Berlin: Magische Knochen (Band 2) - Sarah Stoffers - E-Book

Berlin: Magische Knochen (Band 2) E-Book

Sarah Stoffers

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Beschreibung

"Ich weiß nicht, ob es je wieder gut wird. Wie könnte es das?" Die Herbststürme kommen nach Berlin und in den Kaffeeschenken herrscht Aufruhr. Auf den Straßen werden Bücher verbrannt. Die magische Geheimpolizei wittert überall Verrat. Die Stadt steht vor einer schicksalhaften Entscheidung und der Mann, der sie treffen soll, treibt sich im Vergnügungsviertel herum. Ein Zauberer, der vor seiner Verantwortung flieht, und eine Erfinderin, die bereits zu viel verloren hat, machen sich gemeinsam auf die Suche nach einer verschollenen Geliebten. Ihre Reise führt sie bis weiter über Berlin hinaus, in ein Abenteuer voller Hexen, Luftpiraten und wandelnder Leichen. Und zu einer Frau, die den Tod betrogen hat. "Berlin: Magische Knochen" ist der zweite, in sich abgeschlossene, Teil der Steampunk-Reihe von Sarah Stoffers.

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Berlin

Magische Knochen

Sarah Stoffers

Content Notes

Bei Triggerwarnungen oder Content Notes handelt es sich um die Benennung von sensiblen Themen, damit die Leser*innen selbst die Verantwortung ergreifen und sich entscheiden können, ob sie einen bestimmten Text (in einer bestimmten seelischen Verfassung) lesen wollen.

Tod, Trauma, Blut, Kindesmißbrauch, Krankheiten, Drogen, Suizid, Spritzen

© 2021 Amrûn Verlag Jürgen Eglseer, Traunstein6/2021

Lektorat: Susanne Pavlovic | TextehexeSensitivity Reading: Nora Bendzko

Umschlaggestaltung: Claudia Toman

ISBN TB 978-3-95869-412-5Printed in the EU

Besuchen Sie unsere Webseite:

http://amrun-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar

v1/21

Für all jene, die mir ins rostige Herz der Stadt gefolgt sind.

Meine Nebenfigur Morin Tiefwurz ist das nichtbinäre Oberhaupt eines Hexenzirkels und benutzt das Neopronomen xier. Aber auch wenn xier magisch ist, gibt es nichtbinäre Menschen tatsächlich. Sie benutzen verschiedene Formen von Pronomen. Meine sind zum Beispiel sier oder they.

Prolog

Rosas Lachen perlte hell und glücklich durch ihre Erinnerung. Es steigerte sich zu einem Jauchzen und endete in einem Prusten, als Mathilda hinter ihr her in die Brandung stolperte. Das Wasser war eiskalt über sie hinweggeschwappt. Graugrün und salzig. Gischtgekrönt. Leer gefegt. Die Möwen hatten sich in den weiten Himmel geschwungen und für einen Moment glaubte Mathilda, die Hitze des Sandes noch einmal zu spüren. Doch als sie ihre Finger ausstreckte, fühlte sie nur die Wärme des Heizungsrohrs. Es blubberte und knackte und Mathildas Stirn sank schwer dagegen.

Der Herbst hatte den Sommer abgelöst und als die ersten Stürme über Berlin aufzogen, sorgten Faulgasleitungen im Turm der Himmelsbrücks für eine wohlige Wärme. Sie mündeten in dem Heizungskeller, in dem Mathilda jetzt stand. Die bauchigen Tanks und die muffige Dunkelheit verbargen sie vor neugierigen Blicken, denn natürlich durfte sie nicht hier sein. Sie war in diesem Turm nicht willkommen. Heute noch ein bisschen weniger als an jedem anderen Tag des Jahres. Mathilda hob den Kopf vom blubbernden Rohr, um zwischen den Schlitzen des Lüftungsgitters hindurchzuspähen. Es war die einzige Verbindung zwischen dem Keller voller Heizungskessel und der ehrwürdigen Familiengruft der Himmelsbrücks.

Auf der anderen Seite des Lüftungsgitters waren Menschen in hellen Roben versammelt. Sie trugen weiße Papierlaternen und standen um ein Loch im Boden. Eine Steinplatte war entfernt worden, darunter klaffte ein schwarzer Schlund. »Es ist an der Zeit für dich, nach Hause zurückzukehren, Rosa Henriette Himmelsbrück«, sagte eine Frau in ihrer Mitte. Sie wandte dem Lüftungsgitter den Rücken zu und Mathilda erkannte ihre Stimme nicht. Irgendeine Verwandte womöglich oder eine Priesterin der Leere. »Du wirst am Fuße dieses Turmes Ruhe finden. Deine Angelegenheiten sind geregelt, deine Besitztümer versiegelt, dein Weg beendet.«

Das konnte Mathilda bezeugen, denn Rosa war in ihre Arme gestolpert, voller Todesangst und nach Luft ringend. Manchmal träumte sie davon, den Griff ihrer Freundin wieder zu spüren. Die schlanken Finger in Mathildas Arm gekrallt und von Krämpfen geschüttelt. Mathilda hatte nichts tun können. Die Frau, der sie gerade ihre Liebe gestanden hatte, war in ihren Armen gestorben. Du bist jetzt 19 Tage fort, teilte sie Rosa in Gedanken mit. Die Beerdigung hat sich verschoben, durch die Leichenbeschau, die Gerichtsverhandlung und das Drama dazwischen.

Die Jagd nach Rosas Mörderin hatte Zeit gekostet, doch nun waren alle Fragen beantwortet. Die Gendarmerie hatte den Leichnam der Familie übergeben und die Beisetzung war vorbereitet worden. Darüber waren die Tage zu Wochen geworden. Als es endlich so weit war, hatte es keine Anzeige im Kurier gegeben, keine Totenwache und kein Leichenfrühstück. Und niemand hat mir eine Einladung geschickt. Aber das konnte Mathilda der Familie Himmelsbrück nicht verdenken, auch wenn inzwischen ganz Berlin wusste, dass sie Rosa nicht umgebracht hatte.

»Deine Knochen werden das Fundament dieses Hauses sein, der Schutz deiner Familie und die Zukunft deines Namens.« Eine weiß gekleidete Gestalt trat an das schwarze Loch. Das blonde Haar schimmerte im Schein der Laternen wie eine Krone und fast hätte Mathilda Fidelio Lafrenz in der langen Robe nicht wieder erkannt. Sein bleiches Gesicht war zu seiner Maske erstarrt, seine Schritte feierlich. Und obwohl er sie durch das Lüftungsgitter unmöglich sehen konnte, blickte er jetzt in ihre Richtung. In diesem Moment erkannte Mathilda den bodenlosen Schmerz in seinen Augen. Sie streckte die Finger zwischen den Gitterstäben hindurch und presste hilflos die Lippen zusammen. Dann senkte Fidelio den Kopf und ging formell in die Knie. Er hielt einen Leinensack in den Händen, der mit Rosas nackten Knochen gefüllt war. Links und rechts von ihm traten zwei Gestalten in bestickten Roben heran. Sie hoben die Hände und zeichneten gemeinsam das Symbol eines Zaubers in die Luft. Funken rannen ihnen von den Fingern und die ganze Trauergemeinde wiederholte die Geste. Obwohl Mathilda nichts von Magie verstand, konnte sie die unsichtbare Macht spüren, die plötzlich in der Gruft knisterte und wie ein Schauer über die uralten Mauern lief. Alle Trauernden senkten gemeinsam die Hände. Ein Luftzug ging durch die Gruft und die Spannung ließ nach. »Erschaffen durch Magie, gebunden durch Knochen, gehalten von Liebe«, sprach die Frau zum Zeichen, dass der Schutzzauber des Turms durch das Opfer von Rosas Knochen erneuert worden war. So, wie es seit Generationen bei jeder Beerdigung der Himmelsbrücks Brauch war.

Selbst im Tod alles für die Familie, dachte Mathilda verbittert. Zauberer sind einfach nur unheimlich! Natürlich hatte Fidelio ihr erklärt, dass in Knochen besondere Macht lag, genau wie in Blut oder Namen. Aber wenn es Mathildas Entscheidung gewesen wäre, hätte sie Rosas Asche ins Meer gestreut. An jenem einsamen Strand vielleicht, an dem sie damals zusammen gebadet hatten. Ihr Kuss hatte nach Salz und Marmelade geschmeckt und so wollte sie sich an Rosa erinnern. Mit Sonne und Lachen und Meer. Du fehlst mir so entsetzlich!

Es klapperte leise, als Fidelio den Leinensack an einem Seil bis zum Fundament des Turms herabließ. Die Knochen kamen mit einem dumpfen Laut auf und Mathilda ging in die Knie. Sie presste sich die Hände vor den Mund, um das Schluchzen zu ersticken. Ein Zittern lief durch ihren Körper, als der Schmerz über sie hinwegflutete. Sie musste nicht durch das Lüftungsgitter schauen, um zu wissen, was auf der anderen Seite geschah. Als Nächstes würde Fidelio eine Prise Salz in die Grube werfen. Die ganze Trauergemeinde würde seinem Beispiel folgen, und mit jeder Prise würde eine weitere Papierlaterne gelöscht werden, bis die ganze Gruft in Finsternis lag und die Lebenden über die Treppe zurück ins Tageslicht stiegen.

Mathilda sank in die Knie. Ihre Stirn berührte die Gitterstäbe, ihre Schultern bebten. Rosas Umarmungen blitzten in ihrer Erinnerung auf, ihr Spott und ihr Lächeln. Ihre schwingenden Schritte. Ihre Vorliebe für Zimtschnecken und salziges Popcorn. Ihr schwerer Körper in Mathilda Armen. Sie biss sich so fest in die Faust, dass es schmerzte. Auf der anderen Seite des Gitters wurden die Schatten mit jeder erlöschenden Flamme tiefer. Jetzt waren Schritte zu hören, das Rascheln von Roben, dann ein trockenes Hüsteln und ein ersticktes Schluchzen. Die Luft roch bitterscharf nach dem Ruß der Laternen und die Tür zur Gruft fiel schwer hinter dem letzten Trauergast ins Schloss. Ein Wimmern brach Mathilda über die Lippen. Sie tastete mit einer Hand unbeholfen in ihrer Hosentasche herum, bis sie das Seidenband fand. Ein dünner Streifen Stoff, den Rosa an dem Abend ihrer letzten Party im Haar getragen hatte. Er lag weich und glatt in ihren Fingern. Ein albernes Seidenband, während jeder Knochen, den Rosa jemals im Körper getragen hatte, am Grund des Turms ruhte.

Als Mathilda sich endlich wieder rührte, kniete sie in absoluter Schwärze. Sie tastete nach dem Leuchtstab an ihrem Werkzeuggürtel und zerbrach das Siegel. Grünes Licht floss über die Faulgastanks. Mathilda zog den Rotz durch die Nase hoch und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen ab. Sie war nicht für eine Beerdigung gekleidet, sondern trug den Arbeitsanzug einer Erfinderin. Nur für den Fall, dass sie jemand hier unten entdeckte.

Ich hätte gern ein Kleid für dich angezogen. Mathilda stemmte sich in die Höhe. Das hätte dir gefallen, oder? Die Werkzeuge an ihrem Gürtel klapperten leise. Sie zwängte sich mit dem Leuchtstab in der einen und Rosas Haarband in der anderen Hand zwischen den Rohren hindurch. Fort von der Gruft und dem Grab, zurück in die Stadt. Ich werde nicht wieder herkommen. Also pass auf dich auf!

Deshalb hatte sie bei der Beerdigung dabei sein müssen. Weil es nicht nur ein Abschied war, sondern ihre einzige Möglichkeit, Rosas Grab zu besuchen. Normalerweise wurde der Heizungskeller genauso fest verriegelt wie die Familiengruft der Himmelsbrücks. Und womöglich war das gut so.

Mathilda fand die Leiter, indem sie mit der Stiefelspitze dagegen stieß. Sie steckte Rosas Haarband zurück in ihre Tasche und nahm den Leuchtstab zwischen die Zähne, um die Hände zum Klettern freizuhaben. Ihre Schultern stießen gegen die Schachtwände, aber es waren nur ein paar Klafter. Kaum zwei Dutzend Sprossen aufwärts, bevor sie mit dem Kopf gegen einen Widerstand stieß. Sie stemmte eine Hand dagegen und dann kam ihr jemand auf der anderen Seite zur Hilfe. Die Luke wurde geöffnet, helles Tageslicht flutete herein und eine schlanke Hand wurde ihr entgegengestreckt. Sie schloss die Finger darum und stemmte sich aus dem Kellerloch. »Danke«, murmelte sie heiser und meinte damit auch die Hilfe beim Einbruch in den Heizungskeller.

Fidelio Lafrenz nickte knapp zu dieser Selbstverständlichkeit. Er kniete im Hinterhof der Himmelsbrücks, mit ernstem Gesicht und schwerem Blick. Die weiße Robe sah an ihm aus wie das Nachthemd eines Erwachsenen an einem Kind. Außerdem trug er eine Rune aus Asche auf der Stirn. Mathilda hätte ihm gern aus schierer Höflichkeit gesagt, dass es eine hübsche Beisetzung gewesen war, aber die Worte blieben in ihrer Kehle stecken. »Es fühlt sich kein bisschen besser an«, krächzte sie stattdessen. Mathilda saß am Rand der Luke und ihre Beine baumelten in den Schacht hinab. Neben ihnen in der Gasse stapelten sich leere Fässer. Ganz oben schlief eine gefleckte Katze in der Sonne.

»Nein, tut es nicht.« Lafrenz zögerte kurz und hockte sich dann neben sie aufs Pflaster. Er war heute noch blasser als sonst und auch seine nonchalante Art hatte deutlich darunter gelitten, dass er die Knochen seiner Verlobten bestattet hatte.

»Ich vermisse sie jeden Tag. Manchmal denke ich für ein paar Stunden nicht daran, dass sie tot ist, und wenn es mich wieder einholt, reißt mir die Wirklichkeit den Boden unter den Füßen weg.« Mathilda wendete den grünen Leuchtstab in den Fingern, um Lafrenz nicht ansehen zu müssen, denn sie wollte sich nicht vorstellen, wie es für ihn war. Der junge Zauberer hatte noch mehr Menschen verloren als sie.

»Manchmal kann ich es nicht ertragen, dass sie so achtlos sind«, spie er aus. Sie sah nun doch auf und folgte seinem Blick. Am Ende der Gasse öffneten sich die Häuser auf einen Platz. Gerede schwappte zu ihnen hinüber, der helle Ton einer Fahrradglocke mischte sich darunter und die dumpfe Hupe eines Automobils. Eine Hexe in einer smaragdgrünen Robe eilte geschäftig vorbei, ein Herr im Nadelstreifenanzug zündete sich gerade eine Zigarette an. Er atmete den Rauch genüsslich aus und hob das Gesicht himmelwärts. Der Herbst schenkte ihnen noch ein paar sonnige Stunden, aber aus dem Pflaster kroch schon die Kälte des nächsten Winters.

Mathilda wollte trotzdem noch ein bisschen hier sitzen bleiben, denn sobald sie diese Gasse hinablief, würde sie wieder in eine Stadt eintauchen, in der die Tage gleichgültig vorüberflossen. Voller Geschäftigkeit auf den Straßen, Luftschiffen über den Dächern und Geschwätz in den Kaffeeschenken. Ohne jeden Halt, an dem sie sich festklammern konnte, während andere Menschen zur Arbeit gingen, stritten oder sich aus Versehen verliebten. Mathilda fand sich nicht mehr unter ihnen zurecht. Sie hatte mit Rosas Tod ihren Kompass verloren und mit der Aufklärung des Verbrechens ihr Ziel. Alles, was blieb, war eine letzte offene Frage.

»Ich muss Ling finden«, sagte sie zu Fidelio, den Blick weiter auf den Platz am Ende der Gasse gerichtet. »Ich weiß, dass sich alle unsere Spuren im Nichts verlieren, aber ich kann sie nicht aufgeben.«

Er wusste es besser, als nach ihrer Hand zu greifen oder ihre Schulter zu drücken. Sie betrachteten nur einvernehmlich den fliegenden Händler, der gerade seinen Karren auf den Platz schob. So arglos, als hätte er keine größeren Sorgen als die Gildensteuer oder den Kampf um den besten Standplatz des Viertels. Er wandte ihrer Gasse den Rücken zu und spannte einen rot-weiß gestreiften Schirm auf. Sein Kupfertank blitzte auf. Das erste Kind blieb stehen.

»Kaffee mit Zimt, Kaffee mit Muskat«, rief der Mann über den Platz. »Heiße Maronen zum Kaffee. Frische Kürbispasteten. Treten Sie näher und gönnen Sie sich eine Pause.« Die Katze auf den Fässern gähnte träge.

»Ich könnte es nicht ertragen, noch jemanden zu verlieren«, sagte Mathilda leise und jetzt berührten sich ihre Schultern doch.

»Das wirst du nicht, Sturm«, sagte der junge Zauberer in der Nachthemdrobe. »Schließlich bin ich hier, um dir zu helfen.«

Mathilda zog die Beine aus dem Schacht. Inzwischen war ihr Hintern doch etwas kalt.

»Ich habe einer Person geschrieben, die Erfahrung darin hat, Menschen verschwinden zu lassen. Ich treffe sie heute Nacht in der Morgenröte«, sagte Lafrenz. Und bei der Aussicht, ein fliegendes Bordellschiff voller Glücksspiel und Alkohol zu betreten, glitt der Hauch eines Lächelns über sein Gesicht.

»Was ist mit der magischen Gilde?«, fragte Mathilda, denn immerhin war sie nicht die einzige mit Problemen.

»Hmm?«, brummte Lafrenz.

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass die ein paar Erklärungen von dir wollen«, sagte sie. »Ganz zu schweigen von der Verantwortung deines neuen Amtes.«

Er hatte das Amtssiegel des obersten Bibliothekars wieder unter seiner Kleidung versteckt und guckte auch sonst furchtbar unbeeindruckt. Mathilda streckte die Hand aus und rieb ihm mit dem Daumen die Rune von der Stirn. »Du wirst dich dem irgendwann stellen müssen!«, sagte sie mit mehr Vernunft, als sie tatsächlich empfand.

»Wusstest du, dass eine Partie Dynastie in der Morgenröte genauso gut dreizehn Minuten wie mehrere Tage dauern kann?«, fragte er. »Ich wollte da schon immer mal mitspielen!«

Mathilda rappelte sich in die Höhe und streckte sich, bis sie die Dehnung in ihren Muskeln spürte. »Sieh zu, dass dich niemand absticht«, sagte sie freundlich. »Falschspieler werden auch unter Luftfahrern nur in Grenzen toleriert. Und Zauberer gar nicht.«

Dann wandte sie sich auf der Ferse um und strebte die Gasse hinab, dem Licht und der Stadt entgegen.

»Hey Sturm«, rief der Zauberer ihr hinterher. »Warum kommst du nicht mit?«

Sie antwortete nicht, obwohl sie an einem anderen Tag gern mit auf das fliegende Bordellschiff gekommen wäre. Sie hätte zu viel Geld für selbstgebrannten Schnaps ausgegeben, vielleicht mit einem Freudenmädchen geflirtet und die Aussicht über die Stadt genossen. Allerdings hatte sie für heute Abend schon andere Pläne. Und mit etwas Glück würde sie dabei die schmerzhafte Wirklichkeit unter sich am Boden zurücklassen.

»Mathilda«, rief Lafrenz ihr durch die Gasse hinterher. »Wohin gehst du?« Sie rammte die Absätze ihrer Stiefel etwas fester ins Pflaster, gab vor, ihn nicht zu hören, und tauchte in die Geschäftigkeit der Stadt ein.

1. Mathilda

An diesem Abend ging ein feines Tröpfeln durch die Stadt. Der Wind trieb es gegen die verrammelten Fenster und über das Pflaster. Es sammelte sich in den Rillen zwischen den Kopfsteinen und rann in die Kanäle, wo es mit einem Gurgeln aufschäumte. Das Tröpfeln hüllte die Luftschiffe am Himmel über Berlin in einen silbrigen Schleier, der nur vereinzelt von den Scheinwerfern durchschnitten wurde.

Es ging im Knattern des Motors unter, als Mathilda Sturm sich tiefer über den Lenker beugte und beschleunigte. Die Straße schlängelte sich fünf Klafter unter ihr durch die Dämmerung. Die wenigen Laternen verschwammen, als sie auf ihrem Gleiter über ihnen vorbeiflog.

Mathildas wendige Flugmaschine glich einem Motorrad, nur dass sie Schubdüsen statt Rädern hatte, die den Himmelsstürmer in der Luft hielten. Er folgte ihren Bewegungen gehorsam, als sie sich in die Kurve lehnte. Regentropfen rannen ihr das Gesicht hinab und in den Kragen ihrer Lederjacke. Trotz der Fliegerbrille konnte sie bei diesem Wetter kaum zwei Klafter weit sehen.

Plötzlich tauchte ein Balkon vor ihr in der grauen Dämmerung auf. Mathilda drosselte den Schub und stürzte dem Pflaster entgegen. In letzter Sekunde fing sie den Sturzflug ab und schoss unter dem Balkon dahin. Ein triumphierendes Grinsen breitete sich auf ihren Lippen aus, als sie zwischen dem Spalier der Häuser hindurch flog. Unglaublich!

Sie steuerte ihren Gleiter quer durch Berlin! Nicht heimlich in den Tunneln unter der Stadt oder nachts am einsamen Strand, sondern hier, wo alle sie sehen konnten. Allerdings waren an diesem Abend nicht viele Leute auf den Straßen unterwegs. Sie hatten die Hüte ins Gesicht gezogen und eilten ihren Zielen mit langen Schritten entgegen. Nur an einem Fenster voller Glühbirnengold wurde ein kleines Gesicht an die Scheibe gedrückt. Mathilda nickte dem Kind zu und schoss dann weiter hinauf, dem grauen Himmel entgegen. Sie nahm eine Dachschräge, schlängelte sich zwischen zwei Schornsteinen hindurch und wich gerade noch einem ratternden Windrad aus.

Sie hätte ewig so weiter fliegen können, aber ein orange blinkendes Lämpchen machte sie darauf aufmerksam, dass der Tank fast leer war.

Das Dächermeer öffnete sich vor Mathilda und der Fluss tauchte dahinter auf. Er teilte Berlin in zwei Hälften und am anderen Ufer konnte sie die Türme der Zauberer sehen. Sie ragten über der Stadt auf. Ein Mahnmal der Macht, die in den Händen der magischen Gilde lag. Unter dem höchsten Turm hatte sie sich heute Morgen von Rosa verabschiedet.

Mathilda drosselte die Geschwindigkeit und schwebte für einen Moment reglos in der Luft. Der Regen lief ihr über die Wangen. Der Wind zerrte hier oben viel stärker an ihren Kleidern und ein Teil von ihr wollte immer weiter fliegen. Den Türmen entgegen und an ihnen vorbei bis zur Küste. Doch neben Mathildas Fingern blinkte das orange Lämpchen immer hektischer. Sie drehte widerwillig bei und setzte zu einem letzten Sprint über die Dächer an. Als sie das rostige Herz der Stadt erreichte, wurden die Häuser schiefer. Sie ragten in absonderlichen Winkeln unter ihr auf. Überall war noch ein Stockwerk oder ein Zimmer angebaut worden. Mathilda flog tiefer, streifte eine rostige Leiter und tauchte unter einer wackeligen Brücke hindurch, die zwei Gebäude mit­einander verband. Vor ihr strahlte eine rote Signallaterne durch die Dämmerung und wies ihr den Weg heim. Zwischen den krummen Häusern war nicht genug Platz für eine Landebahn oder einen Hangar. Stattdessen drosselte Mathilda langsam den Schub. Sie sank in die Tiefe. Der Scheinwerfer strich durch den Regen. Er streifte ein krummes Bäumchen und ein vertrautes Eisentor. Im Hinterhof stand eine hünenhafte Gestalt und sah zu, wie Mathilda sicher zwischen dem Gerümpel landete, dass sich in allen Ecken zusammenrottete.

»Du bist verdammt spät dran!«, rief Ismail Sturm ihr entgegen. »Hast du überhaupt noch Schub übrig? Und wie steht es mit der Kupplung? Ich hab dir gesagt, dass du beim ersten Mal nicht gleich alles ausreizen sollst!« Obwohl er fortwährend mit ihr schimpfte, erhellte ein Strahlen Ismails dunkelbraunes Gesicht. Ihr Cousin trat heran und begrub sie in einer Umarmung.

»Lass mich erst mal absteigen!«, verlangte Mathilda. Sie zog sich den Helm vom Kopf und eine Flut schwarzer Locken quoll auf ihre Schultern. Auf der anderen Seite des Gleiters drängte ein monströser Hund heran und drückte seine Schnauze gegen Mathildas Oberschenkel. Während sie die Dogge hinter den Schlappohren kraulte, ging Ismail neben der Maschine in die Hocke, um den Motor in Augenschein zu nehmen. Er machte Schnalzlaute, als würde er einen Säugling beruhigen, und sein durchnässtes Hemd klebte an seinen breiten Schultern.

»Deinem Gleiter geht es gut«, behauptete Mathilda. »Aber du bist klatschnass. Lass uns reingehen.«

»Gleich!« Ismail strich die Flanken der Maschine entlang und fuhr mit dem Daumen über die Kabel.

»Der Himmelsstürmer wird morgen noch ganz genauso aussehen!« Der Hund trottete hinter Mathilda her, als sie auf die Tür ihrer Werkstatt zuging. Der Hof wurde von der einzelnen, roten Laterne erhellt, die ihr den Weg zurückgewiesen hatte, und in deren Licht Ismail jetzt eine Plane über den Gleiter zog. Als Mathilda über die Schwelle trat, schlug ihr der vertraute Geruch von Pfeifenrauch und Moder aus dem Kanal entgegen. Sie tastete blind nach einer Faulgaslampe und hörte im Hintergrund ein feuchtes Schmatzen.

»Maximus, spuck das aus!«

Schmutziggelbes Licht flammte unter der Glashaube der Lampe auf und der Hund sah sie unschuldig an. Er trug einen Zugriemen zwischen den Lefzen. Mathilda fand ein Handtuch neben der Spüle und setzte Wasser auf. Hinter ihr stapfte Ismail herein.

»Wie war es? Ließ sich der Schub geschmeidig regulieren? Waren Geschwindigkeit und Höhe stabil? Haben dich viele Leute gesehen?« Die Fragen purzelten über seine Lippen. Er schien gar nicht zu bemerken, dass er die Tür hinter sich offen stehen ließ und auf seinem Weg eine nasse Spur quer durch die Werkstatt zog.

»Es war großartig!«

»... gewusst, dass die Bremsen ein bisschen ruckeln. Aber das kriegen wir hin. Und mir gefällt dieses Geräusch beim Anlassen nicht.«

»Ismail, es war großartig!« Mathilda verstellte ihrem Cousin den Weg und packte ihn bei beiden Schultern. »Du hast es geschafft! Ich bin so unglaublich stolz auf dich.«

Sein Gesicht schwebte dicht vor ihrem, das eine Lächeln das Spiegelbild des anderen.

»Wir haben heute Abend Geschichte geschrieben.« Ismails Stimme klang belegt.

»Das haben wir! In Zukunft wird sich die Welt daran erinnern, dass der erste öffentliche Flug eines Gleiters genau heute stattfand, und jetzt nimm das Handtuch, du zitterst ja!«

Ismail lachte, ungläubig vor Glück. »Wir gehen jetzt feiern! Im Rotierenden Zahnrad«, versprach er. »Wir könnten sogar mit dem Himmelsstürmer rüberfliegen.«

»Danke, mir ist heute nicht nach einer großen Runde«, wehrte sie ab, genau wie jedes Mal, wenn er versuchte, sie wieder zum Stammtisch der Rostigen Gilde zu locken oder auf ein Bier in die Arena.

»Du kannst dich nicht ewig hier verstecken«, schalt Ismail sanft.

»Aber heute schon. Hast du mal in den Hof gesehen?« Mathilda deutete mit dem Kopf auf die weit geöffnete Tür. Das feine Tröpfeln des Regens war in ein heftiges Prasseln übergegangen und in der Ferne rollte der erste Donner über den Fluss. Maximus fiepte erschrocken.

»Du bist die beste Pilotin der Stadt. Du könntest uns durch einen Orkan fliegen«, behauptete Ismail.

»Trotzdem ist die Straßenbahn trockener. Und jetzt mach bitte die Tür zu, es zieht.«

»Wie kannst du so schrecklich pragmatisch sein?« Ismail war vor dem Werktisch stehen geblieben und sah glücklich auf ein rosa Formular hinab. Es trug mehrere Stempel und lag zuoberst auf einem Stapel anderer Formulare in verschiedenen Farben. Es hatte nicht weniger als drei Anträge bei der Rostigen Gilde und zwei Vorladungen beim Patentamt gebraucht, um überhaupt einen Antrag bei der Gendarmerie stellen zu dürfen, doch jetzt endlich hatten sie die Erlaubnis! Sie durften als erste Werkstatt überhaupt mit einem Gleiter durch Berlin fliegen.

»Ich werde diesen Schrieb einrahmen! Zusammen mit einer Fotografie von deinem ersten Flug«, sagte Ismail.

»Wir haben kein Bild gemacht, wegen all des Regens«, erinnerte ihn Mathilda.

»Das holen wir nach. Ich fülle die Tanks auf. Wir brauchen mehr Daten und mehr Tests, vor allem zur Flughöhe. Was hältst du von einem Nachtflug, sobald der Himmel aufklärt?« Ismail zog bereits die Karte der Stadt hervor und kritzelte mit dem Bleistift eine Strecke hinein.

»So gern ich Ihnen beiden gratulieren würde, aber Ihre Fluglizenz gilt erst ab morgen!«, gesellte sich eine dritte Stimme dazu. In der offenen Tür, im Gegenlicht der roten Lampe auf dem Hof, stand eine Gestalt, die fast so kräftig war wie die von Ismail. Der Neuankömmling trug einen langen Wettermantel und hatte den Kragen hochgeschlagen.

»Hauptmann Ahmad«, begrüßte Mathilda ihn. »Verpissen Sie sich!«

»Es ist mir auch eine Freude, Sie zu sehen, Fräulein Sturm.«

»Ich habe in letzter Zeit niemanden umgebracht und mir fällt kein anderer Grund ein, der es Ihnen gestatten würde, meine Werkstatt zu betreten!« Mathilda hielt Ismail mit einer Hand am Hemd fest, damit er sich nicht auf den jungen Hauptmann der Wacht stürzte. Im Hintergrund wedelte Maximus vor Wiedersehensfreude mit dem Schwanz.

»Wissen Sie, wo Sie sich die Fluglizenz hinschieben können?«, grollte Ismail. Mathilda quetschte das rosa Formular vorsichtshalber in die Schublade mit den Rechnungen und drehte den Schlüssel um.

»Ich bin heute nicht hier, um Ihnen Schwierigkeiten zu bereiten, und ich werde mit Freuden vergessen, dass Sie gerade das Gesetz gebrochen haben, indem Sie einen Tag zu früh auf dieser Höllenmaschine quer durch die Stadt geflogen sind. Können wir bitte reinkommen?«, fragte Hauptmann Karim Ahmad höflich. Jetzt entdeckte Mathilda eine zweite, kleinere Gestalt hinter ihm im Regen.

»Nein«, sagte Ismail.

»Ja«, widersprach Mathilda.

Der Hauptmann trat ein und mit ihm eine Gestalt in einer dunklen Robe. Als sie die weite Kapuze zurückschlug, kam ein rundes zartbraunes Gesicht voller Sommersprossen zum Vorschein. Die Frau trug ihr weiß gefärbtes Haar kurz geschnitten und sie sah übernächtigt aus.

»Fräulein Knochenmus, nicht wahr?«, fragte Mathilda, die sich vage an das Gesicht und die Frisur erinnerte.

»Lotte Knochenmus«, bestätigte die Hüterin des Wissens und sah dann neugierig von Mathilda zu Ismail und zurück. »Sind Sie wirklich mit einem Gleiter durch Berlin geflogen?«

»Ja.« Mathilda grinste.

»Ist das da draußen der Himmelsstürmer? Ich habe eine Fotografie im Berliner Kurier gesehen. Von dem Tag der Patentanmeldung, aber es ist so unvorstellbar!«, sagte Lotte Knochenmus mit einer Begeisterung, die Mathilda nicht erwartet hatte. Die meisten Zauberer lehnten Erfindungen kategorisch ab. Angeblich gab es im Turm der magischen Gilde nicht einmal Aufzüge.

»In ein paar Jahren werden über ganz Berlin Gleiter am Himmel zu sehen sein!«, behauptete Ismail.

»Vorausgesetzt der Rat stimmt diesem Unsinn zu.« Das kam von Hauptmann Ahmad, der im Hintergrund an ihrem Werktisch lehnte und kein bisschen begeistert wirkte.

»Dieser Unsinn ist die Zukunft!«, rief Ismail.

»Besenflüge in der Stadt sind aus gutem Grund verboten worden.« Karim Ahmad hatte die Arme vor der breiten Brust verschränkt.

»Wollen Sie etwa einen historischen Hexenbesen mit einem modernen Gleiter vergleichen?«

»Ich will gar nichts, ich weise hier nur auf die Probleme hin.«

Auf dem Herd begann der Wasserkessel zu pfeifen und Mathilda brühte den Kaffee auf. Der Duft breitete sich im Halbdunkel der Werkstatt aus. Sie stellte eine Dose mit Zimt und die letzten Waffeln vom Frühstück auf den Tisch. Lotte Knochenmus griff verstohlen nach dem Handtuch und Maximus zernagte hingebungsvoll den Dichtungsring.

Währenddessen warfen sich Ismail und Ahmad über die Waffeln hinweg dieselben Parolen an den Kopf, wie Erfinder und Zauberer bei jeder Sitzung des Berliner Rates.

»Veränderungen brauchen ihre Zeit!«, sagte der Hauptmann der magischen Geheimpolizei gerade.

»Ihr Fingerschnipser habt doch nur Angst, dass unsere Technik eure Magie überflüssig macht! Ihr versucht, uns durch Gesetze zu kontrollieren, aber diese Stadt besteht aus neun unterschied­lichen Gilden und wir werden uns die Herrschaft der Magie nicht mehr länger gefallen lassen!«, knurrte Ismail.

»Die magische Gilde hat im Rat genauso viele Stimmen wie jede andere. Aber eine unkontrollierte technische Entwicklung wäre so gefährlich wie unkontrollierte Magie! Oder was würden Sie sagen, wenn ein Zauberer Sie einfach gegen Ihren Willen verzaubern dürfte?«, fragte Ahmad eisig.

»Als wäre ein Fingerschnipser jemals dafür verurteilt worden, das Gesetz zu brechen!«

»Muss ich Sie wirklich daran erinnern, wie oft Sie beide das Gesetz der Stadt schon gebrochen haben?«

»Sie sind also heute Abend nicht hier, um mich zu verhaften, Hauptmann Ahmad?«, unterbrach Mathilda die beiden Männer. Sie stellte zwei dampfende Kaffeebecher auf den Tisch, einen vor ihren Cousin und einen vor Lotte Knochenmus. Den Dritten behielt sie für sich selbst.

»Ich bin nicht Ihr Feind, Sturm!«, beteuerte Karim Ahmad. Er schien keinen Kaffee zu erwarten.

»Sie haben mir einmal einen Feuerball hinterhergeworfen und dreimal versucht, mich zu verhaften, am selben Tag«, erinnerte ihn Mathilda.

»Da hatten Sie aber auch gerade den magischen Großmeister von Berlin ermordet.«

»Das Gericht hat entschieden, dass es sich nicht um einen Mord handelte, sondern um die verdammte Rettung Hunderter Menschen!«, sagte Ismail scharf. »Mathilda hat verhindert, dass der alte Himmelsbrück eine Bombe zündet.«

»Sie hat sogar einen Orden dafür gekriegt«, warf Lotte Knochmus hilfreich ein und lächelte sie über den Kaffee hinweg an. Mathilda schaffte es nicht, das Lächeln zu erwidern, denn in ihrer Erinnerung hörte sie immer noch das Geräusch des berstenden Schädels. Es hätte nicht so leicht sein dürfen, einen Menschen zu töten, mit zwei, drei verzweifelten Schlägen gegen den Kopf.

Sie sah noch deutlich vor sich, wie August Himmelsbrück vor ihr in die Knie ging und das Blut sich auf den Pflastersteinen ausbreitete. Die Morgensonne war nach dieser längsten aller Nächte über dem Fluss aufgegangen und Mathilda war so unendlich wund und müde gewesen, dass sie zunächst überhaupt nicht begriffen hatte, was geschehen war.

»Fräulein Sturm!« Hauptmann Ahmad lehnte noch immer an ihrem Werktisch und Mathilda hasste den wissenden Ausdruck in seinen dunklen Augen. »Ich versuche, die Bewohner dieser Stadt zu schützen, und nur deshalb bin ich hier.«

Ahmad hatte seine Hände in den Taschen des Wettermantels vergraben und musterte sie aufmerksam. Er konnte sich hier unmöglich wohlfühlen, denn all das Eisen in der Werkstatt war für einen Zauberer unangenehm. Es schnitt ihn von seiner Magie ab und löste ein widerwärtiges Gefühl auf der Haut aus, und doch war der Hauptmann der magischen Geheimpolizei zusammen mit einer Hüterin des Wissens in ihre Werkstatt gekommen und benahm sich fast schon höflich.

»Ich hatte gehofft, dass Fidelio Lafrenz hier ist«, erklärte Ahmad.

»Den dürfen Sie auch nicht verhaften!«, antwortete Mathilda prompt.

»Niemand will den obersten Bibliothekar verhaften«, sagte Fräulein Knochenmus müde.

»Noch nicht«, fügte Ahmad hinzu.

»Wir können ihn nur nicht finden.«

»Und es hilft auch nicht, dass er ein Illusionist ist und mit seiner Magie sein Aussehen verändern kann.«

»Also Fidelio will nicht gefunden werden und Sie beide machen sich Sorgen um ihn?«, fasste Mathilda den Teil zusammen, den sie verstanden hatte. Sie trank den ersten, köstlich heißen Schluck Kaffee. Draußen trieb der Wind immer noch den Regen gegen die Fensterscheiben. Es war so dunkel geworden, dass die einzige, brennende Lampe nicht ausreichte, um den Raum zu erhellen. Sie tauchte nur einen Teil der Apparaturen und Werkzeuge in einen Kreis aus gelbem Licht.

»Ihr Freund hat ein Talent dafür, sich in Schwierigkeit zu bringen, und er ist in einer besonderen Lage«, sagte Ahmad.

»Das ist jetzt aber diplomatisch ausgedrückt«, fand Mathilda.

Der Wind klapperte mit dem Eisentor der Werkstatt und rüttelte in dem knorrigen Aprikosenbaum. Es hätte gemütlich sein können, ohne das nasse Hemd, das ihr immer noch am Körper klebte, und ohne die beiden ungeladenen Gäste.

Leider ahnte Mathilda bereits, worauf dieses Gespräch hinauslief.

»Bitte reden Sie mit ihm!«, sprach Ahmad ihren Gedanken aus.

»Was lässt Sie glauben, dass er auf mich hören wird?«, fragte Mathilda.

Bevor der Hauptmann antworten konnte, trat Knochenmus vor. Sie reichte Mathilda nur bis zum Kinn und die nasse Kapuze ihrer Robe hinterließ eine Spur aus Tropfen auf dem unverputzten Boden. »Ich weiß nicht besonders viel über Sie oder den obersten Bibliothekar, aber im Kurier stand, dass Sie beide die Frau verloren haben, die Sie liebten. Sie mögen sonst nicht viel gemeinsam haben, aber es ist Ihnen zu zweit gelungen, erst ihre Mörderin zu stellen und danach diese Stadt zu retten.«

All das war nur eine Woche her. Der magische Großmeister August Himmelsbrück hatte aus Angst vor einer Herrschaft der Technologie versucht, eine Bombe des ersten Zeitalters mitten in der Stadt zu zünden. Doch bevor er Hunderte Unschuldige töten und damit endgültig einen Bürgerkrieg zwischen Zauberern und Erfindern auslösen konnte, hatten Mathilda und Fidelio ihn aufgehalten. Es hatte damit geendet, dass Mathilda über der Leiche von August Himmelsbrück stand, den blutigen Schraubenschlüssel noch in der Hand.

Der Schraubenschlüssel lag immer noch in der Asservatenkammer der Gendarmerie, aber er sah dem dort drüben zum Verwechseln ähnlich. Mathilda erinnerte sich an das Gewicht in ihrer Hand und hielt den Kaffeebecher ein wenig fester. »Geben Sie Lafrenz einfach etwas Zeit, um seine Probleme zu lösen«, verlangte sie schroff. »Er ist viel klüger, als es den Anschein hat.«

»Aber wir haben keine Zeit.« Lotte Knochenmus hatte ihren Becher abgestellt. Sie füllte ihre Robe plötzlich mit einem neuen Ernst aus. »Fidelio Lafrenz wurde laut dem Notfallprotokoll zum obersten Bibliothekar und zum ersten Hüter des Wissens ernannt. Wir stehen vor einem großen Haufen Probleme, aber er kommt nicht zu den Sitzungen der magischen Gilde und er ignoriert den Ruf der Großmeister. Er darf sich nicht weiter vor uns allen verstecken. Finden Sie ihn, Fräulein Sturm, und reden Sie mit ihm, bevor der Rat es tut!«

»Oder ein aufgebrachter Mob in der Stadt«, ergänzte Ismail hilfreich.

Ein Blitz zuckte über Mathildas Hinterhof und im nächsten Moment rollte ein Donner über die Dächer des Viertels. Maximus fiepte erschrocken auf und floh zwischen die halbzerlegten Maschinen im hinteren Teil der Werkstatt. Mathilda hielt das für eine ausgezeichnete Idee. Sie folgt dem Hund in die Schatten und nahm seinen großen Kopf in beide Hände. Maximus drängte sich zitternd gegen sie und obwohl Mathilda ihr Gesicht gegen sein nasses Fell drückte, spürte sie ganz deutlich die Blicke in ihrem Rücken.

»Warum sollte eine Erfinderin sich um die Probleme von Fingerschnipsern scheren?«, fragte Ismail in die Stille.

Das, fand Mathilda, war eine ausgezeichnete Frage! Sie hätte sich gern noch tiefer zwischen den halbzerlegten Automaten verkrochen. All das Eisen war so vertraut wie der stinkende Hund in ihren Armen. Sie könnte erst irgendwann morgen wieder herauskommen, wenn das Unwetter nachgelassen hatte und die Luft wie frisch gewaschen roch. Ismail würde bis dahin drei neue Flugstrecken auf der Karte eingezeichnet haben. Und irgendwann würde Fidelio wieder auftauchen, um über den sabbernden Hund und all das Eisen zu meckern.

Aber er ist meinetwegen in die Morgenröte gegangen. Ich habe ihn gebeten, mir auf der Suche nach Ling zu helfen.

»Nenn sie nicht so«, bat Mathilda im Halbdunkel der Maschinen.

»Was?«

»Fingerschnipser. Nenn die Zauberer nicht so, ja?« Der nächste Donnerschlag hallte über den Dächern und Mathilda strich ihrer Dogge beruhigend über den Rücken. Sie machte keine Anstalten, aufzustehen. »Ich brauche Wurst für meinen Hund und ich werde warten, bis das Gewitter weiterzieht. Und, Ismail, leihst du mir deinen Gleiter? Ich werde einen Nachtflug machen.«

2. Fidelio

Das Luftschiff neigte sich langsam nach Backbord. Ein Glas schoss an Fidelio vorbei die Theke hinab und zersprang mit einem Klirren an der Wand. Über ihm an der Kajütendecke schwankte die Lampe hin und her. Ihr Schein tanzte über die festgeschraubten Tische und erhellte für einen Moment bullige Schultern und Wettermäntel. Das Abzeichen der Sturmgilde blitzte an mehreren Krägen auf, aber es waren auch Luftfahrer aus anderen Städten an Bord der Morgenröte. Menschen in robuster Kleidung, die den ganzen Sommer über von der Sonne ausgeblichen worden war. Mit ledernen Riemen überall am Körper, an denen sie ihre Ausrüstung festzurrten. Fernrohre und Kompasse, kleine Beutel, Haken und Halteschlaufen. Blank polierte Revolver und Messer mit Knochengriffen.

Keiner von ihnen sah vom Kartenspiel auf, als vor den Bullaugen ein blendend greller Blitz aufflammte und der Donnerschlag jedes andere Geräusch verschluckte. Fidelio hingegen fand, dass er noch nicht genug getrunken hatte, um einem Absturz so gefasst ins Auge zu sehen. Er hob die Bierflasche an die Lippen und leerte sie.

»Du willst also die Stadt verlassen?«, fragte der alte Luftfahrer, der neben ihm an der Theke lehnte, und stopfte seine Pfeife.

»Das kommt ganz auf die Möglichkeiten an.« Fidelio klammerte sich an einer der ledernen Halteschlaufen fest, um nicht vom Barhocker zu rutschen. Ein Grammophon hinter der Theke spielte eine muntere Tanzmusik und aus den Kabinen drangen atemloses Gelächter und genüssliches Stöhnen.

»Es gibt hier mehr Möglichkeiten als Wolken am Himmel. Die Landetürme sind voller Luftschiffe mit Kabinen für jeden Geldbeutel. In wenigen Tagen bist du in Praha, in Vienna oder Paris«, sagte der Luftfahrer.

»Verlockend, aber auf jedem Landeturm kontrollieren Beamte, wer die Stadt betritt und verlässt.« Fidelio gab dem Barkeeper ein Zeichen, damit er die nächste Runde brachte. Zwei braune Bierflaschen wurden vor ihnen in Halterungen aus glänzendem Messing abgestellt.

»Verstehe«, sagte der Luftfahrer gelassen und bediente sich. Seine Wange war narbenverkrustet und irgendetwas hatte ein Brandloch in den Ärmel seiner speckigen Lederjacke gerissen.

»Ich habe gehört, dass Sie auf Ihren Routen manchmal unregistrierte Gäste im Frachtraum mitnehmen?«, fragte Fidelio beiläufig. Er hatte an den Spieltischen mehrere Runden Dynastie verlieren müssen, um diesen Tipp zu bekommen.

»Möglich.« Der Luftfahrer kratzte sich am Kinn. »Aber in den nächsten Tagen wird das nichts. Ich bin gerade erst von den Grönlandweiden zurückgekommen. Lange Tour, ganze zwei Wochen.«

Mist!

»Natürlich will sich die Mannschaft jetzt die Beine vertreten und ich muss neue Ladung an Bord nehmen. Zucker für Marrakech, magische Siegel für Sevilla. Hey, hörst du mir noch zu?«

»Danke, aber das ist nicht, wonach ich suche.« Fidelio krallte sich mit beiden Händen in die Halteschlaufe, als das fliegende Bordellschiff vom Sturm angehoben wurde wie ein Spielzeugdrache im Wind. Sein Magen machte einen Salto und vermischte das Bier mit saurer Galle und Enttäuschung. Der alte Mann war der dritte Fehlschlag heute Nacht.

»Falls du deine Meinung änderst, ich bin gleich dort drüben.« Der Luftfahrer hangelte sich am Halteseil zu den Kartentischen hinüber. Der nächste Donner rollte ohrenbetäubend über die Morgenröte hinweg und Fidelio merkte erst, dass er den Atem angehalten hatte, als plötzlich wieder das Klirren der Flaschen zu hören war, vermischt mit Wortfetzen und Musik. Eigentlich hätte er jetzt an einen anderen Spieltisch gehen müssen, um absichtlich ein paar Runden knapp zu verlieren und ein paar vorsichtige Fragen zu streuen, doch stattdessen blieb er sitzen.

Mit der nächsten Sturmböe stolperte jemand gegen ihn. Ein weicher Busen presste sich gegen seine Brust und eine Hand blieb auf seiner Schulter liegen. Fidelio schloss instinktiv einen Arm um die rundliche Frau. Er atmete Jasmin, Rum und Schweiß ein. Die Morgenröte kehrte zurück in die Waagerechte, doch die Hure blieb, wo sie war.

»So allein?« Ihr Lächeln wärmte ihm die Brust und Fidelio war versucht, es ihr von den Lippen zu küssen. Er lehnte sich vor, ihr Atem streifte seine Wange und dann lag statt der Luftdirne Rosa tot in seinen Armen. Sie sah ihn aus leeren Augen an. Seine ermordete Geliebte war schwer und plump gewesen, als er sie fand. Manchmal schreckte er nachts mit dem Gewicht ihres Leichnams auf der Brust aus dem Schlaf.

»Was ist los?« Die Hand der Frau auf seiner Wange holte ihn zurück und Fidelio atmete gierig ein. Sie roch nicht wie Rosa und fühlte sich auch ganz anders an. Da war ein schlagendes Herz in ihrer Brust und ein sehr lebhaftes Paar Augen in ihrem Gesicht. Vielleicht konnte er mit ihr in eine der Kabinen gehen und vergessen, warum er hier war. Er musste nur von diesem Barhocker aufstehen und die letzten Groschen zusammenkratzen, doch stattdessen lief ein Zittern durch seinen Körper, so heftig, dass sie ihn noch fester hielt.

»Hey Hübscher, nicht zusammenbrechen!« Sie strich ihm eine Locke aus der Stirn und ließ ihre Hand auf seiner bärtigen Wange liegen. Die Berührung war so warm wie ihr Busen und das Lächeln, nur dass dies weder sein echtes Haar noch sein echtes Gesicht war. Fidelio hatte sich vor dem Aufbruch mit einem Illusionszauber getarnt, um von den Luftfahrern nicht als oberster Bibliothekar erkannt zu werden. Jetzt seufzte er leise und entzog sich der Berührung.

»Vielen Dank.« Er fing ihre Hand ein und legte seine letzten Groschen hinein. »Aber nicht heute Nacht. Trink ein Glas auf die Toten für mich.«

»Ich trinke nur mit den Lebenden«, sagte sie und behielt gleichwohl das Geld. Fidelio sah ihr nach, als sie sich auf der Suche nach Kundschaft mit wiegenden Hüften durch den Raum treiben ließ. Ihre Schritte passten sich an den Takt des Sturms und der Musik an, und sie erwiderte einen zotigen Witz mit einem glucksenden Lachen. Vielleicht würde er irgendwann in die Morgenröte zurückkommen, wenn er wieder bereit für Gesellschaft war.

Doch diese Bierflasche leerte er allein, während das Schiff auf den Sturmböen tanzte und das Gewitter seine Last über der Stadt entlud und dann langsam weiterzog. Fidelio wollte die Nacht schon als Verschwendung abtun, als eine zierliche Frau zwischen den Tischen hindurchtrat. Sie glich das Schwanken des Schiffes routiniert aus, obwohl aus ihren Knickerbockern ein mechanisches Bein herausragte. Kinnlanges, schwarzes Haar umschloss ihr Gesicht wie ein Helm und ihr maßgeschneiderter Anzug stach aus der Menge von Wettermänteln, Lederjacken und Leinenhemden wie ein Fremdkörper heraus. Trotzdem griff der Barkeeper routiniert zu einer Flasche mit goldschimmernder Flüssigkeit und schenkte der Dame ein hohes Glas mit Schnee und einer kleinen, weißen Blüte ein.

»Ich könnte auch einen Schluck davon vertragen.«

»Das können Sie sich nicht leisten!« Die Frau legte einen Gulden auf den Tresen, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

»In diesem Fall könnten Sie mich gern einladen, Fräulein Huber. Quasi als Revanche für die Flasche Katzengold auf Rosas letzter Party.«

Jetzt ruckte ihr Kopf zu ihm herum. Ihr forschender Blick glitt über die prächtigen roten Locken und die dichten Koteletten, über die sonnenverbrannte Haut und die Augenklappe. Es war ein Gesicht, das sie nicht kennen konnte, doch Luise Huber war schon immer eine Frau schneller Schlussfolgerungen gewesen, und Fidelio konnte ihr die Erkenntnis ansehen.

»Eine Augenklappe? Ernsthaft, Lafrenz?«, fragte sie.

»Ich wollte mich dem Etablissement anpassen.«

»Vielleicht erklären Sie das dem Schiffsmechaniker dort drüben, der seinen halben Arm bei einer Plasmaexplosion verloren hat, zusammen mit seinem hübschen Gesicht«, schlug Huber kalt vor.

Fidelio pulte am Etikett seiner leeren Bierflasche.

»Oder der Steuerfrau, die seit derselben Explosion auf beiden Ohren taub ist!«, setzte sie nach.

»Schon gut, ich habe es begriffen!«, beteuerte Fidelio. »Ich werde die Augenklappe in Zukunft streichen. Zufrieden?«

»Halbwegs.«

»Ihre Nase sieht übrigens hervorragend aus«, sagte Fidelio liebenswürdig. Als er Luise Huber das letzte Mal getroffen hatte, war ihre frisch gebrochene Nase noch monströs angeschwollen gewesen, doch im Gegensatz zu abgetrennten Gliedmaßen war ein Knochenbruch mit Magie leicht zu heilen.

»Und ich habe Sie immer für charmant gehalten.«

»Sie machen sich keine Vorstellung«, sagte Fidelio mit einem strahlenden Lächeln.

Huber zog ungerührt ein Mundstück aus Stahl aus ihrer Tasche und steckte eine Zigarette darauf. Der Barkeeper gab ihr Feuer. In einer der Kabinen schwang sich ein lustvolles Stöhnen zu neuen Höhen auf.

»Ich nehme an, ein Bordell am Boden hätte es nicht getan?«, fragte Fidelio.

»Sie haben mich in Ihrem Brief nach dem Treffpunkt der besten Schmuggler von Berlin gefragt.« Luise Huber sog an ihrer Zigarette und atmete den lila Rauch aus.

»Da dachte ich aber auch noch, Sie wären die beste Schmugglerin von Berlin.«

»Unsere Firma ist schrecklich ehrlich geworden.« Huber lächelte ihn durch den lila Rauch hindurch an, während hinter in der Kabine das heisere Stöhnen in ein seliges Stammeln überging.

»Wie konnte Ihnen das passieren?«, fragte Fidelio nur halb im Scherz.

»Der Zuckerhandel hat seit der Rübenfäule immer größere Gewinne abgeworfen. Wir haben inzwischen mehrere ordentlich registrierte Schiffe und nirgendwo lässt sich ein Vermögen so ehrenwert unterschlagen wie im freien Handel.«

»Ihr Vater muss so stolz auf Sie sein!«

»Sie machen sich keine Vorstellung«, schoss Luise zurück, und dann: »Warum wollen Sie sich bei Nacht und Nebel davonstehlen?«

»Haben Sie in letzter Zeit einen Blick in die Zeitung geworfen?«

»Ja und mir ist aufgefallen, dass Sie Rosas Tod aufgeklärt und die Stadt gerettet haben. Zusammen mit Mathilda Sturm, aber was ist schon perfekt?« Sie grinste schief. »Sie wurden zum obersten Bibliothekar ernannt und halten den Schlüssel zu einem verborgenen Archiv voll unbekannter Wunder in der Hand. Mit gerade einmal vierundzwanzig Jahren. Die ganze Stadt steht deswegen kopf. Ich dachte, das würde Ihnen gefallen?«

»Das dachte ich auch.« Fidelio klaute Hubers Glas und stürzte den Inhalt hinunter.

»Falls Sie ein schnelles Schiff brauchen, lässt sich bestimmt etwas arrangieren, aber ist das wirklich klug?«

»Keine Sorge, das Schiff ist nicht für mich. Ich bin auf der Suche nach jemandem, der spurlos verschwunden ist.«

»Jeder hinterlässt Spuren. Reisepapiere, Fahrkarten, Hotelrechnungen, geprellte oder bezahlte.« Huber beugte sich routiniert über die Bar und griff nach der Schnapsflasche, ohne, dass der Barkeeper Einspruch erhob.

»Diese Frau nicht. Also angenommen, Sie würden untertauchen wollen und wären wirklich clever, an wen würden Sie sich wenden?«

»Glücklicherweise bin ich wirklich clever. Haben Sie schon mit Huo gesprochen? Oder mit Friedhelm Passig?« »Kommt beides zeitlich nicht hin. Huos Schiff liegt zur Reparatur in den Docks und Friedhelm ist gerade erst von den Grönlandweiden zurück.«

»Also ist Ihre Freundin in den letzten zwei Wochen verschwunden? Mal überlegen, Böhmer fliegt nur noch tote Ware, seit ihm eine versteckte Ladung Passagiere im Zwischendeck erfroren ist, und Lemaire ist gerade über dem südchinesischen Meer verschollen.« Huber spitzte nachdenklich die Lippen. »Aber ich glaube, ich habe die richtige Person für Sie. Und Sie haben Glück, das hier ist ihr Stammbordell.«

Zwei Runden Schnaps und ein fernes Donnergrollen später trat eine hagere Frau aus der Kabine. Sie trug einen Wettermantel und ihr Hemd war nur nachlässig zugeknöpft.

»Das ist sie«, sagte Huber. »Kapitänin Raid.«

Die Schmugglerin verabschiedete sich an der Kajütentür mit einem langen Kuss von einem hübschen jungen Mann und beantwortete die Pfiffe im Schankraum mit einer unflätigen Geste. Fidelio drängte sich zwischen den Tischen hindurch und fing die Frau an der Tür ab. »Kapitänin Raid, auf ein Wort?«

»Kennen wir uns?« Raid musterte ihn forschend aus einem dunklen Paar Augen. Sie war eine Frau, der man die vielen Jahre an Deck eines Luftschiffes ansah. Sonne und Wind hatten sich tief in ihre Haut gegraben und Spuren von Grau durchzogen die vielen dünnen Zöpfe.

»Noch nicht!« Fidelio setzte sein bestes Lächeln auf.

»Danke, aber ich hatte heute schon Gesellschaft«, sagte Raid.

»Dann ist es ja ein Glück, dass ich nur auf Ihr Schiff möchte und nicht in Ihre Koje. Ich habe gehört, dass Sie regelmäßig die Route nach Praha fliegen?«

»Wer behauptet so etwas?«, fragte Raid.

»Eine Freundin«, sagte Fidelio sanftmütig. »Hübsches Ding. Schwarzes, glattes Haar. Zierlich. Die Arme voller Tattoos. Sie arbeitet als Artistin.«

Jetzt entspannte sich ihre Haltung etwas. »Sie hätten sagen können, dass die Fische Sie schicken.«

»Sie haben mir vielleicht einen Tipp gegeben«, sagte Fidelio und log dabei nicht direkt. DieFliegenden Fische hatten ihm sehr nachdrücklich geraten, sich um seinen eigenen Kram zu kümmern, wenn er keine Prügel kassieren wollte. »Also haben Sie Chén Ling nach Praha gebracht?«

»Vor etwas über einer Woche.«

»Eine einfache Fahrt, ohne Kontrolle an den Hangars?«, frage Fidelio.

»Das ist meine Spezialität. Was ist jetzt? Wollen Sie eine Fahrt?« Raid sah ihn ungeduldig an.

»Gewiss.« Fidelio hob die Hand und zeichnete mit den Fingern einen Zauber in die Luft. Die Magie richtete die feinen Härchen auf seinen Unterarmen auf und rieselte als Funken von seinen Fingern. Dann schlüpfte er so mühelos in Raids Verstand, als würde er mit dem Gesicht durch eine Wasseroberfläche tauchen. Ihre Gedanken schwappten in kleinen Wellen über ihn hinweg. Zuerst trieben ihm die frischen Erinnerungen der letzten Stunden entgegen. Kräftige Arme legte sich um seinen, nein, um Raids Hals und der Freudenbursche schmiegte sich an seine Kundin, ganz sehnige Muskeln und warme, glatte Haut. Fidelio wischte das Bild fort und suchte nach älteren Erinnerungen. Ein Lufthafen blitzte vor ihm auf und dann die geblähten Segel ihres Schiffes, als Nächstes die Rechnung für einen defekten Gastank, eine Messerstecherei in einer Hafenkneipe und dort eine junge Frau, die in Praha mit der Mannschaft von Bord ging. Ling!

Fidelio lief ihr über die Planken des Luftschiffs hinterher und überholte sie auf dem Landungssteg. Er streckte den Arm nach ihr aus, ganz so, als könnte er die Erinnerung tatsächlich berühren, aber da ging sie schon durch ihn hindurch. Eine Frau mit dunklen Augen und glattem, schwarzen Haar. Ein paar Tattoos schlängelten sich unter ihrem Hemd hervor und dies hätte die Artistin sein können, aber das Gesicht passte nicht. Es war lediglich eine Frau, die Ling hätte sein können. Aber es war nur noch eine falsche Spur. Schon wieder!

Die Enttäuschung zerrte an dem Zauber wie eine Angelschnur, die ihn zurück an Land holte. Reiß dich zusammen! Sie darf nichts merken. Fidelio wollte seine Konzentration bündeln und den Zauber sauber abschließen, bevor Kapitän Raid entdeckte, dass er einfach in ihren Verstand eingedrungen war, als ihm der Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Wortwörtlich. Der Zauber wurde mit einem harten Aufprall beendet, als Fidelio auf den Planken landete. Der Sturz riss ihn zurück in seinen eigenen Körper. Er stieß sich den Kopf an und biss sich auf die Zunge. Unter ihm neigte sich die Morgenröte weiter zur Seite. Ihre Kundschaft klammerte sich an den Halteseilen fest. Ein einzelner Stiefel rutschte an Fidelio vorbei und verschwand unter einem Tisch. Irgendwo zersprang ein Glas. Kapitän Raid sah verblüfft auf ihn herab. »Du hast mich verzaubert!«

Das war keine Frage und Fidelios Antwort bestand aus einem frohgemuten Lächeln. War das Blut in seinem Mund? Irgendwie war ihm immer noch ganz schwindelig.

»Du verdammter Funkenfurzer hast mich verzaubert!« Jetzt war ihre Stimme sehr viel lauter und ihre hübschen Augen funkelten vor Wut.

»Aber nur ein bisschen.« Fidelio versuchte, den Kopf anzuheben, und bereute es sofort. Eine Welle von Schmerz und Übelkeit schwappte über ihn hinweg. Deshalb war er fast dankbar, dass die Gespräche an den Tischen auf einen Schlag verstummt waren. Hinter der Bar spielte noch immer das Grammophon und als Fidelio langsam den schmerzenden Kopf herumwandte, erkannte er, dass alle Spielrunden innegehalten hatten.

»Es gibt Gesetze gegen so etwas!«, sagte eine dürre, wettergegerbte Steuerfrau der Sturmgilde ernst.

»Ihr Fingerschnipser glaubt wohl, dass ihr euch alles erlauben könnt?«, rief eine raue Stimme aus dem Hintergrund. Zorniges Gemurmel brauste auf. Und dann erhoben sich nacheinander alle Spielenden von ihren Stühlen. Jemand begann mit den Fingern zu schnipsen, dann noch einer und plötzlich breitete sich das Fingerschnipsen überall um ihn herum aus. Fidelios Magen krampfte sich zusammen und obwohl er doch eigentlich jetzt um sein Leben reden sollte, brachte er keinen Ton hervor. Raid beugte sich zu ihm hinunter, packte ihn bei der Hemdbrust und zog ihn unsanft auf die Füße.

»Es ist nicht so, wie es aussieht«, krächzte er endlich. Verflucht, er hatte doch gewusst, dass die Sturmgilde im ewigen Streit zwischen Magie und Technik auf der Seite der Rostfresser standen.

»Für mich sah es danach aus, dass du mich gegen meinen Willen verzaubert hast«, sagte Raid scharf.

»Nun ... ja«, gab Fidelio zu und kämpfte gegen die Übelkeit an. »Ich hätte fragen sollen, aber es war wichtig. Und wirklich nur ein kleiner Zauber.«

Das schien sie nicht besonders zu beeindrucken. »Weißt du, was wir hier mit Fingerschnipsern machen?«

Jetzt war die ganze Kajüte von einem rhythmischen Schnipsen erfüllt, aber mehrere Leute fühlten sich berufen, auf Raids Frage zu antworten. »Windelweich prügeln.«

»Kopfüber an den Mast binden.«

»Über Bord werfen.«

Raid lächelte, doch Fidelio war dazu nicht mehr länger imstande.

»Es wäre wirklich freundlich, wenn Sie mich loslassen könnten und ... ist das dort etwa eineKaiserin?« Bei den letzten Worten wendete er den Kopf zur Seite und sah verblüfft einen der Spieler an. Das Schnipsen verstummte, als alle in dieselbe Richtung blickten, auf eine schmächtige Gestalt mit einem Kartenblatt in der Hand. Eine Sekunde genügte Fidelio, um verstohlen einen kleinen Zauber in die Luft zu zeichnen. Jetzt lugte aus dem Ärmel des überraschten Spielers eine Spielkarte heraus. Gerade weit genug, um das purpurne Band am Rand zu erkennen. Jemand fluchte ehrfürchtig. Eine Luftfahrerin hauchte einen Kuss auf ihren Taschenkompass. Alle traten näher heran und reckten neugierig die Hälse.

»Hast du schon einmal eine gesehen? Am Kartentisch, meine ich?«

»Vor ein paar Jahren einmal ...«

»Es gibt nur eine einzige pro Deck. Tausend Karten - und eineKaiserin.«

»Hey Leute, das ist nicht meine! Die wurde mir untergeschoben«, beteuerte der Spieler und versuchte, nach der Karte zu greifen, aber ein schmutziger Heizer war schneller. Er packte den Pechvogel beim Handgelenk und schob ihm den Ärmel zurück. Fidelio machte eine kleine Geste mit den Fingern, um den Zauber zu verstärken. Eine Illusion, die sich auch real anfühlte, war viel schwerer zu erschaffen als ein reines Trugbild. Der pochende Kopfschmerz zerrte an seiner Konzentration, genau wie das Eisen des Schiffes, doch Fidelio vollendete den Zauber in letzter Sekunde.

»Das hier ist eine Kaiserin!«, sagte der Heizer anklagend und hielt die Karte, die in Wahrheit gar nicht da war, in die Höhe. Wieder zorniges Gemurmel, dieses Mal ohne Fingerschnipsen. »Ich habe nichts gegen ein bisschen ehrbares Falschspiel hier und da, Kumpel. Haben wir alle schon gemacht! Aber nicht mit der Kaiserin!«

Zustimmende Rufe reihum. »Die Kaiserin ist heilig!«

»Es gibt Regeln für so was!«

»Werft ihn über Bord!«

Fidelio versuchte, nicht allzu erleichtert auszusehen, als der Mob sich um den vermeintlichen Falschspieler zusammenrottete. Er wollte einen Schritt zurücktreten, aber Raid hielt ihn immer noch am Hemd gepackt und sah ihn aufmerksam an.

»Du warst das!«, stellte sie fest. »Du bist ein Illusionist.«

Zwischen den Kartentischen brach eine Prügelei los, als eine andere Spielerin es wagte, auf ein Schlupfloch im mehrbändigen Regelwerk für Dynastie zu verweisen, und damit die Kaiserin beleidigte.

»Und ein wirklich guter Kartenspieler«, bestätigte Fidelio Raids Festellung.

»Arschloch!« Sie holte mit der Faust aus, erstarrte mitten in der Bewegung. Ihre Augen waren noch immer weit aufgerissen, doch ihr Griff erschlaffte und dann ging sie vor ihm zu Boden. Fidelio sah auf ihren leblosen Körper hinab und fand keine ausreichende Erklärung für so viel Glück. Es stand niemand hinter ihr und es gab keinen Blutfleck auf ihren Kleidern. Da lag nicht einmal das feine Knistern von Magie in der Luft. Stattdessen stand Luise Huber an der Bar und hielt etwas Schmales, Schlankes in der Hand, einen Stift vielleicht oder einen langen Strohhalm. Sie nickte in Richtung Tür und Fidelio hatte zwar Fragen, aber keinerlei Einwände.

Eine Bierflasche flog an ihm vorbei, als er sich an dem Halteseil entlanghangelte. Er wich zwei Luftfahrern aus, die sich auf dem Boden wälzten und miteinander rangen. Jemand taumelte mit einer Platzwunde an ihm vorbei und überall war Grölen und Schnaufen und Ächzen zu hören, als die Dynastierunden ihre Meinungsverschiedenheit mit den Fäusten austrugen. An der Tür warf Fidelio einen letzten Blick zurück. Luise Huber stand immer noch an die Bar gelehnt da. Sie hatte den langen, schmalen Gegenstand weggesteckt und zündete sich gerade die nächste Zigarette an.

Er riss die Tür auf. Ein Schwall Kälte und Regen begrüßte ihn. Eine Böe fuhr ihm in die Jacke und brachte sie zum Flattern. Fidelio starrte in die Dämmerung hinaus. Das Gewitter tobte nicht mehr direkt über der Stadt, aber der Wind griff noch mit unsichtbaren Fingern nach ihm, strich Fidelio über die erhitzten Wangen und trieb ihm die Tropfen ins Gesicht.

Auch hier draußen gab es Halteseile. Fidelio krallte sich mit beiden Händen an einem fest, bevor er den ersten, vorsichtigen Schritt machte. Das Deck war schlüpfrig unter seinen Stiefeln und neigte sich immer wieder zur Seite. Fidelio hielt einen Moment inne, um die Illusion über seinem Gesicht zu lösen, die ihn den ganzen Abend über einen leisen, steten Strom von Magie und Konzentration gekostet hatte. Der Fahrstuhl hinab in die Stadt war wegen des Sturms ausgefallen, doch wenn er es bis zum Bug schaffte, dann musste er sich nur lange genug vor dem Mob verstecken, bis die erste Luftfähre des Tages neben der Morgenröte anlegte.

Hinter ihm klirrte Glas, als eines der Bullaugen zu Bruch ging. Wie spät ist es?

Aber er hatte keine Hand frei, um nach seiner Taschenuhr zu tasten. Er hielt sich bei jedem Schritt krampfhaft fest. Über ihm blähten sich die Segel, nachtschwarz und silbrig, verwoben mit Magie und Technik, die das Schiff zusammen mit dem gewaltigen Gasballon in der Luft hielt. Die Hülle des Ballons glänzte matt im Gegenlicht der wenigen Lampen und dort vorn, nur ein paar Schritte vor ihm, waren endlich die Pfosten, Strickleitern und Holzdielen für anlegende Luftschiffe. Er würde sich hinter die festgezurrten Fässer kauern und warten, bis das Fährschiff längsseits ging. Der Regen lief ihm aus den Haaren in den Kragen und Fidelio fröstelte. Wenn er endlich wieder zurück am Boden war, würde er das ganze Wasser in Sturms Tank für eine heiße Dusche verschwenden und sogar ihren widerlichen Kaffee trinken. Das Monstrum von einem Hund würde seine Schuhe zerkauen, die Erfinderin würde mit ihm schimpfen und vielleicht gab es frische Waffeln. Mit diesem Gedanken kämpfte er sich bis zu den Fässern vor, um etwas Schutz vor der Witterung und dem prügelnden Mob zu suchen. Er wollte gerade in sein Schlupfloch kriechen, als ein einzelner Lichtstrahl durch die Dämmerung schnitt. Der Strahl glitt über das Deck und ließ die Bullaugen aufblitzen. Ein Motor knatterte und dann landete jemand einen Gleiter mitten auf dem Deck der Morgenröte. Der Helm verbarg die dichte Flut der Locken, aber Fidelio hatte den windschnittigen Gleiter und die schwere Lederjacke erst gestern gesehen. Und selbst mit einer Fliegerbrille erkannte er das ausdrucksstarke, dunkelbraune Gesicht wieder. Er hätte sie überall wiedererkannt.

»Sturm?«, rief er Mathilda gegen den Wind entgegen. »Warum hat das so lange gedauert?«

3. Mathilda

Die Stadt lag bereits im tiefen Schlaf, als das Donnern zu einem fernen Grummeln schrumpfte. Es brannte kein Licht mehr in der Werkstatt und die Schatten hüllten Mathilda in ein Nest aus Dunkelheit. Sie lag auf dem durchgesessenen Sofa, das so kurz war, dass ihre Beine über die Lehne baumelten und der Hund an den Rändern überlappte. Maximus schmatzte leise, als sie sich bewegte. »Rück ein Stück«, flüsterte Mathilda, obwohl sie allein waren. Ihr Fuß streifte eine Holzkiste und die leeren Becher und Flaschen darauf klirrten leise. Sie tastete im Dunkeln nach dem Teller mit den Würsten und fand ihn blankgeleckt auf dem Boden wieder. Hoffentlich hatte Ismail daran gedacht, die Reste der frischen Pastete wegzuräumen, bevor er aufgebrochen war. Eine nasse Hundezunge wischte ihr übers Gesicht und Mathilda rang für einen Moment nach Atem.

»Lafrenz hat recht«, teilte sie Maximus mit. »Du stinkst wirklich.« Er winselte glücklich.

Sie suchte in den Fenstern nach einer Spur von Morgengrau. Doch noch fiel nur ein Rest Mondlicht über das Fensterkreuz und malte bleiche Vierecke auf den unverputzten Boden. Sie erhob sich, tapste auf Wollsocken durch den Raum, stieß mit dem Fuß an einen schweren Eimer voll was-auch-immer und fand ihre Stiefel neben dem Werktisch wieder. Noch ein bisschen feucht.

Ihre Lederjacke und der Helm lagen auf einem Schemel. Sie nahm beide an sich und ließ die Tür für den Hund offen, als sie auf den Hof hinaustrat. Der Himmelsstürmer stand sicher vertäut unter einer Plane. Ismail hatte am Abend noch die Tanks nachgefüllt, während Lotte Knochenmus aus der Schenke an der Ecke Bratwürstchen und Pastete geholt hatte. Karim Ahmad war klug genug gewesen, um sich zu empfehlen. Nachdem der Hauptmann verschwunden war, hatte Ismail Fräulein Knochenmus beim Essen mit allen technischen Details des Himmelsstürmers langweilen dürfen. Lotte Knochenmus war eine geduldige Zuhörerin gewesen und Ismails Begeisterung hatte die Luft in der Werkstatt zum Flirren gebracht, während draußen das Gewitter niederging.

Jetzt wälzte Maximus sich glücklich in einer Pfütze im Hof. Die Wolken waren aufgerissen und Schlieren von Mondlicht zeichneten die krummen Häuser nach. »Lass niemanden rein!«, befahl Mathilda, ganz so, als würde ihr Hund sich nicht von jedem Einbrecher mit Wurst bestechen lassen. Sie schwang sich auf den Gleiter und im nächsten Moment stieg ihr das Knattern und Vibrieren des Motors direkt in die Knochen. Der Schub trug sie himmelwärts, vorbei an schwarzen Fenstern und rotierenden Windrädern. Dann lag das rostige Viertel der Erfinder unter ihr. Der Wind blies ihr kalt über die Wangen. Über dem Fluss ballten sich die Regenwolken und weit draußen über dem brandenburgischen Flussdelta zuckte ein einsamer Blitz über den Himmel.

Mathilda beschleunigte sacht und ein Lächeln dehnte sich auf ihrem Gesicht aus. Sie glitt über die schlafende Stadt dahin. Ganz Geschwindigkeit und Fahrtwind, knatternder Motor und Regenfrische. Der Leichnam von August Himmelsbrück blieb am Boden zurück, genauso wie die Warnung des Hauptmanns und ihre Angst um Ling. Es blieb nur Mathilda übrig, allein am Himmel über Berlin.

Viel zu schnell schälten sich die Luftschiffe über ihr aus den Wolken. Schwebende, dickbäuchige Riesen, die mit Technik und Magie die Naturgesetze überwanden. Die meisten lagen mitten in der Nacht natürlich an den Landetürmen oder im Hangar, aber ein Frachtschiff ging gerade über dem Fluss in den Sinkflug. Behäbig und schwer manövrierte es durch die Regenschleier. Und dort drüben, an der Grenze zwischen den Lufthäfen der Sturmgilde und dem Vergnügungsviertel am Fluss, schwebte ein Schiff mit nachtschwarzen Segeln. Schwere Ketten und Taue spannten sich von einem Landeturm aufwärts und vertäuten die Morgenröte an ihrem angestammten Platz. Die Laternen des Bordellschiffes blitzten weit über Mathilda auf und sie kontrollierte mit einem Blick den Höhenmesser.

Vierunddreißig Klafter.