Danzig - Hilke Sellnick - E-Book
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Danzig E-Book

Hilke Sellnick

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Beschreibung

Ihre Zukunft ist ungewiss. Ihr Mut lässt sie nicht aufgeben. Doch ihr Herz folgt seinem eigenen Weg. Die große neue Saga der erfolgreichsten Bestsellerautorin im historischen Genre!

Danzig, 1860: Die junge Johanna Berend steht reumütig vor dem großen Patrizierhaus in der Langgasse. Vor wenigen Monaten ist sie mit einem Pianisten auf und davon – nun will sie zurück in die Arme ihrer Familie. Doch der Schock ist groß, als Johanna erfährt, dass ihr geliebter Vater inzwischen verstorben ist. Ihr Bruder Theodor steht nun der Familie und dem alteingesessenen Handelshaus vor, und ihm ist die freiheitsliebende Schwester ein Dorn im Auge.

Als der gutmütige und deutlich ältere Schiffsbauer Berthold Forster um ihre Hand anhält, ergreift Johanna die Chance, um sich aus der Vormundschaft ihres Bruders zu befreien. An Forsters Seite beginnt sie, sich für Schiffe zu interessieren, und drängt ihren Mann dazu, eine neue Werft zu gründen. Mehr und mehr bringt sie sich in die Führung derselben ein, sehr zum Missfallen von Pawel, Forsters Sohn aus erster Ehe. Doch Johanna ist nicht nur klug, sondern auch mutig genug, um ihre Vision zu verfolgen. Allmählich erkennt auch Pawel, dass er in der jungen Frau eine ebenbürtige Partnerin für die Zukunft der Werft hat – und vielleicht auch mehr …

Der Auftakt einer neuen mitreißenden Reihe, die süchtig macht: Beste Unterhaltung zum Mitfiebern, voller Dramatik und Atmosphäre!

Die große Danzig-Saga im Überblick:

1. Danzig. Tage des Aufbruchs
2. Danzig. Zeiten des Sturms
3. Danzig. Jahre der Freiheit

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Seitenzahl: 720

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Hilke Sellnick begeistert unter anderem Namen seit Jahren Hunderttausende Fans. Ihre historischen Romane stehen immer wieder an der Spitze der SPIEGEL-Bestsellerliste. Mit dem Auftakt ihrer neuen Erfolgsreihe im Penguin Verlag möchte sie ihren Leserinnen und Lesern eine andere Seite von sich zeigen. Im Danzig des 19. Jahrhunderts erzählt sie die mitreißende Geschichte einer jungen Frau, die gegen alle Widerstände eine Werft aufbaut und für ihre Liebe kämpft.

Hilke Sellnick lebt als freie Autorin in der Nähe von Frankfurt am Main.

Danzig, 1860: Die junge Johanna Berend steht reumütig vor dem großen Patrizierhaus in der Langgasse. Vor wenigen Monaten ist sie mit einem Pianisten auf und davon – nun will sie zurück in die Arme ihrer Familie. Doch der Schock ist groß, als Johanna erfährt, dass ihr geliebter Vater inzwischen verstorben ist. Ihr Bruder Theodor steht nun der Familie und dem alteingesessenen Handelshaus vor, und ihm ist die freiheitsliebende Schwester ein Dorn im Auge.

Als der gutmütige und deutlich ältere Schiffsbauer Berthold Forster um ihre Hand anhält, ergreift Johanna die Chance, sich aus der Vormundschaft ihres Bruders zu befreien. An Forsters Seite interessiert sich Johanna zunehmend für den Schiffsbau und drängt ihn zur Gründung einer neuen Werft. Mehr und mehr bringt sich Johanna in die Führung der Werft ein, sehr zum Missfallen von Pawel, Forsters Sohn aus erster Ehe. Doch Johanna ist nicht nur klug, sondern auch mutig genug, um ihre Vision zu verfolgen. Allmählich erkennt auch Pawel, dass er in der jungen Frau eine ebenbürtige Partnerin für die Zukunft der Werft hat – und vielleicht auch mehr …

Der Auftakt einer neuen mitreißenden Reihe: Beste Unterhaltung zum Mitfiebern, voller Dramatik und Atmosphäre!

Hilke Sellnick

Tage des Aufbruchs

Roman

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Copyright © 2023 by Hilke Sellnick

Copyright © 2023 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Ulrike Strerath-Bolz

Karten: Peter Palm

Umschlaggestaltung: Favoritbüro

Umschlagmotiv: ©Arcangel Images /Abilgail Miles;

©Bridgeman Images / United Archives / Carl Simon;

©Shutterstock / Evannovostro

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-28606-4V001

www.penguin-verlag.de

Johanna

Oktober 1860

Sie ist von ihrem Sitz aufgesprungen, um besser aus dem Zugfenster schauen zu können. Zuerst sieht sie nur eine flache graue Linie am Horizont, aus der die Kirchtürme wie Stacheln hervorstehen. Aber bald lässt die Herbstsonne die Farben aufleuchten: dunkelroter Backstein, weiße Fassaden und das schimmernde Blau der Mottlau, die die Speicherinsel umarmt. Ach, die Marienkirche mit dem dicken, kantigen Turm, der keine Spitze hat. Und gleich daneben das zierliche, schlank aufragende Türmchen des Rathauses …

»Nun nehmen Sie man wieder Platz, Fräulein Berend! So schön ist das alte Danzig auch wieder nicht, dass Sie die ganze Zeit am Fenster stehen müssen!«

Lachend wendet sie sich zu ihrem Mitreisenden, mit dem sie schon seit dem Umsteigen in Dirschau in eifrigem Gespräch ist. Ein wohlbeleibter älterer Mann mit gutmütigen Zügen, der sich ihr als Berthold Forster, Besitzer einer Schiffbauwerkstatt, vorgestellt hat.

»Danzig ist die schönste Stadt der Welt, Herr Forster!«, ruft sie aus. »Ich kann mich gar nicht sattsehen an all den lieben alten Häusern, den Kirchtürmen, dem Gespinst der Masten und Segel auf der Mottlau und den grünen Gärten und Wäldern rings um die Stadt.«

Sie muss sich rasch festhalten, weil der Zug ruckelt. Die Lokomotive pfeift schrill, graue Rauchschwaden ziehen für einen Moment am Fenster vorüber. Schon wieder ein Fuhrwerk, das gemächlich und ohne Rücksicht auf die nahende Eisenbahn über die Gleise rumpelt!

»Die schönste Stadt der Welt«, meint Herr Forster und wiegt zweifelnd den Kopf. »Das wundert mich, dass Sie das sagen, Fräulein Berend. Wo Sie doch so viele berühmte Orte und Länder gesehen haben.«

Sie hat ihm erzählt, dass sie ganz Europa bereist hat. Was ja der Wahrheit entspricht. Die näheren Umstände dieser Reisen hat sie allerdings etwas abgewandelt: Angeblich war sie mit einer lieben Freundin und deren Eltern zu einer Bildungsreise unterwegs. Ihre Begleiter sind auf der Hauptstrecke weiter nach Königsberg gefahren, da sie aber in Danzig zu Hause ist, musste sie in Dirschau umsteigen und legt nun das letzte Stück der Reise allein zurück. Das hat er ihr ohne Weiteres geglaubt, und weil es ungewöhnlich ist, dass ein junges Mädchen ganz allein unterwegs ist, hat er ein wenig die Vaterrolle übernommen. Es hat ihr leidgetan, ihn anzuschwindeln, weil er ein liebenswerter, offener Mensch ist und sie gleich Vertrauen zu ihm gefasst hat. Aber gerade deshalb kann sie ihm auf keinen Fall die Wahrheit sagen.

»Ach, es liegt sicher daran, dass ich nach so langer Zeit endlich wieder nach Hause komme«, meint sie lächelnd.

»Das verstehe ich gut«, sagt er und nickt ihr zu. »In der Heimat ist es doch immer am schönsten, nicht wahr? Man sagt doch auch: Ost oder West – Heimat am best.«

»Genauso ist es«, gibt sie zurück und setzt sich nun doch wieder auf ihren Platz. Nach Hause kommen. In das alte Patrizierhaus in der Langen Gasse, aus dem sie vor einem halben Jahr heimlich im Morgengrauen davongeschlichen ist. Ausgerissen ist sie! Auf und davon. Gegen den Willen der Familie einfach weggelaufen. Freilich, sie hat einen Brief an Papachen hinterlassen und alles erklärt. Aber dennoch …

Auf einmal ist ihre Begeisterung dahin, und die Bedenken gewinnen wieder die Oberhand. Wie wird man sie daheim empfangen? Oh, sie wird sich einiges anhören müssen. Papachen ist streng, er wird zornig auf sie sein, laut werden, Strafen verhängen. Aber schließlich, wenn sein Zorn verraucht ist, wird er sie in seine Arme schließen. Weil sie ja sein Lieblingskind ist. Sein kleines Mädchen. Seine Johanna. Das Hannchen.

Man hört das gellende Pfeifen der Lokomotive, die nun die Fahrt verlangsamt, um in den Danziger Bahnhof einzufahren. Es ruckelt wieder stark, sodass sie beinahe auf ihren Mitreisenden geschleudert wird. Vorn im Wagen kreischt eine Dame:

»Mein Hut! Meine Frisur!«

»Nun reg dir nich uff, Liebling. Hier ist dein Hut, heil und janz«, antwortet eine männliche Stimme.

»Heil und janz? Vollkommen hin ist der! Det is doch ein Teufelswerk, die Eisenbahn!«, stöhnt die Dame und zupft den zerdrückten Hut zurecht. »Allein schon det Tempo, da wird einem janz schwindelig, wenn man aus dem Fenster kiekt. Und der Gestank nach Dreck und Rauch. Det muss doch unjesund für die Lunge sein.«

»Dafür legen wir mehr als sechzig Kilometer in der Stunde zurück, mein Engel. Det soll uns ne Postkutsche erst mal nachmachen.«

Johanna hört zerstreut zu und fasst den Griff ihrer Reisetasche. Die kommen bestimmt aus Berlin, wahrscheinlich ist er ein preußischer Beamter, der eine Stelle in Danzig antritt. Die Stadt steht ja leider unter preußischer Oberhoheit und beherbergt jede Menge preußischer Beamten, Offiziere und Soldaten. Papachen hat oft darüber geschimpft. »Wo sind die Danziger?«, hat er gefragt. »Man sieht nur noch Fremde in den Straßen.«

Als der Zug jetzt in den Danziger Bahnhof einfährt und das ohrenbetäubende Kreischen der Bremsen alle anderen Geräusche übertönt, bekommt sie plötzlich heftiges Herzklopfen. Dort drüben auf dem Bahnsteig hat sie im Morgengrauen gestanden und auf Andrzej gewartet. Fast vergangen ist sie vor Angst, er könnte vielleicht gar nicht kommen, hätte sie belogen, sich über sie lustig gemacht. Wenige Minuten bevor der Zug abfuhr, ist er dann endlich erschienen, in einem grau karierten Reisemantel und grauem Zylinder, zwei Hoteldiener mit mehreren Koffern im Gefolge. Sie ist ihm entgegengeflogen, ganz atemlos vor Glück, aber er hat sie nur für einen Moment in die Arme genommen und sich dann um das Verladen seiner Koffer gekümmert. Weil da seine Noten drin waren. Und auch das »Reiseklavier«, das Tasten wie ein Klavier hat, aber keine Töne macht. Warum hat sie nicht schon da gemerkt, was er für einer ist? Ach, wie dumm sie gewesen ist!

Sie wartet, bis die übrigen Reisenden ausgestiegen sind. Es sind wenige, weil der Zug nur zwei Waggons für Passagiere angehängt hat, die anderen sind Güterwagen. Am Bahnsteig stehen schon die Kaufleute und ihre Angestellten mit ihren Handwagen, um die Waren abzutransportieren; drüben auf der anderen Seite warten ihre Fuhrwerke.

Als sie den weiten Rock vorn zusammennimmt, um leichter aussteigen zu können, reicht der freundliche Herr Forster ihr die Hand. »Darf ich Sie ein Stück begleiten, Fräulein Berend?«, bietet er sich an. »Ich wohne oben in der Paradiesgasse beim Jakobstor, da haben wir den gleichen Weg.«

Sie lehnt dankend ab. Das letzte Stück bis nach Hause will sie allein gehen. Es ist kein leichter Gang, und sie muss darüber nachdenken, was sie sagen wird. Das hat sie während der langen Reise zwar schon unzählige Male durchgespielt, aber jetzt, da sie die altbekannten Häuser und Straßen wiedersieht und den Geruch der Stadt atmet, kann sie sich plötzlich an keines der so klug ausgedachten Worte erinnern. Sie verabschiedet sich eilig und wartet, bis Forster davongegangen ist. Dann läuft sie am neuen Zeughaus vorbei und am Fluss entlang, um ihm nicht noch einmal zu begegnen. Es ist jede Menge Volks unterwegs, Fischer, Seeleute, Arbeiter und Dienstmägde kreuzen ihren Weg, längs der Häuser haben kleine Händler ihre Stände aufgebaut und bieten alle möglichen Waren und Lebensmittel an. Dazwischen hocken Bettler und Krüppel und halten den Vorübergehenden die schrundigen Hände entgegen. Johanna achtet nicht auf sie.

»Da bin ich wieder, Papachen«, murmelt sie vor sich hin. »Es war eine große Dummheit, aber du sagst doch immer: Aus Erfahrung wird man klug. Nun bin ich klug geworden, und ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, dass ich von nun an …«

Nein, denkt sie und bleibt stehen. Es ist besser, ich schweige und lasse ihn reden. Schwören kann ich dann immer noch. Sie schaut in den Fluss, der jetzt nicht mehr blau im Sonnenlicht glitzert, sondern schmutzig und träge dahinfließt. Kreischende Möwen streichen über das Wasser, streiten sich um ein paar Happen, die ein Fischer aus dem Boot wirft. Die Gebäude drüben auf der Speicherinsel kommen ihr noch hässlicher und verfallener vor als früher. Kleine Küstensegler und Fischerboote liegen am Kai – die großen Handelsschiffe meiden Danzig, die Mottlau versandet immer mehr, was für die Schifffahrt und den Handel schlimm ist. Sie fasst den Griff der Reisetasche fester und schreitet entschlossen voran. Wenn sie es nur schon hinter sich hätte.

Ach, es ist gut, dass Mama das nicht mehr erleben muss, sie hätte sich die Augen aus dem Kopf geweint. Und der Rest der Familie? Theodor, der ältere Bruder, wird wohl ewig wütend auf sie sein, er ist ein engstirniger, kleinkarierter Mensch, mit dem sie sich nie verstanden hat. Aber Ernst, ihr Herzensbruder, der immer auf ihrer Seite ist, der wird ihr vergeben und zu ihr halten.

Am Buttermarkt geht sie in die Altstadt hinein und merkt sofort, dass sie angestarrt wird. Ist das nicht Friederike Blott, mit der sie zur Schule gegangen ist? Johanna lächelt ihr zu, doch die blonde junge Frau wendet sich rasch ab und geht ihres Weges. War sie es doch nicht? Oder wollte sie sie nicht erkennen? Johanna hilft sich mit Zorn über die Beklommenheit hinweg. Was bildet die sich ein? Immerhin ist sie eine Berend, also nicht irgendwer. Auch wenn sie eine Dummheit gemacht hat – sie gehört einer der angesehensten Familien in Danzig an, man hat sie zu respektieren.

Da ist der Lange Markt mit dem ehrwürdigen Rathaus, dem Artushof und den hohen, fünfstöckigen Patrizierhäusern, die vom Reichtum der Stadt zu Zeiten der Hanse erzählen. Alles ist so geblieben, wie es immer gewesen ist, nur dass an den Linden, die die breite Straße schmücken, schon ein paar gelbe Blätter zu sehen sind. Noch ein paar Schritte in die Lange Gasse hinein, an den Beischlägen vorbei, den niedrigen Vorbauten der Häuser, wo man am Abend so angenehm sitzen und die Vorübergehenden grüßen kann. Dann ist sie am Ziel.

Das Berend’sche Haus ist zur Straße hin nicht breiter als die übrigen Gebäude; rechts und links der Eingangstür gibt es je ein Fenster. Dafür ist es von oben bis unten mit Figuren und Medaillons aus weißem Stuck überzogen, und der Beischlag, zu dem fünf Stufen hinaufführen, ist von einem kunstvoll geschmiedeten Geländer umgeben.

Sie holt noch einmal tief Luft, um das Herzklopfen zu dämpfen, das sich jetzt zu einem wahren Trommelwirbel gesteigert hat. Nur Mut, sagt sie sich. In zwei, drei Tagen ist es überstanden, dann sieht die Welt wieder anders aus.

Der schwere Türklopfer aus Messing erzeugt einen dumpf dröhnenden Klang, der ihr heute besonders laut erscheint.

Danuta öffnet die Tür zunächst nur einen Schlitz breit und schaut hindurch. Johanna kann die ungläubig blickenden Augen des polnischen Hausmädchens sehen, den vor Verblüffung halb offenen Mund. Dann hört sie den leisen Aufschrei: »Jesus Maria!«

»Stell dich nicht so an, Danuta«, sagt sie. »Mach auf. Ich bin wieder da.«

Danuta zieht die schwere Haustür weiter auf und tritt zurück. Ihr Gesicht drückt immer noch Erschrecken aus, in das sich jetzt ein Quäntchen Mitleid mischt. Danuta ist ein liebes Mädchen, sie ist jung und nimmt am Geschehen des Hauses Berend Anteil, als wäre es ihre eigene Familie.

»Gnädiges Fräulein«, sagt sie. »Ich bin ganz durcheinander. So plötzlich. Geben Sie mir die Reisetasche … Müde sehen Sie aus. Ich sage gleich Frau Döppel, dass sie einen Imbiss richten soll …«

Frau Döppel ist die Wirtschafterin, die nach Mamas Tod eingestellt worden ist. Johanna mag sie nicht, weil die klein gewachsene, kräftige Person so ungewöhnlich herrisch auftritt. Die ist also immer noch da.

»Lass nur, Danuta. Da – nimm das Schultertuch. Sei vorsichtig damit, es ist in Paris gekauft. Die Tasche stellst du in mein Zimmer, ich packe sie selber aus. Ist Papachen im Kontor? Du musst mich nicht anmelden, ich gehe so hinein.«

Doch anstatt mit Schultertuch und Tasche die Treppe zu den Wohnräumen der Familie hinaufzusteigen, bleibt Danuta ratlos am Treppenfuß stehen. Die Diele des alten Hauses ist hoch und eindrucksvoll, ein Schachbrettmuster aus Marmorstein bedeckt den Boden, an der Decke schaut ein Ölgemälde, von kunstvoll geschnitzten Holzornamenten umgeben, auf den Besucher herab. Ach, der große alte Schrank, den der Ahnherr einst erworben hat – er ist Johanna so vertraut, als kleines Mädchen ist sie daruntergekrochen, um sich vor der Erzieherin zu verstecken. Die Geschäftsräume befinden sich im Erdgeschoss. Dort hinter der dicken Eichentür sitzt Papachen an dem schweren geschnitzten Schreibtisch und ahnt nicht, dass sein Hannchen ihm gleich in die Arme fliegen wird.

»Ihr Bruder Theodor ist im Kontor, gnädiges Fräulein«, sagt Danuta leise. »Und ich glaube, es ist doch besser, wenn ich Sie anmelde.«

»Theodor?«, sagt sie unwillig. »Nein, bei dem brauchst du mich nicht anzumelden. Ist Papachen unterwegs? Dann gehe ich hinauf zu Ernst.«

Danuta beißt sich auf die Lippen. Die Rückkehr der »verlorenen Tochter« scheint sie vollkommen ratlos zu machen.

»Ihr Bruder Ernst ist nicht hier, gnädiges Fräulein. Er ist in Königsberg, um zu studieren.«

Eigentlich eine gute Nachricht, da hat Papachen wohl endlich nachgegeben und ihrem Bruder Ernst ein Studium erlaubt. Trotzdem ist es schade, dass er fort ist. Gerade jetzt wäre sie sehr froh gewesen, ihn zu sehen.

Danuta ist inzwischen zu einem eigenmächtigen Entschluss gekommen. Sie dreht sich um, öffnet die Tür zu den Geschäftsräumen und verschwindet in dem langen, dämmrigen Flur, von dem mehrere Räume abgehen.

»Wo willst du hin, Danuta?«, ruft Johanna ihr unwillig nach.

Sie erhält keine Antwort. Ärgerlich steigt sie die Treppe zu den Wohnräumen hinauf, schaut unschlüssig durch das Fenster in den Innenhof hinab, wo sich Knöterich und wilder Wein emporranken. Vielleicht ist Papachen ja drüben im Nebenhaus, in dem die Waren gelagert werden und das sich bis zur Jopengasse erstreckt. Ja, gewiss. Danuta ist zu ihm gelaufen, um ihm die gute Nachricht zu überbringen.

Unten im Kontor wird eine Tür zugeworfen. Gleich darauf vernimmt sie die Stimme ihres Bruders Theodor, die hart und schneidend durch das Haus hallt.

»Johanna?«

Es hilft nichts, sie muss hinunter, es wäre albern, sich vor ihm zu verstecken. Soll er doch ruhig seinen Ärger über sie ausschütten, zu sagen hat er nichts, Papachen wird gleich hier sein, Danuta holt ihn herbei.

Theodor ist schwarz gekleidet, was sein Gesicht noch blasser erscheinen lässt. Die kräftige Nase tritt hervor, die Augen sind von buschigen dunkelblonden Brauen überwölbt. Er bleibt einen Moment stehen und schaut sie schweigend an. Nichts in seinen Zügen zeigt eine innere Bewegung – Johanna kennt das an ihrem älteren Bruder, man weiß nie, woran man mit Theodor ist.

»Guten Tag«, sagt Johanna so unbefangen, wie es ihr möglich ist. »Da bin ich wieder.«

»Das sehe ich. Komm ins Kontor.«

»Ich warte lieber auf Papachen.«

Er starrt sie an. Jetzt verrät er sich doch, denn sie sieht, wie sich sein Unterkiefer bewegt. Er beißt die Zähne zusammen, ihr zorniger Bruder.

»Ins Kontor, Johanna«, befiehlt er. »Ich habe dir etwas mitzuteilen.«

Er wartet nicht auf sie, sondern geht voraus und verschwindet hinter der Eichentür. Widerwillig entschließt sie sich, ihm zu folgen. Ach, wie ärgerlich. Nun wird Bruder Theodor ihr gleich zu Anfang eine Predigt halten. Sie hat sich ihre Heimkehr anders vorgestellt.

Das Handelskontor ist geräumig, es geht auf den Innenhof hinaus, an den hohen, mit vielen Glasscheiben versehenen Fenstern ranken sich grünende Zweige. Trotzdem wirkt der Raum düster, was an der aufwendigen Wandvertäfelung aus dunklem Eichenholz und an den reich verzierten, schweren Möbeln liegt. Theodor hat am Schreibtisch des Vaters gearbeitet, dort liegen mehrere aufgeklappte Geschäftsbücher, in die er verschiedene Posten eingetragen hat. Wieso darf er das? Hat Papachen ihm etwa gestattet, seinen Schreibtisch zu benutzen?

»Falls du beabsichtigst, mir Vorhaltungen zu machen«, sagt sie keck. »Ich werde nur Papachen Rede und Antwort stehen.«

»Das wird nicht möglich sein«, sagt er mit eisiger Ruhe. »Unser Vater ist vor drei Monaten verstorben.«

Johanna ist nicht in der Lage, den Sinn dieser Worte zu erfassen. Die Wucht der Nachricht trifft sie hart. Verstorben? Papachen? Das ist doch ganz und gar unmöglich! Väter sterben doch nicht so einfach. Sie leben ewig. Papachen kann gar nicht verstorben sein.

»Die näheren Umstände seines Ablebens soll dir Luise schildern«, fährt Theodor fort. »Wir haben unseren Vater unter großer Anteilnahme aller Menschen, die ihm nahestanden, auf dem Hagelsberg im Berend’schen Familiengrab beigesetzt. Seitdem führe ich die Geschäfte.«

Ihr Kopf ist dumpf, sie muss sich an einem der vollbeladenen Aktenschränke festhalten. Es ist wahr. Sie hat ihren Vater verloren. Ihren strengen, gütigen, liebevollen Vater, an den sie während der vergangenen Monate so oft und voller Sehnsucht gedacht hat. Verzweifelte Reue steigt in ihr auf. Sie war nicht bei ihm, als er die Augen geschlossen hat. Nie wird er erfahren, dass sie zurückgekommen ist, nie mehr kann sie ihn um Verzeihung bitten. Und niemals wieder wird er sie in seine Arme nehmen.

Ihr Bruder beobachtet die Wirkung seiner Worte mit kalter Befriedigung. Er schreitet zum Fenster und schließt den offen stehenden Fensterflügel, bleibt dort stehen und kreuzt die Arme vor der Brust.

»Unser Vater starb an einem Herzleiden, das ihm schon seit einiger Zeit zu schaffen machte. Deine unbedachte Flucht, die unserer Familie gegenüber eine unfassbare Rücksichtslosigkeit darstellte, hat seine Krankheit verschlimmert. Um nicht zu sagen: Sie hat ihm den Rest gegeben und seinen verfrühten Tod verursacht!«

Den letzten Satz spricht er mit erhobener Stimme, dann dreht er sich zur Seite und nimmt auf dem Schreibtischsessel Platz. Papachens Sessel, der nun ihm gehört. Johanna ist so am Boden zerstört, dass sie nicht antworten kann. Es ist ihre Schuld! Papachen ist vor Kummer gestorben, weil sie weggelaufen ist.

»Nachdem du die Familie zum Gespött der ganzen Stadt gemacht hast, bist du nun also zurückgekommen, um im Hause Berend unterzuschlupfen«, fährt Theodor unbeeindruckt fort. »Nun – es wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben, als dich aufzunehmen.«

Plötzlich wird ihr klar, dass sie ihm ausgeliefert ist. Papachen ist nicht mehr da, Theodor ist als ältester Sohn an seine Stelle getreten. Sie ist mit ihren zweiundzwanzig Jahren noch nicht volljährig, ihr Bruder ist ihr Vormund, sie hat sich seinem Diktat zu fügen.

»Ich … ich werde dir ganz sicher nicht lange zur Last fallen«, sagt sie trotzig. »Früher oder später werde ich heiraten, dann seid ihr mich los.«

Er lässt die Bemerkung unkommentiert, aber um seinen Mund ist ein spöttischer Zug zu sehen. Glaubt er nicht, dass sie einen Ehemann finden wird? Sie ist hübsch und außerdem eine Berend, es hat schon einige Anfragen aus befreundeten Familien gegeben, die Papachen jedoch alle abgelehnt hat. Der Mann, der sein Hannchen einmal heiraten durfte, musste etwas ganz Besonderes sein. Zumal sie eine beträchtliche Mitgift mit in die Ehe bringt.

»Kommen wir zu den geschäftlichen Dingen«, fordert Theodor. »Du hattest die Unverschämtheit, bei deiner nächtlichen Flucht die Summe von fünfzig Talern aus der Kasse zu entwenden.«

Das ist leider wahr. Schließlich wollte sie nicht ganz und gar von Andrzej abhängig sein, ein wenig Geld im Portemonnaie war ihr vernünftig erschienen.

»Das Geld habe ich mir geliehen und werde es zurückzahlen«, sagt sie hastig. »Das stand auf dem Zettel, den ich in die Kasse gelegt habe.«

»In der Tat«, sagt er und nimmt ein zusammengefaltetes Blatt zur Hand, entfaltet es und überfliegt die wenigen, rasch hingeworfenen Zeilen.

»Die Zinsen, die eigentlich fällig wären, will ich dir erlassen«, sagt er. »Wann gedenkst du, das Geld zurückzuzahlen?«

Sie hat noch eine kleine Reserve von knapp zehn Talern zurückbehalten. Andrzej hat sich großzügig gezeigt, er hat alles bezahlt, ihr Geschenke gemacht und ihr auch das Geld für die Heimreise gegeben. Er kann es sich leisten, da er grandiose Honorare für seine Auftritte erhält.

»In den kommenden Wochen«, behauptet sie kühn.

Ihr Bruder nimmt sie beim Wort und macht eine Notiz im Kassenbuch. Wie pingelig er ist! Papachen war auch genau, wenn es um Geschäfte ging, aber in familiären Dingen ist er großzügig gewesen.

»Du wirst jetzt auf dein Zimmer gehen«, sagt er und klappt das Kassenbuch zu. »Danuta wird dir die Mahlzeiten dort servieren. In den kommenden Wochen wirst du dich ausschließlich im Haus aufhalten und meinen Anweisungen folgen.«

»Ich möchte auf den Friedhof zu Papachens Grab gehen«, sagt sie beklommen. »Das kannst du mir nicht verwehren.«

»Später. Wenn es sich ergibt.«

Damit wendet er sich wieder seiner Arbeit zu und achtet nicht mehr auf sie. Unschlüssig steht sie da und sieht ihm zu, wie er Geschäftsbücher öffnet und wieder zuklappt, Eintragungen macht, Dokumente zurate zieht und dabei Papachens Federhalter und sein Tintenfass aus gelbem Bernstein benutzt. Sie ist zu niedergeschmettert, um mit ihm zu streiten. Stumm geht sie zur Tür und verlässt das Kontor, steigt die Treppe hinauf, ohne recht zu wissen, was sie nun anfangen soll. Warum kommt ihr dieses Haus, nach dem sie solch schreckliches Heimweh gehabt hat, auf einmal so düster vor? Ach, es ist wohl die dunkle Wandvertäfelung, die alles Licht schluckt. Die schweren Vorhänge vor den kleinen Fenstern. Das Knarren der alten Holzdielen unter ihren Füßen.

Im Flur des ersten Stockwerks bleibt sie stehen, weil Danutas Stimme aus dem Wohnzimmer zu vernehmen ist. Wie es scheint, erzählt sie der Schwägerin Luise die große Neuigkeit, dass Johanna zurückgekehrt ist. Johanna erinnert sich, dass Luise schwanger war, als sie Danzig verließ, da müsste das Kind wohl inzwischen geboren sein. Sie entschließt sich, leise an die Tür zu klopfen und Luise zu begrüßen. Vermutlich ist sie noch von der Geburt geschwächt, sie ist ja nicht die Kräftigste, deshalb hat sie während der beginnenden Schwangerschaft oft zu Bett liegen müssen.

»Herein!«

Wie erwartet klingt Luises Stimme schwach, es ist fast nur ein Flüstern. Danuta ist herbeigelaufen, um die Tür zu öffnen, sie bleibt daneben stehen und behält den Türknauf in der Hand.

Luise liegt auf dem Sofa, ein Kissen im Rücken, eine Decke über sich gebreitet. Man sieht von ihr nur das blasse Gesicht, das durch die weiße Spitzenhaube noch fahler erscheint, die schmalen Schultern und die bläulichen Hände. Die großen hellblauen Augen sind beinahe angstvoll auf Johanna gerichtet.

»Guten Tag, Luise«, sagt Johanna eingeschüchtert. »Ich hoffe, es geht dir gut. War die Geburt sehr anstrengend?«

Luise schließt für einen Moment die Augen, und Johanna begreift, dass sie etwas Ungeschicktes gesagt hat. Ach herrje! Luise hat in den vergangenen Jahren zwei Fehlgeburten gehabt. Am Ende ist es dieses Mal wieder schiefgegangen.

»Ich erhole mich langsam«, sagt Luise. »Wie kommt es, dass du so unvermittelt nach Danzig zurückkehrst?«

»Ich … Ich habe eingesehen, dass es eine große Dummheit war«, erklärt Johanna kurz und knapp.

»Eine Dummheit … soso …«, flüstert Luise mit einem Anflug von Spott. »Nun – es geht mir heute nicht gut, lass mich bitte allein.«

»Natürlich … Gute Besserung.«

Auf dem Weg in den zweiten Stock, wo sich ihr Zimmer befindet, ist Johanna von widersprüchlichen Gefühlen geplagt. Also hat Luise wieder eine Fehlgeburt gehabt. Das ist schlimm und scheint sie arg mitgenommen zu haben, vor allem weil Theodor auf einen Stammhalter hofft. Aber deshalb braucht sie nicht so unfreundlich zu sein und sie gleich wegzuschicken. Schließlich ist es nicht ihre Schuld, dass die Schwägerin keine Kinder in die Welt setzen kann.

Sie findet ihr Zimmer abgeschlossen, der Schlüssel steckt im Schloss, es knirscht, als sie ihn bewegt, und sie hat Mühe, ihn zu drehen. Ein muffiger Geruch schlägt ihr aus dem kleinen Raum entgegen – kein Wunder, hier ist vermutlich ein halbes Jahr lang nicht mehr gelüftet worden. Rasch geht sie zum Fenster, reißt die Vorhänge zurück und öffnet die Fensterflügel. Auch das gelingt erst nach einigen Versuchen, denn beim Fensterbrett ist Regenwasser eingedrungen und hat das Holz aufquellen lassen. Aufatmend lehnt sie sich hinaus und schaut in den Innenhof hinunter, wo die Spatzen fröhlich im Weinlaub herumhüpfen und sich um die kleinen schwarzen Beeren streiten. Sie sind die Einzigen, die dort unten lärmen; im Nebenhaus, wo die Handelswaren gelagert sind, scheint sich nichts zu tun.

Es klopft an der Tür. Danuta bringt Tuch und Reisetasche, dann geht sie hinaus und kehrt mit einem Tablett zurück. Darauf stehen ein Becher mit Kaffee und ein Teller, auf dem eine Scheibe Brot, etwas Butter und zwei Stückchen Mettwurst liegen.

»Bitte sehr!«, sagt sie und knickst. »Wasser zum Waschen bringe ich gleich.«

Das alte Himmelbett ist frisch bezogen, aber auf Vertiko und Schrank liegt eine dicke Staubschicht, und in den Vorhängen des Betthimmels hat sich eine fleißige Spinne eingenistet. Johanna setzt sich auf den geschnitzten Stuhl und spürt, wie der Schmerz in ihr wächst und sie ganz und gar vereinnahmen will. Papachen lebt nicht mehr. Niemand wird sie in die Arme nehmen und trösten. Das Elternhaus hat seine Seele verloren. Papachen, ihr geliebtes Papachen, liegt auf dem Hagelsberg in der kalten Erde begraben.

Auguste

Im Haus des preußischen Rittmeisters von Kleiwitz scheint die Morgensonne heute nur zögerlich in die Fenster des Speisezimmers. Wolken ziehen am Himmel in rascher Folge vorüber, ein kühler Wind kündigt den Herbst an. Das Hausmädchen bringt den Kaffee auf einem silbernen Tablett und stellt die Kanne auf das Stövchen aus Meißner Porzellan. Dann zieht sie sich leise zurück, da die Herrschaften ins Gespräch vertieft sind.

»Woher weißt du das?«

»Anton hat es mir erzählt, mein Herz. Er hat es heute früh am Brunnen von dem Hausmädchen der Blotts erfahren.«

Auguste von Kleiwitz ist über die unerwartete Neuigkeit so erschrocken, dass sie die Kaffeekanne, aus der sie ihrem Ehemann gerade einschenken wollte, wieder auf das Stövchen setzt. Die junge Ehefrau ist eine lebhafte Person, immer in Bewegung, stets auf dem Sprung, und nur selten fehlen ihr die Worte. Diese Nachricht lässt sie allerdings für einige Sekunden verstummen.

»Du weißt ja, mein Herz, dass die Domestiken am Brunnen stets die neuesten Nachrichten über ihre Herrschaft austauschen«, fügt Klaus von Kleiwitz hinzu.

Auguste hat die Schreckensstarre inzwischen überwunden. Während sie den Kaffee eingießt, stellt sie nun eine Frage nach der anderen, die ihr Ehemann ernsthaft und nach bestem Wissen beantwortet. Das Ergebnis ist jedoch mehr als lückenhaft und lässt beide in größter Besorgnis zurück.

»Mein liebes, armes Hannchen«, stöhnt Auguste und fährt sich mit der Hand über die Stirn. »Ich bin vor allem glücklich, dass sie heil und gesund wieder zurück ist. Das ist das Wichtigste, Klaus. Alles andere wird sich fügen. Mein Gott, ich werde noch heute zu ihr gehen, um ihr zu versichern, dass ich ihr nichts nachtrage. Das arme Mädchen! Sie hat gewiss nichts vom Tod ihres Vaters gewusst. Sie wird am Boden zerstört sein. Und dazu ist sie jetzt diesem unangenehmen Menschen, diesem geizigen Kleinkrämer ausgeliefert. Habe ich dir erzählt, dass Theodor Berend keinen Pfennig für das Waisenhaus gespendet hat, obgleich ich die liebe Luise seinerzeit herzlich darum gebeten habe, auf ihren Ehemann einzuwirken?«

Klaus von Kleiwitz widmet sich lächelnd seinem Frühstücksei, ohne den Redefluss seiner Eheliebsten zu unterbrechen. Er mag es, wenn sie mit rosig glühenden Wangen und leuchtenden Augen vor ihm sitzt und sich für eine Sache begeistert. So hat er sie damals im Hause ihrer Eltern auf dem Gutshof in Brandenburg zum ersten Mal gesehen und sich auf der Stelle in dieses blonde, ein wenig mollige Energiebündel verliebt. Er selbst ist in allem das Gegenteil seiner hübschen Auguste – ein hochgewachsener, überschlanker Mensch, pflichtbewusster Offizier und von ernsthafter Gemütsart. Man hat ihn dazu erzogen, Gefühlsdinge nicht zum Gegenstand eines Gesprächs zu machen, sondern sich an Tatsachen zu halten, die knapp und sachlich abgehandelt werden sollten. Diese Eigenschaft paart sich ausgezeichnet mit Augustes Überschwang, den er von Zeit zu Zeit durch freundlich gehaltene Bemerkungen in die rechte Richtung zu lenken weiß.

»Nun – du solltest nichts übereilen. Du weißt ja, in welche Verlegenheit uns deine Freundin Johanna Berend vor einem halben Jahr gebracht hat«, wirft er ein, als Auguste für einen Moment innehält, um in ihr Brötchen zu beißen.

»Ach, dieser haltlose, gewissenlose Mensch«, ruft sie und muss einen Schluck Kaffee nehmen, weil sie sich verschluckt hat. »Ich wünschte wirklich, ich hätte ihn niemals zu meinem Salon eingeladen. Aber natürlich – alle meine Freundinnen waren ganz verrückt danach, den weltberühmten Pianisten Andrzej Zalewski zu hören und vor allen Dingen: ihn zu sehen. Was bedeutet, ihm zu Füßen zu liegen, ihn anzuschmachten und dabei in Ohnmacht zu fallen. Oh, wenn ich geahnt hätte, was für ein Unglück dieser abscheuliche Kerl über mein liebes Hannchen bringen würde – ich hätte ihm niemals unser Haus geöffnet!«

»Das konntest du nicht ahnen, Liebes«, wirft ihr Ehemann ein. »Umso ärgerlicher war es für uns, als bekannt wurde, dass Johanna Berend diesen Herrn ausgerechnet in deinem Salon kennengelernt hat.«

Tatsächlich hat es sogar Gerüchte gegeben, dass sich Auguste von Kleiwitz bei dieser Geschichte als Kupplerin betätigt hätte, indem sie den beiden heimliche Treffen ermöglichte. Was keineswegs der Wahrheit entsprach, aber Ernst von Kleiwitz ein ernsthaftes Gespräch mit seinem vorgesetzten Offizier eingetragen hat.

»Was soll’s?«, geht sie leichtherzig über seinen Einwand hinweg. »Es ist nun einmal geschehen und nicht mehr zu ändern. Oh, wie sie über das arme Ding hergezogen sind, diese ach so wohlmeinenden Freundinnen und frömmelnden Dämchen. Vor allem die hässlichen, die sie sowieso stets beneidet haben. Nun konnten sie sich die Mäuler über die lasterhafte Johanna zerreißen und dabei die eigene Sittsamkeit hervorheben, die doch nur dadurch bedingt ist, dass sich kein einziger Mann je für sie interessiert hat …«

Klaus von Kleiwitz schaut auf die Kaminuhr und wischt sich mit der weißen Stoffserviette einen Rest Marmelade aus dem Mundwinkel. Es ist Zeit für ihn, der Dienst wartet nicht. Pünktlichkeit ist eine der wichtigsten Tugenden des preußischen Offiziers.

»Falls du heute hinüber zu Berends gehen willst, mein Schatz …«, sagt er, während er aufsteht und den Stuhl wieder an seinen Platz schiebt. »Dann kündige dich besser bei Luise Berend zu einem Besuch an, denn ich fürchte, man wird dich nicht zu Johanna vorlassen.«

Darauf ist Auguste in ihrer Aufregung noch gar nicht gekommen. Natürlich – das wäre diesem Theodor Berend zuzutrauen!

Sie steht auf, um ihren Gatten zu verabschieden. »Wenn ich dich nicht hätte, mein kluger Mann. Richtig – ich wollte die unglückliche Luise ohnehin aufsuchen und sie ermutigen, nächste Woche zu meinem Salon zu erscheinen. So schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe, nicht wahr? Nimm den Mantel, Liebster, es weht ein kalter Wind von Nordost. Und denk daran, dass wir heute Abend Gäste haben, ich habe Herrn und Frau Ostertag mit den beiden Töchtern eingeladen. Du weißt doch, dass Elias Ostertag plant, eine literarische Zeitschrift herauszugeben?«

Er küsst sie zärtlich auf Wangen und Stirn, verspricht, zeitig zurück zu sein und sich nicht aufhalten zu lassen, dann geht er die Treppen hinunter in den Eingangsflur, wo der Hausdiener Anton schon mit Mantel und Tschako bereitsteht.

Auguste gönnt sich noch eine Tasse Kaffee, nimmt reichlich von der guten Erdbeerkonfitüre und sinnt darüber nach, wie sie Luise dazu bringen wird, ihr ein kurzes Gespräch mit Johanna zu gestatten. Natürlich werden sie das arme Ding vorerst unter Verschluss halten, sie ist ein Schandfleck für die Familie, vermutlich wäre es ihnen lieber gewesen, sie wäre nie zurückgekehrt und irgendwo in der Ferne jämmerlich in bitterer Armut verstorben. Oh, sie sind hochnäsig und eingebildet, die Berends, glauben etwas Besseres zu sein, weil sie ein alteingesessenes Patriziergeschlecht sind und ein Haus in der Langen Gasse gleich beim Langen Markt besitzen. Dabei weiß doch die ganze Stadt, dass es mit den großen Handelshäusern bergab geht. Auch Friedrich Berend, der vor drei Monaten zu Grabe getragen wurde, hatte zuletzt heftig zu kämpfen, und wie sein Sohn Theodor nun zurechtkommen wird, das steht in den Sternen. Immerhin war der alte Herr ein umgänglicher Mensch und in der Stadt beliebt, was man von seinem älteren Sohn Theodor nun wirklich nicht sagen kann. Der jüngere Sohn, Ernst, schlägt zum Glück dem Vater nach und ist ein ausgesprochen liebenswerter junger Mann, der ihren Salon schon durch literarische Vorträge verschiedenster Art bereichert hat. Aber leider weilt er nun in Königsberg zum Studium an der Albertus-Universität.

Sie läutet dem Mädchen, dass sie den Frühstückstisch abräumen kann, und begibt sich in ein Nebengemach, wo ihr zierlicher Damenschreibtisch steht. Bevor sie sich zu Berend aufmacht, will sie noch einige Briefe verfassen. Das ist eine Aufgabe, die sie täglich erfüllen muss, denn sie unterhält Briefwechsel mit verschiedenen guten Freundinnen, älteren Tanten und vor allem jungen Künstlern, die sie unterstützt. Wenn ihr Eheliebster manchmal den Kopf über ihre ausgedehnte Korrespondenz schüttelt und vorsichtig auf die Kosten verweist, meint sie stets unbefangen: »Diese begabten jungen Menschen werden eines Tages berühmte Schriftsteller sein, mein Engel. Dann werden diese Briefe großen Wert haben.«

Gegen elf Uhr begibt sie sich in ihr Umkleidezimmer, um sich ausgehfertig zu machen, wählt sorgfältig Hut und Handschuhe und ordnet die blonden Locken.

»Greta, ich gehe aus, und du begleitest mich. Nimm die Briefe mit, wir gehen bei der Poststelle vorbei!«

Greta zeigt sich erfreut, sie geht gern mit ihrer Herrin aus. Sie nimmt ein wollenes Tuch um die Schultern und legt die Post in ihren Henkelkorb, dann beeilt sie sich, ihrer Herrin die Haustür zu öffnen.

»Hu – was für ein unangenehmer Wind!«, seufzt Auguste. »Ach, Greta, der Sommer ist vorüber. Wie mich das traurig stimmt. Schau, dort fliegen schon die ersten Herbstblätter durch die Gasse!«

»Ja, gnädige Frau. Nun werden wir heizen müssen.«

Wie prosaisch dieses Mädchen ist, denkt Auguste. Ich sinniere über den Verlust des Sommers, und sie denkt nur daran, dass sie bald jeden Morgen Kohleneimer schleppen und die Öfen anheizen muss. Dabei nutzt sie jede Gelegenheit, diese Arbeit dem armen Anton aufzuhalsen.

Auguste wählt den Weg über den Kohlenmarkt an ihrem geliebten Theater vorbei, das von den Danzigern ein wenig abfällig »Kaffeemühle« genannt wird. Sie sind überhaupt der Kunst recht wenig zugetan, die Danziger. Ein gutes Essen und ein voller Beutel sind ihnen allemal wichtiger, als sich den Musen zu ergeben. Als die jungvermählte Auguste von Kleiwitz vor einigen Jahren in das Haus in der Heiligen-Geist-Gasse eingezogen ist, hat sie zunächst geglaubt, in eine kulturelle Wüste verschlagen worden zu sein. Aber gottlob hat sie nach und nach einen Kreis Gleichgesinnter aufbauen können, und inzwischen ist ihr »Salon«, der einmal monatlich stattfindet, ein viel beachteter Treffpunkt für Dichter, Komponisten und andere Musensöhne und -töchter. Darauf ist Auguste von Kleiwitz sehr stolz. Auch jetzt muss sie auf ihrem Weg immer wieder stehen bleiben, um mit einer lieben Bekannten oder einem Freund des Hauses ein kurzes Gespräch zu führen, wobei sie darauf hinweist, dass man sich doch ganz gewiss übermorgen zur gewohnten Stunde im Hause von Kleiwitz sehen wird. Zwei junge Geiger vom Theaterorchester werden einige Stücke zum Besten geben, außerdem wird der allseits bekannte Dichter Dr. Arthur Hempel aus seinen Werken lesen …

Bevor sie ihre Schritte zum Haus Berend lenkt, geht sie noch rasch in eines der Geschäfte, die Süßwaren und Spezialitäten anbieten, und erwirbt eine hübsche Schachtel mit Marzipankonfekt. Die arme Luise kann sich solche Naschereien ja erlauben, sie ist nur ein Strich in der Landschaft und sollte unbedingt ein paar Pfündchen zulegen. Von ihrer Schneiderin weißt Auguste, dass Luise Berend sich zwei Kleider hat enger nähen lassen.

Im Hause Berend wird ihnen wie üblich von Danuta geöffnet, die höflich knickst und die Besucherin in den ersten Stock bittet, wo sie in einem kleinen Vorzimmer warten muss, bis Danuta sie bei ihrer Herrin angemeldet hat. Auguste kann hören, wie hinter der Tür geflüstert wird.

»Ach Gott! Wartet sie drüben?«

»Ja, gnädige Frau.«

»Dann führ sie halt herein.«

Große Freude scheint ihr Besuch ja nicht gerade auszulösen. Aber nun ja – Auguste kann die Vorbehalte in der augenblicklichen Situation durchaus ein wenig verstehen.

»Bitte treten Sie ein, gnädige Frau«, sagt Danuta und hält ihr die Tür auf.

Im Wohnzimmer bietet sich ihr ein groteskes Bild. Luise sitzt zurückgelehnt in einem hohen Sessel, ein Kissen stützt ihren Rücken, die Füße stehen in einer Schüssel mit warmem Wasser. Sie schaut wirklich leidend aus, die Ärmste. Die Haube hat sie abgelegt, sodass ihr dünnes blondes Haar zu sehen ist, das zu einem Zopf geflochten herunterhängt. Vermutlich hat sie Kopfschmerzen, denn als Auguste eintritt, nimmt sie gerade ein feuchtes Tuch von der Stirn, mit dem sie ihre Schläfen gekühlt hat. Im Raum riecht es intensiv nach Kamille und Eukalyptusöl.

»Mein liebste Luise! In was für einem schlimmen Zustand du bist«, ruft Auguste mitleidig aus. »Da komme ich doch recht unpassend, nicht wahr? Aber ich wollte dich unbedingt besuchen und dir ein kleines Geschenk bringen, weil wir uns so lange nicht gesehen haben …«

Luise ringt sich ein Lächeln ab und meint, es sei nichts weiter Ernstes, nur die Migräne, die sie von Zeit zu Zeit plagt.

»Dann will ich dich auf keinen Fall zu lange mit meiner Anwesenheit belästigen, meine liebste Freundin. Ich weiß selbst, wie unangenehm solche Anfälle sind. Zum Glück ereilt es mich nur selten, aber wenn es mich erwischt, dann muss ich den ganzen Tag im dunklen Zimmer verbringen, weil das Licht meine Nerven strapaziert.«

»Oh, ich freue mich sehr über deinen Besuch, meine Liebe«, sagt Luise matt. »Für ein kleines Gespräch muss trotz solcher Malaisen Zeit sein, nicht wahr?«

Sie legt das Geschenk achtlos auf den Tisch neben das Gefäß, das vermutlich Kamillentee enthält.

Auguste erzählt von dem scheußlichen Wind, der durch die Stadt fegt und der ohne Zweifel für Luises Migräne verantwortlich ist, dass sie sich auf die beginnende Theatersaison freut und hofft, die gewohnte Loge wieder mieten zu können, um möglichst weit entfernt von den Plätzen zu sein, wo sich heutzutage leider Kreti und Pleti tummeln. Dann geht sie zu ihrem Salon über, zu dem sie Luise herzlich einlädt.

»Eine kleine Abwechslung wird dir gewiss guttun und dich auf andere Gedanken bringen …«

»Ich kann es nicht versprechen«, meint Luise zögerlich. »Aber bis übermorgen, denke ich, wird es mir besser gehen. Wie lieb von dir, dass du an mich gedacht hast, Auguste!«

»Natürlich, liebste Freundin. Ich weiß ja, dass du eine Aufmunterung nötig hast, da sich nun eine weitere Sorge zu den übrigen gesellt hat …«

Luise, die sich gerade das feuchte Tuch wieder auf die Stirn legen will, hält in der Bewegung inne. »Eine weitere Sorge? Was meinst du damit, Auguste?«

»Nun – mir kam zu Ohren, dass Johanna zurück ist«, gibt Auguste in harmlosem Ton zurück. »Wenn es wahr sein sollte, dann würde ich mich unendlich darüber freuen. Du weißt ja, dass ich Johanna in mein Herz geschlossen habe.«

Wie schon erwartet, zeigt sich Luise wenig erfreut. Das Thema »Johanna« ist zwischen ihnen aus bekannten Gründen lange nicht berührt worden.

»Sie ist seit gestern wieder im Haus«, gibt Luise dennoch zu. »Mich wundert, dass du schon darüber informiert wurdest.«

»Solche Dinge sprechen sich nun einmal schnell herum, meine Liebe. Du kennst mich ja – ich bin ein offener, ehrlicher Mensch, der einer Freundin die Dinge lieber ins Gesicht sagt, als hinter ihrem Rücken über sie zu reden. Du kannst mir glauben, dass ich an Johannas weiterem Schicksal allergrößten Anteil nehme und jederzeit bereit bin, das Meinige zu tun, um ihr behilflich zu sein, wieder in Danzig Fuß zu fassen.«

Luise legt sich das Tuch auf die Stirn und nimmt einen tiefen Atemzug. »Damit hat es noch gute Weile«, sagt sie. »Vorerst hat Theodor bestimmt, dass meine Schwägerin das Haus nicht verlässt. Dies geschieht nicht nur um des Ansehens der Familie Berend willen, sondern auch zu ihrem eigenen Schutz.«

»Natürlich«, beeilt sich Auguste zu versichern. »In solch einem Fall muss man behutsam vorgehen und darf sich auf keinen Fall übereilen. Ich würde sehr gern ein paar Worte mit Johanna wechseln, liebe Luise …«

»Das ist leider nicht möglich, Auguste«, kommt die prompte Antwort. »Theodor möchte nicht, dass Johanna Kontakte pflegt. Dies ist nötig, damit sie sich ihrer Lage bewusst wird und nichts Unbedachtes unternimmt. Du weißt ja, wie leicht sich schlimme Gerüchte in der Stadt verbreiten, liebe Auguste.«

»Gerade in diesem Sinne wollte ich auf Johanna einwirken«, versucht es Auguste noch einmal. »Schließlich sind wir eng befreundet, und ich habe einen gewissen Einfluss auf sie.«

»Später vielleicht«, sagt Luise und tastet mit der linken Hand nach der Glocke für das Hausmädchen. »Vorerst darf ich dich leider nicht zu ihr lassen.«

Auf das Klingeln eilt Danuta herbei.

»Gieß warmes Wasser nach«, befiehlt ihre Herrin und deutet auf die Schüssel, in der sie ihre Füße badet. »Und bring mir noch ein Kopfwehpulver. Beeil dich!«

Auguste begreift, dass ihr Besuch nun beendet ist. Wie ärgerlich – Klaus hat nur allzu recht gehabt, sie sperren das arme Mädchen ein und lassen niemanden zu ihr. Gewiss ist Diskretion am Platz – aber deshalb könnte sie doch eine Freundin empfangen! Doch wie es aussieht, wäre es diesen hochnäsigen Patriziern wohl am liebsten, wenn sie das Mädchen ganz verschwinden lassen könnten. Nur keinen Flecken auf der sauberen Weste!

»Ich wünsche dir gute Genesung, liebe Luise«, säuselt sie. »Bis übermorgen wirst du gewiss wieder auf dem Damm sein.«

»Das hoffe ich auch, liebe Auguste. Und lieben Dank für deinen Besuch und das bezaubernde Geschenk.«

»Lass es dir schmecken, liebe Freundin«, gibt Auguste zurück, während sie den unfrommen Wunsch hegt, das Marzipan möge Luise im Halse stecken bleiben.

Da Danuta beschäftigt ist, geht Auguste allein in den Flur hinaus. Fast ist sie versucht, rasch die Stiege hinaufzueilen, um Johanna kurz einmal tröstend in den Arm zu nehmen. Aber leider kommt ihr jetzt Theodor Berends hagere Gestalt entgegen, und sie muss ihn freundlich grüßen und berichten, dass sie seiner lieben Frau einen Besuch abgestattet hat.

»Sehr aufmerksam von Ihnen«, sagt er kurz angebunden, verneigt sich höflich und wartet im Flur, bis sie die Treppe hinunter in die Halle gegangen ist. Solch ein hinterhältiger Mensch! Er hat ihr Vorhaben erraten und kaltblütig vereitelt. Wenn er doch an seinem eigenen Dünkel ersticken würde, dieser trockene Stecken!

Zornig steht sie in der düsterem Halle und ruft nach Greta, die nicht mit hinaufgegangen, sondern unten in den Wirtschaftsräumen geblieben ist. Wo steckt sie nur? Schwatzt sie hinten im Innenhof mit der Köchin? Auguste entschließt sich, frech durch die Geschäftsräume im Erdgeschoss in den Innenhof zu gehen, um nach dem Mädchen zu sehen. Mit leiser hämischer Befriedigung stellt sie fest, dass sich im Berend’schen Kontor wenig tut. Man hört eine Feder kratzen, das ist der Kontorschreiber, jetzt hustet er und spuckt aus – wie ekelhaft! Sie findet den Ausgang zum Innenhof und atmet tief durch. Wie angenehm, aus diesen muffigen Räumen hinaus in die frische Luft zu gelangen! Hat sie es sich doch gedacht: Da steht ihr Mädchen Greta im Hof und tut einem rothaarigen jungen Burschen schön, der recht verlegen ausschaut und seine Mütze in den Händen dreht.

»Greta! Wo bleibst du denn?«, ruft sie ungeduldig. »Wir müssen noch zur Poststelle!«

Da tut sich plötzlich oben im zweiten Stock ein Fenster auf, und sie erblickt – Johanna. Hübsch schaut sie aus, wie sie sich mit rosigen Wangen und offenem honigblonden Haar über den Fenstersims neigt und ihr zuwinkt.

»Auguste! Wie schön, dich zu sehen!«, ruft sie hinunter. »Ich habe so oft an dich gedacht. Komm doch herauf zu mir, ich muss dir schrecklich viel erzählen …«

Was für ein elendes Dilemma! Oben steht der düstere Wächter, sie hat keine Möglichkeit, zu ihrer Freundin zu gelangen.

»Später, liebstes Hannchen«, ruft sie hinauf. »Ich bin leider in Eile, weil die Poststelle gleich schließen wird!«

»Oh, wie schade!«, kommt es bekümmert von oben. »Dann schaue ich gleich morgen bei dir vorbei. Du bist am Vormittag doch zu Hause?«

»Zu Hause … ja, gewiss …«, stottert Auguste. »Ich freue mich … Ich denke an dich. Ich werde dir schreiben, Hannchen.«

»Du musst mir doch nicht schreiben, wenn ich schon morgen bei dir bin!«, kommt es fröhlich von oben. »À demain, ma chérie! Tausend Grüße an deinen Ehemann!«

»Tausend Grüße zurück, liebes Hannchen. Bis bald. So bald wie möglich! Ich bin und bleibe deine Freundin! Das darfst du nie vergessen! Adieu, adieu …«

Oben verschwindet Johannas Kopf, und das Fenster wird zugeschlagen. Auguste mag sich nur ungern vorstellen, was sich jetzt in Johannas Zimmer abspielt, aber höchstwahrscheinlich ist ihr Bruder hinaufgeeilt, um sie in ihre Schranken zu weisen.

Ach Gott! Das arme Ding! Wie naiv Johanna doch ist, wie ahnungslos. Auguste kommen die Tränen, wenn sie daran denkt, was ihre Freundin in den kommenden Monaten durchmachen wird. Wenn sie ihr nur helfen könnte! Ach, sie wird das alles mit Klaus besprechen, er hat stets einen klaren Blick und weiß ihr klug zu raten.

»Hast du mich nicht rufen gehört, Greta?«, sagt sie ärgerlich zu ihrem Mädchen. »Lass uns schleunigst gehen. Wenn ich länger hierbleibe, bekomme ich meine Migräne!«

Johanna

Er ist stärker als sie. Das ist schon immer so gewesen; auch als sie noch Kinder waren, hatte sie keine Chance gegen Theodor. Später hat sie sich mit dem jüngeren Bruder Ernst zusammengetan, aber auch zu zweit haben sie Theodor nicht besiegen können. Jetzt ist er gerade in ihr Zimmer geprescht und hat sie bei den Schultern gefasst, vom Fenster weggerissen und auf das Bett geschleudert. Groß steht er vor ihr, übermächtig, kalte Wut blitzt in seinen Augen.

»Du hast wohl nicht recht verstanden, Johanna!«, zischt er sie an. »Kontakte jeglicher Art sind dir verboten, sagte ich. Du wirst dich in deinem Zimmer aufhalten und es nicht verlassen, bis ich weitere Anordnungen treffe!«

Sie liegt wie betäubt in den Kissen und weiß kaum, was mit ihr geschehen ist. Hat er es tatsächlich gewagt, sie anzugreifen, ihr beinahe die Schulter auszurenken? Sie starrt in sein unbewegliches Gesicht und erschrickt vor dem Hass, der ihr entgegenschlägt.

»Das kannst du nicht tun!«, begehrt sie auf. »Ich bin deine Schwester und nicht deine Sklavin!«

»Zwing mich nicht, ernste Maßnahmen zu ergreifen!«, warnt er sie.

Sie setzt sich auf und streicht sich das offene lange Haar aus dem Gesicht. Nein, so darf er nicht mit ihr umgehen!

»Dazu hast du kein Recht!«, ruft sie zornig. »Oh, wenn Papachen noch leben würde, dann hätte er dich jetzt zurechtgewiesen! Aber weil er tot ist, glaubst du, schalten und walten zu können, wie du willst!«

Sie beginnt zu schluchzen, weil der Gedanke an ihren Vater ihr die Tränen in die Augen treibt. Ach, wie dumm, dass sie weinen muss, nun wird er triumphieren. Aber sie kann es nicht ändern, der Schmerz um den verlorenen Vater sitzt zu tief.

»Papa hat dich in seinem Testament enterbt«, sagt er kühl. »Du besitzt nichts und bist auf meine Güte angewiesen, so hat er es bestimmt. Falls du aber Sperenzien machen willst, kann ich dich auch mittellos vor die Tür setzen!«

Damit dreht er sich um und geht hinaus. Johanna bleibt fassungslos zurück, das Zimmer dreht sich um sie, für einen Moment wird ihr schwarz vor Augen. Wenn das ein böser Traum ist, dann will sie jetzt sofort daraus erwachen! Alles soll wieder wie früher sein, als sie mit Mama und Papachen im großen Salon saßen und fröhliche Feste gefeiert haben. Sie will wieder mit Ernst unten im Beischlag hocken und die Vorübergehenden mit Kastanien bewerfen …

Mitten in die schönen Fantasien platzt noch einmal ihr Bruder Theodor. Ohne anzuklopfen, kommt er in ihr Zimmer, stellt einen hölzernen Werkzeugkasten auf den Boden und beginnt, das Fenster zuzunageln.

»Was tust du da? Soll ich nicht einmal mehr lüften können?«

Er treibt die Nägel in das Holz, ohne auf ihren Einwand zu achten, betrachtet dann zufrieden sein Werk, rüttelt probeweise am Fenstergriff und packt schließlich das Werkzeug zusammen.

»Das hast du dir selbst zuzuschreiben!«

Er geht aus dem Zimmer, und sie hört, wie er draußen den Schlüssel umdreht. Er wagt es, sie einzuschließen wie ein ungezogenes Kind, dem man Zimmerarrest gibt! Niemals ist ihr so etwas angetan worden. Nicht einmal die strenge Kinderfrau, die sich früher um sie gekümmert hat, hätte solch eine Maßnahme ergriffen. Das hätte Mama auch verboten. Und Papachen hätte die Kinderfrau dafür aus dem Haus gejagt. Sie rafft sich auf, reißt zornig am Türknauf, und weil sich die Tür nicht öffnen lässt, hämmert sie mit den Fäusten dagegen.

»Aufmachen! Macht sofort die Tür auf! Ihr habt kein Recht, mich einzuschließen!«

Doch niemand kommt ihr zu Hilfe. Sie ruft nach Luise. Befiehlt Danuta, den Schlüssel herumzudrehen. Sie läuft verzweifelt im Zimmer umher, ringt nach Luft, rüttelt am Fenster, kehrt zur Tür zurück und tritt mit den Füßen gegen das Holz. Aber die alte Tür ist aus dicker, stabiler Eiche, sie kann schlagen und treten, soviel sie will – es rührt sich nichts. Schließlich sitzt sie mit blutenden Händen und wunden Füßen am Boden und schluchzt in heller Verzweiflung. Warum ist sie bloß nach Hause zurückgekehrt? Hätte sie geahnt, in welche Hölle sie hier gerät, sie wäre besser bei Andrzej geblieben. Ach, er war flatterhaft, das ist wahr. Aber er hat sie geliebt, er war sanft und zärtlich, nur wenn ein wichtiger Auftritt bevorstand, hat er sich launisch gezeigt. Er hat sie angelogen – nun ja, das ist eben seine Art, die Wahrheit zu verschweigen, um keinen Ärger zu bekommen. Er konnte es nicht leiden, wenn sie ihm eine eifersüchtige Szene machte, aber am Ende haben sie sich immer wieder versöhnt. Fast immer. Am Schluss hat sie die Versöhnung verweigert und ihm erklärt, dass sie genug von ihm hat. Aber selbst da hat er sich großmütig gezeigt, hat ihr die Heimreise bezahlt und ihr für die schöne Zeit gedankt, die sie ihm geschenkt hat. Andrzej ist eben ein lauterer Charakter, ein Gemütsmensch – niemals wäre er auf die Idee gekommen, sie schlecht zu behandeln. Wie konnte es ihr einfallen, ihn zu verlassen, um sich zu Hause von ihrem Bruder schlagen und einsperren zu lassen? Ach, sie hat geglaubt, zu Papachen zurückzukehren, der ihr alles verzeihen würde. Wie bitter hat sie sich doch getäuscht.

Mühsam steht sie auf und gießt Wasser in die Waschschüssel, um die verletzten Hände zu reinigen. Die Risse in den Handballen brennen bei der Berührung mit dem Wasser, sie trocknet sie mit dem Handtuch ab, Blutflecken bleiben auf dem weißen Leinenstoff zurück. Was hat Theodor gesagt? Papachen hätte sie enterbt? Das kann nur gelogen sein, so etwas hätte ihr Vater niemals getan. Das Elternhaus der Mutter in der Frauengasse ist für ihre Mitgift bestimmt, das hat die Mutter so gewollt, und Papachen hat es beim Notar festgelegt. Daran kann auch Theodor nichts ändern. Was für ein Lügner er doch ist! Aber sie durchschaut ihn. Er will sie einschüchtern, damit sie tut, was er von ihr verlangt. Oh, er hat sie immer schon gehasst, weil sie Papachens Lieblingskind gewesen ist, sein Augenstern, sein kleines Goldköpfchen, sein Hannchen …

Wieder steigen die Tränen auf, in den Kummer mischt sich der Zorn über die ungerechte Behandlung, die gemeine Freiheitsberaubung, die boshaften Lügen. Aber damit kommt er nicht durch, sie ist härter, als er glaubt, sie wird ihm die Stirn bieten und schließlich doch tun, was sie will.

Erschöpft trinkt sie Wasser aus dem Krug und macht sich daran, die Reisetasche auszupacken, die noch unberührt auf der Kommode steht. Viel ist es nicht, was sie von den langen Reisen mitgebracht hat. Ein seidenes Nachtgewand, das Andrzej ihr in Rom gekauft hat, zwei bunte Tücher aus zartem Baumwollstoff, die stammen aus Amsterdam, den kleinen Hund aus braunem Plüsch hat er für sie in London auf einem Markt erworben. Alles andere, die Kleider, die Wäsche, Schuhe und Hüte, hat sie zurückgelassen, nur die rote Schachtel mit dem goldenen Anhänger hat sie schließlich doch eingesteckt. Er hat ihr den Schmuck zum Abschied geschenkt, zum ewigen Angedenken, wie er theatralisch behauptet hat. Ein goldenes Herz mit einem kleinen Diamanten darin und den eingravierten Worten »mon amour«! Sie ist wütend gewesen und hat ihm die Schachtel vor die Füße geworfen. Was für ein billiges Geschenk! Ganz sicher hat ihm eine seiner zahlreichen Anbeterinnen diese Liebesgabe überreicht. Aber schließlich hat sie die Schachtel vom Boden aufgehoben und in die Reisetasche gesteckt. Immerhin ist es Gold, sie kommt aus einem Handelsgeschlecht, da wirft man solche Dinge nicht weg, sondern macht sie zu Geld. Ach ja – Geld. Da ist auch ihre lederne Börse, die er ihr in Florenz auf dem Ponte Vecchio gekauft hat. Neun Taler, zwei Silbergroschen und acht Pfennige sind noch darin, außerdem verschiedene ausländische Münzen, deren Wert ihr nicht geläufig ist. Auf jeden Fall nur Kleingeld, aber vielleicht findet sie auf dem Markt ja einen Händler, der die fremden Münzen annimmt.

Falls sie in absehbarer Zeit die Möglichkeit hat, auf einen der Märkte in Danzig zu gehen. Nun – Theodor kann sie schließlich nicht ewig hier einsperren, irgendwann wird er die Tür wieder öffnen müssen. Vorsichtshalber versteckt sie ihre Geldbörse unter dem losen Dielenbrett, wo sie schon als Kind ihre Schätze verborgen hat. Dann geht sie zum Fenster und schaut durch die kleinen Glasscheiben nach draußen. Viel kann sie nicht mehr sehen, in den Innenhof kann sie nur hinunterblicken, wenn sie sich hinausbeugt. Was ihr bleibt, ist die Wand des Nachbarhauses, in der es mehrere schmale Fensterchen gibt; darüber steht ein Stück Himmel. Dort ziehen dunkelgraue Wolkengespinste vorüber, der Wind bläst von Nordost, das Licht, das in ihr Zimmer fällt, ist fahl und unstet.

Bei diesem Wetter wollte ich sowieso nicht ausgehen, denkt sie trotzig und legt sich fröstelnd auf ihr Bett.

Eine Weile liegt sie still und lauscht auf die Geräusche des alten Haues. Der Wind rüttelt an den Dachschindeln, irgendwo klappert ein Fensterladen, eine Ranke vom wilden Wein schlägt gegen die Hauswand. Manchmal kann sie Schritte im Treppenhaus vernehmen. Danutas Holzschuhe sind leicht zu erkennen, auch das grobe Trampeln der Haushälterin, die in der Küche und in den Wirtschaftsräumen wirkt. Theodor trägt feste Stiefel, sein Schritt ist leise und gleichmäßig. Sie erkennt auch die abgelaufenen Schuhe des Kontorschreibers Stefan Korbitz, der seit fast zwanzig Jahren im Berend’schen Kontor beschäftigt ist. Die Bewegungen spielen sich im Erdgeschoss und ersten Stock ab, zu ihr in den zweiten Stock steigt niemand hinauf, nicht einmal Danuta. Manchmal hört man die helle Stimme des Hausmädchens, dann sagt sie: »Jawohl, gnädige Frau.« – »Sofort, gnädige Frau.« Also ist sie mit Luise beschäftigt, die ständig etwas braucht, weil sie so kränkelt. Johanna ertappt sich bei dem boshaften Gedanken, dass der Himmel gerecht ist, wenn er Theodor den erhofften Sohn und Erben versagt. Nein, pfui – das ist gemein. Die arme Luise leidet schrecklich darunter, und wenn sie auch nicht gerade freundlich zu Johanna gewesen ist, so kann sie doch letztlich nichts für die Machenschaften ihres Ehemannes.

Mittag ist lange vorüber, und sie hat außer einigen Schlucken Wasser bisher nichts zu sich genommen. Will man sie verhungern lassen? Außerdem plagt sie ein menschliches Bedürfnis, aber da sie den Abort nicht aufsuchen kann, muss sie den Nachttopf benutzen. Ausleeren kann sie ihn nicht. Was für eine widerliche Gemeinheit, so mit ihr umzuspringen! Wann kommt endlich Danuta, um das Zimmer zu reinigen, den Topf auszuleeren und ihr etwas zu essen zu bringen?

Die Stunden ziehen sich träge dahin. Bei jedem Geräusch auf der Treppe fährt sie hoch, hofft, dass man sie endlich aus der Gefangenschaft erlöst – doch nichts geschieht. Das Licht wird schwächer, der Tag neigt sich dem Abend entgegen, die Dämmerung geht in nächtliche Dunkelheit über. Sie zündet die Öllampe an und geht wie ein gefangenes Tier im Zimmer umher, hält das Ohr an die Tür, ist versucht, nach Danuta zu rufen, und tut es doch nicht. Nein, den Triumph gönnt sie ihm nicht, sie wird nicht bitten oder betteln, dazu ist sie zu stolz. Die Gedanken kreisen in ihrem Kopf, Augustes seltsame Antworten heute früh im Hof fallen ihr wieder ein.

»Ich bleibe deine Freundin … ich werde dir schreiben …«

Also hat sie gewusst, was man ihr antun würde. Warum hat sie sie nicht gewarnt? Sie will ihr schreiben? Wie soll das gehen, da doch alle Briefe bei Theodor im Handelskontor landen? Und wie kommt Auguste überhaupt auf die Idee, ihr schreiben zu wollen? Bedeutet das, man wird sie vielleicht gar monatelang im Haus einsperren? Aber was hat sie denn getan? Sie ist doch keine Verbrecherin, hat nicht gestohlen und niemanden zu Tode gebracht. Sie will ja auch nicht gleich morgen hocherhobenen Hauptes durch die Stadt laufen und alle ihre Bekannten aufsuchen, um von ihrer Reise zu erzählen. Nein, sie weiß selbst, dass sie sich eine Weile unauffällig verhalten sollte und nur diejenigen ihrer Freundinnen besuchen darf, von denen sie weiß, dass sie ihr auch jetzt noch wohlgesinnt sind. So wie Auguste, die würde sie ganz sicher freundlich empfangen.

Vielleicht ist ja alles nur ein unglückseliges Missverständnis, denkt sie, als sie schließlich müde und erschöpft in ihrem Bett liegt. Ich werde mit Theodor reden, und wir werden uns einigen. Auch wenn er mich hasst und ich ihn nicht ausstehen kann – es wird sich eine vernünftige Lösung finden lassen. Das hätte auch Papachen so gewollt.

Sie schläft unruhig in dieser Nacht, hört den Wind um das alte Haus streichen, die Dielen und hölzernen Wandverkleidungen knarren, später schlagen Regentropfen gegen das Fenster. Einmal glaubt sie, das Knirschen eines Schlüssels zu vernehmen, doch es ist dunkel im Zimmer, weil die Lampe ausgebrannt ist, und da sie weiter kein Geräusch hört, schläft sie wieder ein.

Als das bläuliche Morgenlicht sie weckt, entdeckt sie ein Tablett mit Brot, Wurst und einem Becher Milch auf der Kommode. Auch der Nachttopf ist geleert, die Waschschüssel gesäubert, und ein Krug mit frischem Wasser steht bereit. Also war Danuta zu nachtschlafener Zeit in ihrem Zimmer, um diese Dinge zu erledigen. Wie lächerlich! Glaubt Theodor vielleicht, sie würde wie eine Wilde davonrennen, sobald die Tür aufgeschlossen wird? Das karge Frühstück ist trotz allem verlockend, sie hat seit vorgestern Abend nichts mehr zu essen bekommen, und ihr Magen knurrt fürchterlich. Hungrig schlingt sie Brot und Wurst hinunter, die Milch lässt sie stehen, weil sie keine Milch mag. Was gäbe sie jetzt um eine Tasse Kaffee! Dann hat sie das Bedürfnis, sich zu waschen und frische Wäsche anzuziehen. Sie benutzt den Nachttopf und gießt Wasser in die Waschschüssel, will gerade das lange Nachthemd abstreifen, da hört sie Schritte. Man kommt zu ihr in den zweiten Stock hinauf. Das sind Danuta und Theodor. Dazu eine unbekannte Person mit schweren Schuhen und festem Tritt.

Ihre erste Reaktion ist Erleichterung. Sie wird verhandeln, sich vernünftig zeigen, auf einige seiner Forderungen eingehen, aber auch ihre Rechte wahren. Dann vernimmt sie eine weibliche Stimme.

»Sind Sie sicher, dass sie kein Theater machen wird?«

»Sie wird ganz ruhig sein, Frau Göttler. Wir haben ihr ein Mittel in die Milch gegeben.«

Die Hebamme. Sie kennt diesen Namen, weil eine Frau Göttler Luise nach ihren Fehlgeburten versorgt hat. Eine kräftige, resolute Person um die Fünfzig, die keinen Widerspruch duldet und nicht mit sich handeln lässt. Was will sie hier? Und was für ein Mittel wollte man ihr verabreichen?

Der Schlüssel wird umgedreht, Theodor betritt als Erster das Zimmer. Als er sie im Nachtgewand beim Vertiko stehen sieht, verzieht er ärgerlich das Gesicht.

»Hast du nicht gefrühstückt?«, fragt er ohne einen Morgengruß. »Nun – ich habe Frau Göttler gebeten, dich zu untersuchen.«