Berlin Ecke Bundesplatz - Claudia Lenssen - E-Book

Berlin Ecke Bundesplatz E-Book

Claudia Lenssen

4,8

Beschreibung

Das Viertel um den Bundesplatz in Berlin ist ein typisch deutscher Mikrokosmos. Die Filmemacher Detlef Gumm und Hans-Georg Ullrich beobachten und filmen seit über 25 Jahren ausgewählte Bewohner dieses Kiezes. Wie schon die Filme kommt das Buch seinen Protagonisten sehr nahe, zeigt sie mit all ihren Eigenheiten und Schrullen, ohne sie dabei bloßzustellen. Das gelingt umso authentischer, als die Filmemacher dieselben Personen über Jahre und Jahrzehnte hinweg immer wieder besucht haben. So entstehen keine flüchtigen Momentaufnahmen, sondern tiefgründige Einblicke in das Auf und Ab unterschiedlicher Lebenswege. Mit Fotografien von Ingeborg Ullrich. "Hinter der vermeintlich langweiligen Normalität verstecken sich Minidramen mit manchmal grotesken Pointen, hinter unauffälligen Fassaden schrullige Typen, großes Glück und großes Unglück" die tageszeitung

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Claudia Lenssen

Berlin Ecke Bundesplatz

Mit einem Beitrag von

Detlef Gumm und Hans-Georg Ullrich

Fotos von Ingeborg Ullrich

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation n der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

ebook im be.bra verlag, 2013

© der Originalausgabe:

berlin edition im be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2013

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

[email protected]

Lektorat: Ingrid Kirschey-Feix, Berlin

Umschlag: Ansichtssache, Berlin (Fotos von Ingeborg Ullrich)

ISBN 978-3-8393-4110-0 (epub)

ISBN 978-3-8148-0199-5 (print)

www.bebraverlag.de

Inhalt

Vorwort

Ein Solisten-Ensemble

Familie Köpcke

Lebenskunst und Pinselpoesie

Hans Ingebrand und Reimar Lenz

Jung sein – mit neunzig?

Berta Tomaschefski und der Kiez

Feine Leute

Ülo Salm

Fremde und Heimat

Der Yilmaz-Clan

Fragen Sie mal Ihre Regierung!

Die Rehbeins

Leben und Sterben im Kiez

Die Bäcker-Familie Dahms

Auferstehung vor dem Tod

Karlheinz Gerhus

Schwindelfrei

Michael Creutz und Karsten Schulze

Detlef Gumm und Hans-Georg Ullrich

Geschichte braut sich von unten zusammen

aufgezeichnet von Claudia Lenssen

Anhang

Die Filme

Verwendete Literatur

Danksagung

Autorin

Vorwort

Dieses Buch erzählt von Menschen, die auf den ersten Blick ein großes Thema verbindet: das bunte, chaotische, in Maßen gestaltbare Leben selbst. Es erzählt vom normalen, oft skurrilen Alltag im Kiez nahe dem Bundesplatz in Berlin-Wilmersdorf, von der Zeit vor und nach dem Mauerfall und der Jahrtausendwende – Geschichten also, wie sie so oder ähnlich hinter den Türen vieler Berliner Miethäuser verborgen sind.

Die Singles und Paare, Eltern und Kinder, Alten und Jungen, Inländer und Deutschländer, die dieses Buch bevölkern, sind weder fiktive Heldenfiguren noch Boten historischer Großereignisse, sondern gut geerdete ausdrucksstarke Zeitgenossen. Entweder haben sie einmal in dem westlich des Bundesplatzes gelegenen Kiez zwischen Blissestraße, Volkspark und Autobahn gelebt oder gehen auch heute noch dort ein und aus.

Diese Gegend taugt nicht für schrille Lifestyle-Geschichten und spektakuläres Hauptstadtmarketing. Es gibt Kopfsteinpflaster, letzte Gaslaternen und Straßenbäume, aber keinerlei touristische Attraktionen. Die alten Läden werden inzwischen von Rechtsanwälten, Psychologen, Ärzten und Pflegeeinrichtungen genutzt. Man wohnt in stattlichen, mit Vorgärten geschmückten Häusern, deren kleine Hinterhofwohnungen die soziale Mischung befördern. Dazwischen neusachliche Blockbauten, die den Bauboom der Weimarer Republik bezeugen. In solch einem Haus an der Kaiserallee, heute Bundesallee 54, wohnte Marlene Dietrich, bevor sie nach Hollywood zog. Um die Ecke in der Hildegardstraße hat die Schauspielerin Ilse Pagé, ein Star des Nachkriegskinos und Partnerin von Ekkehard Schall in dem Film Berlin – Ecke Schönhauser, ihr Zuhause. In einer imposanten Wohnanlage zwischen Hildegard-, Schramm- und Livländischer Straße, die 1928 mit ihrer hochmodernen Garagen-Unterkellerung glänzte, wohnten einst Filmleute wie der Ufa-Kameramann Karl Freund und Leni Riefenstahl. Bis 1922 befand sich hier das Ausflugslokal der Wilmersdorfer Familie Schramm, eine legendäre Flirtadresse mit Biergartenterrasse, Tanzboden und eigener Badeanstalt an dem kleinen See, der damals an dieser Stelle glänzte und einen idyllischen Ausblick auf den Turm der Auen-Kirche im alten Dorfkern von Wilmersdorf ermöglichte. Der See verlandete und wurde wegen seiner üblen Duftnote zugeschüttet, an seiner Stelle liegen heute die Fußballplätze des Volksparks.

Man sieht, der Hügelhang zwischen dem heutigen Volkspark und der Ringbahn, um dessen Alltag es in diesem Buch geht, war vor einem Jahrhundert noch märkische Feldflur. Der Kaiserplatz, heute als Bundesplatz ein untertunnelter Verkehrsmoloch, sollte einst auf halbem Weg zwischen Kurfürstendamm, der Landhaus-Siedlung Friedenau und dem Städtchen Steglitz einen prachtvollen Verkehrsknotenpunkt samt Restaurationen bieten. Davon hat der autofixierte Ausbau der Kaiser-, ab 1950 Bundesallee, wenig übriggelassen. Heute nutzt man die Straßen rechts und links der Tunnelröhre, um sich in die südliche Tangente des Bundesplatzes, die Wex- bzw. Detmolder Straße einzufädeln, über die die Zu- und Ausfahrten der Stadtautobahn A 100 erreicht werden.

Der Kiez, von dem dieses Buch handelt, ist nur zum Teil ein ruhiges Nest, an den Rändern tobt der Verkehr. Am Bundesplatz selbst erinnern zwei Lokale und eine Apotheke von fern an wilhelminische Pracht, die meisten Häuser sind funktional wieder aufgebaut worden. Am Bundesplatz 17 ist allerdings der imposante rote Backsteinbau erhalten, in dem der Fotograf Friedrich Seidenstücker – 1927 fotografierte er das kesse Charleston-Mädchen beim Sprung über die Pfütze – sein Hinterhofatelier hatte. Hier, nahe der Ringbahn (heute S-Bahn), fielen im Zweiten Weltkrieg viele Bomben. Hildegard Knef schildert in Der geschenkte Gaul beredt ihre Kriegskindheit in der östlich des Kaiserplatzes direkt am Bahndamm gelegenen Bernhardstraße, die heute zum Teil von der Autobahn überbaut ist.

Blick auf den Bundesplatz

Den Unort Bundesplatz charmant überspielend, ist das gleichnamige Kino zu neuem Leben erwacht. Das seit 1919 bestehende Kiez-Kino trotzt dem Verkehrsfluss, profitiert sogar von der guten Anbindung durch S-Bahn und U-Bahn und zählt viele neue Besucher, seit es 2011 liebevoll erneuert, technisch ausgestattet und um ein Café erweitert wurde. Wie auch im kaum hundert Meter entfernten Cosima-Kino kann man ausgesuchte aktuelle Filme genießen, zusätzlich Fundstücke aus der Filmgeschichte, vor allem auch Filme, in denen die Stadt Berlin eine große Rolle spielt.

So wie Charlottenburg-Wilmersdorf insgesamt, spiegelt auch die Ecke am Bundesplatz bürgerliches und kleinbürgerliches Leben, das sich der allmählich alternden Gesellschaft anpasst. Hier wohnen die neuen Besitzer teurer Eigentumswohnungen unter ergrauten Alt-68ern, die ihre günstigen Mietverträge halten. Hier weinen die Älteren früheren Straßenfesten und guter Nachbarschaft nach, treffen sich die zugezogenen Jüngeren aber auch in den Eltern/Kind-Tagesstätten und Schulen. Vergleichsweise wenig Berliner mit Migrationshintergrund leben hier und versuchen, sich möglichst konfliktarm zu integrieren. Die Kinder genießen die kurzen Schulwege, nicht zuletzt auch den Volkspark. Rabiate Bautätigkeit gibt es nicht, dafür den steten Wandel zu Lasten des kleinen Gewerbes.

Die Lebenskünstler Reimar Lenz und Hans Ingebrand, die Musiker-Familie Köpcke, die Bäckersfrau Gerda Dahms, der Schornsteinfegermeister Michael Creutz und all die anderen, die in diesem Buch porträtiert werden, sind authentische ehemalige bzw. heutige Kiezbewohner und zugleich auf besondere Weise erfahrene Fernsehstars. Sie alle sind Protagonisten der einzigartigen Langzeitdokumentation Berlin – Ecke Bundesplatz.

Seit 1987 begleiten die Dokumentarfilmer Detlef Gumm und Hans-Georg Ullrich Menschen aus ihrer unmittelbaren Nachbarschaft und erzählen ihre Lebensgeschichten als behutsam beobachtete Chronik der laufenden Ereignisse. Berlin – Ecke Bundesplatz ist eine TV-Filmreihe des Westdeutschen Rundfunks (WDR), koproduziert mit dem Rundfunk Berlin Brandenburg (RBB) und 3sat, die im Lauf der Jahre immer wieder fortgeschrieben und ergänzt wurde und inzwischen als eine der bedeutendsten filmischen Langzeitdokumentationen der Welt gilt. Wie schon 2009 im Cosima-Kino wurde zu den Internationalen Filmfestspiele Berlin 2013 der rote Teppich für Berlin – Ecke Bundesplatz im Bundesplatz-Kino ausgerollt.

Dieses Buch greift die Erzählungen einiger Protagonisten, ihrer Familien und Freunde auf. Doch natürlich besitzen alle auch eine Geschichte vor, nach und außerhalb der Filmerei. So lehnen sich die Porträts des Bandes an ein Vierteljahrhundert dokumentarische Filmarbeit an, fußen jedoch auch auf meinen Gesprächen mit den Protagonisten. Sie alle sind beeindruckende Individualisten, die ihr großes Vertrauen zu den Filmemachern Detlef Gumm und Hans-Georg Ullrich auf mich übertrugen – unvergessliche Erlebnisse, die eine große Freude waren.

Die Filme zu kennen, ist ein Vergnügen, für die Lektüre jedoch absolut kein Muss. Das Abenteuer Normalität spricht in diesem Buch für sich.

In jeder Wiege und unter jedem Grabstein eine Weltgeschichte (Peter Paul Kubitz) – unter diesem Motto inspirierte Berlin – Ecke Bundesplatz die Protagonisten dazu, selbstbewusst von ihrem Alltag zu erzählen. Man wird Zeuge ihrer Träume und Befindlichkeiten, lernt ihre Glücksmomente, ihre Arbeit, die kleinen und großen Fluchten kennen und staunt, was das Leben mit ihnen macht.

Unwillkürlich fragte ich mich, welche Chancen ihnen in die Wiege gelegt wurden, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen sie sich entfalten konnten oder zurückstecken mussten. Stimmt es, dass Menschen ihr Handeln nur ändern, wenn sie mit essentiellen Dingen des Lebens konfrontiert werden, mit Geburten und Todesfällen, Krankheiten, Liebe und anderen Katastrophen, Einsamkeit und sozialer Not? Wie kamen die historischen Wendepunkte der vergangenen fünfundzwanzig Jahre im einzelnen Leben an? Steckt nicht im Privaten das Politische? Und wie zeigt sich das heute, wo der Elan der Friedensbewegten, Umweltaktivisten, Förderer und Forscher der Alternativkulturen – alle gut beheimatet am Bundesplatz – mit der zunehmenden Politikverdrossenheit der Jüngeren konfrontiert ist? Der Generationswandel, seine politischen und kulturellen Bedingungen, sind Hintergrundmelodien der Filme und dieses Buches.

Hans-Georg Ullrich und Detlef Gumm siedelten ihre Produktionsfirma Känguruh-Film in den achtziger Jahren in einem ehemaligen Tante-Emma-Laden in der Weimarischen Straße 6a nahe dem Bundesplatz an. Im selben Haus hatte der Romanist und Schriftsteller Victor Klemperer einst als Student eine Wohnung trocken gewohnt, also den für ihn bezahlbaren Erstbezug im feuchten Putz gewagt.

Der kauzige Firmenname Känguruh-Film ist eine Hommage an das wehrhafte Beuteltier, das im ersten deutschen Film der Brüder Skladanowsky 1895, vorgeführt im Berliner Wintergarten, einen Boxkampf gegen seinen Dompteur austrug. Die beiden Dokumentarfilmer halten ihre Kamera im Beutel parat. Ihre Arbeitsmethode: Da die Menschen einem Känguruh nicht zutrauen, einen Dokumentarfilm zu drehen, verhalten sie sich offen und ohne Misstrauen, als wäre die Kamera eben gar nicht vorhanden.

Hans-Georg Ullrich, 1942 in Magdeburg geboren und als Fotograf ausgebildet, arbeitete als Kameramann für den amerikanischen TV-Sender CBS und drehte Industriefilme, bevor er sich auf dokumentarische Alltagsbeobachtungen konzentrierte. Detlef Gumm, 1947 in Ludwigshafen geboren, spezialisierte sich früh auf Tonaufnahmen, studierte Ende der sechziger Jahre in Berlin Publizistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte und arbeitete für das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Im Team mit Hans-Georg Ullrich entstanden rund hundert Dokumentarfilme, auch Spielfilme wie Dani Levys Du mich auch wurden von Känguruh-Film produziert. Volker Ullrich, seit 1999 an Känguruh-Film beteiligt, betreut neben Berlin – Ecke Bundesplatz auch eigene Filmproduktionen.

Das Känguruh-Büro wurde zum Dreh- und Angelpunkt des Langzeitprojektes Berlin – Ecke Bundesplatz. Planungsbesprechungen fanden oft draußen statt, monatelang wurde drinnen mit der Cutterin Simone Klier an der Montage gearbeitet. Kein Wunder, dass die Filmemacher im Lauf der Jahre manche Krisenhilfe leisteten und Freundschaften mit den Protagonisten entstanden. So sammelte sich eine Kleine-Welt-Geschichte an, die die Kreisläufe von Geburt und Tod, Liebe und Arbeit, Schaffen und Scheitern (Heike Mundzeck) beschrieb. Kieztypische Gewerbe wurden porträtiert, darunter auch eine Heilpraktikerin, die eine Patientin in Hypnose versetzte und danach überzeugt war, ihre Patientin werde binnen eines Jahres zur Abteilungsleiterin aufsteigen. Aus solchen Milieu-Skizzen und Protagonisten-Episoden entwickelten Hans-Georg Ullrich und Detlef Gumm größere Porträts. Eines widmete sich zum Beispiel dem Bildungsexperten Carl-Heinz Evers, der in der Koblenzer Straße 7 wohnte. Der überzeugte SPD-Politiker war von 1963 bis 1970 Schul-Senator von Berlin und ein maßgeblicher Vordenker der Gesamtschule und -hochschule. Er kämpfte für die Demokratisierung des Bildungswesens, für gleiche Bildungschancen – ein auch heute aktuelles Thema. 1970 trat Evers, eine authentische prinzipientreue Persönlichkeit, aus Protest gegen finanzielle Abstriche am Bildungsetat von seinem Senatorenposten zurück. 1993 verließ er die SPD, weil er mit deren restriktiver Asylpolitik nicht einverstanden war. Evers und seine Frau Micha gehörten bis ins hohe Alter einem Kreis von Wilmersdorfer Friedensaktivisten an. Berlin – Ecke Bundesplatz begleitete sie zu Demonstrationen, etwa wenn die Gruppe an der Uhland-/Ecke Grunewaldstraße der Ermordung eines jungen Deserteurs in den letzten Kriegstagen gedachte und Zeichen gegen den Neonazismus setzte. Das Paar schilderte in seinen Memoiren die vom Nationalsozialismus infizierte Jugend, die grausamen Kriegserlebnisse und seinen schwierigen Weg zwischen den Fronten des Kalten Krieges. Eine Fortführung des Porträts war geplant, weil diese politische Dimension in Berlin – Ecke Bundesplatz den Machern wichtig erschien, doch es kam nicht dazu. Carl-Heinz Evers starb 2010, seine Frau im Jahr darauf.

Detlef Gumm und Hans-Georg Ullrich, 2008

Carl-Heinz Evers, 1990

Nur ein paar Häuser von den Evers entfernt öffnete die alleinerziehende Mutter und Krankenpflegehelferin Marina Storbeck den Filmemachern die Tür und ließ sie an ihrem schwierigen Alltag teilhaben. Die optimistische vitale Frau wurde durch Geldnot, chronische Krankheiten, Kindheitstraumata, unverhoffte Schwangerschaften bis zur Erschöpfung getrieben. Einerseits waren die Filmemacher neutrale Beobachter, andererseits oft um praktische Hilfen angerufene Paten. So entstand das Porträt einer Frauenfamilie, die früh an den Rand gedrängt war. Marina Storbecks Versuche, im geliebten Beruf zu arbeiten, brachen ab, ebenso die Beziehungen zu den drei Vätern ihrer Töchter und ihres Sohnes. Ihre fordernde Mutter, selbst in zerrüttete Familienverhältnisse verstrickt, war mehr Belastung als Hilfe. Ohne Marina Storbecks Vertrauen, vor allem ihre Erfahrung, dass die Filmarbeit half, Situationen zu reflektieren, wäre Mütter und Töchter, ein bis 2008 fortgeführtes Porträt, nicht möglich gewesen. Heute lebt sie in einer vom Jobcenter zugewiesenen Wohnung am Stadtrand. Überlebensklug im Umgang mit den Behörden, will sie sich von ihrer Arbeitslosigkeit und der angeschlagenen Gesundheit nicht unterkriegen lassen, auch die Hoffnung auf den richtigen Mann hat nicht nachgelassen. Eine Tochter fühlt sich und die Familie durch digital kursierende Informationen über Berlin – Ecke Bundesplatz geoutet, spielt andererseits gern ab und zu in der Scripted-reality-Serie Berlin bei Tag und Nacht auf RTL2 mit.

Familie Storbeck, 2008

Dieses Buch lädt Sie dazu ein, mir in den Mikrokosmos von Berlin – Ecke Bundesplatz zu folgen. Sie lernen anregende Geschichten und höchst widersprüchliche Protagonisten kennen – vor allem auch durch die einfühlsamen Porträts der Fotografin Ingeborg Ullrich. Zusammen erzählen sie vom Wandel eines Berliner Kiezes.

Ein Solisten-Ensemble

Familie Köpcke

Die Köpckes sind eine musikalische Familie. Köpcke-Bande nannten sie sich, als die Kinder und der Vater eine Art Trapp-Familie gründen und berühmt werden wollten. Das ist lange her. Statt Kinderstars zu werden, womöglich im Privatfernsehen, das vor der Jahrtausendwende hemmungslos expandierte, gingen die jüngeren Köpcke-Kinder in Wilmersdorf zur Schule und suchten ihre eigenen Wege ins Leben. Der kesse Name Die Köpcke-Bande blieb indes als Titel ihres Familienporträts in Berlin – Ecke Bundesplatz erhalten.

Rund fünfzehn Jahre war eine große Erdgeschosswohnung in der ruhigen Koblenzer Straße ihre Basisstation und Heimat, das Nest der Köpckes. Seither sind sie in viele Winde zerstreut, treffen sich aber zu gemeinsamen Gesangsprojekten immer wieder. Die Fliehkräfte, die sie vom alten Familienmodell wegtragen, sind mindestens so stark wie die Sehnsucht nach Nähe, vor allem zwischen den Großeltern und den neun Enkelkindern, zu denen um die Jahreswende 2013 das zehnte, die kleine Matilda, hinzukam.

Wie jeder Familienroman stellt die Geschichte der Köpckes, die in Berlin – Ecke Bundesplatz erzählt und im Leben außerhalb der Dokumentation fortwährend ergänzt wird, Fragen, die alle Menschen gleichermaßen beschäftigen. Wie viel Glück, wie viel Scheitern wiederholt sich in den Lebensmustern der Generationen? Welche Brüche, Einschnitte und Zufälle fordern zu Entscheidungen, zu neuen Taten heraus? Wie behütet man seine Kinder und bereitet sie doch auf die Härten vor? Was bedeutet Familie in gut situierten bildungsbürgerlichen Kreisen heute? Was ist Glück? Sollte man Konflikte ergründen und Zerreißproben riskieren oder sie besser überspielen und gleich einem Konzert mit Schall und Rauch in Harmonie auflösen? Die Antworten, so viel steht fest, sind nicht auf einen Nenner zu bringen.

Ulli von Soden-Köpcke macht bei unserem Treffen anschauliche, ausgreifende Armbewegungen, als sie erstaunt und freudig registriert, wie sich die Kreise schließen. So sind sie und ihr Mann nach elf Jahren Landleben seit 2011 wieder in Berlin ansässig. Sohn Moritz ist mit seiner Frau Vivi und zwei Kindern nach ein paar Jahren in Schweden ebenfalls nach Berlin zurückgekehrt, wenn auch vermutlich nicht für immer. Die Töchter Maria und Antonia wurden beide Sängerinnen – eine Parallele zu ihrem Vater Niels, der bis vor wenigen Jahren in seinem Sängerberuf Altus-Partien sang. Alle drei eint die Liebe zur alten Musik, so dass sie hin und wieder zu Konzerten zusammenfinden. Antonia arbeitet als Musiklehrerin just an der Birger-Forell-Grundschule in der Koblenzer Straße, die alle drei jüngeren Köpcke-Kinder besucht haben. Nicht zuletzt: Maria und Antonia wurden beide zu Beginn ihres Studiums schwanger und lebten einige Zeit als alleinstehende Mütter, bevor sie ihre jetzigen Lebenspartner fanden. Ein Tabu war das nicht, bekräftigt Ulli, die als junge Frau selbst eine ähnlich schwierige Situation erlebte.

Bei meinem Besuch in der Wohnung des Ehepaars in Berlin-Wannsee sitzen wir umgeben von Büchern, Noten und selbst geschreinerten Landhausmöbeln beisammen. Ulli Köpcke – auf den vollständigen Namen legt sie nicht unbedingt Wert – erzählt mit strahlendem Sonnengesicht und ansteckendem Lachen von den Kindern und Enkeln und ihren kommenden Aktivitäten. Hund Ronja hat sich nach lautem Begrüßungsgebell zum Schlafen niedergelassen. Niels Köpcke, ein Mann mit weißer Löwenmähne und Backenbart, dem man die Liebe zum Kochen und guten Leben ansieht, knüpft zufrieden an das Bild von den sich schließenden Kreisen an. Auch der nächste Coup der unternehmungslustigen Köpckes wiederholt einen gelebten Traum. Seit Herbst 2012 sind sie nämlich stolze Besitzer eines Häuschens am Vätternsee in Schweden. Die nördlichen Wälder, der weite Himmel und das kühle Süßwasser locken sie, denn schon in den neunziger Jahren verbrachte die Familie jedes Jahr die Ferien in einem Schwedenhäuschen in Östergotland. Wie damals kann Niels Köpcke im neuen Haus zimmern und schreinern, alle Kinder mit Partnern und Enkeln können hier gemeinsam Ferien machen. Stolz zeigt er die Bilder des neu erworbenen Astrid-Lindgren-Idylls.

Familie Köpcke, 1992

Im ersten Schwedenhäuschen zimmerte er eine Veranda und schmückte sie mit gedrechselten alten Berliner Treppengeländern. In Wilmersdorf gehörte das Sägen, Schleifen und Schnitzen auch zum Alltag. Musikinstrumente und Noten wurden einfach abgedeckt, eine Decke auf dem Boden ausgebreitet und los ging’s mit Niels’ Herzenshobby, erzählt seine Frau.

Zwei Hauptberufe füllten darüber hinaus die Tage prall. Niels Köpcke ist Sänger, Chorleiter, Arrangeur und Komponist. Doch den sicheren Lebensunterhalt für die Familie verdiente er als Sprecher, genauer: als Redner bei Trauerfeiern und Beerdigungen. Bis heute geht er dieser Profession nach – pro Auftrag ein Vorgespräch mit den Angehörigen, das Konzipieren der Rede, die Anfahrt und die Sache selbst.

1998 – die Kinder, noch nicht alle, standen auf eigenen Füßen – kaufte das Paar unter günstigen Konstellationen einen Vierseithof im Ruppiner Land. Wieder geliebte Bauarbeiten: für eine neue Veranda, einen Holzboden in der Feldsteinscheune, eine Bühne, die fachgerechte Elektrik und so weiter. Auch Holzskulpturen für den Hof entstanden, Blumenrabatten, Baumstumpfsitze ums Lagerfeuer und vieles mehr. Die Apfelbäume, die Blumenbeete und Schafe, die den Hof billig mähten, dazu die Katzen und Ronja, der Hund – Arbeit genug. Lange Autofahrten waren notwendig, flexibel arrangiert für die Begräbnisreden oder aber die Betreuung der Enkelkinder, wann immer sie möglich und nötig war. Auch das Leben in der Banzendorfer Dorfgemeinschaft, in Vereinsund Förderinitiativen und der lokalen Kulturpolitik war wichtig. Die Banzendorfer Kulturscheune, 1999 locker improvisiert im attraktiven Hof-Gebäude der Köpckes, wurde ein Markenzeichen. Elf Jahre lang waren sie die Organisatoren eines jährlichen Festivals der kulturellen Vielfalt, das ohne ihre Initiative nie entstanden wäre. Die Energie schien unerschöpflich, bis die Knochen knirschten.

Wir hören auf, wenn’s am besten schmeckt, begründete Niels Köpcke ihren Entschluss im Lokalblatt Märkische Allgemeine. Ulli erinnert sich in unserem Gespräch an ihr mulmiges Gefühl, als jemand während des Festivals bedauernd bemerkte: Das ist aber viel Arbeit, Frau Köpcke! Wenn es angestrengt wirkte, wie sie Tabletts über den Hof trug, dann konnte die Sache nicht mehr so recht stimmen. Die Idee war doch, ihre Freude an der Musik mit den Besuchern zu teilen.

Jetzt, nach einem Jahr in Berlin, haben sie sich erholt. Der neue Traum erfüllt sie ganz. Trotz Niels Köpckes angegriffener Gesundheit ist die Kraft wieder da, elf Stunden nach Schweden zu reisen – ein paar Stunden Fähre inklusive. Von nun an pendeln sie in größeren Abständen wieder zwischen Stadt und Land, Zweisamkeit und Großfamilie, Geldverdienen, Holzbau und Musik. Das neue Haus, diese verrückte Sache, wie Niels Köpcke einräumt, beweist einfach, dass noch möglich ist, was er in Berlin – Ecke Bundesplatz nach einer schweren Operation als sein Lebenselixier gegen die Gewissheit des Todes beschrieb: intensiv und gut ausgefüllt zu leben. Im selben Film sagte seine Frau Ulli über ihre Rolle in der Familie: Ich strebe danach, wie eine Radnabe die Mitte, das ruhige Zentrum zu sein – was ich nie schaffen werde! Sie ist mittendrin in der geliebten Übung.

Divertimento Vokale, 1988

Ein Zufall machte Familie Köpcke mit dem Team von Berlin – Ecke Bundesplatz bekannt. Hans-Georg Ullrich und Detlef Gumm waren auf der Suche nach dem ehemaligen Schulsenator Carl-Heinz Evers, der in der Koblenzer Straße wohnte. Sie irrten sich in der Hausnummer, so dass der Name des Gesuchten auf keinem Briefkasten zu finden war. Immerhin fiel ihnen ein Zettel ins Auge, auf dem Niels Köpcke ein Konzert ankündigte, das sein Gesangsquartett Divertimento Vocale in der Wilmersdorfer Auen-Kirche geben würde. Die Filmemacher klingelten bei den Köpckes, um mehr über die Musiker in Erfahrung zu bringen, und trafen auf die quirlige Familie. So wurden die ersten Verbindungen geknüpft. Man kam ins Gespräch über ihr Projekt und bald standen die Köpckes vor der Frage, ob sie sich für die Alltagschronik des Kiezes filmen lassen wollten.

Niels Köpcke hatte Divertimento Vocale 1986 zusammen mit drei Sänger-Kollegen gegründet. Das Ensemble widmete sich der geistlichen und höfischen Musik, diversen Volkslied- und Kunstliedtraditionen sowie mehrstimmig bearbeiteten alten Schlagern. Die heitere unterhaltsame Seite der A-Capella-Musik stand ganz oben auf dem Programm. Köpcke, der ausgebildete Counter-Tenor, suchte wie alle Sänger in dieser außergewöhnlichen Stimmlage enthusiastisch danach, sein Repertoire zu erweitern. Er bearbeitete Chorsätze und Lieder für das Ensemble und probte mit seinen Partnern in der Familienwohnung, nebenher die Organisation der Auftritte und die Werbung dafür. Von Berlin – Ecke Bundesplatz erhoffte er sich eine gute Portion zusätzliche Außenwirkung, einen wahren Werbeschub. Und da auch die Köpcke-Kinder viel mit dem Vater sangen und gern bei kleinen Couplets und selbstgeschriebenen Liedern mitmachten, während Ulli privat begeistert mitsang, allen den Rücken freihielt und fürs alltägliche Wohlfühl-Divertimento zuständig war, ging die Familie selbstbewusst auf das Interesse der Filmemacher ein.

Maria, Moritz und Antonia waren neun, acht und fünf Jahre alt, als die Köpckes das Team zu ausgewählten Szenen ihres Familienlebens in die Koblenzer Straße 8 einluden.

Eine dieser Ur-Episoden in Berlin – Ecke Bundesplatz zeigte die fünf beim Frühstück im Bett. Das Besondere: ein extrem langer selbstgebauter Tisch überdeckte das Bett der Eltern, so dass alle bequem sitzen, Brötchen schmieren und Joghurt essen konnten.

Frühstück im Bett, 1986

Nesthäkchen Antonia, genannt Toni, thronte zwischen Vater und Mutter am Kopfende, Maria und Moritz ihnen gegenüber, dazwischen ein graues Kätzchen. Man saß gemütlich kauend in Morgenmänteln beisammen. Das Löwenhaupt des Vaters war noch braun, die Mutter trug dieselbe dunkelblonde Cleopatra-Frisur wie heute. Den Kindern Maria, Toni und Moritz, genannt Momo, sah man an, dass sie leicht verträumt eine gemütliche Runde wiederholten, die ihnen sehr vertraut war – völlig unbeeindruckt von der Anwesenheit der Filmemacher.

Das Frühstücksritual war für Toni der Inbegriff ihres Kinderglücks. Auch zwanzig Jahre später erinnerte sie sich an die Geborgenheit. Sie erzählte, dass sie eine Kerze, die noch wie damals duftete, unter verpackten alten Kindersachen wiedergefunden hatte und Heimweh nach dem Unwiederbringlichen in ihr aufgestiegen war. Der Verlust der Kindheit blieb für die jüngste Tochter lange Zeit schmerzlich.

Maria Köpcke, die das Wilmersdorfer Nest aus eigenen Stücken relativ früh verließ, zählte die Filmemacher, mit denen die ganze Familie freundschaftlich verbunden blieb, zu ihren schönen Kindheitserinnerungen hinzu. Ihr seid ein Stück meiner Heimat, schrieb sie auf eine Postkarte an Känguruh-Film, als alle Köpckes den Kiez verlassen hatten – dankbar für beides, ihre Kindheit und die auf Film festgehaltenen Lebensgeschichten.

Auch Niels Köpcke fand sich in den abgebildeten Episoden wieder. Einem Reporter erklärte er später, wie gut der Zusammenklang zwischen ihrem Alltag im und außerhalb des Films war: Mal abgesehen vom ersten halben Jahr, hat sich der Film so selbstverständlich in unser Leben eingefügt, dass wir uns eigentlich nicht mehr haben beeinflussen lassen. Wir waren so, wie wir waren.

Florian von Soden, Ullis Sohn aus erster Ehe, fehlte indes im Familientableau. Er sah sich selbst als Leerstelle in der Filmdokumentation und hatte als vielbeschäftigter Geschäftsmann und Vater keine Zeit, seine Geschichte in einem persönlichen Gespräch zu ergänzen. Der 1970 geborene Florian war ein pubertierender junger Mann von sechzehn Jahren, als die Köpckes zu Berlin – Ecke Bundesplatz stießen. Während der frühen Dreharbeiten, beim Frühstück im Bett beispielsweise, lebte er bei seinem leiblichen Vater in Bayern. Später hatte er sein eigenes Reich in einer kleinen Hauswartwohnung im selben Stockwerk wie die Köpckes, allerdings begehbar vom Hof aus, also wunderbar frei von der elterlichen Kontrolle über Kommen und Gehen. Gefragt nach dem großen Bruder, bedauerte Maria im Gespräch, dass Florian schon weg war, als ich anfing, mich dafür zu interessieren, dass ich einen großen Bruder hab’.

Die Köpckes vergaßen nie, den scheinbar verlorengegangenen Sohn in ihren Äußerungen über Berlin – Ecke Bundesplatz zu erwähnen. Niels Köpcke vermutete, Grund für die fehlenden Drehs sei das Dilemma der Filmemacher gewesen, nach Florians Rückkehr schwerlich einen sechsten Protagonisten in die Dramaturgie einführen zu können. Das Team seinerseits konstatierte, dass Florian in Phasen sehr präsent in der Familie gewesen sei, hilfsbereit und explizit zugehörig, zu anderen Zeiten jedoch eigene Wege ging und keine ihn betreffenden Einladungen zum Dreh von der Familie gekommen seien. Spannungen, wie sie wohl in allen Patchwork-Familien zutage treten, mochten eine Rolle gespielt haben, wurden von den Köpckes jedoch zu dem privaten Bereich gezählt, der in Berlin – Ecke Bundesplatz nicht verhandelt werden sollte. Wie alle Protagonisten der Langzeitdokumentation reklamierten sie, dass das Private letztlich doch privat bleibt, so im Nachhinein das Resümee einer Reporterin, die über die Banzendorfer Fernsehstars schrieb.

Im selben Artikel unterstrich Niels Köpcke, dass die Filmarbeit für ihn ein Fotoalbum sei, ein schöneres über unser Familienleben könnten wir nicht haben.

Anhand von Kinderfotografien in Schwarzweiß warf der Film Die Köpcke-Bande indes tatsächlich ein Licht auf Florian. Sie zeigen den properen fröhlichen Jungen und seine Mutter. Ulli von Soden-Köpcke erzählte zu diesen Reminiszenzen, dass sie sich aus eigenem Erleben gut mit dem schwierigen Alltag ihrer Töchter Maria und Antonia identifizieren konnte, die beide kurz nach der Jahrtausendwende Mütter geworden waren und ihre Kleinkinder größtenteils allein betreuten. Als sie mit Florian in den frühen siebziger Jahren nach Berlin zurückkehrte und ihre erste Ehe geschieden wurde, waren die Bedingungen andere, aber den bekannten Zwiespalt zwischen Belastung und Freude erfuhr sie am eigenen Leib: Frauen in der Situation haben es unendlich schwer, aber sie bekommen auch sehr viel von den Kindern zurück – darüber wird viel zu wenig gesprochen, ist Ulli Köpcke überzeugt.

Das Bild, das sie dann in den späten achtziger Jahren in Berlin – Ecke Bundesplatz von sich und ihrer neuen Familie zeichnete, betonte unwillkürlich eine andere Lebensphase. Die Köpckes balancierten die unterschiedlichen Interessen zwischen Künstlerexistenz und bürgerlich behütetem Familienleben unter Wahrung der traditionellen Rollenbilder aus. Die Experimente, die um 1968 neue Lebensformen kreierten, schienen in ihrem Außenbild in aller Zufriedenheit beerdigt. Der Kommentar in Berlin – Ecke Bundesplatz benannte lakonisch die Fakten: Das ist Ulli Köpcke – früher war sie Tänzerin, heute ist die Hausfrau. Und: Niels Köpcke hat zwei Berufe, er ist Sänger und Begräbnisredner. Was die Köpckes in Berlin – Ecke Bundesplatz über sich erzählten, beschrieb ein sich Einrichten im stabilen, eher konservativen Familienmodell, das die gute Ausbildung der Kinder, allerlei Freiraum für die Chormusik und nicht zuletzt das Banzendorf-Abenteuer ermöglichte. Zwei Dinge waren wichtig. Zum einen, dass wir uns die Zweisamkeit erhalten. Zum andern das Glück, wohlgeratene Kinder ins Leben zu entlassen. Ein Erntefest, nennt Ulli Köpcke heute die Freude des Paares über das Gelungene.

Ulrike von Soden-Köpcke, geborene Pinzler, kam 1946 aufgrund von Nachkriegswirren in Flensburg zur Welt, wuchs jedoch in Westberlin auf, wo ihre Familie herstammt. Ihre Eltern waren Gymnastiklehrer, eng verbunden mit den deutschen Größen der modernen Gymnastik- und Tanzbewegung, die schon in den zwanziger Jahren eigene Schulen errichteten. Rudolf von Laban, Mary Wigman, deren Schüler Harald Kreutzberg, Gret Palucca, Dore Hoyer und Kurt Jooss gehörten zu den großen Vorbildern, die das klassische Ballett ablehnten und ihre künstlerischen Choreographien aus Bewegungselementen der rhythmischen Gymnastik und der freien Improvisation entwickelten. Der einflussreichste Lehrer der Eltern war Hinrich Medau, der sich als Sportpädagoge verstand und ab 1929 eine prominente Gymnastikschule in Berlin leitete, wo beide Eltern arbeiteten. Hinrich Medau und andere Vorreiter der rhythmischen Gymnastik arbeiteten auch im Nationalsozialismus weiter. Das moderne Körperbild ihrer Lehren wurde in Teilen vom Bund deutscher Mädchen (BDM) aufgegriffen und als nordischer Schönheitsbegriff propagiert. Neben der pädagogischen Arbeit in ihren Studios choreografierte Medau auch Bewegungschöre, wie sie heute vor allem durch die Olympia-Filme von Leni Riefenstahl zu markanten Zeichen ornamentaler Masseninszenierung geronnen sind. Ullis Mutter Ruth tanzte als ganz junges Mädchen mit hunderten anderen im Beiprogramm zur Eröffnung der Olympischen Spiele 1936 mit. Hinrich Medaus Schule, im Krieg nach Breslau und bei Kriegsende nach Flensburg verlegt, wurde schließlich in Coburg neu eröffnet und von dessen Sohn zu einer der heute größten Ausbildungsstätten für Physiotherapeuten, Sport- und Tanzpädagogen weiterentwickelt.

Ulli Köpcke, 1997

Ulli nahm die Körperkünste der rhythmischen Gymnastik schon mit der Muttermilch auf. Im Gespräch erinnerte sie sich, als Kind immer den Beinamen die fröhliche Ulli gehabt zu haben. Und, fügte sie hinzu, wir waren alle so harmoniesüchtig. Mit sechzehn oder siebzehn – die präzise Erinnerung verflüchtigte sich – wechselte sie ins Studio von Mary Wigman in der Rheinbabenallee, um dort die künstlerischen Ausdrucksmittel des modernen Tanzes zu studieren. Wie ein Schwamm habe sie aufgesogen, was ihr dort geboten wurde, wenn beispielsweise Samy Molcho, der Gott der Pantomime, einen Kurs leitete. Ich hab’ auch Ballett gemacht, für die Prüfung, aber wir waren immer stolz darauf, Moderne zu sein, erklärte sie ihren Tanz-Schwerpunkt später in Berlin – Ecke Bundesplatz.

Als Gymnastiklehrerin konnte Ulli mit ihrer Ausbildung jederzeit arbeiten, daneben aber interessierte sie die Mitarbeit bei Motion, einer freien Gruppe, die eigene Modern-Dance-Choreografien entwickelte. Die Gruppe trat unter anderem in der Westberliner Akademie der Künste auf und gastierte in Hamburg, Hannover und anderswo; eines ihrer prominentesten Mitglieder war die Tänzerin und Choreografin Susanne Linke. Ihre intensivste berufliche Phase erlebte Ulli in der Gruppe Neuer Tanz Berlin unter Maja Chmièl.

Parallel zur Arbeit im Mary-Wigman-Studio kam das Angebot, bei Wieland Wagners Inszenierungen in Bayreuth mitzuwirken. In Bewegungschören, die Teil seiner legendären Neu-Bayreuther Interpretationen der Opern seines Großvaters waren, tanzte Ulli nach Choreografien von Wagners Frau Gertrud auf der Bühne des Festspielhauses. Das Bacchanal in Tannhäuser ist ihr in glänzender Erinnerung, auch die Blumenmädchenszene in Parsival oder lichtdramaturgisch raffinierte Szenen in Die Meistersinger und Götterdämmerung. Zehn Wochen spartanisches Leben in Bayreuther Unterkünften, faszinierende Proben unter den beiden Wagners und dann die beifallumrauschten Aufführungen – die kurze heftige Tanzkarriere im Schlagschatten des bewunderten Wieland Wagner, der Bayreuth vom Nachhall der Nazi-Ära zu befreien versuchte, versetzte die Nachwuchstänzerin in große Begeisterung. Wieland Wagners überraschender Tod im Herbst 1966, so erinnert sich Ulli Köpcke, war ein schockierender Bruch – eine Welt brach da zusammen.

Solange sie Tänzerin war, habe sie nichts anderes gehabt und sich rund um die Uhr auf die Oper und die Tanzprojekte einlassen können, erzählte sie in Berlin – Ecke Bundesplatz, als sie die eigene Karriere mit den Startbedingungen ihrer Töchter verglich. Irgendwann in der Bayreuther Ära begegnete der kaum zwanzigjährigen Tänzerin der acht Jahre ältere Münchener Kameramann Freiherr Hans-Dieter von Soden. Für Ulli stand fest, dass sie nach der Saison in Berlin weiter Gymnastik lehren würde, aber die beiden trafen sich wieder und verliebten sich. Von Soden, ein Nachkomme der protestantischen Linie einer in Süddeutschland weit verzweigten Adelsfamilie, heiratete Ulli und lebte mit ihr am Ammersee. Anfangs begleitete sie ihn bei Dreharbeiten und arbeitete als Scriptgirl, schaffte Ordnung unter den gedrehten Aufnahmen nach Art, Zahl und Inhalt. Fernsehshows in der Regie des später zum Neuen Deutschen Film stoßenden Reinhard Hauff drehte Dieter von Soden. Dann wollt’ ich Kinder und zu Hause sein, erzählte Ulli in Berlin – Ecke Bundesplatz über ihre damalige Stimmungslage.

Als sie sich am Ammersee um den neu geborenen Florian kümmerte, drehte Dieter von Soden ein paar Filme, die Geld einbrachten und ihm einen speziellen Platz in den deutschen Filmgeschichtsbüchern sicherten. Der bayrische Produzent Alois Brummer nutzte den lockeren Zeitgeist der 1968er-Ära kommerziell, indem er die Bahnhofskinos mit billigen Softpornos überschwemmte.

Etwas muss damals trotz der guten Gagen schiefgelaufen sein. Der traumhafte Ammersee, an dem Ulli fast sieben Jahre lebte, versprach kein Glück. Dass sie nicht länger Scriptgirl sein wollte, habe ihr damaliger Mann als Todesstoß empfunden. An interessante Arbeit schien er nicht heranzukommen. Kaum ein Produzent investierte im zusammenbrechenden Filmmarkt der frühen siebziger Jahre Geld in ambitionierte Projekte. Wie ein Fliegender Holländer sei der Freiherr auf dem See herumgesegelt und dabei in düstere Stimmung verfallen. Ich wollte nicht untätig daneben sitzen, erklärte Ulli ihren Entschluss, mit dem kleinen Florian zu den Eltern nach Berlin zurückzureisen und wieder als Gymnastiklehrerin zu arbeiten. Sie wünschte sich ein ruhiges ausgeglichenes Fahrwasser und glaubte, ihr Mann würde wie verabredet nachkommen und in Berlin einen neuen Start versuchen, doch daraus wurde nichts.

Zuerst bei den Eltern, dann in einer kleinen Wohnung mussten sich Mutter und Söhnchen mit dem Leben zu zweit arrangieren. Seit dieser Zeit war Ulli bewusst, dass sie die Hilfe ihrer Familie, besonders ihrer Mutter, nicht missen mochte. Die Ehe wurde geschieden, Florian behielt Kontakt zu seinem Vater und lebte anderthalb Jahre bei ihm am Ammersee, wo Dieter von Soden in späteren Jahren als Bootsbauer arbeitete. Ulli behielt den adligen Namen bei. Standesdünkel, sagt sie mit Nachdruck, bedeutete ihr dabei nichts. In einer Umwelt, die geschiedene Frauen stigmatisierte, ging es vielmehr darum zu zeigen, dass Florian mein Kind ist. Heute stutzt sie verwundert, dass ihr Sohn den Titel Freiherr deutlich hervorhebt.

Wenn die Köpcke-Bande in der Presse mit dem Nimbus einer heilen Familie gefeiert wurde, der älteste Sohn jedoch fehlte, wies seine Mutter auf den Wermutstropfen hin, während Stiefvater Niels für Florians handfeste Unterstützung bei allen Werbeaktivitäten und Programmheften der Banzendorfer Kulturscheune dankte. Florian von Soden ist Grafiker und Partner seiner koreanischen Frau Ji-Yeon von Soden in deren Berliner Design-Büro. Das vielbeschäftigte Paar hat einen Sohn und eine Tochter und betreibt neben der Agentur zudem ein Teehaus, in dem Ji-Yeon japanischkoreanisch kocht.

Als Florian ein Kind war, nahm die Mutter ihn manchmal in ihre Gymnastikkurse mit. Der Kinderchor der Wilmersdorfer Daniel-Gemeinde, wo Ulli wohnte, bot eine Möglichkeit zeitweiliger Entlastung. Der Junge war sinnvoll beschäftigt und die Mutter hatte eine Stunde für sich. Doch Niels Köpcke, damals Chorleiter, war im Begriff, Florian hinauszukomplimentieren. Es gab Gesprächsbedarf. So lernten sich Ulli von Soden und Niels Köpcke kennen. In Berlin – Ecke Bundesplatz erzählte sie während einer gymnastischen Dehnungsübung, dass sie nicht traurig gewesen sei, mit ihren Ehen und Geburten die Karriere als Tänzerin aufzugeben. Eine Lebensphase schien zufällig und sinnvoll die vorherige abzulösen. Bei der Übung ließ sie zuerst den einen, dann den anderen Arm über der Schulter kreisen, führte die Hände zu ihren ausgestreckten Füßen und murmelte ein nonchalantes Mantra: Und dann hat man einmal geheiratet … und dann hat man noch mal geheiratet …

Niels Köpcke, 1948 in Hamburg geboren, studierte Gesang – zunächst als Bariton, dann als Countertenor –, Theologie, Kirchenmusik und Kompositionslehre. Auch er machte Erfahrungen mit zwei frühen gescheiterten Ehen. 1971 kam er nach Berlin und ab 1975 arbeitete er freischaffend im weiten Feld der musikalischen Möglichkeiten. Musikbesessen und mit enormer Aktivität begnadet, trat er als Organist und Kirchenmusiker hervor, leitete Chöre und war in wechselnden Ensembles und als Solist zu hören, wo immer sein Stimmvolumen als Countertenor für interessante Aufgaben gefragt war. Eine Anekdote über seinen gewitzten Leichtsinn im Umgang mit der normbildenden Musikologie erzählt davon, dass er zusammen mit Kommilitonen einen vergessenen Komponisten wiederentdeckte, der in Wahrheit jedoch aus freien Stücken erfunden war und dessen Stücke die kesse Musiker-Bande selbst komponiert hatte. Sie schrieben ihm eine Vita und einen Werkkatalog auf den imaginären Leib und katapultierten den guten Mann damit sogar in Nachschlagewerke und Fachpublikationen.

Niels Köpcke selbst gewann zwischen 1987 und 1992 Preise bei Kompositionswettbewerben, unter anderen beim ZDF und SFB und einem Wettbewerb des Badischen Sängerbundes.

Mein gesamtes Sängerleben taucht nicht auf. Und dadurch bin ich eigentlich nur zur Hälfte im Film, beschwerte sich Niels Köpcke in Äußerungen zu Berlin – Ecke Bundesplatz