Beruflich in der Türkei - Claudia Appl - E-Book

Beruflich in der Türkei E-Book

Claudia Appl

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Beschreibung

Missverständnisse und zwischenmenschliche Verstimmungen im Arbeits- und Alltagsleben lassen sich vermeiden, macht man sich vor einem Aufenthalt in der Türkei mit den kulturellen Besonderheiten des Landes vertraut. Dieses wissenschaftlich fundierte Trainingsprogramm hilft dabei. Durch die Beschäftigung mit authentischen Begegnungssituationen erfährt man unter anderem, wann ein »Ja« in Wahrheit ein »Nein« bedeutet, in welchen Situationen auf keinen Fall Kritik geäußert werden darf und warum ein Vorgesetzter mit kleinem Büro wenig Wertschätzung erfährt.

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Handlungskompetenzim Ausland

herausgegeben vonAlexander Thomas, Universität Regensburg

Vandenhoeck & Ruprecht

Claudia ApplAnnalena KoytekStefan Schmid

Beruflich in der Türkei

Trainingsprogramm für Manager,Fach- und Führungskräfte

2., korrigierte Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

Die 8 Cartoons hat Jörg Plannerer gezeichnet.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-647-99782-7

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de

© 2016, 2007 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13,D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.www.v-r.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlichgeschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenenFällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Satz: Satzspiegel, Nörten-Hardenberg EPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

Inhalt

Vorwort

Einführung in das Training

Themenbereich 1: Ehre und Ansehen

Beispiel 1: Der Besuch

Beispiel 2: Die Nachbarinnen

Beispiel 3: Das Computer-Netzwerk

Kulturelle Verankerung von »Ehre und Ansehen«

Themenbereich 2: Mitmenschlichkeit

Beispiel 4: Die Stadtführung

Beispiel 5: Die Beerdigung

Kulturelle Verankerung von »Mitmenschlichkeit«

Themenbereich 3: Beziehungsorientierung

Beispiel 6: Die Grillfeier

Beispiel 7: Die neue Schreibkraft

Beispiel 8: Der Vertrag

Kulturelle Verankerung von »Beziehungsorientierung«

Themenbereich 4: Hierarchieorientierung

Beispiel 9: Der Besuch

Beispiel 10: Die Diskussion

Beispiel 11: Das Hilfsangebot des Chefs

Kulturelle Verankerung von »Hierarchieorientierung«

Themenbereich 5: Relativismus von Regeln und Zeit

Beispiel 12: Der Termin

Beispiel 13: Die Genehmigung

Kulturelle Verankerung von »Relativismus von Regeln und Zeit«

Themenbereich 6: Indirekte Kommunikation

Beispiel 14: Der Schuhkauf

Beispiel 15: Die Hand auf der Schulter

Beispiel 16: Das Lob

Kulturelle Verankerung von »Indirekte Kommunikation«

Themenbereich 7: Händlermentalität

Beispiel 17: Beim Einkaufen

Beispiel 18: Der Prototyp

Kulturelle Verankerung von »Händlermentalität«

Themenbereich 8: Ambivalenter Nationalstolz

Beispiel 19: Das Gespräch

Beispiel 20: Der neue Präsentationsraum

Kulturelle Verankerung von »Ambivalenter Nationalstolz«

Kurze Zusammenfassung der türkischen Kulturstandards

Literaturempfehlungen

Literatur

Vorwort

Was haben ein nobler Anzug aus dem Hause Hugo Boss und ein MAN-Reisebus gemeinsam? Äußerlich nicht viel, möchte man meinen, und dennoch werden beide in der Türkei produziert. Mit mehr als 2000 deutschen Unternehmen, die in der Türkei tätig sind, stellt Deutschland die größte Zahl der in der Türkei investierenden ausländischen Unternehmen und ist seit mehreren Jahren der wichtigste Wirtschaftspartner der Türkei – Tendenz weiter steigend. Dies bedeutet für eine zunehmende Anzahl von Menschen aus beiden Ländern vermehrten Kontakt und Zusammenarbeit (Auswärtiges Amt, 2014). Dennoch sind sich viele Deutsche des Ausmaßes der wirtschaftlichen Beziehungen mit der Türkei nicht bewusst und verbinden mit dem Land eher Urlaubsreisen, 1001 Nacht oder politische Diskussionen über den EU-Beitritt, den Islam und die Situation der türkischstämmigen Migranten in Deutschland.

Zwar ziehen diese vielfältigen Berührungspunkte Deutscher mit Türken1 eine zunehmend detailliertere Berichterstattung über die Türkei nach sich, das Wissen Deutscher über das Land, dessen Bewohner und vor allem deren Wertvorstellungen und Verhaltensweisen besteht jedoch noch oft aus recht vagen und unkonkreten Vorstellungen, die meist auf Kenntnisse über Türken in Deutschland bauen – und die nur sehr eingeschränkt auf die Türkei übertragbar sind.

Hier herrscht eine Asymmetrie vor, denn für viele Türken besitzt Deutschland eine ganz besondere Bedeutung und erfährt besondere Aufmerksamkeit, gar Bewunderung. Dies ist zum einen historisch bedingt und reicht bis zu Zeiten der »Völkerfreundschaft« des Kaiserreiches und Osmanischen Reiches zurück. In neuerer Zeit tragen wirtschaftlicher und technischer Fortschritt sowie die Verheißung finanziellen Erfolgs zu einem noch sehr positiven Bild Deutschlands bei, auch wenn die EU-Beitrittsverhandlungen an diesem Image kratzen.

Um effektiv und für beide Seiten zufriedenstellend zusammenarbeiten und -leben zu können, sind jedoch differenzierte Kenntnisse über Hintergründe und handlungsrelevante Aspekte der türkischen Kultur und eine beträchtliche Anpassungsleistung erforderlich. Die Praxis zeigt, dass sich Türken in unterschiedlichsten Lebensbereichen oft völlig anders verhalten, als Deutsche dies erwarten. Verunsicherung, Verärgerung bis hin zur Abwertung des türkischen Partners und gar Beziehungsabbruch sind die nicht seltenen Folgen.

Es erwartet niemand von Ihnen, dass Sie in der Türkei oder bei der Zusammenarbeit mit Türken gleich einem interkulturellem Chamäleon selbst zu einem Türken werden. Doch zu wissen, dass sich die türkische Kultur fundamental von der deutschen unterscheidet und diese Bereiche zu (er)kennen, wird Ihnen erleichtern zu verstehen, warum sich Ihre türkischen Kollegen, Geschäftspartner oder Klienten so verhalten und Ihnen Möglichkeiten eröffnen, Missverständnissen vorzubeugen und Fehlinterpretationen zu reduzieren. Konflikte lassen sich so nicht völlig ausschalten, aber Sie können unnötige Reibungsverluste vermeiden und aus unvermeidlichen Fettnäpfchen schneller und zielgerichteter lernen.

In vielen Bereichen der deutschen und türkischen Kultur bestehen durchaus Ähnlichkeiten. Dieses Trainingsprogramm konzentriert sich jedoch ausschließlich auf die Unterschiede zwischen den beiden Kulturen, da diese für Probleme und Spannungen in Kooperationen verantwortlich sind und daher besonderer Aufmerksamkeit bedürfen.

Die Basis für dieses Buch stellt die Analyse von umfangreichen Interviews mit deutschen Fach- und Führungskräften dar, die in der Türkei gelebt und gearbeitet haben. Dies bedeutet, die präsentierten Fälle sind authentische und repräsentative Problemkonstellationen, denen auch Sie begegnen können und die aus deutscher Sicht typische Facetten türkischer Kultur illustrieren. Die weitere Analyse der Situationen erfolgte durch ein Team von Experten, die profunde Kenner beider Länder sind. Deren Perspektiven aus unterschiedlichen Fachdisziplinen (Politologie, Soziologie, Geschichte, Turkologie etc.) bilden die Grundlage für Erklärungen der Situationen und die kulturhistorischen Herleitungen der kulturellen Differenzen. Die Daten wurden im Rahmen eines Forschungsprojektes an der Universität Regensburg erhoben und nach neuestem Stand der interkulturellen Forschung zu einem Selbstlernprogramm aufbereitet. Zielgruppe des Programms sind sowohl Fach- und Führungskräfte, die selbst in der Türkei tätig sein werden, als auch Personen, die hier in Deutschland mit Türken zusammenarbeiten.

Die türkische Kultur ist natürlich viel komplexer als in diesem Buch dargestellt. Lehren und Lernen bedeutet immer ein Reduzieren der Sachverhalte, um deren Aufnahme zu erleichtern. Deswegen fassen Sie die hier vorgestellten Kulturstandards als ein Rahmengerüst auf, das nicht alles erklären kann und von Ihnen im Laufe des Kontaktes mit Türken mit eigenen Erfahrungen ergänzt und verfeinert werden kann. Die Kulturstandards sollen helfen, Ihren Fokus zu erweitern und neue Motive für das Handeln Ihrer türkischen Kommunikationspartner kennen zu lernen. Allerdings sind auch Türken verschieden. Deswegen können diese Kulturstandards nicht jedes Verhalten erklären, insbesondere vor dem Hintergrund der multiethnischen Zusammensetzung der türkischen Gesellschaft (20 % sind Kurden).

Wenn Sie in diesem Trainingsprogramm feststellen, dass in der Türkei »einiges anders läuft«, als sie es aus Deutschland gewohnt sind, kann dies zunächst verunsichern. Nutzen Sie diese Verunsicherung als Motivation, sich intensiv auf die Umstellung vorzubereiten. Denn genau in dieser Vorbereitung liegt der Grundstein für den gewünschten Erfolg Ihrer deutsch-türkischen Kooperation.

Claudia ApplAnnalena KoytekStefan Schmid

_________

1Zugungsten der besseren Lesbarkeit wird im gesamten Buch bei der Bezeichnung »der Türke« bzw. »die Türken« durchgängig die männliche Form verwendet. Gemeint sind damit gleichrangig beide Geschlechter.

Einführung in das Training

Zielsetzung und theoretischer Hintergrund

Hat man beruflich mit einer fremden Kultur zu tun, ergeben sich in der Zusammenarbeit manchmal Missverständnisse und Reaktionen, mit denen man nicht gerechnet hat. So mag es sein, dass ein Führungsstil, der in Deutschland üblich ist, in der Türkei als unangemessen, ja sogar kontraproduktiv erachtet wird. Ziel und Aufgabe dieses Orientierungstrainings ist es, Deutsche, die mit Türken in Kontakt kommen, für solch kulturelle Unterschiede zu sensibilisieren, ihnen das Verstehen dieser Verschiedenheit zu erleichtern und Wege aufzuzeigen, diese zu überbrücken und produktiv zu nutzen.

Kultur beeinflusst und prägt, wie wir denken, fühlen und handeln. Schon von Kindesbeinen an lernen wir als Mitglieder einer Nation die Normen, Werte und Regeln unserer sozialen Umwelt, die uns durch ihr alltägliches Wiederkehren mit der Zeit selbstverständlich erscheinen. Dadurch, dass alle Mitglieder einer Kultur diese Regeln teilen, wird das tägliche Leben erleichtert, die Wahrscheinlichkeit von Missverständnissen reduziert sich und erfolgreiches und befriedigendes Zusammenleben wird möglich. Kultur lässt ihren Angehörigen als System von Werten, Normen, Regeln und Einstellungen eine Fülle von Möglichkeiten, ihr Handeln zu gestalten und das Handeln anderer zu interpretieren. Andererseits werden durch die landesspezifische Kultur auch Grenzen dafür gesetzt, was als richtig, normal und denkbar angesehen wird.

Möchte man Kultur beschreiben und vermitteln, ist es hilfreich, typische Bausteine zu ermitteln, sogenannte Kulturstandards. Sie sind die von den in einer Kultur lebenden Menschen geteilten Maßstäbe zur Ausführung und Beurteilung von Verhaltensweisen, also sozusagen die zentralen Kennzeichen der Kultur. Dabei dürfen sie nicht als absolute Norm verstanden werden: Individuell treten verschiedene Interpretationen der Kulturstandards auf, das heißt es gibt durchaus Schwankungen und Abweichungen im Verhalten, die in einem gewissen Rahmen von den Mitgliedern einer Gesellschaft toleriert werden.

Kulturstandards haben sich nicht zufällig entwickelt, sondern sind in der Geschichte einer Gesellschaft verwurzelt und untereinander auf vielfältige Art und Weise verknüpft. Sie sind Resultat einer langen Auseinandersetzung der Menschen mit historischen Gegebenheiten und sozialen, politischen und ökonomischen Ereignissen und stellen praktikable Antworten auf die Lebensbedingungen und Anforderungen einer Epoche auf kollektiver Ebene dar. Damit besitzen sie eine hohe Kontinuität: Einschneidende Veränderungen in den Lebensbedingungen eines Volkes, die dazu führen, dass sich dessen Handeln und Verhalten ändert, können auch die ihm eigenen Kulturstandards in einem langsamen Anpassungsprozess verändern.

Auf Grund der unterschiedlichen Lebensbedingungen in verschiedenen Regionen der Erde haben sich von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedliche Regeln und Normen für den Umgang miteinander herausgebildet. Die Selbstverständlichkeit bestimmter Verhaltensroutinen wird erst in interkulturellen Begegnungssituationen in Frage gestellt, wenn verschiedene kulturelle Orientierungssysteme aufeinanderprallen. Weil wir die für uns normalen Regeln der eigenen Kultur unbewusst und automatisch gebrauchen, wenden wir sie auch im Kontakt mit Personen an, die aus einer anderen Kultur stammen und die ebenso automatisch auf ein anderes Werte- und Normensystem, andere Kulturstandards, zurückgreifen. Deshalb werden im interkulturellen Kontakt gewohnte Verhaltensweisen teilweise nicht oder falsch verstanden und es kommt zu Missverständnissen und unerwarteten Reaktionen. Der dadurch entstandene Orientierungsverlust reicht oft über die berufliche Sphäre in private Lebensbereiche hinein und kann sogar zu psychischen bzw. psychosomatischen Beschwerden führen. Deshalb ist es unerlässlich zu verstehen, was die beobachteten fremdkulturellen Verhaltensweisen bedeuten. In diesem Lernprozess kommt Kulturstandards eine Schlüsselrolle zu: Als zentrale Kennzeichen der fremden Kultur ermöglichen sie ein tieferes Verständnis für die Bedeutung und Sinnhaftigkeit der gezeigten Verhaltensweisen und eröffnen variable Handlungsmöglichkeiten, die nach und nach eigenständig konstruiert werden können. Diese Grundlage interkultureller Kompetenz erschöpft sich dabei nicht im bloßen Imitieren fremdkultureller Handlungsmuster, vielmehr wird die Fähigkeit zur partnerschaftlichen Interaktion geschaffen, da die kulturellen Selbstverständlichkeiten, Denk- und Verhaltensgewohnheiten des Partners erkannt und respektiert werden.

Hinweise zum Verständnis des Trainingskonzepts

Um das Trainingsmaterial auf Basis des Kulturstandardkonzeptes erfolgreich anwenden zu können, sind folgende Hinweise wichtig:

–Dieses Trainingsmaterial richtet sein Augenmerk auf die konkrete Handlungsebene im interkulturellen Umfeld und versucht darzulegen, an welchen Stellen der deutsch-türkischen Zusammenarbeit von Fach- und Führungskräften es typischerweise zu kulturbedingten Reibungen kommen kann, wie diese verstanden werden können und wie ihnen begegnet werden kann. Deshalb wird auf Abhandlungen über kulturtypische Rahmenbedingungen wie Politik oder eine spezifische Esskultur verzichtet. Diese Bereiche sind zwar als ebenfalls von Bedeutung, können aber in jedem handelsüblichen Reiseführer nachgelesen werden.

–Da es sich bei Kulturstandards um kategoriale Bestimmungen handelt, besitzen sie stereotypen Charakter. Trotzdem unterscheiden sie sich deutlich von Vorurteilen: Vorurteile sind vereinfachte, unreflektierte Annahmen und Wertungen, die auf der Basis einer geringen Wissensbasis getroffen werden. Bei Kulturstandards handelt es sich im Gegensatz dazu um Beschreibungen zentraler Merkmale einer Kultur, die aus systematischer Analyse realer, alltäglich erlebter Handlungssituationen gewonnen wurden und durch weiterführende Recherche wissenschaftlich validiert wurden. Sie stellen damit als wertneutrale Typisierungen ein wichtiges Denkwerkzeug dar, da ohne diese Vereinfachung eine Aufnahme und Verarbeitung solch komplexer und vielschichtiger Lerninhalte wie die Beschreibung und Vermittlung einer Kultur gar nicht erst möglich wäre. Entscheidend ist jedoch, dass die Stereotype wie im Trainingsmaterial realitätsnah konstruiert sind, offen gegenüber weiteren Differenzierungen sind und dass ihnen bewusst begegnet wird. Es ist also wichtig, sich vor Augen zu halten, dass Beschreibungen und Verallgemeinerungen über »die Türken« immer Aussagen über vorherrschende Tendenzen sind, im Einzelfall jedoch durchaus andere Einstellungen und Verhaltensweisen vorzufinden sind.

–Durch den Fokus auf vorwiegend konflikthafte Interaktionen kann der Eindruck entstehen, die deutsch-türkische Kooperation sei äußerst problembehaftet. Da die Zusammenarbeit mit Türken vor allem hinsichtlich ihrer problematischen Seiten Unterstützung bedarf, tauchen in den Fallbeispielen hauptsächlich kritische Begegnungssituationen auf. Da Sie für Ihre sicherlich zahlreichen reibungslosen Kontakte mit Türken kein Training benötigen, haben wir die Bereiche der Gemeinsamkeiten ausgeklammert.

–Anstelle von unbedingt gültigen Regeln müssen Kulturstandards als Rahmen gesehen werden, der durch eigene Erfahrungen angereichert und differenziert werden muss. Ähnlich dem Training und Aufbau von Muskeln ist interkulturelles Lernen und Verstehen ein fortdauernder Prozess, der nach einer Übung nicht abgeschlossen ist, sondern stets weitergeführt werden will. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass der größte Teil des interkulturellen Lernprozesses erst während des Aufenthaltes in der Türkei stattfinden wird. Erst dort kann das vermittelte theoretische Wissen in eigenen Erlebnissen konkret in die Denk- und Handlungsroutine des Lernenden einfließen. Dieses Training ermöglicht jedoch bereits im Vorfeld eine gute Vorbereitung: Durch die Vermittlung des Grobgerüsts der türkischen Kultur kann einem Kulturschock vorgebeugt und effizientes Handeln in der fremden türkischen Kultur bereits vorab gefördert werden.

Hinweise zur Bearbeitung des Trainingsmaterials

Das Trainingsmaterial besteht aus acht Trainingseinheiten, die je einen türkischen Kulturstandard behandeln. In jeder Einheit werden Situationen dargeboten, die sich real zugetragen haben und in denen es zwischen Deutschen und Türken auf Grund unterschiedlicher Orientierungssysteme zu Missverständnissen und Schwierigkeiten gekommen ist. Auf jede Situation folgen vier Deutungen der Situation, die mögliche Erklärungen für das Verhalten des türkischen Interaktionspartners darstellen und die der Lernende im Hinblick auf ihre Angemessenheit beurteilen soll. Danach erhält er Feedback darüber, inwiefern seine Einschätzung den Verlauf der Interaktion erklären kann. Im Anschluss werden Handlungsoptionen aufgezeigt, wie das Missverständnis hätte verhindert werden können. Diese sind als Denkanstoß für eigene Lösungsmöglichkeiten zu sehen, da das Ziel des Trainings nicht die Vermittlung einer konkreten Handlungsempfehlung, sondern vielmehr der Aufbau flexibler Handlungsstrategien ist. Am Ende jeder Trainingseinheit wird der zu Grunde liegende handlungssteuernde türkische Kulturstandard näher beschrieben und seine historische Entstehungsgeschichte erläutert.

Da die einzelnen Situationen und Trainingseinheiten aufeinander aufbauen, empfiehlt sich eine sukzessive Bearbeitung des Materials. Das Training ist vorwiegend als Instrument zum Selbststudium gedacht. Anhand der Situationen können Sie sich auf die türkische Kultur und den Umgang mit türkischen Partnern vorbereiten und deren Verhalten besser verstehen. Es kann jedoch kein Gruppentraining ersetzen, das in der Diskussion eine noch größere Bearbeitungstiefe und in Rollenspielen eine stärkere Verhaltensorientierung ermöglicht.

Zu guter Letzt: Nehmen Sie sich Zeit für die Bearbeitung des Materials! Lassen Sie Gelerntes setzen und versuchen Sie nicht alles möglichst schnell und auf einmal zu bearbeiten. Nutzen Sie die Chance, mögliche Handlungsstrategien zur Lösung der Konfliktsituation noch einmal überdenken zu können und entlocken Sie damit der türkischen Kultur als etwas Neuem, Unbekanntem all die vielfältigen Reize, die sie bieten kann! Versuchen Sie nicht nur die Ursachen des türkischen Verhaltens zu ergründen, sondern reflektieren sie auch die deutschen Verhaltensweisen und lernen Sie ihre eigene Kultur dabei aus einem ganz anderen, differenzierten Blickwinkel kennen. Denn nur wer das Eigene genau kennt, kann kulturangemessen und handlungssicher mit dem Fremden umgehen und neugierig und freudig gespannt einen neuen Kulturkreis kennen lernen.

Dabei wünschen wir Ihnen viel Spaß und Erfolg!

Themenbereich 1: Ehre und Ansehen

Beispiel 1: Der Besuch

Situation

Frau Fink lebt zusammen mit ihrer Familie in Izmir in der Türkei. Eines Tages ist sie gerade allein zu Hause, als es klingelt und ein Bekannter vor der Haustür steht. Der Bekannte begrüßt sie und fragt: »Wo ist denn dein Mann? Ich wollte ihm schnell etwas vorbeibringen.« Frau Fink antwortet, ihr Mann sei gerade nicht da, er müsse aber bald kommen und bittet den Bekannten herein. Dieser lehnt ab: »Hm, okay. Dann lasse ich das hier einfach bei dir und du gibst es ihm, okay? Bestelle ihm schöne Grüße. Tschüß.« Überrascht, dass der Bekannte nicht kurz auf ihren Mann wartet, nimmt Frau Fink die Tasche, die er ihr gibt, und schließt die Tür. Sie wundert sich, dass er nicht hereinkommt und sich mit ihr unterhält, bis ihr Mann kommt.

Wie erklären Sie sich das Verhalten des türkischen Bekannten?

–Lesen Sie nun die Antwortalternativen nacheinander durch.

–Bestimmen Sie den Erklärungswert jeder Antwortalternative für die gegebene Situation und kreuzen Sie ihn auf der darunter befindlichen Skala an. Es ist möglich, dass mehrere Antwortalternativen den gleichen Erklärungswert besitzen.

Deutungen

a)Der Türke betrachtet Frau Fink nicht als gleichwertigen Gesprächspartner. In der Türkei ist der Mann das Oberhaupt der Familie und letztendlich auch der Ansprechpartner.

b)Für einen türkischen Mann ist es unsittlich, eine Wohnung zu betreten, in der eine Frau allein anwesend ist.

c)Der Türke findet, dass es Frau Fink nichts angeht, was er und ihr Mann abwickeln. Seiner Meinung nach ist das nicht ihr Zuständigkeitsbereich.

d)Der Türke möchte Frau Fink vor Gerede in der Nachbarschaft schützen, das anfangen würde, wenn er ihre Wohnung betreten würde.

–Versuchen Sie, Ihre Einstufung jeder Antwortalternative zu begründen. Halten Sie die Begründung in schriftlicher Form stichpunktartig fest.

–Lesen Sie nun die Erläuterungen zu jeder Antwortalternative durch und vergleichen Sie diese mit Ihren eigenen Begründungen.

Bedeutungen

Erläuterung zu a):

In manchen ländlichen Gegenden der Türkei ist es tatsächlich so, dass die Frau nicht als ebenbürtig betrachtet wird. Sie ist meist ohne Ausbildung und finanziell vollkommen von ihrem Ehemann abhängig. Demzufolge ist der Mann auch derjenige, der »das Sagen« hat. Frau Fink lebt jedoch mit ihrer Familie in Izmir, das nicht nur geographisch eine der westlichsten Großstädte der Türkei ist. In diesem Setting lösen sich die traditionellen Strukturen immer mehr auf, vor allem, weil immer mehr Frauen eine gleich gute Ausbildung wie ihre Männer haben. Es könnte dennoch sein, dass der türkische Bekannte die Angelegenheit lieber mit Frau Finks Mann bespricht, da er in ihm den Verantwortlichen für die Familie und deren Belange sieht. Diese Antwort wäre zwar denkbar, hier ist jedoch ein anderer Aspekt für das Verhalten des Mitarbeiters ausschlaggebend.

Erläuterung zu b):

Der türkische Bekannte möchte die Wohnung nicht betreten, weil Frau Fink allein zu Hause ist. Es schickt sich nicht für einen Bekannten, aber auch einen Freund oder Bruder des Ehemanns, allein mit der Ehefrau in der Wohnung zu warten. Damit würde gegen die Sexualmoral verstoßen werden, also folglich die Ehre der Frau und auch die Ehre ihres Mannes verletzt werden. Für die Deutsche Frau Fink ist es selbstverständlich, den Bekannten hereinzubitten. In Deutschland ist es nichts Besonderes, sich mit männlichen Bekannten – die dem eigenen Ehemann bekannt sind – oder Verwandten allein in der Wohnung aufzuhalten. Diese Situation ist weder für die Ehre der Frau noch für die des Mannes bedrohlich. In der Türkei könnte der Bekannte nur dann problemlos das Haus betreten und sich mit Frau Fink unterhalten, wenn deren Ehemann anwesend wäre. In dieser Situation bleibt ihm jedoch nichts anderes übrig, als die Einladung abzulehnen.

Erläuterung zu c):

In der Türkei existiert eine Trennung der Lebensbereiche. Der Innenbereich ist eher den Frauen, der Außenbereich eher den Männern zuzuordnen. So wird Geschäftliches häufig unter Männern abgewickelt, während sich die Frau um Haushalt und Familie kümmert. In dieser Situation handelt es sich aber nicht um einen Geschäftspartner von Frau Finks Mann, sondern um einen Bekannten der Familie, der eigentlich dem Innenbereich zuzuordnen wäre, da er ihr vertraut ist. Eine andere Antwort ist besser geeignet, das Verhalten des Türken zu erklären.

Erläuterung zu d):

Frau Finks Nachbarn haben mitbekommen, dass ihr Mann noch nicht von der Arbeit zurück ist. Würde der türkische Bekannte ihre Wohnung betreten, obwohl sie allein zu Hause ist, würde die Gerüchteküche in Gang gesetzt werden. Frau Finks Bekannter weiß dies, und möchte tatsächlich dieses Gerede vermeiden. In der Türkei hat die Bewertung durch die Umwelt eine große Bedeutung. Damit gewinnt oder verliert man Ansehen. Wenn die Nachbarn erst einmal zu tratschen begonnen haben, ist die Ehre von Frau Fink und damit auch die ihres Mannes bereits beschädigt.

Lösungsstrategie

In der Türkei ist es nicht üblich, als Frau einen Mann einzuladen, wenn man allein, also ohne den Ehemann, zu Hause ist. Davon ausgenommen sind höchstens der eigene Bruder oder Vater oder andere sehr nahe Anverwandte. Frau Fink sollte also in dieser Situation erst gar keine Einladung aussprechen, um den türkischen Bekannten nicht in die unangenehme Lage zu bringen, die Einladung ablehnen zu müssen, was ein Türke sehr ungern macht (vgl. Themenbereich 6: Indirekte Kommunikation). Hat sie die Einladung wie in der vorliegenden Situation jedoch bereits ausgesprochen, so sollte sie die Ablehnung des Türken verständnisvoll und freundlich akzeptieren, Grüße an seine Familie ausrichten und ihn, zusammen mit seiner Frau, für einen anderen Tag einladen, wenn Frau Finks Ehemann zu Hause ist. So hat sie ihre Ehre und die ihres Mannes geschützt, dem türkischen Bekannten jedoch auch das Gefühl von Interesse und Wertschätzung seiner Person gegeben, was für Türken von großer Bedeutung ist (vgl. Themenbereich 2: Mitmenschlichkeit).

Frauen werden schon sehr früh zur Schamhaftigkeit erzogen und sind stets darauf bedacht, ehrgefährdende Situationen zu vermeiden. Dies hat für einen Deutschen zur Folge, dass er möglichst versuchen sollte, eine Frau in keine unangenehme Lage zu bringen. Das bedeutet auch, dass von einem ehrenhaften Mann erwartet wird, dass er eine ihm bekannte Frau – vor allem nachts – nach Hause begleitet, um so den Schutz ihrer Ehre zu gewährleisten. Es ergibt sich also eine gewisse Verantwortung für Frauen im Allgemeinen, auch wenn man mit ihnen nicht verwandt ist. Deutsche Frauen empfinden dieses Verhalten türkischer Männer oft als bevormundend oder fühlen sich dadurch in ihrer Unabhängigkeit beschnitten.

Beispiel 2: Die Nachbarinnen

Situation