiden werfen mir deutsche und arabische Fachausdrücke an den Kopf, gestikulieren, behaupten, so ein Auto werde immer komplizierter, das liege an der Elektronik, da brauche man spezielle Geräte und viel Feingefühl.

»Was habt ihr denn da reingegossen?«

»Das war bloß was für die Scheibenwaschanlage. Damit nix einfriert.«

»Riecht irgendwie nach Kirschen. Oder nach Schlehen …«

Der Motor läuft großartig, fast so gut, wie Walter schnurren kann. Also spare ich mir die Bemerkung, was denn jetzt im Mai noch einfrieren könnte. Der Guckes Willi ist halt einer, der für alles eine Lösung findet.

2. Kapitel

Schloss Kerchenstein im Hochtaunus ist ein mittelalterlicher Bau mit Türmchen und Spitzgiebelchen, der den Eindruck erweckt, als stamme er geradewegs aus dem Märchenschatz der Brüder Grimm. Romantisch und einsam gelegen, abseits des lästigen Fremdenverkehrs. Zugegeben – Omas Märchenschloss ist momentan nicht im besten Zustand. Das Dach des Westflügels ist eingesunken, und drei der hübschen Frontgiebelchen müssten längst neu gedeckt werden. Um nur die auffälligsten Mängel zu erwähnen. Oma hasst Renovierungsarbeiten, sie ist ein harmoniebedürftiger Mensch und leidet schrecklich, wenn man ihre Möbel verschiebt. Auch sind Dachdecker ihr seit einiger Zeit ein Gräuel. Was ich gut verstehen kann. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – besitzt das Schlösschen einen ganz eigenen Charme. Im englischen Tudor-Stil um einen malerischen Innenhof mit Brunnen errichtet, hat jeder Gebäudeteil seinen eigenen Charakter. Da gibt es dicke Mauern aus heimischem Schiefergestein und ein breites Sandsteinportal mit dem Familienwappen derer von Kerchenstein. Drei Blutstropfen um ein Lindenblatt. Gleich daneben wurde mit schlichtem Fachwerk weitergebaut, was bedeutet, dass der Vorfahre nicht bei Kasse war und die Billigbauweise vorzog. Später hat jemand dort mehrere Fenster mit bleiverglasten, kunstvoll bemalten Scheiben einsetzen lassen und dem Dach die hübschen Giebelchen verpasst. So ein Schloss ist halt was anderes als ein Reihenhaus. Da bauen Generationen dran herum, jeder nach seinem Geschmack und Geldbeutel. Als Opa noch lebte, wurden die Gesindehäuser im Nordflügel ausgebaut, und der Ostflügel, wo die Gästezimmer sind, bekam einen hübschen Altan. Das ist so was wie ein überdachter Balkon, da kann man Betten lüften und bei Nacht heimlich in die Gästezimmer hineinsehen. Oder einsteigen. Je nach Gemütslage und Jahreszeit. Es heißt, Opa habe den neu gebauten Altan weidlich genutzt und sei ein ziemlicher Schürzenjäger gewesen, deshalb hat Oma ihn seinerzeit auch zum Teufel gejagt. Wohin er verschwand und wie Oma es geschafft hat, das Schloss in ihrem Besitz zu halten, habe ich nie erfahren. Aber das ist normal in meiner Familie. Ich weiß auch so gut wie nichts über meinen Vater, angeblich war er Mamas Reitlehrer und verschwand noch vor meiner Geburt. Allerdings hat mir Pauline erzählt, dass es auf Kerchenstein niemals Pferde gegeben hat. Zumindest nicht seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Pauline muss es eigentlich wissen, sie ist Hausmädchen auf Kerchenstein, seit ich denken kann. Nun, ob Papa Reitlehrer war oder nicht – er hat sich davongemacht. Was Mama ihm sehr übel nahm. Später hat auch Mama das Weite gesucht, sie zog nach München und tat sich dort mit einem jungen Schauspieler zusammen. Oma schäumte vor Zorn, weil ihre Tochter nicht bereit war, standesgemäß zu heiraten, und stattdessen mit diesem »Abschaum« in wilder Ehe lebte. Noch dazu auf ihre Kosten, denn Mama hatte außer Reiten nicht viel gelernt.

Ich war zu dieser Zeit zwölf und in der Vorpubertät – Mamas Abgang tat mir gar nicht gut. So entwickelte ich eine starke Abneigung gegen das männliche Geschlecht, das in meinen Augen schuld an meiner Verlassenheit war. Der arme Conrad Butzbach, unser Gärtner, war mein erstes Opfer. Ich weiß noch, wie ich im Garten stand und sinnend Butzis Kehrseite betrachtete, als er in gebückter Haltung einen Rosenbusch beschnitt. Es überkam mich einfach – mein Fuß hob sich wie von selbst, und der arme Butzi fand sich im Rosenbusch wieder. Später ließ ich meine negativen Gefühle an Ortwin Gundermann, meinem Klavierlehrer, aus, den hasste ich besonders, weil er immer so schwitzte, wenn er neben mir saß. Ich klappte den Deckel der Tastatur während des F-Dur-Präludiums von Meister Bach blitzschnell herunter, Gundi kam mit Quetschungen davon. Kein Bruch. Nicht einmal ein steifes Handgelenk. Nur ein rhythmisches Zucken des rechten Mittelfingers blieb zurück. Das Präludium habe ich mir später allein einstudiert – ein großartiges Werk. Wie alle Bach-Präludien und Fugen. Unnachahmlich und ohnegleichen. Der alte Bach hatte es halt drauf.

Oma war stets nachsichtig mit mir. Weil »das Kind« so viel durchmachen musste, wie sie immer sagt. Als ich mit vierzehn endlich die schwache Andeutung eines Busens entwickelte, nahm sie mich beiseite und klärte mich auf. Meine Lebensaufgabe als Adlige von Kerchenstein betreffend, das andere hatte ich schon in der Schule gelernt. Der Fortbestand derer von Kerchenstein ruhe von nun an auf meinen Schultern. Gewiss, über die weibliche Linie – ein männlicher Nachkomme sei ihr selber leider versagt geblieben. Aber eine Verbindung mit einem adeligen Haus sei ungeheuer wichtig, auf keinen Fall dürfe unser Geschlecht in der Bürgerlichkeit oder Schlimmerem versacken. Mit dem Schlimmeren meinte sie natürlich den »Abschaum« in München, der – wie man hörte – bereits mehrfach ausgetauscht worden war. Mama war bemüht, das gemeinsame Durchschnittsalter niedrig zu halten.

Von diesem Tag an tauchten immer wieder seltsame Gestalten auf Kerchenstein auf, die Oma als geeignete Heiratskandidaten für ihre geliebte Enkelin ausersehen hatte. Einer gruseliger als der andere. Mit achtzehn hatte ich die Nase voll und zog zu Mama nach München, um Musik zu studieren. In Mamas Wohnung blieb ich nur eine Stunde, dafür wohnte ich drei Jahre lang in einer winzigen Studentenbude und genoss meine Freiheit in vollen Zügen. Dann fiel ich durch die Abschlussprüfung des Konservatoriums. Genauer gesagt: Ich verpasste alle Termine, weil zu dieser Zeit mein Vater zum ersten Mal in mein Leben trat. Seit diesem Tag hat Papa keine Chance verpasst, mich in irgendwelche mörderischen Kriminalfälle zu verwickeln.

Aber das ist eine andere Geschichte.

Oma ist ein harter Knochen – sie gibt die Hoffnung nicht auf, dass ich meine Herumtingelei als freischaffende Pianistin und Sängerin eines Tages mit dem Job einer Ehefrau und Hervorbringerin adeligen Nachwuchses tauschen werde. Und weil ich sie über alles liebe, tue ich so, als würde ich nicht merken, dass sie mir alljährlich die gleichen Ladenhüter vorsetzt. Es ist schließlich ihr Geburtstag, und sie ist nicht mehr die Jüngste – ich würde sogar vom anderen Ende der Welt anreisen, um mit ihr zu feiern.

Schon vier Uhr – da sind die Gäste bei Kaffee, Kuchen und Tee. Ich quetsche den Corsa durch das Sandsteintor und parke frech im Innenhof gleich neben dem Brunnen. Ich darf das, weil ich die Erbin von Kerchenstein und Omas Liebling bin.

»Aufwachen, Walter. Wir sind da.«

Die Aufforderung ist unnötig, Walter von Stolzing ist bereits auf dem Sprung. Kaum habe ich die Autotür geöffnet, da zischt der graue Kartäuserkaterblitz an mir vorbei. Richtung Küche. Oma ist bodenständig, sie hält nichts von Scones und Petits Fours – bei ihr kommen nur kalorienstarke Sahnetorten auf den Kaffeetisch. Die bereitet Li Yang zu, der chinesische Koch. Unnötig zu erwähnen, dass Li Yang und Kater Walter keine Freunde sind …

»Iiii! Weg von gute Sahne!« Eine Schüssel zerschellt. Na bitte – da haben sich zwei alte Feinde wiedergefunden. Ich nehme meine Reisetasche aus dem Kofferraum, schaue kurz hoch zu den Fenstern im ersten Stock des Westflügels, hinter denen die Geburtstagsfeierlichkeiten vonstattengehen, und will gerade das Treppchen zu meinem Zimmer hochlaufen – da steht auf einmal Butzi vor mir.

»Gnädiges Fräulein – seien Sie herzlich willkommen auf Kerchenstein!«, sagt er feierlich und nimmt mir die Tasche aus der Hand.

»Danke, Butzi. Ich freue mich, Sie so gesund und munter zu sehen. Die Tasche kann ich aber selber …«

»Das fehlte noch, gnädiges Fräulein«, ruft er beleidigt. »Solange ich auf zwei Beinen stehe …«

Er ist nun einmal eine Lakaienseele, der Gute. Auch mit über achtzig Jahren. Den Fußtritt hat er mir nicht übel genommen, manchmal fragt er mich, ob ich mich noch daran erinnere, und dann lachen wir gemeinsam über die guten alten Zeiten. Butzi hat nie geheiratet, er lebt für seine Aufgaben als Gärtner und Hausknecht. Und für Oma. Für die würde er sogar sterben … jederzeit …

Es tut einen dumpfen Schlag auf dem Hofpflaster, das ist der Notenständer unten in meiner Tasche. Da liegt er, Butzi, der Gärtner, den Griff der Tasche noch fest in der Faust, den Körper seltsam verrenkt, das Gesicht totenbleich.

»Butzi! Um Himmels willen!«

Ich stürze herbei, knie neben ihm, fasse sein Handgelenk. Nichts. Kein Puls. Ein dünnes Rinnsal Blut fließt aus seinem Mundwinkel auf die historischen Pflastersteine. Butzi, der getreue Diener, hat uns verlassen! O Gott – ausgerechnet jetzt, wo ich auf Kerchenstein auftauche. Das wird meinen schlechten Ruf wieder befeuern.

Hilflos hocke ich am Boden, suche seine Halsschlagader, um dort noch einmal nachzufühlen, kann aber nichts feststellen. Was soll ich tun? Oma herbeirufen, damit sie den Notarzt alarmiert? Gerade jetzt, da sie oben mit ihren lieben Gästen Geburtstag feiert? Wie unpassend …

Aus Richtung Küche kommt Walter von Stolzing gelaufen, leckt sich noch einen Sahnerand vom Maul, dann eilt er freudig auf mich zu. Schnuppert kurz an Butzis Schuhen, steigt elegant über seine Beine hinweg, springt über die Reisetasche und schmiegt sich schnurrend an meine Seite. Pietätlos, dieser Kater. Wie kann er schnurren, wenn der arme Butzi gerade eben seinen letzten Schnaufer getan hat! Spürt er nicht die Gegenwart des Todes?

»Hau ab, Kater«, knurre ich unfreundlich und schubse ihn beiseite. Gottlob, da kommt Pauline im schwarzen Kleid mit Spitzenschürze gelaufen. Die Ärmste wird einen schweren Schock erleiden, den ich ihr leider nicht ersparen kann.

»Pauline«, sage ich und sehe sie mitfühlend an. »Du musst jetzt sehr stark sein. Butzi … ich wollte sagen, unser lieber Conrad Butzbach hat sich soeben zu seinen Vätern …«

»Schon wieder!«

Ich starre sie an und begreife, dass der Schrecken ihren Geist verwirrt hat.

»Er ist tot, Pauline. Es tut mir leid, dir das mitteilen zu müssen.«

In diesem Moment erhebt sich der Tote vom Hofpflaster und sagt:

»Solange ich auf zwei Beinen stehe, ist das Gepäck meine Sache.«

Dann schaut er leicht verwundert auf meine Reisetasche, rappelt sich auf, schwankt ein wenig und stakst mit der Tasche zum Torgebäude, wo sich mein Zimmer befindet.

»Ähwäwie …«, stottere ich, unfähig, ein sinnvolles Wort zu bilden.

»Sekundenschlaf«, erklärt Pauline. »Unterzuckerung, verstehen Sie? Und jetzt hat der arme Kerl sich wohl noch dazu auf die Zunge gebissen.«

»Seit … seit wann hat er das?«

»Etwa ein halbes Jahr … Er hat Traubenzucker einstecken, aber er verpasst immer den richtigen Moment. Ach ja … Herzlich willkommen auf Kerchenstein, gnädiges Fräulein. Wie schön, dass Sie da sind. Ihre Großmutter wird sich …«

Oben im Saal wird ein Fenster geöffnet, Oma, mit der indischen Brokatbluse angetan, blickt auf uns hinunter. Schick rausgeputzt wie immer, sie hat den Rubinschmuck angelegt und trägt die passenden Ohrringe. Hat sie die Haare gefärbt?

»Was stehst du da herum, Pauline? Der Tee geht zur Neige. Und der Conte wünscht Espresso. Henni, mein Goldkind! Zieh dich rasch um und komm herauf zu uns. Ich muss dich an mein Herz drücken, meine Kleine …«

»Grüß dich, Oma! Ich wünsche dir zu deinem Gebu…«

Das Fenster knallt mitten in meinen Satz – weg ist sie. Echt Oma. Alles muss nach ihrem Kopf gehen. Erst umziehen, dann gratulieren. Resigniert nicke ich Pauline zu, die gemessenen Schrittes hinüber zur Küche geht, wo – das kann ich jetzt durch die Fenster erkennen – neben dem kleinen mageren Li Yang auch Sieglinde, das zweite Hausmädchen, tätig ist. Sieglinde kommt aus dem Nachbardorf, und wer sie als mager bezeichnen würde, der ist entweder blind oder ein Lügner.

Auf der Wendeltreppe kommt mir Butzi entgegen, er kaut ein Stück Traubenzucker und lächelt mich an.

»Sie haben mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt«, sage ich und lächle zurück. »Geht’s jetzt wieder?«

»Wieso? War was?«

Er betupft das Kinn mit einem frisch gebügelten, karierten Taschentuch, nickt mir dienstfertig zu und geht federnden Schrittes an mir vorüber.

Kerchenstein war schon immer ein Ort voller Geheimnisse.

Oben in meinem gemütlichen Reich über der Toreinfahrt finde ich meine Reisetasche, wie es sich gehört, auf dem marokkanischen Hocker, den einer meiner Vorfahren mal von einer Afrika-Expedition mitgebracht hat. Mein Bett stammt aus dem achtzehnten Jahrhundert, es hat noch den original Betthimmel aus dunkelblauem Samt mit goldenen Sternchen, der rechts und links elegant gerafft und zu dicken Knoten drapiert ist. Früher – zur Zeit meiner Vorfahren – hausten darin Millionen kleiner hungriger Lebewesen, die den Schläfern die Ruhe raubten. Dank eines Puders, den ich gelegentlich auch bei Walter anwende, ist mein Himmel inzwischen flohfrei.

Ich wähle ein enges Oberteil mit Ausschnitt und dazu den passenden Minirock. Beides in erotischem Schwarz, da haben die Herren neben dem kulinarischen auch ein optisches Vergnügen. Lackstiefelchen verkneife ich mir – ist sowieso zu warm für die Dinger, besser die hochhackigen Riemchensandalen. Noch rasch die Mähne gebürstet – blond, goldblond, honigblond, mittelblond, aschblond. Irgendwas dazwischen. Egal. Ich schaue in den venezianischen Kristallspiegel, den mir Oma vor zwölf Jahren zum sechzehnten Geburtstag geschenkt hat, und tue einen tiefen Seufzer. Papas braune Augen, Mamas Schmollmund und Omas Stupsnase – wie die sich alle bei mir durchgemendelt haben. Soll ich mich schminken? Ach nein – auf keinen Fall. Minirock und enges Top sind schon unvorsichtig genug. Auf in den Kampf, Henni. Oma zuliebe. Mittendurch und am anderen Ende wieder raus. Möglichst unbeschadet und fahrtauglich.

Ich schaue kurz durch die Butzenscheiben in den Hof hinunter – auf dem Brunnenrand sitzt Walter von Stolzing mit einem Beutestück im Maul, sieht aus wie ein Fisch. Man hört Li Yangs schrille Stimme, er flucht auf Chinesisch. Wie es scheint, hat Walter das Abendbuffet eröffnet.

Also gehe ich besser nicht über den Hof, sondern durch Omas und Onkel Rudis Zimmer in den Westturm und von dort drei Stufen hinauf zur Hintertür des Wintersaals. Er stammt noch aus den Zeiten, als hier rauschende Feste mit fünfzig bis hundert Gästen gefeiert wurden, daher nimmt sich die Geburtstagsgesellschaft von zwölf Personen hier ziemlich mickrig aus. Immerhin hat man Omas Geburtstagstisch mit üppigem Blumenschmuck unter den Westfenstern aufgebaut, und auf der anderen Seite befindet sich das gut ausgestattete, wenn auch bereits dezimierte Tortenbuffet. Dazwischen steht die lange Tafel, standesgemäß mit weißem Damast bedeckt, man hört das Geklapper der silbernen Kuchengabeln auf dem kobaltblauen Kaffeeservice mit silberfarbigem Dekor. Obgleich ich mich bemühe, so leise wie möglich einzutreten, wenden sich mir sofort alle Augen zu. Fürstin Olga Bereschkowa setzt vorsichtig ihre Brille auf, um die schwarze Perücke nicht zu verschieben, und fügt den Runzeln auf ihrer Stirn noch einige Falten bei. Ihr Sohn, der mollige Wladimir – das heißt so viel wie: Beherrsche die Welt –, glotzt mit heraushängenden Augen auf meine unbedeckten Körperstellen. Auch Franz Christian von Rodenstock, der ewige Junggeselle aus dem schönen Wien, lässt die Kuchengabel sinken und plinkert mit den Augen, um seine Kontaktlinsen in Position zu bringen. Karl-August von Klaffenau setzt die Kaffeetasse ab und sein schönstes Lächeln auf. Er ist immerhin der ansehnlichste und mit seinen achtundzwanzig Jahren auch der jüngste heiratswütige Adelsspross. Dafür ist er meiner Ansicht nach ein notorischer Schwindler, der den Titel »Prinz von Hessen« schlicht erfunden hat, um bei Oma Eindruck zu schinden. Seine Mama, die dürre Ludowiga von Klaffenau, ist eine alte Freundin von Oma, und es geht die Sage, dass der flotte Karl-August sein Dasein einem jungen Fliesenleger verdankt, der einstmals auf Gut Klaffenau die Küche renovierte. Ich grüße huldvoll wie Königin Mutter in die Runde und falle Oma um den Hals.

»Meine geliebte, wunderbare, herzensliebste Großmama. Glückwünsche ohne Zahl zu deinem … sechzigsten Geburtstag.«

Sie drückt mich so fest an ihre Brust, dass sich der Rubinschmuck in meinen Hals hineingräbt. Seit etlichen Jahren gratuliere ich ihr zum sechzigsten – ihr tatsächliches Alter hält sie streng geheim, die eitle Dame.

»Henriette Sophie!«, ruft sie und lässt sich von mir auf beide Wangen küssen. »Himmel, nicht so stürmisch. Das bin ich alte Frau nicht mehr gewöhnt, meine wilden Jahre sind lange vorbei …«

Ich höre Alessandro Mandrinis anzügliches Räuspern und stelle mir vor, dass er vor gut fünfzig Jahren ein feuriger Bursche gewesen sein könnte.

»Ich hab dir einen Schwan mitgebracht, Oma. Für deine Sammlung.«

Sie nimmt das kleine Glasschwänchen huldvoll entgegen und bemerkt, Glas sei doch viel besser als Marzipan. Der Schwan, den ich ihr vor Jahren aus Lübeck mitgebracht habe, hätte eine interne Fauna entwickelt und sei inzwischen entsorgt.

»Uh … ein Würmchen?«

»Mit Familie!«

»Wie eklig!«

Franz Christian von Rodenstock schiebt den Kuchenteller von sich und wird bleich. Er verfügt über eine lebhafte Vorstellungskraft. Auch ein neben ihm platzierter Mensch mittleren Alters mit ausdrucksvollen braunen Augen und schütterem blond gefärbtem Haar legt die Kuchengabel angewidert beiseite. Das ist dieser Gesangsfuzzi Friedemann Bond, ein ziemlich gesuchter Gesangspädagoge, der schon etliche Opernstars hervorgebracht hat. Gleich neben ihm sitzt das Mädel, das als seine Tochter bezeichnet wurde. Eine bleiche Rothaarige mit Sommersprossen im Gesicht. Vermutlich nicht nur dort – Mr. Bond wird mehr darüber wissen, wenn man dem schlechten Ruf glauben kann, der ihm vorauseilt.

Während Oma den winzigen Schwan aus blauem Glas zwischen die Schachteln und Blumenarrangements auf ihrem Geburtstagstisch setzt, begrüße ich meinen Großonkel Rudi. Ich muss ihn laut anreden, denn Rudi ist Autist und in seiner eigenen Welt versunken. Normalerweise starrt er mit interessiertem Blick in die Gegend, bekommt aber so gut wie nichts mit, weil er ständig mit sich selber redet. Wenn die anderen lachen, lacht er mit, ohne zu wissen, weshalb. Wenn viel geredet wird, quasselt er laut vor sich hin, ist es um ihn herum still, flüstert er mit sich selber. Mit anderen Worten: Er bemüht sich, nicht aufzufallen. Wenn man ihn direkt anspricht, kann er sich ein paar Minuten lang auf ein Gegenüber einlassen. Redet man aber zu lange, driftet Rudi ab, und weg ist er.

»Wie geht’s, Rudi? Spielst du uns heute Abend was vor? Mozart? Schubert?«

Er strahlt mich an. Früher muss Omas Bruder mal ein hübscher Bursche gewesen sein. Auch jetzt ist sein weißes Haar noch voll und lockig, er hat sich einen Backenbart wachsen lassen, an dem er ständig mit den Fingern herumzwirbelt. Er hat blaugrüne Augen – genau wie Oma und Mama.

»Schubert«, sagt er und nickt dreimal hintereinander. »Impromptu As-Dur. Und eine Sonate. Welche du willst, Henni …«

»Ich will sie alle!«, rufe ich lachend.

»Dann musst du lange bleiben!«

Großonkel Rudi ist ein wunderbarer Pianist. Eigentlich hätte er auftreten müssen, er hätte die Konzertsäle der ganzen Welt gefüllt. Aber sie haben ihn immer versteckt gehalten. Weil er »doch ein wenig seltsam« ist und das der Familie peinlich war. Aber ich glaube, eine Konzertkarriere hätte Rudi sowieso keinen Spaß gemacht. Er ist viel lieber mit sich und seinen Lieblingskomponisten allein.

»Setz dich, Henni!«, kommandiert Oma. »Ludowiga, meine Liebe, du möchtest dich gewiss ein Weilchen mit Olga unterhalten. Wir sind heute ganz zwanglos, setz dich einfach zu ihr …«

Ich nehme den frei gewordenen Platz an Omas Seite ein, bekomme von Pauline ein frisches Gedeck vorgesetzt und lasse mir ein Stück Käsesahne auflegen. Li Yangs Torten sind ein Gedicht – süß, fluffig, köstlich. Und so leicht. Ein Nichts aus guter Taunusbutter und Sahne von fröhlichen Weidekühen. Ich muss mich zusammennehmen, um würdig zu speisen, wie Oma es mir seinerzeit beigebracht hat. Gäbelchen höchstens bis zur Mitte füllen. Gerade sitzen. Ellenbogen nicht aufstützen. Zwischen zwei Bissen lächelnd Konversation pflegen. Auch wenn’s schwerfällt.

»Sie sehen bezaubernd aus, liebe Henni«, sagt Wladimir.

»Oh, vielen Dank …«

»Sie wird jedes Jahr hübscher«, behauptet Franz Christian.

»Sie beschämen mich …«

»Wenn das überhaupt noch möglich ist«, setzt Karl-August den Schmeicheleien die Krone auf.

»Ich bitte Sie!«

Wladimir äußert, er freue sich unendlich auf den Abend, ob ich wieder eine Probe meines großen pianistischen Könnens darbieten würde.

»Vielleicht …«

Oma verfolgt die Gespräche mit schweigsamem Wohlwollen, es gefällt ihr, dass die Aspiranten bereits in Stellung gehen. Ich gebe mich liebenswürdig, aber indifferent und bemühe mich, in keinem der Herren trügerische Hoffnungen zu wecken. Im Grunde tun sie mir leid. Es ist kein Spaß, ein gefülltes Bankkonto samt Schloss erheiraten zu müssen. Vorletztes Jahr zählte noch der schüchterne Ernst von Lautenstein mit den schwarzen Augenringen zu der auserwählten Bewerberschar; inzwischen hat er sich mit einer Diplomatentochter aus Südamerika verehelicht, die – wie mir Oma am Telefon erzählte – bereits fünf Ehemänner unter die Erde gebracht haben soll.

»Sie spielen Klavier?«, fragt mich die bleiche Rothaarige über das Rosengesteck hinweg.

»Hin und wieder …«

Es ist mein Beruf – aber das weiß die dumme Schnepfe nicht. Ich beende die Käsesahne und lasse mir von Pauline ein Stück Mokkasahne auflegen. Ein Traum. Ein Wölkchen aus Kaffeeduft und weißem Schaum.

»Ich singe …«, behauptet die Rothaarige. »Ich bin übrigens Lisa-Marie. Friedemann – ich meine, Professor Bond – ist mein Lehrer.«

Ich nicke interessiert und genieße das Mokkaschaumwölkchen. So wie sie aussieht, singt sie wohl einen Piepssopran. Aber das kann natürlich täuschen. Vielleicht besitzt sie Stimmbänder und Resonanzräume einer Carmen.

»Kennen Sie Koschinski?«, fragt der Gesangsfuzzi in Richtung Franz Christian.

Der hat wenig Lust, sich mit Mr. Bond zu unterhalten, weil er seine Heiratsabsichten in meine Richtung vorantreiben will.

»Tut mir sehr leid …«, sagt er höflich.

»Sie sind doch aus Wien, oder nicht?«, beharrt Friedemann Bond.

Franz Christian wirft mir einen bekümmert-entsagenden Blick zu.

»Ganz richtig, mein Bester. Ich bin im schönen Wien beheimatet. Von Rodenstock, im achtzehnten Jahrhundert von Maria Theresia in den Adelsstand erhoben …«

»Dann müssen Sie Koschinski doch kennen! Den kennt jeder in Wien …«

»Bedaure!«

»Na ja …«, knurrt Bond verärgert. »Spricht ja für Sie, wenn Sie den Dreckskerl nicht kennen …«

Ich verkneife mir das Lachen und finde, dass dieser Gesangsfuzzi immerhin Leben in die steife Adelsrunde bringt. Oma starrt intensiv in Bonds Richtung, was ihn jedoch nicht zu stören scheint.

»Und wer ist dieser Koschinski?«, erkundige ich mich.

Bond richtet seine großen braunen Augen auf mich. Tatsächlich könnte man darin versinken. Wie in einem Sumpf.

»Sie kennen ihn auch nicht?«

»Zum Glück nein. Klären Sie mich auf, damit ich mich vor dem Typen in Acht nehmen kann, falls es mich ins schöne Wien verschlagen sollte. Schwerverbrecher? Mörder? Heiratsschwindler?«

Bond verzieht keine Miene.

»Koschinski ist Gesangslehrer …«

»Ach so«, sage ich, und mir ist alles klar. Konkurrenzneid. Die anderen am Tisch wechseln erstaunte und indignierte Blicke.

»Man schilderte Sie mir als einen Mann von großem Feingefühl!«, sagt Oma würdevoll zu Mr. Bond. Doch der macht sich nichts draus – gegen zarte Anspielungen ist er immun.

»Friedemann … ich wollte sagen, Herr Professor Bond ist der größte Gesangspädagoge überhaupt«, plappert Lisa-Marie drauflos. »Er hat den Kaufmann und den Schrott herausgebracht …«

Die Namen beeindrucken mich.

»Ach, er hat Schrott herausgebracht«, bemerkt Karl-August süffisant. »Ja dann …«

Dieser Mensch, der sich »Prinz von Hessen« nennt, ist noch ungebildeter, als ich dachte. Jonas Kaufmann und Erwin Schrott nicht zu kennen!

»Aber dieser Koschinski«, schwatzt Lisa-Marie weiter, und die Sommersprossen auf ihrer Stirn scheinen zu hüpfen, »das ist ein Mensch, der vor nichts zurückschreckt, um seine Schüler in die erste Reihe zu schieben. Nicht wahr, Friedemann?«

Mr. Bond nickt und greift mit unruhiger Hand zur Kaffeetasse.

»Vor gar nichts …«, bestätigt er.

»Er kann sogar hexen«, flüstert Lisa-Marie. »Und er ist überall. Nirgendwo ist man vor ihm sicher …«

Niemand sagt ein Wort, nur Onkel Rudi brabbelt munter vor sich hin. Wenn ich die Mienen der übrigen Gäste richtig deute, kommen wir alle zu dem Schluss, dass Mr. Bond und seine rothaarige Muse nicht alle Hörnchen im Tee haben.

»Er würde auch nicht vor einem Mord zurückschrecken!«, behauptet Friedemann Bond und blickt wild in die Runde.

»Ja, die Künstler«, sagt Oma lächelnd. »Ein ganz besonderes Völkchen.«

3. Kapitel

Traditionell endet die Kaffeetafel mit einer Runde Melisandenlikör, den Oma einerseits zur besseren Verdauung und andererseits aus Reklamegründen verabreicht. Man lobt den angenehmen Geschmack, das Aroma, die Blüte, trinkt ein zweites und drittes Gläschen – das Zeug schmeckt wirklich nicht übel – und lauscht Omas Vortrag über die Palette der Melisandenprodukte. Als da wären: Melisandentee, Melisandengeist und Melisandenlikör. Dazu das Sortiment »Körperpflege mit den Heilkräften der Melisande«. Seife, Shampoo, Zahncreme, verschiedene Schmierereien gegen Falten, Pickel, Akne et cetera. und Balsam zum Einreiben bei Rheuma & Co. Neu im Sortiment sind »Melisandenzauber«, das wie die kleinen blauen Pillen wirken soll, und »Melisandenpower«, eine Art Aufputschmittel, ganz harmlos, weil pflanzlich, auch für Kinder geeignet.

Der Guckes Willi schreckt vor nichts zurück. Man muss halt mit der Zeit gehen, sagt Oma. Und die Konkurrenz schläft nicht.

Sie selbst zieht sich nach vollendeter Werbeansprache für ein Stündchen zurück, auch Olga Bereschkowa und Ludowiga von Klaffenau pflegen der Ruhe, ebenso Conte Mandrini. Mr. Bond verkündet, er wolle mit seiner Schülerin einen kleinen Spaziergang im Maienwald unternehmen, um die gute Taunusluft in die großstadtgeplagten Lungen zu saugen. Auch Onkel Rudi verschwindet, vermutlich, um in der Bibliothek angeregte Gespräche mit Rudolf von Kerchenstein zu führen. Ich, Henriette Sophie, auf deren Schultern der Fortbestand dieses adeligen Hauses ruht, begebe mich hinunter in den Sommersaal, um mich dort an den historischen Flügel zu setzen. Der Sommersaal befindet sich im Erdgeschoss des Westflügels, er hat im Unterschied zu dem darüberliegenden Wintersaal hohe Türen mit Sprossenglas, die in den Garten führen. Hier haben wir uns als Kinder in den mittelalterlichen Truhen mit den komplizierten Schlössern versteckt, hier fanden im Sommer Konzerte, Theateraufführungen und Familientragödien statt, und hier muss ich armes Mädel jedes Jahr aufs Neue meine Freiheit verteidigen.

Ich beginne mit Händel. Suite Nr. 3 in d-Moll. Verträumt, mitunter zart und trotzdem immer sehr klar. Männlich. Der Georg Friedrich muss ein toller Mann gewesen sein …

»Darf ich die Künstlerin für einen kurzen Moment unterbrechen?«

Da ist er ja. Wladimir ist immer der Erste. Streckt das Spitzbäuchlein vor und watschelt in meine Richtung. Plattfüße. Angeboren. Sein Lächeln ist süßlich, seine Augen können sich nicht von meinen Oberschenkeln losreißen. Beim Spielen ist der Minirock verrutscht.

Er macht es kurz. Seine allerhöchste Verehrung. Sein heißes Begehren. Sein alter Adel, die unwürdige Lage seit der Flucht vor den Bolschewiken. Sein Herz, seine Hand, seine unvergängliche Liebe.

»Ich weiß Ihren Antrag zu schätzen …«

Ich sage mein Sprüchlein auf. Danke für das Vertrauen. Fühle mich jedoch noch nicht reif für eine eheliche Verbindung. Bitte gütigst um Geduld. Verweise auf das kommende Jahr, wo man sich in alter Frische wiedersehen wird …

Der Erste ist versorgt. Ich wechsle zu Haydns Sonate Es-Dur. Heiter, verspielt, aber mit versteckter Tiefe. Papa Haydn ist immer für eine Überraschung gut. Abschied. Paukenschlag und so …

Franz Christian von Rodenstock verfügt leider über keinerlei Tiefgang. Falls doch, dann hält er ihn gut versteckt. So gut, dass er ihn selber nicht finden kann.

»Darf ich die Künstlerin für ein winziges Augenblickerl unterbrechen?«

Es dauert länger. Seine Verehrung. Seine zärtlichsten Gedanken. Seine sehnsuchtsvollen Nächte. Der glückselige Augenblick, wenn wir vor den Altar treten. Die herzigen Kinderlein …

»Ich weiß Ihren Antrag zu schätzen …«

Mein Sprüchlein kennt er seit ungefähr zehn oder elf Jahren. Damals war er noch mittelblond, jetzt ist er graublond. Er hat die fünfzig überschritten, langsam wird’s für ihn Zeit, die reichen Witwen stehen auf knackige Jünglinge. Er seufzt tief, und ich verspüre Mitleid. Allerdings nicht genug, um mich als Opfer anzubieten.

Fast geschafft. Jetzt nur noch Karl-August von Klaffenau, der Prinz von Hessen. Mozart ist für den Typ viel zu schade. Schubert sowieso. Ich mixe mal ein Potpourri aus Wagneropern zusammen, ein bisschen Lohengrin, zwei Prisen Parsifal, ein paar Takte Walküre … Dachte ich’s doch. Beim Walkürenritt öffnet sich die Saaltüre. Hojeteho!

»Welch martialische Klänge, liebste Henni. Darf ich dich ein Minütchen stören?«

Wieso duzt der mich eigentlich? Frechheit!

»Nur herein!«, rufe ich über die Schulter hinweg. »Ich trage sowieso gerade die gefallenen Helden nach Walhall.«

»Wie nett! Von dir würde ich mich überallhin tragen lassen.«

Ich stelle mir vor, wie ich ihn in eine der mittelalterlichen Truhen lege, den Deckel herunterklappe und abschließe. Den Schlüssel ins Klo werfe … Leider muss ich diese angenehme Vorstellung für mich behalten.

Während ich mich meinen Fantasien hingebe, ist er mit leichtem Schritt hinter mich getreten und legt mir seine Hände auf die Schultern. Massiert sanft, gleitet hinüber zu meinem Ausschnitt, steckt seine lüsternen Finger hinein …

Ich drehe mich blitzschnell um und verpasse ihm einen gut sitzenden Schlag mit fromm gefalteten Händen. Dahin, wo es ihm wehtut. Als Pianistin verfüge ich über eine kräftige Armmuskulatur und harte Fingerknöchel.

»So viel zu Ihrem Antrag, verehrter Prinz von Hessen!«

»Du verfickte Dreckshure …«

»Raus!«

Er humpelt von dannen, murmelt dabei weitere Beschimpfungen, die diese Halle sicher seit den Tagen des Mittelalters nicht mehr gehört hat. Damals sollen die Umgangsformen ja noch direkter gewesen sein.

Puh! Diesmal kam’s wieder dicke. Zum Glück scheint Mr. Bond nicht aus Heiratswut, sondern aus anderen Gründen gekommen zu sein. Sonst hätte er nicht seine sommersprossige Lisa-Marie mitgeschleppt. Was die beiden jetzt wohl im Wald miteinander treiben? Na egal – ich wünsche ihnen gutes Gelingen und eine aufgeweckte Truppe beißwütiger Ameisen.

Unbekannt ist er mir nicht. Friedemann Bond unterrichtet in Frankfurt an der Hochschule und ist tatsächlich als »Opernstar-Macher« in Sängerkreisen bekannt. Während meines Musikstudiums in München habe ich sogar mal an einer seiner Sommerakademien teilgenommen, allerdings nur als Zuhörerin. In den erlauchten Kreis der Schüler wurde ich nicht aufgenommen. Wollte ich auch nicht, weil er die armen Schweine in seinem Seminar vorsingen ließ, um sie anschließend in der Luft zu zerreißen. Nun – ich hätte nicht bei ihm Unterricht nehmen wollen. Selbst wenn man es mir bezahlt hätte. Schon damals war mir klar, dass der Typ nicht alle Hühner im Karton hat. Dass er dazu noch an einem ausgewachsenen Verfolgungswahn leidet, wusste ich nicht. Koschinski! Nie gehört von dem Mann. Vielleicht gibt’s den ja gar nicht …

Meine Finger gleiten über die Klaviertasten und spielen Mozart. Einfach so. Sonate A-Dur. A vous dirai-je, Maman … Thema mit Variationen … so einfach, so still und schön, so genial … die kleinen Vorhalte, ein Halbtonschritt, der zur Vollendung zieht …

»He, Sie da! Ja doch, Sie meine ich! Kommen Sie mal her …«

Das ist die Stimme von Friedemann Bond draußen im Hof, die mir gerade Mozarts Melodien versaut. Dass der selber als Opernsänger nichts geworden ist, hört man schon beim Sprechen. Laut und hässlich.

»Sie wünschen, Herr Professor …«

Ach je. Er hat es mit Butzi. Wenn er den ärgert, bekommt er es mit mir zu tun.

»Ist ja recht abgelegen, der alte Kasten, was?«

»Schloss Kerchenstein liegt in der Tat in romantischer Einsamkeit …«

»Am Arsch der Welt …«

»Wie belieben?«

»Am äußersten Rand der Erdenscheibe. Kurz vorm Abkippen.«

Wer hat diesen Widerling eigentlich eingeladen?

»Hab ich dir doch gesagt, Männi«, höre ich Lisa-Maries Piepssopran. »Anita hat es mir geflüstert. Hier sagen sich Fuchs und Hase Gute Nacht.«

Anita? Meint die etwa Mama? Die heißt Aurelia Anita von Kerchenstein, wird aber immer Anita genannt. Ist die sommersprossige Lisa am Ende eine Freundin von Mama?

»Kommen hier Touristen her?«, will Mr. Bond von Butzi wissen.

»Nein.«

»Wird das Schloss vermietet? Filmgesellschaften? Urlauber? Hochzeitler?«

»Nein.«

»Sonst irgendwelche Besucher?«

»Die gnädige Frau wählt ihre Gäste stets sorgfältig aus. Bis auf wenige Ausnahmen hat sie dabei eine glückliche Hand. Entschuldigen Sie mich, ich habe zu tun …«

Das hat gesessen. Butzi ist trotz seiner achtzig Lenze immer noch flott in der Birne.

»Kein Wunder, dass keiner hierherkommt«, sagt Lisa-Marie abfällig. »Voll der Zombie, der Typ. Läuft rum wie ferngesteuert …«

»Umso besser, Schäfchen! Genau das, was wir suchen, oder?«

»Du suchst … Mit mir hat das nichts zu tun, Männi …«

Friedemann Bond stößt ein leichtherziges Lachen aus, Marke Graf Ceprano aus Rigoletto. Diese Opernfuzzis können auch im normalen Leben nur Bühnenlachen, voll auf Resonanz bis hoch in die hohle Birne. Oder in den Bierbauch, wenn einer ein Bass ist.

»Eines Tages bist auch du so weit, mein Kleines …«

Eine Tür knarrt – jetzt gehen sie wohl in den Ostflügel, wo ihre Gästezimmer sind. Ich bleibe am Instrument sitzen, bewege eine Menge Fragezeichen in meinem Kopf und bin froh, als plötzlich Walter in der Halle auftaucht. Er untersucht eine der alten Truhen, kratzt daran herum, weil sich dahinter der Eingang zum Labyrinth der Mäusekolonie befindet, aber zu seiner Enttäuschung bin ich nicht bereit, das Hindernis wegzuschieben. Die Kerchensteiner Mäuslein sind mir lieb und wert, schon als Kind habe ich sie mit geklautem Speck gefüttert. Oma sagt, die Sippe der Mäuse ist mindestens ebenso alt wie die Adelsfamilie von Kerchenstein. Vermutlich sogar älter. Walter niest verärgert, glurrt mich aus grünen Augen an und duckt sich zum Sprung. Er schafft eine geniale Punktlandung auf dem Flügel, das klappt, weil er Schweißfüße hat, die nicht auf dem glatt lackierten Holz rutschen.

»Mein lieber Kater«, sagte ich zärtlich und streiche über sein dickes, blaugraues Fell. »Du stinkst nach Fisch.«

Er lässt sich ein Weilchen streicheln, drückt sich genusssüchtig gegen meine Hand, dann hat er genug und steigt auf die Tastatur hinunter. Läuft eine atonale Melodie vom Diskant hinüber zum Bass, erzeugt ein kleines Cluster beim Absprung und stolziert davon.

Oben im Wintersaal betätigt jemand den Gong. Erste Warnung. Oma erwartet zum Abendbuffet erstens pünktliches Erscheinen und zweitens die passende Kleidung. Oh, Jammer – ich muss mich in Schale werfen!

4. Kapitel

»Meine lieben Freunde, liebe Henriette Sophie, mein lieber Rudolf … Rudolf! … Rudolf! …«

Wir alle schauen zu Onkel Rudi hinüber, der bei Omas Anrede aus seiner eigenen Welt heraus in den Kreis der Geburtstagsgäste geworfen wird.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, liebe Anna«, sagt er hastig. »Du hast doch heute Geburtstag, oder nicht?«

Oma nickt ihm lächelnd zu und fährt in ihrer Rede fort.

»Ich bin beglückt, euch alle auch in diesem Jahr wieder auf Kerchenstein begrüßen zu dürfen, und möchte nicht versäumen, meinen allerherzlichsten Dank …«

Wir sitzen zwanglos auf weichen Klubsesseln, die um den offenen Kamin angeordnet sind, in dem Butzi ein munteres Feuerchen entzündet hat. Es gibt auch ein Sofa, das Bond und Lisa-Marie beschlagnahmt haben. Ich sitze auf einem tunesischen Ledersattel, einem Erbstück jenes reisewütigen Vorfahren, dem wir auch den Hocker in meinem Schlafzimmer zu verdanken haben. Das himmelblaue bodenlange Abendkleid aus Taft zwickt mich am Bauch, weil ich zu viel gegessen habe. Den anderen geht es ähnlich, Ludowiga hat bereits ihren Rock geöffnet, und Wladimirs Westenknöpfe werden gleich zu Wurfgeschossen. Li Yang beherrscht die bodenständigen Taunusgerichte wie kein Zweiter, seine »Grien Soß« mit Tafelspitz, die Rheinfellchen, der »Handkäs mit Mussik« und der Schmandkuchen sind ohnegleichen. Auf Kerchenstein wird – wie bereits erwähnt – die heimische Küche bevorzugt.

Omas Rede zieht sich in die Länge, drüben ist die gute Olga Bereschkowa schon ein wenig eingenickt, Wladimir ertränkt seine Enttäuschung aufgrund des fehlenden Wodkas im Ingelheimer Rotwein. Franz Christian pult sich heimlich die Kräuter der Grünen Soße aus den dritten Zähnen, Karl-August, der Prinz von Hessen, sitzt breitbeinig auf dem Fauteuil und wischt auf seinem Smartphone herum. Was er dort sucht, ist mir ein Rätsel – auf Kerchenstein gibt es kein Netz.

Omas Ansprache endet traditionell mit einem »Hoch« auf ihre Gäste, dem Mandrini ein »Dreifaches Hoch« auf die charmante Gastgeberin folgen lässt. Pauline und Sieglinde eilen mit gefüllten Sektkelchen auf silbernen Tabletts herbei, und nach dem allgemeinen Anstoßen und Hochleben wird Omas Rede von einem der Gäste beantwortet. Heute ist es Conte Mandrini, der macht es zur Freude aller Zuhörer heiter und kurz. In ganz schlimmen Jahren redete Olga, wobei sie einen detaillierten Überblick über ihr Familienschicksal gab, beginnend mit Iwan dem Schrecklichen über Katharina die Große bis hin zum Sturz des russischen Zarenhauses anno 1917. Sie hörte erst auf, wenn der erste Schläfer aus dem Sessel fiel.

Ich küsse meine liebe Oma und setze mich ans Klavier, um rasch ein paar Stücke zum Besten zu geben, bevor Onkel Rudi das Instrument in Beschlag nimmt. Nach Onkel Rudi zu spielen macht wenig Sinn – er ist so großartig, dass mein Geklimper dagegen blass und seelenlos wirkt.

Ich beeindrucke mit Beethoven, spiele die berühmte »Mondscheinsonate« passend zum Ambiente, denn draußen schwimmt ein käsefarbiger Vollmond am Nachthimmel.

Die Zuhörer applaudieren jeder auf seine Weise. Olga und Wladimir fanatisch, Franz Christian von Rodenstock höflich, Ludowiga von Klaffenau gelangweilt, der Prinz von Hessen grimmig. Oma klatscht verhalten, sie hätte es lieber, wenn ich die Musik aufgäbe, um endlich zu heiraten. Lisa-Marie spendet begeisterten Beifall, auch Mr. Bond scheint angetan. Na ja … Am meisten freut es mich, dass Onkel Rudi mir lächelnd zunickt – es hat ihm gefallen. Jetzt bin ich richtig stolz auf mich.

»Wunderbar, wunderbar«, ruft Friedemann Bond mir von seinem Sofa her zu. »Wer hätte gedacht, dass ich hier solch eine großartige Pianistin antreffe? Begleiten Sie auch, liebe Henriette?«

»Zuweilen …«

Klar begleite ich Sänger. Oft sogar. Aber ganz bestimmt nicht für den Widerling Bond. Ich habe keine Lust mit anzusehen, wie er seine Schüler runterputzt.

Lisa-Marie erklärt sich bereit, zu meiner Begleitung eine Händel-Arie zu singen. Zum Glück verhindert es ihr Lehrer – sie habe vorerst Auftrittsverbot. Weil er ihre Gesangstechnik von Grund auf neu aufbauen muss. Ich bin erleichtert und beginne ein Gespräch mit Conte Mandrini über das sommerliche Florenz, wo der Conte einen hübschen kleinen Palazzo besitzt.

»Viel zu heiß«, sagt er und wischt sich die Stirn. »Nur die armen Schlucker und die Touristen laufen im Sommer dort herum. Wer es sich leisten kann, der flüchtet auf seinen Landsitz.«

Die Mandrinis können es sich leisten. Soweit mir Oma erzählt hat, besitzt die Familie verschiedene Landgüter in der Toskana, aber auch in Umbrien. Mandrini ist einer jener vornehmen italienischen Adligen, die zwar märchenhaft reich sind, aber niemals darüber sprechen. Der Conte ist schon über achtzig, seit vier Jahren Witwer und seit gut fünfzig Jahren Omas heißester und treuster Verehrer. Eigentlich könnten die beiden heiraten … Gar keine dumme Idee, vielleicht ließe Ömchen mich dann mit ihren lästigen Ehevermittlungsversuchen in Ruhe …

»Auf keinen Fall«, sagt Oma hinter mir mit Entschiedenheit.

Ich drehe mich um. Aha, sie ist in hitzigem Gespräch mit Mr. Bond.

»Aber, liebe Baronin …«

»Gräfin …«, verbessert Oma kühl.

»Pardon. Gräfin … Eine Woche – was ist das schon? Ich mache Ihnen diesen Vorschlag ja auch nur, weil ich überzeugt bin, eine Mäzenin der schönen Künste vor mir zu haben …«

Oma lässt sich auf keine Schmeicheleien ein. Mir ist klar, dass sie diesen Gesangsfuzzi ebenso wenig mag wie ich. Pauline hat mir verraten, dass es tatsächlich Mama gewesen ist, die ihm diese Einladung verschafft hat. Sie hat behauptet, er sei ein guter Freund von mir. Unfassbar. Warum macht sie solche Sachen?

»Wenn Sie es genau wissen wollen, junger Mann: Schauspieler sind mir aus familiären Gründen ein Gräuel. Und Opernsänger sind auch nichts anderes als singende Mimen!«

»Aber … aber Sie lieben doch die Musik, Frau Ba… Gräfin«, ruft Friedemann aus. »Es gibt, wie ich feststellen konnte, einen hervorragenden historischen Flügel unten im Saal, und hier oben befindet sich ebenfalls ein Instrument. Daher wäre dieser Ort für einen Gesangskurs sozusagen prädestiniert.«

Gesangskurs? Er will auf Kerchenstein einen Gesangskurs veranstalten, der Wahnsinnige? Eine Sommerakademie?

»Schlagen Sie sich das aus dem Kopf, Herr Professor«, sagt Oma mit der ihr eigenen Energie. »Hier in meinem Schloss will ich keine Verrückten haben.«

Jetzt ist Bond beleidigt. Es handele sich um eine kleine Gruppe hochbegabter junger Leute, von denen jeder Einzelne eine große Karriere vor sich habe.

»Wie schön für Sie!«, nickt Oma mit Würde und steht auf, um sich auf die andere Seite des Kamins zu ihrer Freundin Olga zu begeben.

»Mist«, flüstert Lisa-Marie.

Bond sagt nichts, aber er macht den Eindruck, als käme ihm der Handkäs mitsamt der Mussik wieder hoch. Ich bin jetzt neugierig geworden. Wieso will der angesehene Professor Friedemann Bond, der überall in der Welt zu Akademien und Gesangskursen eingeladen wird, seine Meisterschüler ausgerechnet im abgelegenen Kerchenstein unterrichten?

»Ist es vielleicht ein besonderer Gesangskurs?«, erkundige ich mich.

Bonds große Sumpfaugen richten sich fast dankbar auf mich.

»Allerdings, meine Liebe. Es geht um die Teilnehmer für den Wettbewerb der Verdistimmen in Busseto.«

»Aha!«

Busseto ist einer der angesehensten Wettbewerbe für junge Sänger. Meister Verdi wurde im Nachbardorf geboren und fand in Busseto einen Mäzen, der sein Talent förderte.

»Dreizehn Jahre lang, liebe Henriette«, sagt Bond leise, aber mit dumpfer Betonung. »Dreizehn Jahre in Folge haben meine Schüler die Spitzenplätze ersungen. Vor allem meine Tenöre …«

»Und in diesem Jahr?«, forsche ich weiter.

Bond seufzt resigniert. Dafür redet Lisa-Marie, die sich nicht so schnell geschlagen gibt.

»In diesem Jahr sind mehrere Schüler von Männi … von Herrn Bond … angemeldet. Aber nur einer davon ist wirklich ein Phänomen. Der Tenor Basti Poggenpohl wird den Preis holen. Ganz sicher. Nicht wahr, Männi?«

Bond macht eine abwehrende Armbewegung.

»Wozu noch reden?«, sagt er mit Grabesstimme. »Es ist entschieden. Sie will nicht. Lassen wir alle Hoffnung fahren …«