Berlin, Marienstraße 23 - Bärbel Reetz - E-Book

Berlin, Marienstraße 23 E-Book

Bärbel Reetz

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Beschreibung

Wenn Häuser sprechen könnten, was würden sie uns erzählen? Die Autorin Bärbel Reetz wohnt an der Marienstraße 23 in Berlin und hat ihr Haus zu seiner Biografie befragt. Da das Haus schwieg, begab sie sich in Archiven, Büchern und im Internet auf Spurensuche und begann darauf aufbauend eine Geschichte zu weben. Diese beginnt im Jahre 1828, als der Chemiker Friedrich Accum, der nach Berlin zog, um in London einer Haftstrafe zu entgehen, das Haus bauen ließ. Nach dessen Tod betrieb sein Sohn Fredrick Accum einen Delikatessen- und Teeladen im Haus, bevor der Arzt Karl Schweigger seine Augenklinik in diesen Räumlichkeiten einrichtete. Im Laufe seines langen Lebens wurde das Haus zudem von einem Schauspieler, einem Pferdehändler und einem Sexualwissenschaftler bewohnt und wurde, als die Rote Armee Berlin eroberte, gar als NKWD-Gefängnis genutzt. Die Spuren und Dokumente, die Bärbel Reetz über das Haus und seine BewohnerInnen zusammengetragen hat, bilden das Gerüst, die Fassade dieser Geschichte; was sich dahinter, hinter geschlossenen Türen und offenen Fenstern abgespielt haben könnte, erfindet sie hinzu. So spaziert die Erzählerin vertieft in einem Totengespräch mit Friedrich Accum durchs Berlin des frühen 19. Jahrhunderts, lässt dessen Sohn Fredrick Briefe an seinen Kindheitsfreund in London schreiben und stellt sich vor, was 1945 im Tagebuch eines russischen Offiziers, dem Vorsteher des NKWD-Gefängnisses, gestanden haben könnte. "Berlin, Marienstraße 23" ist die faszinierende Geschichte eines Hauses und seiner BewohnerInnen – genau so, wie sie hätte gewesen sein können.

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Die Autorin und der Verlag bedanken sichfür die großzügige Unterstützung bei

Elisabeth Jenny-Stiftung

Der rüffer & rub Sachbuchverlag wird vom Bundesamtfür Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre2021–2024 unterstützt.

Erste Auflage Frühjahr 2021Alle Rechte vorbehaltenCopyright © 2021 by rüffer & rub Sachbuchverlag GmbH, Zü[email protected] | www.ruefferundrub.ch

Design E-Book: Clara Cendrós

ISBN Book: 978-3-906304-81-6

Prolog

I Flüchtige Begegnung

II Thee en gros & en detail

III Blick aus dem Fenster

IV Katarakte

V Kissinger Intermezzo

VI Die Tanzprinzessin

VII A Mensch mit a weitem Guck

VIII Geldgeschäfte oder Magnus’ Erben

IX Das Gefängnis des Generals –  Auszüge aus einem fiktiven Tagebuch

X Faust im 2. Stock

XII Mauerbau mit Brause

Epilog

Anhang

Anmerkungen

Bildnachweis

Personenregister

Dank

Biografie

Zu Beginn: das Ende eines Krieges. Dreißig Jahre marodierende Soldaten, katholische Kaiserliche, protestantische Schweden. Plünderungen. Brandschatzungen. Hungersnöte. Seuchen. Verwüstetes Land. Verwaiste Dörfer. Städte, in denen, als endlich Frieden geschlossen ist, nur wenige überlebt haben. »Zu wenige, um sie wieder aufzubauen«, befindet Brandenburgs Großer Kurfürst und erlässt zu Potsdam ein Edikt, das Verfolgten freie Religionsausübung und Toleranz zusichert.

Juden, vertrieben aus Österreich, folgen dem Aufruf und verfolgte Protestanten aus Frankreich, denen sich der Kurfürst, der anders als seine lutherischen Landeskinder Calvins Lehre anhängt, besonders verbunden fühlt. Mit der Zusage zahlreicher Privilegien sollen die arbeitsfähigen Refugiés ins unbekannte Brandenburg gelockt werden: Befreiung von Steuern und Zöllen, kostenlose Mitgliedschaft in Zünften, Bereitstellung von Grundstücken und kostenlosem Baumaterial, Anschubfinanzierungen für gewerbliche Existenzgründungen, schließlich das Bürgerrecht.

20000 französische Flüchtlinge, Männer, Frauen und Kinder, die man später Hugenotten nennen wird, ziehen aus ihren Heimatregionen zu Sammellagern in Amsterdam, Frankfurt am Main oder Hamburg. Die Weiterreise nach Osten und anschließende Verteilung im Land wird vom neu gegründeten staatlichen Kommissariat für französische Angelegenheiten in Berlin gelenkt, das künftig auch die Einhaltung der zugesicherten Privilegien überwacht.

Wohlwollend begleitet von Hof und Adel, dem das Französische als Ausdruck zivilisatorischer Lebensart gilt, vollzieht sich die gut organisierte Peublierung Brandenburgs. In Berlin werden den Geflüchteten Grundstücke in der neu entstehenden Dorotheenstadt zugewiesen und am Friedrichstädter Markt, an dem auch die Stallungen des Kürassierregiments Gens d’Armes liegen. Dort errichten sie ihre Kirche, daneben den Gottesacker, wählen ihre Gemeindeältesten und rücken, obwohl aus unterschiedlichen Regionen Frankreichs stammend, eng in der Gemeinde zusammen.

Denn neben dem Wohlwollen des Hofes, der sich die Fertigkeiten der Tapissiers, Seidenweber, Leinendrucker, der Perückenmacher und Emailleure gern zunutze macht, Pastetenbäcker, Confituriers und Patissiers beschäftigt, schlagen den Neubürgern von der Berliner Bevölkerung Ablehnung und Misstrauen entgegen. Wohnraum und Lebensmittel sind durch die plötzlich Hinzugekommenen knapp geworden, die Preise gestiegen. Existenzangst grassiert und Neid auf die Privilegien. Französisch, wohin die Berliner hören! Jeder fünfte Einwohner ist um 1700 ein Refugié!

Steine fliegen in die Fenster der neu errichteten Häuser, nachts werden Brände gelegt. Die Missgunst wächst, als der Kurfürst und sein Sohn, der sich selbst 1701 zum König in Preußen krönt, den Neubürgern, deren Kolonie stetig wächst, ein Gerichtswesen nach französischem Vorbild zugestehen. Und während den Einheimischen bei Krankheit nur die vom König eingerichteten »Lazareth-Häuser« jenseits der Spree zur Verfügung stehen, in denen sich die Armen, Bettler, Prostituierten und unehelich Schwangeren drängen, wird den neuen Bürgern unweit dieser Charité der Bau eines eigenen Spitals und eines für ihre Kinder, das Petit Hôpital, gestattet.

Es sind Brachen, auf denen jenseits der Spree gebaut wird. Sumpfige Weiden an den Ufern wechseln mit kargen Sandböden. Dennoch entschließt sich eine Gruppe der Kolonisten, hier ihre Häuser zu errichten, Felder und Gärten, sogar einen Weinberg anzulegen. »Mon habitat / Moabit« nennen sie ihre Siedlung, pflanzen Obstbäume, ziehen Gemüse, auch in Berlin unbekannte Sorten wie Spargel, der prächtig gedeiht. Nur die auf Befehl des Königs vorgenommene Setzung von Maulbeerbäumen und Zucht von Seidenraupen schlägt wegen des Klimas und der schlechten Bodenbeschaffenheit fehl.

Doch trotz ihres schnellen Spracherwerbs und dem Willen zur Anpassung bleibt es zwischen Kolonisten und Einheimischen über Jahrzehnte ein Neben-, kein Miteinander. Nicht nur wegen der ablehnenden Haltung der Berliner, sondern auch, weil die Geflüchteten bestrebt sind, ihre Traditionen in der Fremde zu bewahren. So wird in der von ihnen begründeten Schule, ebenso wie im Gottesdienst, Französisch gesprochen, auch im »orphelinat«, dem Waisenhaus, und der Armenbäckerei, wo sich Alte und Bedürftige täglich zu Brot und einem Napf Bouillon einfinden.

Erst als unter dem Urenkel des Großen Kurfürsten, König Friedrich II., der besser Französisch als Deutsch spricht, die Refugiés ihre Kirche erweitern und mit einer Kuppel krönen dürfen, zugleich aber auf diesem bisher der Kolonie vorbehaltenen Gelände gegenüber dem französischen auch ein baugleicher deutscher Dom entsteht, ist das Zeichen für ein Miteinander gesetzt. Künftig begegnet man sich auf dem Gendarmenmarkt, von dem die Pferdeställe längst verschwunden sind, nicht nur beim Kirchgang, sondern auch beim Besuch des Schauspielhauses, das der König zwischen den beiden Kirchen errichten lässt, und auf dem Friedhof vor dem Oranienburger Tor, wo jetzt nicht nur die lutherischen Dorotheenstädter ihre Toten bestatten, sondern auch die französisch-reformierten.

Und so weicht Ablehnung einer vorsichtigen Annäherung, siegt die Neugier über den Neid, mischen sich in der schnell wachsenden Stadt die Nachbarschaften, die Sprachen, die Familien. Es wird Mode, französische Cafés und Restaurants zu besuchen, im »atelier« des »tailleur« nach dem Vorbild der Königin Luise die neueste »couture« aus Paris schneidern zu lassen, man genießt »patés« und »tartes«, flaniert auf dem »trottoir« und sagt »pardon«. Wer auf sich hält, schickt seine Söhne auf das Französische Gymnasium, das allen Berliner Bürgern offensteht. Gelungenes Miteinander, bei dem nur noch die Namen – die Lafontaines, Fontanes und de Maisières – die Herkunft ihrer Träger verraten.

*

Schwieriger gestaltet sich die Assimilation bei den vor Verfolgung aus den österreichischen Kronländern nach Berlin und in die Mark gezogenen Juden, denen die Bevölkerung mit noch heftigerer Abneigung begegnet als den Refugiés. War es bei den Franzosen die Angst, gegenüber den Zugezogenen benachteiligt zu werden, lehnen sie die Juden aus religiöser Voreingenommenheit ab. Hatte nicht schon Luther gegen die Mörder des HERRN gewettert! Da hilft auch nicht, dass der König den Juwelier Ephraim in den Stand eines Hofjuden erhebt.

Als es den ersten jüdischen Flüchtlingen, geschützt durch den Hof, gelungen ist, mit der Bevölkerung zu einem tolerierten Nebeneinander zu kommen, verschärft sich die Situation jedoch erneut durch den Zuzug ihrer verfolgten Glaubensbrüder aus dem Osten, die, den Pogromen im zaristischen Russland entkommen, ins Königreich Preußen und dessen Hauptstadt ziehen. Zu fremd ihre Erscheinung, zu unverständlich ihr Jiddisch, ihre Gewohnheiten und Rituale. Sind die zuerst Eingewanderten nicht mehr von den Einheimischen zu unterscheiden, so weicht man den bärtigen Männern mit Schläfenlocken, mit Kaftan und Jarmulke aus und achtet darauf, sie in ihren Wohnungen bei den Scheunen im Schatten der Zollmauer zu belassen.

Aber der Wunsch nach Anerkennung, Teilhabe und Erfolg treibt auch diese Männer aus dem Scheunenviertel in die Straßen der schnell wachsenden Stadt. Anpassung an die fremden Lebensverhältnisse, das Erlernen des Deutschen, Fleiß und Tüchtigkeit verhelfen ihnen zu Anerkennung und Wohlstand. Aber der »Makel« des Jüdischseins bleibt, und so schaffen oft nur die Konversion zum Protestantismus, die Taufe und das Wechseln des Namens – der zu Siegfried gewordene Samuel, der von Itzig zu Hitzig Gewandelte – die Grundlage für den beruflichen und persönlichen Erfolg im aufstrebenden Preußen und Deutschen Reich.

*

Und so wuchs und wächst Berlin. Noch immer drängen Tausende auf der Suche nach Arbeit oder Abenteuer, Geld oder Glück in diese Stadt. Ein Menschenstrom, der nicht enden zu wollen scheint, wie schon vor Jahrhunderten, als Berlin über seine mittelalterlichen Mauern hinauswuchs, neue Stadtteile entstanden, die umliegenden Dörfer eingemeindend. Bald zählte man eine Million Einwohner, eine zweite und dritte: junge Mädchen und Männer zogen auf der Suche nach Arbeit in die Stadt, verdingten sich für Hungerlöhne in den Fabriken, die ihre Schlote hoch über die alte Zollmauer reckten. Soldaten, ausgehoben auf dem Land, wurden in des Königs Uniformröcke gesteckt und exerzierten, marschierten, paradierten. Eingeschrieben an Humboldts berühmter Universität, träumten die jungen Feuerköpfe in Hegels Vorlesungen und geheimen Versammlungen davon, die Gesellschaft umzustürzen. Und so glich Berlin von Jahrzehnt zu Jahrzehnt mehr und mehr jenem Schmelztiegel von 1700, in dem sich Menschen verschiedener Herkunft, Bildung und Religion begegnen, bestrebt, ihr jeweils Eigenes zu erhalten, und doch gezwungen, der Forderung nach Anpassung und Intergration nachzugeben.

Eng beieinander lebten sie in der Stadt. Das Schloss und die Adelspalais waren umgeben von den Häusern der Bürger, von Händlern und Handwerkern. Ärzte, die in die Stadt zogen, um im Labor des Professors Robert Koch und in den Kliniken der Charité zu forschen, deren schlechter Ruf längst Vergangenheit war, wohnten nur unweit des »Feuerlands«, der Fabriken von Borsig, AEG, von Siemens & Halske, wo sich ausländische Techniker und Naturwissenschaftler Kenntnisse der Konstruktion von Maschinen, Stadt- und elektrischer Straßenbahn oder zu James Hobrechts vorbildlichem Kanalisationssystem aneigneten.

Selbst aus dem fernen Japan machten sich Offiziere auf den mühsamen Weg, um das preußische Militärwesen kennenzulernen und zu übernehmen. Manche lebten Wochen in der Stadt oder Monate, einige sogar Jahre, verbanden sich mit den Bewohnern auf Zeit – oder blieben für immer.

*

Auch ich kam als Fremde in diese Stadt und beschloss zu bleiben. Ich begann, die fremden Straßen zu erkunden, wanderte über altes Kopfsteinpflaster und neuen Asphalt, blieb stehen, um Erinnerungstafeln an und Stolpersteine vor den Häusern zu lesen, Namen von Menschen, die hier gelebt hatten, ging weiter, immer weiter, bis meine Füße schmerzten und ich mir eine Bank suchte, um auszuruhen.

Und dann, an einem sonnigen Sommertag, fiel mir ein Haus auf, das sich mit seinem grauen bröckelnden Putz, den Einschusslöchern in der Fassade, dem schadhaften Dach und Fenstern, von deren Rahmen längst die Farbe abgeblättert war, wie ein ärmlicher Verwandter zwischen den frisch gestrichenen, renovierten Nachbarhäusern zu verbergen schien.

»Ein Schandfleck«, sagten die Leute im Café an der Ecke.

»Wem gehört es?«, fragte ich – und erntete Schulterzucken.

Seit jenem Tag zog es mich immer wieder dorthin. Doch es war nicht nur das heruntergekommene Haus, das mich interessierte, sondern auch die Straße, die mir zu gefallen begann. Leicht zu übersehen, verbindet sie die belebte Albrecht- mit der Luisenstraße. Führt die eine zum Deutschen Theater und die andere zur Charité, ist die Marienstraße ein kurzes, ruhiges Dazwischen, eine Schönheit erst beim genauen Hinschauen. Kein Baum verdeckt den Blick auf die klassizistischen Fassaden. Breite Bürgersteige, zur Entstehungszeit gepflastert mit den Platten schlesischen Granits. An den Wänden der Häuser sind Plaketten angebracht, die an ihre Erbauer und Bewohner erinnern: Adolph Menzel, den Maler, Jean Sibelius, den finnischen Komponisten, der 1889 in der Marienstraße 4 wohnte, und den russischen Komponisten Michail Iwanowitsch Glinka, der den Sommer 1852 in der Nummer 6 verbrachte. Japanische Schriftzeichen am Eckhaus der Marienstraße 32 zur Luisenstraße: Mori Ōgais Gedenkstätte.

Blieb ich vor der Nummer 23, dem großen Eisentor mit den schön geschmiedeten Blütenranken stehen und spähte in die Durchfahrt zum Hof, in dem Gerümpel lagerte, fragte ich mich, wer hier gelebt haben mochte, welche Geschichte sich an diesem verlassenen Ort verbarg. Aber zunächst verbarg sich das Haus, war verschwunden hinter Gerüsten und Planen, an denen ein Banner vom künftigen Aussehen kündete: Eine hell gestrichene Fassade, sorgfältig restaurierte Schmuckbänder und Fenster, glänzend grün das hohe Rankentor. Dazu Namen und Daten von Architekt und Baufirma, die diese Verwandlung vollbringen wollten.

Ich wechselte vom mit rot-weißem Band abgesperrten Bürgersteig auf die gegenüberliegende Straßenseite, betrachtete lange das Banner mit dem restaurierten Haus, wandte den Blick nach links zur Luisenstraße mit der klassizistischen Fassade eines Hotels, zu DDR-Zeiten der berühmte Künstlerklub Die Möwe. Schaute nach rechts zur Albrechtstraße, wo, im einzigen nach dem Krieg neu errichteten Gebäude, Martin Luther King während seines Besuchs im September 1964 gewohnt hatte.

Fasziniert von so viel Geschichte, die sich hinter den Mauern zugetragen hatte, wanderte mein Blick zurück zum Bild des freundlich-hellen Hauses, und ich holte, plötzlich entschlossen, mein Handy aus der Tasche, fotografierte und erklärte am nächsten Tag mein Interesse an einer Wohnung. Und ich nahm mir vor, bis zur Fertigstellung die Geschichte des Hauses, seines Erbauers und seiner Bewohner zu erkunden.

Anfang August 1828. Ein Sonntag. Hitze der Hundstage. Staub auf seinen Stiefeln. Schweiß auf der Stirn, der den Rand des Zylinders feuchtet. Er lüftet ihn, obwohl niemand (außer mir) zu grüßen ist, fächelt sich Luft zu. Träge dümpeln die Lastkähne am Ufer der Spree. Vom Wasser steigt fauliger Gestank auf. Ekelhaft. Er hält die Hand vor Nase und Mund, wünscht, der Sommer wäre vorbei, diese Zeit der üblen Gerüche, die bei ihm Schwindel auslösen und Übelkeit. Schon als Kind, damals in Bückeburg, nahm er Gerüche wahr, bevor die Mutter, der Bruder oder die Schwester sie bemerkten. Und hatte er sie in der Nase, begann sein Kopf nach ihrer Zusammensetzung zu suchen. Danach zu fragen, wagte er bald nicht mehr, denn die Mutter hatte ihn merkwürdig angesehen und erklärt: »Ich rieche nichts.« Schlimmer noch: Philipp und Rebecca lachten den kleinen Bruder aus. Hätte der Vater ihn verstanden? Ihm Antwort geben können? Er hatte ihn vermisst, diesen Schattenmann, der durch seine Erinnerung spukte, ohne dass er ihm ein Gesicht und feste Umrisse geben konnte: Markus Herz aus Vlotho an der Weser, der sich taufen ließ und ihm, seinem Sohn Friedrich Christian, seinen Nachnamen hinterlassen hatte: Accum.

Kein Lufthauch. Vor den Gläsern meiner Sonnenbrille wabert die Hitze. Ich habe ihn nicht kommen hören, bemerke ihn erst, als er vor mir steht, den Zylinder auf dem Kopf, das Rohr mit dem silbernen Knauf in der Rechten. Er kleidet sich noch immer englisch, die Weste in schwarz-grauem Karo, ungewöhnlich in Berlin, wo zu seiner Zeit selbst die Kleidung der Bürger an strenge Soldatenröcke erinnerte, zum Strammstehen zwang, obwohl der Soldatenkönig schon lange in seiner Gruft fror und sein Sohn die Perücke in Sanssouci neben seine Windspiele gelegt hatte.

»Die Westenstoffe bestellt mir Salomon Gebert in London.« Der Herr lüftet mich grüßend seinen Zylinder. »Da ich Witwer bin, sind mir farbige Westen nicht gestattet, aber ich lege Wert auf Streifen, Pepitas, Glenchecks oder diese Karos, wie man sie in Britannien trägt. Sie kennen Gebert?«

»Nur aus der Literatur. Ich nehme an, er ist ein Erdachter, so wie seine Nichte Jettchen.«

»Literatur oder Leben? Gibt es da einen Unterschied? Das sollten doch gerade Sie besser wissen. Also warum haben Sie mich gerufen? Was soll Ihr unablässiges Kreisen um meine Person? Ihre Fantastereien?«

»Ich habe das Haus entdeckt, das Sie gebaut haben. Das Haus in der Marienstraße. Wollte wissen, wer Sie waren, woher Sie kamen.«

»Reden Sie keinen Unsinn. Frauen sollten sich nicht einmischen in Dinge, die sie nichts angehen. So wie Sie das seit geraumer Zeit tun.«

»Ich suche nach Ihren Spuren, denke über Sie nach, aber mit Ihnen zu sprechen kommt mir unwirklich vor wie eine ...«

»Geisterbeschwörung?« Er lacht. »Das Jenseits hält mehr Überraschungen bereit, als Sie sich vorstellen können. Ihr Gespräch mit einem Toten ist erst der Anfang.«

»Am Anfang, Herr Professor Accum, das habe ich recherchiert, war das Kind in Bückeburg«, rechtfertige ich mich.

*

Wenn das Kind Sonntag für Sonntag auf der harten Kirchenbank saß, ahnte es nichts vom jüdischen Vater, der, um Judith Berth dit La Motte heiraten zu können, so gründlich konvertiert war, dass er sich Christian genannt und mit »akum« seine Abkehr von der Religion der Väter bekräftigt hatte. In der Lateinschule, dem gräflichen Adolfinum, faltete Friedrich bei Unterrichtsbeginn die Hände, murmelte das Morgengebet und sang zu Ostern »Christ ist erstanden«. Die Mutter entschied, was er wissen sollte: dass der Vater im Infanterie-Regiment des Grafen Wilhelm von Schaumburg-Lippe gedient hatte, als Kaufmann und Seifenfabrikant erfolgreich gewesen war. Noch immer roch es im großelterlichen Haus in der Schulstraße nach Seife, einer Mischung aus Pottasche und heißem Tierfett, mit dem die Erzählungen der Mutter verschmolzen: vom Großvater, Jean Louis Berth dit La Motte, aus der Nähe von Metz, der nach Bückeburg geflohen und dort mit nur 50 Jahren gestorben war, und der Großmutter, Esther Nicolet, Tochter französischer Refugiés aus Berlin.

Diese Großmutter war kurz vor Friedrichs Vater gestorben, eine Uralte, deren mürrisches, von einer schwarzen Witwenhaube umrahmtes Faltengesicht aus einem Bild auf Friedrich blickte und ihn misstrauisch zu mustern schien, wenn die Mutter von der Verfolgung der Calvinisten in Frankreich erzählte, dem Grauen der Bartholomäusnacht, auch vom guten Roi Henri, der nicht nur jedem Untertan ein sonntägliches Huhn im Topf versprochen, sondern auch das Toleranzedikt von Nantes erlassen hatte. »Attend, Frédéric!«, mahnte die Mutter und malte die Geschichte in blutigen Farben: den Fall von La Rochelle, die Aufhebung des Toleranzediktes durch Ludwig XIV., unser Ende in Frankreich. Wir waren 200000 oder mehr, die nach England flohen, in die Niederlande, nach Preußen. Edikt von Potsdam 1685. »Répète!«, forderte die Mutter, deren in hastigem Französisch erzählte Schilderungen Friedrich bis in seine Träume verfolgten. Dann war ihm, als habe sie alle Grausamkeiten miterlebt, obwohl er wusste, dass Judith Susanne Accum (geb. Berth dit La Motte) 1732 in Bückeburg geboren war. Von der Gründung der französischen Gemeinde sprach sie so stolz, als hätte sie selbst diese Tat vollbracht, und sie ließ ihre Kinder die Namen der Mitglieder des »consistoire« wiederholen, des »ancien« und des »diacre«. Die jüdische Betstube in der Langen Straße erwähnte die Witwe Christian Accums nicht, in dessen Haus es stets nach Seife roch.

*

So könnte es gewesen sein: Friedrichs Kindheitsseifengeruch, unvergessen wie die Strenge der Mutter, ihre Trauer um Mann, Großmutter und Ernestine, die kleine Schwester, die gerade einmal fünf Jahre alt geworden war. Nie sah er die Mutter anders, als in den dunklen Witwenkleidern, die matt und muffig rochen, wenn sie aus dem Schrank genommen wurden, anders, nachdem sie getragen waren. Wieder anders der Geruch in den Kleidern der Geschwister, auch in denen der Mitschüler, der Lehrer. Friedrich konnte riechen, wem sie gehörten, auch wenn der Träger sie abgelegt hatte und davongegangen war. Damals war seine Neugier erwacht, wollte er wissen, woraus ein Geruch besteht, hatte sich gefragt, ob man ihn nicht nur wahrnehmen, sondern auch in seine Bestandteile zerlegen könnte, überlegte: Was ist Schweiß? Und woher kommen diese Ausdünstungen des Körpers? Was erzeugt das Muffige, das Saure, das Stechende? Und warum kann man sich mit Seife waschen? Wo bleibt der Schmutz? Wo der Geruch?

Wollte er mit Philipp darüber reden, grinste der und tippte mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. Der große Bruder würde in Bückeburg bleiben, bei der Mutter, im Haus in der Schulstraße, würde Zahlen in Kontobücher schreiben und heiraten, so wie Rebecca, die sich mit Anton Wilhelm Strack verlobt hatte, dem Maler, der seiner Auftraggeberin, der hessischen Prinzessin Juliane, von Kassel nach Bückeburg gefolgt war. Neugierig hatte Friedrich damals die jungen Paare betrachtet: die frisch getraute Prinzessin mit ihrem Provinzgrafen und seine Schwester Rebecca, die dem Künstler aus der berühmten Tischbein-Familie verliebte Blicke zuwarf. Die Fragen von Mutter und Bruder, wovon er eine Familie ernähren wolle, hatte der Bräutigam schnell zerstreut: Porträtaufträge vom Hof und handkolorierte Kupferstiche, die er in den nahen Kurorten zum Verkauf anbieten würde, in Bad Nenndorf, Bad Eilsen, Bad Oeynhausen.

Plötzlich war Leben eingekehrt in das Haus in der Schulstraße. Pläne wurden gemacht, Möbel gerückt. Der Geruch von Antons Farben vermischte sich mit Rebeccas Maiglöckchen-Rosen-Lavendelwasser. Die Schrecken der blutigen Bartholomäusnacht, die französischen Fluchtgeschichten verflüchtigten sich und mit ihnen der Seifengeruch. Dennoch war Friedrich entschlossen, Bückeburg, die kleine Residenz, die der Schwager bald in zartfarbigen Kupfern rahmte, zu verlassen. Eines schenkte er Friedrich, als dieser die Fahrpost bestieg, um in Hannover seine Lehre beim Königlichen Hofapotheker Brande zu beginnen. Der erste Schritt zu den Substanzen, die sein Leben bestimmen sollten, in Hannover, dann in London, wo Brande in der Arlington Street eine Zweigstelle betrieb. 1793 überquerte der inzwischen 24-jährige Apothekergehilfe Friedrich Accum schließlich bei stürmischem Wetter den Kanal nach Frankreich.

»Stimmt.« Er nickt zufrieden. »Die Post verkehrte seit 1737 von Bückeburg nach Hannover. Meine Überfahrt nach Dover war – ich kannte nur Weser und Leine – ein übles Abenteuer. Aber bei meiner Kindheit mischen Sie, soweit ich mich erinnere, die Wahrheit sehr frei mit Ihren eigenen Vorstellungen.«

»Sie unterstellen mir Ungenauigkeiten?«

»Zumindest scheint hier und da die Fantasie mit Ihnen durchzugehen, zum Beispiel wenn Sie mir diese feine Nase attestieren.«

»Ich habe mir nur vorgestellt, wie ein Junge am Ende des 18. Jahrhunderts auf die Idee kommt, sich für Pharmazie und Chemie zu interessieren.«

»Neugierde. Wenn man aus Fett und Pottasche ein Reinigungsmittel wie Seife zusammenkochen und mit diversen Substanzen verfeinern kann, dann kann man auch andere Anrührungen zum Guten wie zum Schlechten herstellen. Was lag da näher, als Pillendrehen und Giftmischen zu lernen?«

*

Ich lasse mich nicht von ihm einschüchtern, beharre auf meiner Geschichte und lasse ihn vom Schiffbauerdamm in eine der neu angelegten, ungepflasterten Straßen einbiegen. Jetzt, den Gestank des Flusses in der Nase, sollte er an Bückeburg denken, an seine Fragen nach der Zusammensetzung der Gerüche, die scheinbar nur ihn bewegten. Auch bei den Speisen hatte ihn weniger interessiert, wie sie schmeckten, sondern die Frage nach der Ursache des Geschmacks. Er spürte dem nach, wenn die Mutter den Teller mit der heißen Suppe vor ihn hinstellte, deren Geschmack sich änderte, sobald sie abgekühlt war. Warum schmeckte gekochtes Gemüse anders als rohes, wurde Milch in der Wärme sauer und dick? Was geschah beim Erhitzen, beim Abkühlen, und welchen Einfluss hatten die Gefäße, in denen die Speisen aufbewahrt wurden? Wie verhielten sich die Zutaten, wenn man sie mischte? Und warum veränderte sich dabei nicht nur ihr Geschmack, sondern auch Farbe und Konsistenz?

Mehr als einmal hatte sich Accums Ehefrau Mary Ann darüber beklagt, wenn er, anstatt das Essen zu genießen, sofort mit seiner stummen Analyse der Bestandteile begann. Kaute er in Gedanken versunken, sagte sie vorwurfsvoll: »Frederick, please.« Dann lächelte er entschuldigend und nahm sich vor, nach dem Essen unbemerkt Speisereste in Probenschüsselchen und Gläschen zu füllen, um sie in seinem Labor zu analysieren. Schöpfte er einen Verdacht auf unerlaubte Beimengungen, untersuchte er die Behälter, in denen die Speisen aufbewahrt wurden. Und wenn er Zusätze zur Konservierung oder Geschmacksverbesserung fand, die Übelkeit, Erbrechen und Krämpfe auslösten, warnte er: »There is death in the pot.«

Er war mit seinen Untersuchungen den skrupellosen Lebensmittelpanschern auf die Schliche gekommen, denen die Gesundheit ihrer Kundinnen und Kunden gleichgültig war. Hauptsache, die Kasse stimmte. Und deshalb hatte er von ihnen die Quittung bekommen: Berlin statt London.

»Jedenfalls ist es bedauerlich, nicht mehr forschen zu können«, mischt sich Accum ein. »Früher war mein Londoner Labor eine der, nicht ersten, da lasse ich Hartmann in Marburg, von Liebig in Gießen den Vortritt, aber eine der besten Lehranstalten für Chemie. Best standard! Highest reputation! Meine Studenten kamen vom Kontinent und aus den Vereinigten Staaten. Benjamin Silliman, nur als Beispiel, ließ sich bei seiner Abreise eine komplette Laborausstattung nach Yale schicken, a complete Collection of Chemical Apparatus. Wussten Sie, dass ich tragbare Labore entwickelt habe, mit denen sogar der Bauer auf dem Land Boden- und Gesteinsproben analysieren konnte?«

»Ich habe davon gelesen. Es heißt, Sie waren einer der bedeutendsten Chemiker Ihrer Zeit. Warum haben Sie das aufs Spiel gesetzt?«

»Ich habe getan, was jeder Vielbeschäftigte tun würde, der nicht die Zeit aufbringen will, ganze Seiten aus Büchern abzuschreiben. Eine hirntötende Tätigkeit. Also habe ich in der Bibliothek die Seiten, die mich interessierten, rausgerissen und mitgenommen. Schließlich handelte es sich um Fachbücher, die ohnehin kaum jemand auslieh, geschweige denn verstand.«

»Aber Sie waren unvorsichtig, haben sich erwischen lassen.«

»Ach, was wissen denn Sie. Ich war durch die Veröffentlichung meiner Forschungen und die öffentliche Warnung zum Hassobjekt der Händler geworden. Denn plötzlich wurden die Verbraucher aufmerksam, kauften nicht mehr das spanische Öl mit dem hohen Bleigehalt, sondern das aus Italien und Frankreich, waren vorsichtig beim Essig, den man mit Schwefelsäure versetzte, um ihn saurer zu machen, und die fliegenden Händler blieben auf ihrem klebrig-süßen, leuchtend grünen Konfekt sitzen, weil die Leute von mir wussten, dass es kupferhaltig war und sie krank machen würde. Und dann die Sache mit dem Bier. Statt nur Hopfen und Malz wurden auf Teufel komm raus süchtig machende Substanzen beigemischt: Vitriol, Guineapfeffer, sogar Opium, und dann noch diese verdammten indischen Anamirta cocculus im Porter. Kein Wunder, dass die Männer das Zeug soffen und nicht mehr davon lassen konnten.«

»Heute ist die Überprüfung von Lebensmitteln durch spezialisierte Chemikerinnen und Chemiker Standard, wenngleich auch bei uns immer wieder Skandale wegen unerlaubter Beimischungen veröffentlicht werden.« (Ich klinge so belehrend, dass es mir unangenehm ist, und er revanchiert sich mit einer befremdlich klingenden Anmerkung.)

»Bei der Darstellung der Experimente, welche zur Entdeckung der von mir angegebenen Betrügereien nothwendig sind, habe ich mich bemüht, blos solche Operationen auszuwählen, wie sie von Personen, die in der Chemie nicht bewandert sind, verrichtet werden können; und deshalb glaubte ich auch, alle nöthige Regeln und Instructionen in der verständlichsten Sprache, und mit Hinweglassung der gewöhnlichsten Kunstausdrücke, andeuten zu müssen, welche letztere ohnedies in einem Werke, das zum allgemeinen Gebrauch bestimmt ist, nicht an ihrem Platze seyn würden.«1

»Warum fallen Sie plötzlich in die zu Ihrer Zeit übliche Diktion? Eben haben Sie mit mir gesprochen wie ein Zeitgenosse, und jetzt klingt das wie frühes 19. Jahrhundert.«

»Ich zitiere mich selbst, Originalton sozusagen, da sollte es schon korrekt zugehen.«

»Dann noch mal die Frage, die Sie mir nicht beantwortet haben: Warum lässt sich der erfolgreiche Wissenschaftler eines lächerlichen Papierdiebstahls überführen?«

»Nach der Veröffentlichung meiner Untersuchungen hatte man mir gedroht, anonym natürlich. Aber ich ließ mich nicht einschüchtern, die Bevölkerung vor den Betrügereien gewissenloser Menschen, wer sie auch seyn mögen, zu warnen. (Er gestikuliert aufgeregt.) Ich benachrichtige im Gegentheile hierdurch meine verborgenen Feinde, daß ich in jeder folgenden Ausgabe dieser Schrift fortfahren werde, der Nachwelt die Schande zu berichten, welche die Betrüger und ehrlosen Handelsleute trifft, die vor den Schranken der öffentlichen Gerechtigkeit überführt worden sind, Nahrungsmittel der Gesundheit nachtheilig gemacht zu haben.«2

»Und aus Rache haben diese Leute Sie vor Gericht gezerrt?«

»Sie hatten mir Sturt, den Bibliothekar der Royal Institution, auf den Hals gehetzt, und als der merkte, dass in Büchern, die ich in der ›library‹ benutzt hatte, Seiten fehlten, schlug er Alarm. Gut, ich hatte sie mitgehen lassen, um damit zu arbeiten. To cut my long story short: Kurz darauf standen zwei Constables vor der Tür und durchsuchten meine ›study‹ in der Old Compton Street, fanden die Seiten, waren jedoch mit meiner Erklärung zufrieden, dass es sich um Papierabfall handele. Aber die bestohlene Royal Institution gab keine Ruhe, sondern leitete ein Verfahren wegen des Diebstahls von Papier im Wert von 14 Pence ein. Lächerlich. Ich saß in der Falle. Gerichtsverhandlung. Unterstützt von meinem Freund John Papworth und meinem Verleger Rudolph Ackermann ging ich zum Termin und wurde verurteilt. Selbstverständlich forderten wir Revision und hinterlegten 400 Pfund Sterling als Sicherheit, um mich vor dem Gefängnis zu schützen. Aber uns war klar, wer die Hände im Spiel und dass ich keine Chance gegen meine Widersacher hatte. So blieb mir nichts, als England noch vor dem zweiten Gerichtstermin zu verlassen.«

»Für mich klingt das lächerlich. 14 Pence! War Papier so wertvoll?«

»Ich habe keine Lust, weiter darüber zu reden. Ich war Realist genug, um meine Situation einschätzen zu können. Ich schlage vor, dass wir unsere Beziehung beenden.«

»Aber ich denke nicht daran! Jetzt, da wir einander begegnet sind, kann ich nicht aufhören, meinen Augusttag 1828 weiterzuerzählen.«

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Verdammte Hitze. Im Sommer war Berlin unerträglich. Wer es sich leisten konnte, verließ die Stadt: Die Adligen zogen auf ihre märkischen Güter, weiter nach Pommern oder in den Osten Preußens. Der König folgte seiner Entourage nach Paretz, spielte den Landmann oder ritt nach Charlottenburg, wo er seine tote Luise um Verzeihung anflehte, dass er mit einer jungen Geliebten das Bett teilte.

Da mischt sich, zu meiner Überraschung, Accum ein: »Der König hat (empörtes Schnaufen) sich eine 30 Jahre Jüngere ins Bett gelegt. Schamlos. Gräfin von Harrach. Ihr Name war in aller Munde, als ich im Jahr 1822 nach Berlin kam. Jeder wusste, dass er sie in einem Hotel Unter den Linden versteckt hielt und sich nachts zu ihr schlich wie ein räudiger Köter. Hören Sie, was Varnhagen sagte, als durchsickerte, dass der König eine Katholische von seiner Kur aus dem böhmischen Teplitz mitgebracht hatte: ›Diese Nachricht glaube ich nicht. Es ist mir wie ein Donnerschlag.‹3 Das änderte auch die heimliche Hochzeit nicht. Fürstin Liegnitz. Gräfin von Hohenzollern. Wissen Sie, dass Schinkel den Auftrag bekam, dem Pärchen einen neuen Pavillon im Schlossgarten von Charlottenburg zu bauen? Von Luises Marmormausoleum direkt in Augustes Lotterbett.«

»Sind Sie neidisch, Herr Professor? Soviel ich weiß, haben Sie nach dem Tod Ihrer Frau nicht wieder geheiratet.«

»Lassen Sie Mary Ann aus Ihrem Spiel. Erfinden Sie, was Sie wollen, aber mischen Sie sich nicht in meine privaten Angelegenheiten.«

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